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Full text of "Wissenschaftliche Forschungsberichte: Geisteswissenschaftliche Reihe, 1914-1920"

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Wissen  schaftliche 
Forschungsberichte 

Herausgegeben  von  Professor  Dr.  Karl  Hönn 

Geisteswissenschaftliche  Reihe 
1914—1920 


Mittelalterliche  Geschichte 


Verlag   Friedrich   Andreas  Perthes  A.-G.   Gotha    1922 


Mittelalterliche  GescMclite 


bearbeitet 


von 


K.   H  a  m  p  e 

Professor  an  der  Universität  Heidelberg 


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Verlag  Friedrich  Andreas  Perthes  A.-G.   Gotha    1922 


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Copyright   1922  by  Friedrich  Andreas  Perthes  A.-G.  Gotha 
Alle  Rechte,  einschließlich  des  Übersetzungsrechtes,  vorbehalten 


Vorwort 

Von  französischer  Seite  ist  es  wohl  als  ein  Vorzug  des  Besiegten 
hingestellt,  sich  nicht  in  enge  Selbstgenügsamkeit  einzuspinnen,  wie  es 
der  Sieger  leicht  tue.  Die  wirtschaftlichen  Weltverhältnisse,  die  fast 
einer  wissenschaftlichen  Blockade  Deutschlands  gleichkommen,  machen 
es  uns  unsäglich  schwer,  diesen  Vorzug  auszunützen.  Gleichwohl  wäre 
nichts  verhängnisvoller,  als  darauf,  entmutigt  oder  in  gewollter  Ab- 
schließung,  zu  verzichten.  Die  Schwierigkeiten  müssen  mit  verdoppelter 
Anstrengung,  soweit  irgend  möglich,  überwunden  werden.  In  beschei- 
denem Maße  möchte  dies  Buch  dazu  mithelfen.  Es  spannt  daher  den 
Rahmen  nicht  nur  in  sachlicher  Hinsicht,  sondern  auch  in  internatio- 
nalem Überblick  so  weit,  wie  das  von  Heidelberg  aus,  ohne  irgend- 
welche andere  Unterstützung  als  die  der  stets  hilfsbereiten  Beamten 
der  hiesigen  Universitätsbibliothek,  irgend  tunlich  war.  Der  Mängel 
und  Lücken  der  vorliegenden  Arbeit  bin  ich  mir  selbst  auf  das  schmerz- 
lichste bewußt.  Für  eine  solche  Berichterstattung  ist  ja  das  „nonnm 
prematur  in  annum"  gänzlich  unanwendbar.  Einmal  mußte  kurzerhand 
mit  der  Sammlung  des  Stoffes  abgebrochen  werden,  obwohl  jede  Nachlese 
auf  Ergänzungsmöglichkeiten  hinwies.  Vollständigkeit  ist  ja  ohnehin  nur 
für  das  Wesentlichere  aus  den  Jahren  1914 — 1919  erstrebt,  auch  für  dies 
nur,  soweit  es  sich  in  größere  Zusammenhänge  einreiht.  Eine  Berücksich- 
tigung auch  des  Regional-  und  Lokalgeschichtlichen,  so  unentbehrlich  es 
an  sich  ist,  hätte  jeden  Überblick  verwirrt;  dafür  muß  auf  die  provin- 
ziellen und  örtlichen  Zeitschriften  verwiesen  werden.  Eben  den  Über- 
blick trotz  der  Fülle  der  Erscheinungen  nicht  zu  verlieren  und  diese 
möglichst  doch  zu  einem  Ganzen  zusammenzufügen,  war  mein  Be- 
streben. Eine  weitergehende  Gliederung  des  Stoffes  hätte  das  erschwert 
md  Zusammengehöriges  oft  nur  auseinandergerissen.    Was  sie  für  das 


rasche   Aufsuchen    hätte   leisten    können,    hoife    ich    durch    das    Sach- 
verzeichnis ebensogut  oder  besser  zu  erreichen. 

Je  mehr  Abstand  die  „F'orschungsberichte"  von  dem  Kriege  ge- 
winnen, um  so  weniger  können  sie  sich  auf  eine  rasche  Orientierung 
für  die  Übergangswirtschaft  beschränken,  um  so  mehr  müssen  sie  allen 
Forschern  einen  möglichst  gründlichen  Überblick  über  den  Wissensstand 
zu  bieten  suchen,  wie  er  gerade  heute  bei  der  Unregelmäßigkeit  der 
meisten  Berichterstattungen  für  den  Einzelnen  nebenher  nicht  leicht  zu 
gewinnen  ist.  Das  ist  nicht  eben  eine  dankbare  Aufgabe,  und  wer 
kritisieren  will,  findet  da  ausgiebig  Gelegenheit.  Ich  möchte  nur  hoffen, 
daß  sie  sich  trotzdem  als  nützlich  erweist  und  dadurch  die  mühselige 
Arbeit  belohnt.  Ich  hätte  sie  meinerseits  gewiß  nicht  übernommen, 
wenn  nicht  ein  tiefes  Gefühl  der  Verpflichtung  gegenüber  allen  ge- 
schichtlich interessierten  Kriegsteilnehmern  den  Ausschlag  gegeben 
hätte.  Ihnen  und  dem  Andenken  aller  gefallenen  deutschen  und  öster- 
reichischen Historiker  bringe  ich  das  Buch  dar. 

Heidelberg,  im  Oktober  1921 

K.  Hampe 


VI 


Inhaltsübersicht 

Seite 

1.  Kulturgeschichtliches 1 

2.  Allgemeinere  Darstellungen  und  frühes  Mittelalter.    .    .    .  ' 18 

3.  Längsschnitte  durch  die  mittelalterliche  Geschichte,  vornehmlich  des 

deutschen  Reiches 39 

4.  Deutsche  Kaiserzeit     .    .    .    f 53 

5.  Das  Jahrhundert  päpstlicher  Weltmacht 82 

6.  Strukturwandlungen,  vornehmlich  im  deutschen  Eeiche  (Städtewesen, 

Hanse,  Kolonisation  des  Ostens,  Territorialentwicklung) 100 

7.  Ausgehendes  Mittelalter 111 

8.  Historische  Hilfswissenschaften 135 

Verfassernamen 143 

Sachverzeichnis    149 


vn 


Abkürzungen 


Abh  d.  Berl.Ak. 

Abb.  Freib.  i.  Br. 

A.  f.  Kult. 
Arch.  stör.  it. 
Arch.  stör.  Rom. 
Beitr.  z.  Kult. 

Bibl.  de  l'Ec.  d.  eh. 
D.  G.Bl 
D.  L.Z. 
D.  Z.  f.  G. 
üierkes  Unters. 

Gott.  Anz. 
Gott.  Nachr. 

Hist.  Jahrb. 

H.  Viert. 

Hist  Z. 

Korr.  d.  Gesamtver. 

M.A. 

M.  I.  ö.  G. 

N.A. 

Neue  Jahrb. 

Schmollers  Jahrb. 

S.B. 

Viert,  f.  Soz.  u.  Wirtsch. 

Z.  f  R.,  g.  A. 

Z.  f.  R.,  k  A. 


Abhandlungen  der  Akademie  der  AVissenschafteu  in  Berlin. 
Philos.-hist.  Klasse. 

Abhandlungen  zur  mittleren  und  neueren  Geschichte,  hrsg. 
von  V.  Below,  Finke,  Meinecke.     Berlin. 

Archiv  für  Kulturgeschichte.     Leipzig. 

Archivio  storico  italiano. 

Archivio  della  societä  Romana  di  storia  patria.     Rom. 

Beiträge  zur  Kulturgeschichte  des  Mittelalters  und  der  Re- 
naissance, hrsg.  von  W.  Goetz.     Leipzig. 

Bibliotheque  de  l'ecole  des  Chartas.     Paris. 

Deutsche  Geschichtsblätter,  hrsg.  von  A.  Tille.     Gotha. 

Deutsche  Literaturzeitung.     Berlin. 

Deutsche  Zeitschrift  für  Geschichtswissenschaft.  Freib.  i.  Br. 

Untersuchungen  zur  deutschen  Staats-  und  Rechtsgeschichte, 
hrsg.  von  0.  Gierke.     Breslau. 

Göttiugische  gelehrte  Anzeigen. 

Nachrichten  der  Gesellschaft  der  "Wissenschaften  zu  Göt- 
tingen, philos.-hist.  l' lasse. 

Historisches  Jahrbuch  der  Görresgesellschaft.    München. 

Histori-sche  Viorteljahrsschrift.     Leipzig. 

Historische  Zeitschrift.     München. 

Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins   der  deutschen  Ge- 
schichts-  und  Altertumsvereine. 

Mittelalter. 

Mitteilungen  des   Instituts  für  österreichische  Geschichts- 
forschung.    Innsbruck. 

Neues   Archiv   der   Gesellschaft    für  ältere   deutsche   Ge- 
schichtskuude.     Hannover. 

Neue  Jahrbücher  für  das  klassische  Altertum,   Geschichte 
und  deutsche  Literatur  und  für  Pädagogik.     Leipzig. 

Jahrbuch   für   Gesetzgebung,  Verwaltung    und   Volkswirt- 
.schaft  im  Deutschen  Reich.     Leipzig. 

Sitzungsberichte,  stets  der  philosophisch-historischen  Klasse 
der  betreffenden  Akademien. 

Vierteljahrsschrift   für  Sozial-  und   Wirtschaftsgeschichte. 
Leipzig. 

Zeitschrift  der  Savignystiftung  für  Rechtsgeschichte.    Ger- 
mani.stische  Abteilung.     Weimar. 
:  dieselbe,  kanonistische  Abteilung.     Weimar. 


VIII 


1.  Kulturgeschichtliches 

Die  weit  zurückreichenden  Erörterungen  über  Wesen  und  Berech- 
tigung der  Kulturgeschichte  haben  in  Deutschland  auch  während  des 
Krieges  ihren  Fortgang  genommen,  scheinen  aber  nach  dem  Tode  des 
hastigen  und  anstachelnden  Wahrheitsuchers  Karl  Lamprecht  (f  10.  Mai 
1915)  in  ein  ruhigeres  Fahrwasser  zu  geraten.  Über  die  konstruktiven 
Einseitigkeiten  und  die  zweifelhafte  Grundlage  seiner  späteren  Auf- 
fassungen sind  heute  die  Historiker  ebenso  einer  Meinung,  wie  sie  die 
Bedeutung  seines  Anlaufs  auf  die  letzten  Ziele  und  tiefsten  Probleme 
der  Geschichtswissenschaft  würdigen.  Man  kann  nicht  gerechter  und 
leidenschaftsloser  darüber  urteilen  als  31.  Ritter  in  seinem  auch  für 
ma.liche  Historiker  wertvollen  Buche  Die  Entivicldung  der  Geschichts- 
wissenschaft, an  den  führenden  Werken  betrachtet,  Münch.-Berlin  1919; 
getan  hat  ^).  Wohl  ist  v.  Beloivs  tiefgründige  und  eindrucksvolle  Schrift 
Die  deutsche  Geschichtschreihung  von  den  Befreiungskriegen  bis  zu  unseren 
Tagen,  Leipzig  1916,  ein  energisches  Bekenntnis  zur  politischen  Ge- 
schichte, die  mit  Verfassungs-,  Verwaltungs-  und  großenteils  Wirtschafts- 
geschichte doch  stets  das  eigentliche  Arbeitsgebiet  des  Historikers  bleibe. 

Doch  soll  damit  natürlich  der  kulturhistorischen  Betrachtung  nicht  von  einem 
Gelehrten,  der  selbst  Wertvollstes  in  dieser  Richtung  gegeben  hat,  der  Boden  ent- 
zogen werden.  Yieiinehr  Avirit  da  neben  der  Rücksicht  auf  die  zentrale  Stellung  des 
Staates  in  der  geschichtlchen  Eat wicklang  vor  allem  die  Furcht  vor  einem  dilettanti- 
schen Betriebe  der  Kultui'geschichte  im  Sinne  der  Werke  von  Hellwald ,  Henne  am 
Rhyn  usw.  Denn  die  streng  wissenschaftliche  kulturhistorische  Forschung  hat  bisher 
ihre  Stätte  wesentlich  in  den  Fachwissenschaften  gefunden;  Menschheitsgeschichte  zu 
schreiben,  geht  über  die  Kraft  des  Einzelnen,  und  spezialistische  Vorarbeiten  siud  für 
kulturgeschichtliche  Darstellung  in  noch  viel  höherem  Maße  als  fiu"  die  politische  eine 
Vorbedingung,  die  freilich  nicht  allgemein  gewürdigt  und  noch  kaum  irgendwie  erfüllt  ist. 

Ich  glaube,  daß  das  alles  von  der  überwiegenden  Mehrheit  der 
deutschen  Historiker  durchaus  anerkannt,  aber  gleichwohl  eine  alle 
kulturell  bedeutsamen,  vorwärtstreibenden  Betätigungen  der  Menschen 
in  ihren  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Verbänden  umfassende  Ge- 
schichtswissenschaft als  ein  Ideal  betrachtet  wird,  dem  man  sich  von 
ferne  schrittweise  zu  nähern  hat,  mag  man  das  nun  „allgemeine  Geschichte" 
oder  ,,  Kulturgeschichte "  nennen,  mag  man  aus  praktischen  Erwägungen 
der  Staatsgeschichte  die  Kulturgeschichte  gegenüberstellen  oder  das  Staats- 


1)  Vgl.   auch  die   eindringliche  Auseinandersetzung    G.  Seeligers  H.  Viert.   19. 
1919,  S.  133  ff. 

Wissenschaftllclie  Forschnngsberichte  VII.  1 

1 


leben  als  wichtigsten  Faktor  in  letztere  einbegreifen.  Daher  wird  man 
es  wohl  auch  allgemein  billigen,  daß  W.  Goets  als  Nachfolger  Lamprechts 
dem  Institut  für  Kultur-  und  Universalgeschichte  an  der  Universität 
Leipzig  als  Hauptziel  gesteckt  hat,  die  große  Aufgabe  durch  geistes- 
wissenschaftliche Spezialarbeiten  von  Stipendiaten  und  andern  jüngeren 
Forschern  vorbereiten  zu  helfen  (A.  f  Kult.  12,  1916),  ein  Ziel,  dem 
sich  seitdem  die  wirtschaftlichen  Verhältnisse  in  den  Weg  gestellt  haben. 
Ganz  gefehlt  hat  es  ja  an  solchen  Studien  und  Stoffsammlungen 
auch  bisher  nicht;  in  der  letzten  Zeit  haben  sie  sich  stark  vermehrt 
und  an  Wert  gehoben.  Was  mit  ihrer  Hilfe  das  Streben  Einzelner 
nach  zusammenfassender  Darstellung  vermochte,  zeigen  zwei  bekannte 
deutsche  Werke,  die  vor  dem  Kriege  in  verbesserter  Neubearbeitung 
erscheinen  konnten.  G.  Gnipps  Kulturgeschiclde  des  MA.,  in  4  Bänden, 
Paderb.  1907 — 14  ^),  bis  ins  18.  Jahrb.  geführt  (woran  sich  vorläufig,  mit 
ungleich  stärkerer  katholischer  Apologetik,  die  Kompilationen  E  Michaels 
und  in  einigem  Zeitabstande  die  vorreformatorischen  Schilderungen 
J.  Janssens  schließen),  beruht  auf  vielseitiger,  umfassender  Quellen- 
sainmlung,  deren  Verwertung  nicht  immer  streng  methodisch  ist,  die 
aber  durch  Anführung  zahlreicher  Belege   auch   andeien   nutzbar  wird. 

Die  Darstellung  faßt  das  Abendland  als  Einheit,  was  für  das  Mittelalter  am 
ehesten  möglich  ist,  immerhin  auch  da  wohl  stärkere  Berücksichtigung  der  nationalen 
Unterschiede  erforderte.  In  loser  Gruppierung  nach  logischen  und  psychologischen 
Zusammenhängen  soll  der  Stoff  selbst  ohne  tiefere  Durchdringung  den  Reichtum  ver- 
gangenen Lebens  offenbaren. 

Darüber  hinaus  sucht  G.  Steinhausen  in  seiner  Geschichte  der  deut- 
schen Kultur,  2.  Aufl.,  Leipz.-Wien  1913  in  2  Bänden,  zu  einer  mehr 
genetischen  und  begründenden  Auffassung  der  gesamten  Kulturentwick- 
lung eines  einzelnen  Volkes  vorzudringen,  indem  er  unter  fast  völligem  Ab- 
sehen von  dem  staatlichen  Leben,  aber  auch  unter  Ablehnung  des 
Lamprechtschen  Schemas  der  Kulturzeitalter  aus  wirtschaftlichen,  sozialen, 
psychologischen  und  anderen  Kulturerscheinuugen  selbst  die  Grenzen 
für  eine  eigene  Periodisierung  gewinnt.  Zur  Einführung  und  Übersicht 
wohlgeeignet,  erschwert  das  Buch  auch  in  der  neuen,  bedeutend  ver- 
besserten Auflage  durch  den  Mangel  jeglicher  Nachweise  die  wissen- 
schaftliche Benutzung  -). 

Wenden  wir  uns  von  diesen  vorläufigen  Gesamtdarstellungen  zu 
jenen  Forschungsarbeiten,  die  in  Zukunft  die  Kulturgeschichte  allent- 
halben auf  einen  festeren  Boden  stellen  sollen,  so  begegnet  uns  gleich 
an  der  Schwelle  des  MA.  das  grundlegende  Werk  von  Ä.  Dopsch,  Wirt- 
schaf tlicJie  u.  soziale  Grundlagen  der  europäischen  Kulturentwichlung  aus 


1)  Seitdem  ist  auch  Bd.  5,  1.  Hälfte,  erschienen.  In  dem  schönen  Sammel- 
bande F.  V.  Bc\olds,  Aus  MA.  u.  Renaissance,  kuUurgesc/i.  Studien,  Münch.-Berlin 
1918  sind  ältere,  allgemein  geschätzte  Aufsätze  vereinigt,  von  denen  sich  aber  nur 
der  geringere  Teil  auf  das  MA.  bezieht. 

2)  Von  den  kürzeren  Bearbeitungen  Steinhausens  fand  seine  Kulturgcsch.  der 
'Deutschen  i.  Mittelalter  ( Wissensch.  u.  Bildung)  1916  eine  zweite,  seine  Oenit.  Kultur 
i.  d.   Urzeit  (Aus  Natur  u.  Geistesw.)  eine  dritte  Auflage. 


der  Zeit  mn  Cäsar  bis  auf  Karl  d.  Gr.,  dessen  erster  Teil  Wien  1918 
erschienen  ist  ^). 

Schon  seit  längerer  Zeit  machte  sich  das  Bestreben  geltend,  die  unter  dem  Ein- 
flüsse führender  Juristen  zu  einer  gewissen  Herrschaft  gebrachte  Lehre  von  den  älteren 
germanisch-fränkischen  Zuständen  einer  Überprüfung  zu  unterziehen  und  die  ihr  zu- 
grunde liegenden  Hypothesen  an  der  Hand  eines  teilweise  vermehrten,  vielfach  neu 
ausgelegten  Quellenstoffes  in  Frage  zu  stellen.  Dopsch  vereint  solche  älteren  An- 
regungen mit  eignen  ebenso  umfassenden,  wie  scharfsinnigen  Quellenstudien  zu  einem 
überaus  wuchtigen  Angriff.  AVaitzsche  Art  kommt  in  dem  engen  Anschluß  an  die 
Quellen  und  der  Ablehnung  von  Konstruktionen  zur  Geltung,  ohne  daß  jedoch  ein 
lebendiger  Neuaufbau  aus  Tausenden  kleiner  Mosaiksteinchen  fehlte.  Trat  das  schon 
in  dem  kurz  vor  dem  Kriege  erschienenen  Buche  Die  Wirtschaftsentwicklung  der 
Karolingerxeit  bedeutsam  hervor,  so  unternimmt  das  neue  Werk  dafür  nach  rückwäits 
noch  breitere  Grundlagen  zu  schaffen.  Die  in  den  letzten  Jahrzehnten  immer  reicheren 
Ergebnisse  kulturhistorischer  Hilfswissenschaften  wie  Prähistorie,  Archäologie,  Münz- 
kunde, Papyrologie  werden  hier  erstmals  voll  ausgenützt  Daß  die  Germanen  nicht 
als  primitive  Barbaren  wesentlich  zerstörend  in  die  römischen  Grenzgebiete  einge- 
drungen sind,  —  selbst  nicht  in  das  Norikum  Severins  in  dem  Maße,  wie  man  bisher 
meinte  — ,  sondern  daß  sie  allenthalben  die  wirtschaftlichen,  sozialen,  kulturellen  Ein- 
richtungen der  Eömer  oder  Kelten,  die  sie  vorfanden,  anpassungsfähig  übernahmen 
und  mit  neuer  Triebkraft  erfüllten,  ist  der  durchgehende  Zug  dieser  Untersuchungen. 
Das  ist  nun  nicht  so  neu,  wie  es  durch  das  Bekämpfen  von  Anschauungen,  die 
keineswegs  als  noch  vorherrschend  anzusehen  sind,  erscheinen  könnte.  Auch  hat  man 
natürlich  im  Auge  zu  behalten,  daß  sich  die  Anpassung  auf  Gebiete  bezieht,  die  von 
der  Geisteskultur,  in  der  der  Verfall  oder  doch  die  Beschleunigung  der  bereits  vor- 
handenen Zersetzung  unverkennbar  ist,  nur  wenig  berührt  waren.  Im  einzelnen  ist 
indes  die  Fülle  kritischer  Korrekturen  erstaunlich,  durch  die  unsere  Anschauungen 
doch  einen  gradmäßigen  Wandel  erfahren.  Was  der  Germane  dadurch  an  Kultur- 
fähigkeit gewinnt,  verliert  freilich  die  Eigenart  seiner  Kultur,  die  hier  namentlich  im 
Siedlungs-  und  Wirtschaftswesen  noch  weit  mehr  an  das  Spätrömische  angeschlossen 
wird,  als  man  bisher  annahm.  Als  Opfer  bliebe  nach  Dopsch  insonderheit  auf  der 
Strecke  die  ja  schon  länger  kränkelnde  Hypothese  von  dem  urgermanischen  Agrar- 
kommuuismus  ^)  und  die  Annahme  einer  über  das  Dorf  hinausreichenden  Markgenossen- 
schaft mit  Gemeineigentum  an  der  aus  Wildland  bestehenden  Mark.  Beide  Fragen, 
die  von  D.  hier  ja  nicht  zum  erstenmal  angeschnitten  werden,  dürften,  da  manche 
Punkte  doch  noch  nicht  völlig  befriedigend  aufgehellt  sind ,  auch  jetzt  nicht  allen 
Anhängern  der  herrschenden  Lehre  gelöst  erscheinen  und  darum  weiter  hart  um- 
stritten bleiben.  Ein  näheres  Eingehen  auf  die  schwierigen  und  verwickelten  Pro- 
bleme verbietet  hier  der  Raum  ^).     Eine   gründliche  Auseinandersetzung  mit  seinem 


1)  Der  zweite  Teil,  der  die  sozialisierende  Tätigkeit  der  Kirche  in  den  Mittel- 
punkt stellt  und  wie  der  erste  durch  Widerspruch  gegen  herrschende  Anschauungen 
viel  Staub  aufwirbeln  wird,  erschien  1920 ;  es  kann  hier  daher  nur  kurz  darauf  hin- 
gewiesen werden. 

2)  Die  bekannten  Angaben  von  Cäsar  und  Tacitus  werden  anders  ausgelegt  und 
in  zweite  Linie  gerückt,  den  Flurkartenfolgerungen  die  Beweiskraft  für  die  älteste 
Vergangenheit  abgesprochen,  den  soziologischen  Theorien  um  die  Mitte  des  19.  Jahrh. 
der  Hauptanteil  an  der  Entstehung  der  Hypothese  zugewiesen,  andrerseits  Zersplitte- 
rung in  Gewannen  mit  Gemengelage  und  Flurzwang  schon  für  den  römischen  grund- 
herrlichen Wirtschaftsbetrieb  in  Anspruch  genommen  usw. 

3)  Betreffs  der  Markgenossenschaft  vergleiche  man  den  Überblick  über  die  bis- 
herige Forschung  bei  H.  Wopfner,  Beiträge  x.  Gesch.  der  alt.  Markg.,  M.  I.  ö.  G.  33 
u.  34  (1912/13),  der  ebenso  wie  die  inhaltreiche  Abhandlung  des  im  Kriege  gefallenen 
H.  Slübler,  Zum  Streit  um  d.  alt.  deutsche  Markg.,  N.A.  39  (1914)  die  gegen  Dopsch 
(der  sich  M.  L  ö.  G.  34  verteidigt)  sprechenden  Momente  zusammenstellt.  Sachlich 
ist  der  Unterschied  der  Meinungen  nicht  ganz  so  groß,  wie  er  in  Verneinung  und 
Bejahung  hervortritt.     Hier  eine  Dorfgenossenschaft  mit  Nutzungsrechten  an   der  als 

1* 

3 


Werke  ')  ist  jedeufalls  für  alle,  die  sich  mit  diesen  Anfängen  germanischer  Geschichte 
befassen,  unerläßlich  *). 

Schroffer,  als  auf  dem  materiellen  Gebiete,  hat  sich  in  der  Geistes- 
kultur der  Bruch  rnit  den  alten  Überlieferungen  vollzogen.  Hier  ist 
Augustin  ein  vielunistrittener  Eckstein  an  der  Wende  der  Zeiten.  Sicher- 
lich, will  man  zu  seinem  vollen  Verständnis  vordringen,  so  hat  man 
von  allen  späteren  Umdeutungen  und  Folgewirkungen  abzusehen  und 
ihn  nur  in  seiner  Aufnahme  und  Umbildung  der  christlichen  Antike  zu 
würdigen.  Darin  bedeutet  das  Buch  von  J^.  Troeltscli ,  Augustin,  die 
christliche  Antike  u.  das  MA.  im  Anschluß  an  seine  Schrift  „  De  civitate 
Dei",  Hist.  Bibl.  36,  München  1916,  eine  gesunde  Reaktion  gegen  Be- 
trachtungen zu  sehr  vom  MA.  herüber. 

Indem  aber  nach  dieser  Zeit  hin  der  Schnitt  scharf  und  tief  gezogen  wird,  bleibt 
die  Studie,  die  eigenartig  und  bedeutend  namentlich  den  großen  Kulturethiker  heraus- 
arbeitet und  wertvolle  Ergänzungen  zu  des  Verfassers  „Soziallehren"  gewinnt,  für 
unsern  Zweck  hier  wesentlich  negativ ').  Was  aber  Augustins  Weltbild,  insonderheit 
seine  staatsrechtlichen  Anschauungen,  über  die  in  letzter  Zeit  ja  viel  gearbeitet  ist*), 
betrifft,  und  über  die  Tr.  mehr  beiläufig  und  stark  unter  dem  Einfluß  des  Werkes 
der  beiden  Garlyle  {A  Iltstory  of  mediaeval  political  theory  in  tlie  West,  Bd.  1.  2, 
1903/9-,  Bd.  3  von  A.  J.  Carlyle,  das  10.  bis  13.  Jahrh.  umfassend,  1916)  handelt,  so 
darf  die  Berechtigung  jenes  scharfen  Schnittes  billig  angefochten  werden.  Es  mag 
zugegeben  werden,  daß  das  Beste  nnd  Tiefste  von  A.s  Wesen  und  Lehre  im  folgenden 
Zeitalter  nicht  mehr  begriffen  und  gewürdigt  werden  konnte,  daß  der  Wandel  der 
allgemeinen  Weltverhältnisse  auch  auf  das  Übernommene  umbildende  Wirkung  üben 
mußte,  daß  der  Thomisraus  des  üochmittelalters  von  anderen  Ausgangspunkten  her 
andere  Wege  einschlug.  Daß  jedoch  das,  was  man  ma.liches  Weltbild  nennt,  mit  der  Unter- 
ordnung aller  weltlichen  Herrschaft  unter  das  Sacerdotium,  bei  A.  schon  im  Keime 
vorgebildet  war  und  von  seinen  Schriften  her  durch  Vermittlung  der  beiden  großen 
päpstlichen  Gregore  unvergleichlich  bestimmende  Wirkung  geübt  hat,  wird  der  ma.- 
liche  Historiker  sich  nicht  leicht  ausreden  lassen  ^). 

Erneute  Bestätigung  dafür  ist  zu  finden  in  dem  Buche  von  E.  Bern- 
heim, Ma.liche  Zeitanschauungen  in  ihrem  Einfluß  auf  Politik  u.  Ge- 
schichtschreihung,  Teil  I:  Die  Zeitanschauungen:  die  augustinischen  Ideen 
—  Antichrist  u.  Friedensfürst —  liegnum  und  Sacerdotium,  Tüb.  1918. 
B.  wiederholt   eindringlicher   und   in   weiterem  Rahmen,    was   er   schon 


res  nullius  zu  betrachtenden  Mark  als  Zubehör  der  Hufen;  dort  eine  bald  mit  der 
Dorfgenossenschaft  sich  deckende ,  bald  über  sie  hinaus  auf  mehrere  Dörfer  sich  er- 
streckende Markgenossenschaft  nicht  nur  mit  Nutzungsrechten,  sondern  einem  Gesamt- 
eigentum an  der  Mark  (das  aber  da,  wo  die  Mark  selbst  noch  nicht  fest  begrenzt 
war,  auch  nicht  klar  umrissen  sein  konnte).  —  Auf  die  spätma.liche  Markg.  bezieht 
sich  die  Streitfrage  natürlich   nicht. 

1)  Sehr  lehrreich  in  Ablehnung  und  Anerkennung  ist  namentlich  die  Besprechung 
von  H.  Wopfncr,  Hist  Viert.  20,  1920.    Vgl.  auch  F.  Philippi  in  Gott.  gel.  Anz.  1920. 

2)  Zu  der  Schrift  von  Rocssingh,  Het  gebruilc  en  bexit  van  den  grond  bij  Ger- 
manen en   Crlfrn,  1915  vgl.  Z.  f.  R  g.  A.  37,   1916,  S.  526. 

3)  Vgl.  I'.  Oerosa,  Sunt'  Agostino  e  la  decadenxa  deW  Inipero  Romano,  Turin  1916. 

4)  Kaum  einen  Fortschritt  scheint  F.  Offcrgelt,  Die  Staatslehre  des  h.  Augiistin 
nach  sehifn  sänitL    Werken.  Bonn  1914,  zu  bedeuten. 

5)  Man  vergleiche  auch  die  straffen  Darlegungen  darüber  in  dem  oben  S.  1 
angeführten  Buche  von  M.  Ritter.  Von  Aug.  heißt  es  da  S.  75,  er  habe  „eine  An- 
schauung vom  Verhältnis  des  Staates  zur  Kirche  begründet,  welche  fortan  die  lateinische 
Christenheit  des  MA.  beherrscht  hat". 


in  früheren  Studien  vorgetragen  ^).  Durch  eine  Menge  von  Dissertationen 
seiner  Greifswalder  Schüler,  die  man  sich  als  Vorarbeiten  für  ihn  ge- 
fallen lassen  wird,  wenn  sie  auch  nicht  alle  als  Belege  eigner  Forscher- 
tähigkeit  anzusehen  sind,  hat  er  inzwischen  seinen  Anschauungsstoff 
vermehrt  -). 

So  verfolgt  er  Augustins  Ideen  von  dem  Widerstreit  der  Gemeinschaft  Gottes 
mit  der  des  Teufels  und  in  Verbindung  damit  die  eschatologischen  Vorstellungen  vom 
tausendjährigen  Reiche  und  dem  Wüten  des  Antichrist  durch  die  Jahrhunderte  bis 
zur  Höhe  des  MA.  und  weist  die  Bedeutung  dieser  Anschauungen  und  der  sie  in  sich 
schließenden  Schlagworte  namentlich  für  die  Historiker  jener  Zeiten  nach.  Auf  diesem 
Grunde  skizziert  er  dann  nicht  wesentlich  neu,  aber  allenthalben  mit  eindrucksvollen 
Bemerkungen  das  Ringen  der  ideengeschichtlich  überlegenen  Papstkirche  mit  dem  fast 
überall  nur  in  der  Verteidigung  kämpfenden  Kaiser-  und  Königtum,  ein  Ringen,  das 
niemals  eine  Trennung  von  Kirche  und  Staat  im  modernen  Sinne  zum  Ziel  hatte, 
sondern  stets  auf  der  Basis  der  gemeinsamen ,  die  Geister  beherrschenden  Grund- 
anschauung geführt  wurde,  die  sich  letzten  Endes  aus  AugTistin  herleitete.  Man  wird 
eine  gründliche  Kenntnis  dieser  Dinge  sicherlich  mit  B.  als  notwendig  für  jeden 
Historiker  erachten,  der  tiefer  in  den  Geist  des  MA.  und  das  richtige  Verständnis 
seiner  Quellen  eindringen  und  die  Fehlgriffe  eines  modernen  Rationalismus  vermeiden 
will,  und  in  diesem  Sinne  wird  man  die  etwas  breiten  Ausführungen  für  recht  ver- 
dienstlich halten.  Immerhin  geht  B.  sowohl  mit  seiner  Klage  über  die  bisherige  Ver- 
nachlässigung dieser  Zeitanschauungen,  wie  mit  seinem  Glauben  an  die  unbedingte 
Echtheit  ihrer  jedesmaligen  Anwendung  doch  eine  Linie  zu  weit.  Solche  in  feste 
Schlagworte  umgeprägte  Weltanschauung  ist,  wie  B.  selbst  andeutet,  eine  Münze, 
deren  Bild  im  vielfältigen  Austausch  abgegriffen  wird  und  sich  mit  unreiner  Schicht 
überzieht.  Eben  diese  egoistischen  Inteiossen  gilt  es  auch  im  MA.  von  den  idealen 
Beweggründen  im  Einzelfalle  zu  sondern,  und  nicht  jeder,  der  da  gelegentlich  ab- 
weichend von  B.  die  ersteren  für  die  wirksameren  hält,  schätzt  darum  schon  gleich 
die  Weltanschauungsfragen  gering  ein.  Auch  sonst  wird  man  bei  aller  Würdigung 
irrationaler  Momente  B.s  Auffassung  nicht  überall  folgen  können,  beispielsweise  den 
Ernst,  mit  dem  Papst  Stefan  II.  sich  als  Vertreter  des  Apostels  Petrus  fühlte,  zwar 
vollauf  würdigen,  aber  trotzdem  bezweifeln,  daß  756  der  bekannte  Petrusbrief  an  die 
Frankenkönige  von  ihm  in  einem  Zustande  der  Inspiration  niedergeschrieben  sei,  an- 
statt das  Ergebnis  einer  politischen  Erwägung  der  Kurie  darzustellen.  Wie  weit  end- 
lich eigene  germanische  Rechtsanschauungen  und  die  geistige  Kindlichkeit  des  ma.- 
lichen  Menschen,  der  noch  nicht  über  die  Kategorien  von  Gut  und  Böse  hinaus  zu 
sondern  vermochte,  dem  augustinischen  und  eschatologischen  Vorstellungskreise  ent- 
gegenkamen, bliebe  noch  ergänzend  zu  würdigen. 

Daß  die  neueste  Geschichtsforschung  in  der  Tat  dem  kirchlichen 
JLeben  des  MA.  mit  viel  tieferem  Verständnis  gegenübersteht,  als  man 
nach  B.s  Klage  vermuten  sollte,  zeigt  vielleicht  kein  neueres  Werk  so 
handgreiflich  wie  U.  v.  Schuberts  Gesciiichte  der  christlichen  Kirche  im 
Frühmittelalter,  1.  Halbband,  Tüb.  1917  ^). 

Über  eine  Bearbeitung  des  Moellerschen  Lehrbuches  der  Kirchengeschichte  ist 
dieser  Band ,  weit  hinausgewachsen  zu  einer  völlig  selbständigen ,  das  ganze  Abend- 
land, auch  die  entlegeneren  Gebiete  wie  das  westgotische  Spanien  und  die  irische 
Klosterkirche,  umfassenden  und  doch  aus  den  Quellen  herausgearbeiteten  Darstellung 
des  Zeitalters  der  „Germanisierung  des  Christentums''  vom  Ende  des  5.  bis  ins  9.  Jahr- 
hundert.    Man   darf    es   hier  wohl  im  Rahmen  der  Kulturgeschichte  aufzählen,   weil 


1)  M.  I.  ö.  G.  6  (1885),  D.  Z.  f.  G.  7  (1896/7),  Z.  f.  E.  33,  R.  A.  2  (1912). 

2)  Vgl.  die  Zusammenstellung  von  22  dieser  Dissertationen  von  1910 — 16.  N.  A. 
41,  1917.  S.  327  ff. 

3)  Der  2.  Halbband  erschien  1921. 


es  das  tiefe  Eingreifen  der  Kirche  ia  alle  Lebensgebiete  schildert  und  seinerseits  ein 
schönes  Beispiel  für  den  Satz  ist,  daß  die  wertvollste  Förderung  der  Kulturgeschichte 
zumeist  von  den  Fachwissenschaften  ausgeht.  Was  ihm  aber  vor  allem  den  Charakter 
gibt,  das  ist  die  Ausschaltung  auch  der  letzten  konfessionellen  Einseitigkeit,  worin 
es  die  deutsche  Kirchengeschichte  des  bei  allem  Wahrheitstreben  doch  immer  stark 
subjektiven  A.  Ilauck  (f  7.  April  1918)  wesentlich  übertrifft.  Auch  von  katholischer 
Seite  kann  auf  diesem  Grunde ,  den  zu  erschüttern  man  dort  nicht  den  mindesten 
Anlaß  finden  möchte,  nun  kritisch  weitergebaut  werden;  die  von  F.  Overbeck,  dem 
Freunde  Nietzsches,  einmal  aufgestellte  Forderung  einer  „profanen  Kircheugcschichte", 
die  aber  ein  warmes  Herz  für  den  Gegenstand  nicht  ausschließt,  scheint  hier  zum 
mindesten  für  diesen  Abschnitt,  für  den  wir  schon  den  nötigen  inneren  Abstand 
haben,  wirklich  erfüllt  zu  sein  '). 

Da  einmal  der  Name  gefallen  ist,  so  mag  Overhecks  von  C  A.  Ber- 
noulli  aus  dem  Nachlaß  herausgegebene  kirchenhistorische  Vorlesung 
aus  den  Jahren  1887  —  93:  Vorgeschichte  u.  Jugend  der  ma.Uchen  Scho- 
lastik, Basel  1917,  hier  gleich  angeschlossen  werden. 

Die  geringschätzige  Vernachlässigung  der  Scholastik  hat  ja  in  dim  letzten  Jahi- 
zehnten  einer  eifrigen  Beschäftigung  mit  ihr  Platz  gemacht.  Denifle,  dann  Bäumker-) 
und  seine  Schüler,  Grabmann,  de  Wulf  und  andere  haben  nicht  nur  die  Erkenntnis 
im  einzelnen  mächtig  gefördert,  sondern  uns  auch  b/reits  neue  Zusammenfassungen 
geschenkt.  Hier  hat  der  raa.liche  Kulturhistoriker  Belehrung  zu  suchen,  der  den  neuen 
Stand  unseres  Wissens  erkunden  will.  Wenn  trotzdem  auf  die  ältere  Arbeit  von  0. 
mit  Nachdruck  hingewiesen  werden  darf,  so  ist  es  ein  eigenartiger  Zauber,  der  über 
dem  Buche  ruht,  i)ei'sönliches  Erfassen  und  schlicht-künstlerisches  Gestalten,  letzten 
Endes  eben  doch  die  ganze  noch  lebendig  zu  uns  redende  Art  dieses  Wahrheit- 
suchers, die  es  trotz  des  heute  stark  veralteten  Standpunkts  geeignet  erscheinen  läßt, 
den  Historiker  für  die  Probleme  dieses  oft  spröden  Stoffes  zu  erwärmen  ^).  Freilich 
wird  er  da  nur  bis  an  die  Schwelle  der  nur  noch  kurz  skizzierten  Hochscholastik  im 
13.  Jahrb.  geleitet;  den  ganzen  Stoff  hat  ein  anderer  Jugeudbekannter  Nietzsches,  der 
jüngst  verstorbene  P.  Deussen  knapper,  handhuchmäßiger  in  seiner  Allgemeinen  Ge- 
schichte der  Philosophie,  2.  Bd.,  2.  Abt.,  2.  Hälfte  1915,  dargestellt^). 

Wenden  wir  uns  von  allgemeineren  Darstellungen  ■'■)  zu  besonderen 


1)  Von  der  katholischen  Kompilation  /''.  Mourrets,  Hisioire  generale  de  l'eglise, 
erschienen  Bd.  2—4,  Paris  1914 — 19  (4. — 14.  Jahrb.).  Sie  kommen  für  die  Forschung 
kaum  in  Betracht. 

2)  Vgl.  Ct.  Bäumker,  Der  Platonisnms  im,  MA.,  Münch.  1916. 

3)  In  welcher  durch  die  Zeit  der  Ausarbeitung  bedingten  Begrenzung,  ersieht 
man  z.  B.  aus  der  Besprechung  von  E.  Seeberg,  D.  L.  Z.  1920,  Kol.  32 ff. 

4)  Vgl.  auch./.  Iliisih,  A  historg  of  mediaeral  Jewish  philosophg,  London  1916; 
A.  Schneider,  D.  abendländ.  Spelmlation  des  12.  Jli.  i.  ihr.  Verh.  x.  arisiotel.  u.  jüd.- 
arab.  Philosophie,  Beitr.  z.  Gesch.  d.  Phil.  d.  MA.  17,  Münst.  1915;  M.  Horten,  Die 
Hauptlcliren  des  Arerrucs,  Bonn  1919;  F.  W.  Bussel,  ReUgious  thought  and  heresy  in 
the  7?>iddle  ages,  Lond.  1918.  —  Zur  Geschichte  des  Erziehungswesens  sei  vermerkt: 
G.  Mnnacorda,  Storia  dolla  scuola  in  Italia ,  Bd  1.  2  medio  evo.,  Palermo  1914; 
A.  F.  Leach,  Tlie  schools  of  mediaeml  England,  London  1915.  Für  die  Auffassung 
des  Weltbildes  im  MA.  ist  von  erheblicher  Bedeutung:  P.  Duhem,  Le  Systeme  du 
moTule.  Ilistoire  des  doctrmes  cosmologiques  de  Piaton  u  Copernic,  Bd.  3  u.  4,  Paris 
1915/16.  Wenn  auch  dies  hier  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  14.  Jahrb.  geführte  Werk 
durch  den  1916  erfolgten  Tod  des  Verf.  unvollendet  bleiben  wird,  so  ist  doch  aus 
dem  Nachlaß  von  mehreren  weiteren  Bänden  bereits  1917  der  fünft(!  zurückgreifende, 
mit  wichtiger  Danstellung  der  aristotelisch-arabischen  Einflüsse  auf  die  vorher  durch 
PtolemäuH  bestimmte  astronomische  Schule  erschienen. 

5)  Hingcwirscn  .st?i  auf  /'.  Diepgen,  Gesch.  der  Medixin  II,  Mittelalter  (Samml. 
Göschen)  1914,  und  das  zwai'  nicht  streng  wis.scnschaftliche,  aber  auf  guter  Anschauung 

6 


kulturhistorischen  Studien,  wobei  zeitlich  enger  umgrenzte  Stoffe  besser 
unter  den  betreffenden  Perioden  eingereiht  seien,  so  ist  mit  Befriedigung 
zu  vermerken,  daß  das  von  J.  Hoops  herausgegebene  Reallexikon  der 
germanischen  Altertunishunde,  eine  Fundgrube  der  älteren  germanischen 
Kultur,  durch  die  Mitarbeit  erster  Fachkenner  von  höchster  Zuverlässig- 
keit, auch  während  des  Krieges  trotz  aller  Ungunst  der  Zeiten  rüstig 
fortschreiten  und  vorbehaltlich  späterer  Nachträge  zu  einem  Abschluß 
gebracht  werden  konnte  (Straßb.   1918)  ^). 

Ein  anderes  großes  Unternehmen,  das  für  die  Geistesgeschichte  des 
MA.  eine  wichtige  Quellengrundlage  schaffen  will,  die  Ausgabe  der 
Mittel(dterliclien  Bibliothehshataloge ,  konnte  in  beiden  Abteilungen  mit 
je  einem  stattlichen  Bande  eröffnet  werden:  mit  den  Katalogen  Nieder- 
österreichs von  Th.  GoUlieb,  Wien  1915,  und  denen  der  Konstanz&r 
Diözese  von  P.  Lehmann,  Münch.  1918  -).  Hoffentlich  gelingt  es,  wenn 
auch  mit  einigen  den  neuen  Verhältnissen  entsprechenden  Beschrän- 
kungen, das  bedeutsame  Werk  auch  weiterhin  seinem  noch  recht  fernen 
Ziele  zuzuführen ! 

Die  Gesamtheit  des  ma.lichen  Geisteslebens  zu  begreifen  und  zu 
würdigen,  rückt  neuerdings  als  eine  Hauptaufgabe  immer  mehr  in  den 
Mittelpunkt  der  Forschung;  in  dieser  Hinsicht  kann  man  auch  von 
einem  Erlahmen  des  allgemeinen  Interesses  am  MA.  durchaus  nicht 
sprechen,  eher  vom  Gegenteil,  ist  doch  z.  B.  der  Gegenwartswert  seiner 
bildenden  Kunst  in  beständigem  Steigen.  Auch  daß  der  erste  sehr  be- 
achtenswerte Versuch  einer  derartigen  Durchdringung:  v.  Eichens  Gesch. 
u.  System  der  ma.lichen  Weltanschauung  1917  in  3.  Aufl.  erscheinen 
konnte,  verrät  das  starke  Bedürfnis.  Genügen  kann  indes  das  allzu 
schematisch  angelegte,  in  wichtigen  Grundanschauungen  überholte  Buch 
nicht  mehr.  Für  eine  neue  Zusammenfassung  sind  jedoch  zahlreiche 
und  mühsame  Vorstudien  erforderlich,  welche  die  Summe  der  geistigen 
Erscheinungen  in  ihrer  von  Altertum  und  Neuzeit  abweichenden  Eigen- 
art unter  verschiedenen  Gesichtspunkten  zu  ergründen  hätten.  Wie  das 
etwa  an  der  Hand  der  Geschichtschreibung  geschehen  müßte,  wie  da 
die  verschiedenen  Beobachtungsreihen  (Erfassung  der  Außenwelt,  Persön- 

beruhende  und  für  gebildete  Laien  anregende  Buch  von  P.  R.  Scheffel,  Verkehrsgesch. 
der  Alpen,  Bd.  2  Mittelalter,  Berl.  1914. 

1)  Ein  einzelner  Zweig  der  germ.  Altertumsk.  ist  tüchtig  behandelt  von  M.  Jahn, 
D.  Bewaffnung  der  Germayien  i.  d.  älteren  Eisenxeit  etwa  700  v.  Chr.  bis  200  n. 
Chr.,  Mannusbibl.  Nr.  16.  1916.  —  Zu  zahlreichen  früheren  Schriften  hat  L.  Wilser, 
Deutsclie  Vorzeit,  2.  Aufl.,  Berl.  1918,  eine  volkstümliche  Einführung  in  die  germ. 
Altertumsk.  gefügt,  die  von  der  Annahme  der  Absta  ,nung  aus  Südskandinavien  als 
Urheimat  beherrscht  ist.  Vgl.  auch  ders.,  Denhnälei  er  deiäschen  Gesch.,  Volkstüml. 
Samml.   der  ältpsfen  Ur-k.,  Leipz.  seit  1918.     G.  N    ',el,  Germ.  Heldentum,  QueUen- 

.  ..  .  enszeugnisse,  Jena  1915. 

2)  Verwertet  mit  manchen  anderen  Zufügui  n  für  die  einzelnen  ma.lichen 
Schriftsteller  von  M.  Manitius,  N.  A.  41,  1919.  >  i.  für  Dänemark  den  Artikel  von 
Flierl  .Joergensen,  Les  biblioth'eques  danoises  au  7r  ;en  äge  in  Nordisk  Tidskr.  för  Bok- 
och  Biblioteksväsen  1915.  Endlich  die  Ergänzung  betreffs  jüngerer  Materialien  (nach 
15Ü0)  von  P.  Lehmann  selbst,  Quellen  zur  Feststellung  u.  Geschichte  ma.licher  Biblio- 
theken usw.,  Hist.  Jahrb.  40,  1920. 


licbkeitsscbilderung,  Durchdringung  der  Tatsachen,  Geltendmachung 
eines  natürlichen,  ungeistlichen  Urteils)  in  ihrer  Übereinstimmung  zu 
einer  stärkeren  Gliederung  der  geistigen  Kulturentwicklung  des  MA. 
führen  könnten,  bat  B.  Schmcidkr  in  einer  akademischen  Antrittsvor- 
lesung Gcschiclitschreihung  u.  Kultur  im  MA.,  A.  f.  Kult.  13,  1917  an- 
regend angedeutet. 

Literatur  und  bildende  Kunst  gehören  vornehmlich  zu  den  Gebieten, 
auf  denen  man  heute  hofft,  in  das  Wesen  des  MA.  einzudringen.  Die 
Faclimiinner  leisten  da  natürlich  die  wertvollste  Arbeit;  die  neuerlich 
allgemein  nachgesprochene  Klage  über  das  Spezialistentum  darf  nicht 
das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten;  \Yas  wir  allenthalben  brauchen, 
sind  ja  nicht  in  alles  hineinredende  Dilettanten,  sondern  weitblickende 
Spezialisten.  Der  Historiker  nimmt  die  Ergebnisse  ihrer  Forschung 
dankbar  auf;  in  manchen  Fällen  kann  er  sich  auch  mit  Erfolg  daran 
beteiligen.  So  ist  z.  B.  das  Buch  von  W.  Ganzenmüller,  Das  Natiir- 
gefühl  im  MA.  (Beitr.  z.  Kult.  18),  Leipz. -Beri.  I9l4,  schon  um  des 
reichen  Stoffes  willen,  den  der  Vf.  aus  den  literarischen  Quellen  (wenn 
auch  mit  gewisser  Beschränkung,  z.  B.  mit  Beiseitelassung  der  skandi- 
navischen) gewonnen  hat  und  geschmackvoll  vor  uns  ausbreitet,  eine 
recht  brauchbare  Leistung. 

Aber  auch  die  besonnene,  jeder  Konstruktion  abholde  Methode  verdient  An- 
erkennung. Es  wird  da  gezeigt,  wie  zu  dem  einpfindsamen  Naturgefühl  und  der 
.scharfen  Beobachtung  der  Spätantike  die  transzendentale,  religiös-moralische  Auffassung 
des  Chri.stentums  in  Gegensatz  tritt,  wie  sie  ob.siegt,  sich  auch  wider  die  künstliche 
Belebung  der  alten  Formen  in  der  Karoling.Tzeit  behauptet  und  zwei  Jahrhundeite 
alloinherrschend  wird,  bis  sie  seit  etwa  1100  zwar  zu  ihrer  vollen  Höhe,  bis  zur 
christlich  -  mittelalterlichen  Naturanschauuug 'des  hl.  Franz  emporsteigt,  aber  neben 
sich  zwei  andersgeartete  Strömungen  emporkommen  sieht:  eine  an  spätantiken  Vor- 
bildern orientierte  aufklärerische  Kichtung  mit  der  frisch  sinnlichen  Vagantendichtung, 
die  zum  Humanismus  hinleitet  ^j  und  die  Poesie  der  Troubadours  und  Minnesinger, 
die  christliche  Ausdrucksformen  unter  Zuhilfenahme  der  antiken  mit  subjektivem  Ge- 
fühl eifüUt*). 

Über  erstere  bringt  H.  Süßmilch,  Die  lat.  Vagantenpoesie  des  12. 
u.   13.  Jahrh.   als  Kulturerscheinung ,    Leipz.  1918    (Beitr.  z.  Kult.  25) 


1)  Für  das  schon  im  12.  Jahrh.  wieder  erwachende  Interesse  an  dem  römischen 
Altertum  sei  auf  die  bisher  ungedruckte,  nur  aus  uinem  Auszug  im  Polychronicon 
des  Ranulj.'h  Higden  bekannte  Schrift  des  vermutlich  englischen  Mayistcrs  Gregorliis 
„De  Mirabiiibits  zuhis  liumae''  verwiesen,  die  M.  H.  James,  Engl.  bist.  Kev.  32,  1917, 
aus  einer  Hs.  in  Sl.  Catharine's  College,  Cambridge  s.  XIII  abgednickt  hat.  Mit  den 
bekannten  ,,  Mirabilia"  hat  sie  nur  geringe  Berührung.  Interessiert  ihr  Inhalt  vor- 
nehmlich den  Archäologen,  so  i.st  er  doch  auch  für  die  ma. liehe  Auffassung  der  Alter- 
tümer bemerkenswert.  Es  steckt  doch  schon  etwas  vom  Humanisten  in  Magister 
Gregor,  wenn  er  zur  Beschreibung  der  römischen  Venusstatue  hinzufügt:  „Hanc  autem 
propter  mirandam  speciem  et  nescio  quam  magicam  persuasionem  ter  coactus  sum 
visere,  cum  ab  hospicio  meo  duobus  stadiis  di-staret.'' 

2)  Dersf'lbe  Verf.  hat  die  emjifiytAsame  Naturbehachlung  im  MA.,  A.  f.  Kult.  12, 
1914,  aus  seinem  Buche  herausgehoben.  —  Anna  Müldhäuscr,  Lnndschaftsschilderimg 
i.  liiirfeii  der  ital.  Friihrenaissance,  Berl.  1914  (Abh.  Freib.  i./Br.  56).  gibt  eine  Sonder- 
studi'-  in  ähnlicher  Kichtung,  die  für  die  Anfänge  des  Humanismus  wohl  em  ge- 
steigertes Naturintere.sse,  aber  Petrarcas  Schilderungen  doch  als  eine  hervorragende 
Einzelerscheinung  feststellt. 

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mehr  Zusammenfassendes  als  Neues  ^),  während  für  letztere  die  lang- 
versprochene Arbeit  von  K.  Biirdach,  über  den  Ursprung  des  ma.licJien 
Minnegesangs ,  Liehesromans  u.  Frauendienstes,  S.  B,  d.  Berl.  Ak.  1918 
(mitgeteilt  schon  1904),  antreibend  in  weite  Fernen  weist  2). 

Die  ältere,  für  den  Historiker  von  vornherein  eioleuchtende,  aber  von  der  neueren 
Philologie  beiseite  geschobene  Yermatung  von  dem  Ursprung  im  arabischen  Spanien 
verstärkt  er  durch  eindrucksvolle  Hinweise  auf  die  formverwandte ,  jahrhundertelang 
vorher  geübte  Lyrik  an  den  arabischen  Höfen,  über  die  von  den  Arabologen  weitere 
Aufklärung  erhofft  wird.  Die  letzten  Spuren  scheinen  rückwärts  auf  hellenistische 
Vorbilder  der  alexandrinischen  Epoche  und  persische  Einflüsse  zu  deuten  ^).  Über 
„die  innere  Ursache  für  die  Entstehung  des  Minnesangs"  äußert  sich  ßurdach  sehr 
zurückhaltend.  „Da  wirken  in  geheimer  Tiefe  Wandlungen  und  Weitungen  der  ma.- 
lichen  europäischen  Psyche .  die  verwachsen  sind  mit  dem  gesamten  Entwicklungs- 
prozeß der  abendländischen  Kultur." 

Weniger  zurückhaltend  ist  man  neuerdings  von  kunstphilosophischer 
Seite  den  tiefsten  Problemen  ma.licher  Kunst  gegenüber  gewesen.  Man 
wollte  da  gewissermaßen  gleich  aufs  Ganze  gehen,  —  anstatt  mit  be- 
dächtiger Empirie  sich  dem  Ziele  zu  nähern,  lieber  mit  leichtbeflügelter 


1)  W.  Meyer,  aus  Speyer.  Der  Kölner  Archipoeta,  Gott.  Nachr.,  Geschäftl.  Mitteü. 
1914  handelt  über  diesen  Dichter,  den  er  nicht  zu  den  Vaganten,  sondern  zu  den 
Ministerialen  Reinaids  von  Dassel  rechnen  möchte,  wohl  mehr  anmutig,  als  kritisch 
überzeugend.  Zum  5.  Gedicht  vgl.  die  historischen  Deutungsversuche  von  K.  Scham- 
bach und  B.  Schmeidler  in  Ann.  d.  bist.  Yer.  f.  d.  Niederrh.  102  u.  103  (1918  u.  1919). 
Vgl.  Walter  Map.  De  migis  curialmm  ed.  by  M.  B.  James.  Oxf.  1914  (dazu  Emen- 
dationen  von  H.  Bradley,  Engl.  bist.  Rev.  :i2,  1917).  Tgl.  auch  M.  E^x>osito,  On  some 
unpublished  poems  attributed  io  Alexander  Scckarn  (=  Nequam  f  1217),  Engl.  bist. 
Rev.  30.  1915:  8  Gedichte  aus  Cod.  lat.  11867  der  Pariser  Nationalbibliothek. 

2)  Für  die  Kulturzusammenhänge  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  kann 
hier  das  schon  vor  dem  Kriege  erschienene,  wegen  seiner  deutschfeindlichen  Tendenz 
nur  mit  Vorsicht  zu  benutzende  Buch  von  L.  Reynaud,  Les  origines  de  l'influence 
francaise  en  AUemagne  I  (950—1150.  Paris  1913i,  nur  genannt  werden.  Man  beachte 
etwa  die  Auseinandersetzung  Reynauds  mit  P.  Grillet,  Rev.  bist.  115  (1914).  S.  I9öff. 
und  des  letzteren  Gesamturteil:  ,, M.  Reynaud  denigre  System ati quem eut  TAllemagne. 
II  suffit  de  feuilleter  son  livre  pour  s"en  convaincre. "  —  Eine  ursprünglich  als  Ein- 
leitung gedachte,  aber  zu  einem  Buch  erweiterte  populäre  Übersicht  R.s  Histoire 
gmerale  de  Vinfl.  fran^.  en  All.  erschien  Paris  1914,  2.  Aufl.  1915.  Für  das  Gebiet 
der  bildenden  Kirnst  insbesondere  hat  E.  Male,  L'art  ullemand  et  l'art  fran^ais  du 
moyen  äge,  Paris  1917,  mit  äi:nlicher  Ausschließlichkeit  die  Originalität  der  französi- 
schen, die  Abhängigkeit  der  deutschen  Kunst  betont.  Man  wird  solche  Ausführungen 
in  Deutschland  sorgfältig  zu  beachten  haben,  aber  von  vornherein  bezweifeln,  daß 
eine  Stimmung,  die  sich  im  Anhang  in  leidenschaftlichen  Protesten  gegen  die  ,,  syste- 
matischen" deutschen  Zerstörungen  der  Kathedralen  von  Reims  und  Soissons  ergeht, 
zur  Erzieluug  objektiver  Wertungen  die  geeignete  ist.  —  Das  unter  dem  Titel: 
D.  Fitterspiegel,  Gesch.  der  vornehmen  Welt  i.  roman.  MA.  erschienene  Buch  von 
A.  V.  Gieichcn-Evßniirrn,  Stuttg.  1918,  das  im  Unterhaltungston  Richtiges  und  Ver- 
kehrtes über  Sitten  und  Anschauungen  der  oberen  Kreise  v.  Ausgang  des  Altertums 
bis  z.  13.  Jahrb.  vorträgt,  kommt  wissenschaftlich  kaum  in  Betracht.  Seitdem  auch 
die  Fortsetzung:  Die  gotische  Welt,  1919.  Vgl.  auch  F.  H.  Cripps-Day,  The  history 
of  tke  tournament  in  E)igland  and  in  France,  Lond.  1918  und  R.  G.  Clephan,  The 
toumament ;  its  periods  and  phases,  Lond.  1919  (mit  Abbild). 

3)  S.  Singer,  Arabische  v.  europäische  Poesie  im  MA.,  Abh.  d.  Berl.  Ak.  1918 
hat  füi'  solche  Herleitung  einige  weiteren  Belege  erbracht.  Vielleicht  ist  in  diesem 
Zusammenhange  auch  verwendbar:  Boutros  Ghali,  La  tradition  cheraleresque  des 
Arabes,  Paris  1919. 


Intuition  ins  Schwarze  treffen  ^).  Der  unmittelbare  Gegenwartswert,  den 
die  ma.liche  Kunst  überraschend  wiederjjewonnen  hat,  stand  dahinter; 
da  schien  es  keines  Historismus  zur  Erkenntnis  zu  bedürfen.  Das 
charakteristische  Buch  für  diese  Richtung  sind  W.  Worringers  Form- 
])rohleme  der  Gotik,  Münch.  1911.  Es  hat,  wie  schon  die  5  Auflagen 
bis  1918  zeigen,  während  des  Krieges  stark  weitergewirkt  und  kann 
hier  daher  nicht  umgangen  werden. 

Auffassungen  Lainprcchts  und  Andeutungen  des  Archäologen  A.  Conze  haben 
Anregung  geübt.  Seine  Stärke  liegt  iu  einer  sehr  feinen  Einfühlungs-  und  Ausdrucks- 
gabe, durch  die  es  auch  dem  Historiker  bei  aller  Zurückhaltung  Wertvolles  bietet; 
seine  Schwäche  in  einer  Konstruktionssucht,  die  den  Reichtum  ku!turge.schichtlicher 
Erscheinungen  unter  wenige  Generalnenner  zwingt  und  mehrfach  auch  in  ihrer  Aus- 
deutung überkünstlich  wird.  Die  gestellte  Aufgabe,  die  aus  dem  Titel  nicht  ganz  er- 
sichtlich wird,  das  auf  unruhige  Bewegtheit  und  seelischen  Ausdruck  gerichtete 
„  Kunstwollen "  der  nordalpinen  Völker  gegen  die  ruhige  Harmonie  und  gesetzmäßige 
Körpeischönheit  der  klassischen  Kunst  abzugrenzen  und  es  von  sich  aus  zu  begreifen, 
gehört  sicherlich  zu  den  wichtigsten  kulturgeschichtlichen  Problemen.  Bedauerlich 
ist,  daß  jenes  von  der  Hallstatt-  und  La-Teneperiode  her  bis  zum  Barock,  Rokoko,  ja 
zur  modernsten  Eisenkonstruktion  verfolgte  Kunstwollen,  weil  es  in  der  gotischen 
Baukunst  seinen  Gipfel  erreichte,  „gotisch"  genannt  ist,  so  daß  ein  weiterer  und 
engerer  Begriff  nun  mißverständlich  durch  dasselbe  Wort  bezeichnet  wird,  und  über- 
dies die  Versuchung,  „gotisch"  als  „germanisch"  aufzufassen,  naheliegt,  obwohl  z.  B. 
das  keltische  Kunstwollen  davon  auch  nach  W.  nicht  zu  trennen  ist.  Schon  spukt 
allenthalben  der  „gotische  Mensch",  den  W.  sich  neben  dem  „klassischen"  und 
„orientalischen"  und  sogar  neben  einem  „primitiven"  doch  wohl  wesentlich  zu 
heuristischen  Zwecken  konstruiert  hat,  in  einer  Unzahl  populärer  Schriften,  und  dies 
Gespenst  wird  sich  nicht  so  leicht  wieder  verscheuchen  lassen.  Dabei  wird  denn  der 
Begriff  „Gotik"  wohl  noch  weiter  umgemodelt  oder  geradezu  ad  absurdum  geführt, 
wie  in  dem  doch  recht  flachen  Buche  von  K.  Schefflet,  Der  Geist  der  Gotik,  Leipz. 
1917"^),  wo  sogar  in  den  Figuren  vom  Üstgiebel  des  Parthenon  ungriechische  Gotik 
entdeckt  wird,  und  unter  den  Begriffen  „griechisch"  und  „gotisch"  alte  Bekannte 
■wie  „naiv"  und  „sentimental",  ,, apollinisch"  und  „dionysisch"  in  neuer  Vermum- 
mung aufmarschieren.  Bei  aller  Bewunderung  für  die  Gotik  liegt  noch  Worringer 
eine  Feindschaft  gegen  die  Renaissance,  die  jene  in  ihrer  Entwicklung  jäh  unter- 
brochen hat,  fern,  sieht  er  darin  doch  geradezu  eine  Reaktion  dos  Gesunden  gegen 
die  „Hy-sterie"  der  Gotik.  Indessen  eine  Ausbeutung  in  ersterem  Sinne  ergab  sich 
leicht  und  ist  ja  ein  bemerkenswerter  Zug  der  Gegenwart  geworden  ^). 

Der  Historiker,  der  sich  eine  Zeitlang  von  derartigen  Schriften 
tragen  läßt,  wird  nicht  leicht  das  Gefühl  einer  gewissen  Seekrankheit 
loswerden;  ihm  fehlt  allenthalben  die  unmittelbare  Berührung  mit  dem 
festen  Boden  der  Wirklichkeit.     Da  mag  es  erholsam  sein,  diesen  Boden 


1)  Von  einer  Berücksichtigung  der  durch  die  Problemstellungen  von  0.  Spenglers 
Untergang  des  Abendlandes  I,  Münch.  1918,  angeregten  überreichen  Erörterungen 
glaube  ich  hier  um  so  eher  absehen  zu  sollen,  als  mir  der  Ertrag  für  die  ma.liche 
Gesch.  äußerst  gering  erscheint. 

2)  The  substance  of  Oothie  lautet  der  Titel  eines  Buches  von  B.  A.  Cram,  Lond. 
1918,  das  die  Architektur  von  Karl  d.  Gr.  bis  Heinrich  VIII.  in  6  Vorlesungen  be- 
handelt. 

3)  Schriften  wie  die  von  IL  Benx  in  seinen  Blättern  für  deutsche  Art  und 
Kunst  I — 4,  Jona  1915/16  sind  ihrem  Zwecke  nach  mehr  auf  Gc^enwartswirkung  als 
auf  Vergangonheitserkeuntnis  abgestimmt.  Neben  Worringer  kommen  natürlich  ältere 
Anregungen,  wie  Thodes  Artikel  „Renaissance",  Bayreuth.  Bl.  22,  1899  iu  Betracht. 
Zur  kritischen  Würdigung  vgl.  die  unten  genannte  Schrift  Deutsche  Renaissance  von 
Burdach. 

10 


an  der  Hand  des  reichen  Materials  wiederzugewinnen,  das  die  kunst- 
geschichtliche Forschung  auch  während  der  Krjegsjahre  durchgearbeitet 
und  bereitgestellt  hat.  Die  noch  etwas  schwankende  Landungsbrücke 
betritt  man  etwa  mit  einem  Werke  wie  J.  Strzygowskis ,  Ältai-Iran  u. 
Völkerwanderung .  Ziergeschichtl.  Untersuchungen  über  den  Eintritt  der 
Wander- und  Nordvölker  in  die  Treibhäuser  geistigen  Lebens,  Leipz.  1917  ^). 
In  der  Problemstellung  herrscht  hier  für  die  ältesten  Zeiten  eine  gewisse  Ver- 
wandtschaft mit  Worringers  Buch,  die  Methode  aber  ist  grundverschieden;  denn  sie 
gebt  aus  von  der  Deutung  der  immer  reicheren  Massen  neuen  Stoffes,  die  der  un- 
ermüdliche Schatzgräber  aus  dem  Osten  herbeiführt  und  zu  dem  älteren  in  Beziehung 
setzt.  Daß  hier  die  meisten  Ergebnisse  noch  unsicher  bleiben  und  heiß  umstritten 
werden,  liegt  großenteils  in  der  Natur  dieses  Stoffes.  Der  Historiker  kann  da  im 
einzelnen  auch  nicht  folgen ;  aber  wenigstens  ein  Einblick  in  diese  Weltweite,  für  die 
Asien  und  Europa  eine  große  Kultureinheit  bilden,  dürfte  ihm  so  gut  tun,  wie  einem 
deutschen  Kleinstaatler  ein  kurzer  Aufenthalt  im  angelsächsischen  Weltreich.  Auch 
sind  es  Fragen  von  hoher  kulturhistorischer  Bedeutung,  auf  die  da  neue  Antworten 
gesucht  werden.  Ob  die  Germanen  der  Völkerwanderung  -in  ihrer  künstlerischen  Be- 
tätigung gänzlich  von  der  römischen  Welt  abhingen,  oder  ob  sie  ein  von  ihr  unab- 
hängiges KuHStempfinden  bis  nach  dem  westgotischen  Spanien  trugen,  ob  sie  die 
Formen  dafür  vom  Iran  her  über  Kleinasten  und  Armenien  schon  am  Schwarzen 
Meer  gewannen,  ist  für  die  Gesamtbeurteilung  doch  von  erheblicher  Wichtigkeit. 
Und  daß  etwa  die  langobardische  Kunst  auf  dem  Wege  der  Klöster  von  der  koptischen 
beeinflußt,  das  christliche  Irland  auch  zur  Zeit  seiner  heidenumringten  Vereinzelung 
durch  Wanderung  ägyptischer,  syrischer,  kleinasiatischer  Mönche  zur  See  in  unmittel- 
barer Verbindung  mit  der  hellenistischen  Welt  geblieben  sei,  das  und  so  manche  andere 
Aufstellung  verdient  sicherlich  Beachtung. 

Was  die  Hauptfrage  hinsichtlich  der  künstlerischen  Selbständigkeit 
der  Germanen  betrifft,  der  während  des  Krieges  auch  die  kleine  Aus- 
stellung für  VölkerwanderungskuDst  im  Kaiser -Friedrich -Museum  in 
Berlin  diente,  so  wird  man  in  die  neueren  Probleme  bequem  eingeführt 
durch  einen  Aufsatz  von  C.  Neumann,  Von  ältester  deutscher  Kunst, 
Preuß.  Jahrb.  163,  1916,  wo  auch  das  1909  erschienene  Werk  von 
Ä.  Haupt,  D.  älteste  Kunst,  insbes.  die  Baukunst  der  Germanen  v.  d. 
Völkenvanderung  bis  z.  Karl  d.  Gr.,  das  mit  seiner  starken  Betonung 
eignen  germanischen  KunstwoUens  ja  viel  Staub  aufgewirbelt  hat,  und 
seine  1913  begonnenen  Monumenta  Germaniae  architectonica  anerkennen- 
der, als  es  sonst  meist  geschieht,  besprochen  werden.  Haupt  selbst  hat 
sich  1916  noch  einmal  zu  dem  Gegenstand  geäußert  in  dem  Aufsatze 
Die  Anfänge  der  germanischen  Baukunst  (Die  Bau  weit,  Bd.  7).  Den 
völhg  entgegengesetzten  Standpunkt  vertritt  da  G.  Dehio  in  seiner  Gesch. 
der  deutschen  Kunst,  Bd.  1.  2,  Berl.- Leipz.  1919/21  mit  besonderer  Schärfe 
und  für  sehr  viele  sicherlich  völlig  überzeugend ;  doch  wird  er  auf 
diesem  Felde,  wo  dem  subjektiven  Ermessen  Spielraum  bleibt,  vermut- 
lich Gegner  behalten.  Im  übrigen  braucht  auf  das  monumentale  Werk, 
das  durch  seine  nun  bis  etwa  1500  vorgedrungene  Darstellung  gerade 
den  ma.lichen  Historiker  zu  tiefstem  Danke   verpflichtet,  ja  nur  hinge- 


1)  Man  vergleiche  auch  von  dems.  Verf.  die  Aufsätze:  Die  deutsche  bildende 
Kunst  u.  Italien  in  Das  7ieuc  Deutsc/da?id,  Bd.  3,  1915  und  D.  bild.  Kunst  der  Arier 
in  Unser  Vaterland  Bd.  1,  1916.  In  der  Herleitung  aus  Persien  berührt  sich  Strz. 
mit  den  Hinweisen  Burdachs  auf  literarischem  Gebiet. 

11 


wiesen  zu  werden.  Nach  so  manchen  luftigen  Konstruktionen  wirkt 
dieser  allenthalben  auf  dem  festen  Boden  der  Sachkunde  ruhende,  aber 
darum  die  Ötoffmassen  nicht  weniger  geistig  meisternde  und  wertende 
Aul  bau  geradezu  wie  eine  Erlösung. 

An  der  ganz  überwiegenden  Abhängigkeit  der  Kunstformen  von 
Rom  hält,  wenigstens  iür  die  fränkische  Zeit,  auch  lest  P.  Giemen  in 
seinem  großen  Werke  Die  romanische  Monumentalmalerei  in  den  Hhein- 
landcn,  Düsseid.  1916  (Text  zu  dem  schon  1905  voraufigeschickten 
Tatelbandj. 

Für  die  tiefere  Einfühning  iu  die  AVeit  dieser  rheinischeu  Wandmalereien,  die 
es  jetzt  ermöglicht,  wird  man  nicht  dankbar  genug  sein  können,  drängen  sich  doch 
schon  beim  Durchblättern  so  mancherlei  kulturelle  Beziehungen  auf:  die  tiefsinnige 
Darstellung  der  Vision  Ezechiels  in  Schwarzrheindorf  wurde  fast  gleichzeitig  mit  der 
Eschatologie  im  letzten  Buche  der  Clironik  Ottos  von  Freising  geschaffen,  und  ge- 
mahnen uns  nicht  wenig  später  die  machtvollen  Erscheinungen  der  heiligen  Bischöfe 
iu  S.  Gereon  in  Köln,  die  fo  leidenschaftlich  ihr  Schwert  über  dem  Haupte  schwingen 
und  so  selbstsicher  auf  die  Leiber  Unterworfener  treten,  an  die  großen  bischöf- 
lichen Staatsmänner  und  Heerführer  Barbarossas"?  Zeigt  sich  nicht  die  gleiche  Ge- 
schmacksrichtung in  den  letzten  barocke»  Ausläufern  der  romanischen  Malerei  (etwa 
im  Kölner  S.  Kunibert  um  1270)  und  dem  ebenso  kraus- bizarren,  au.sdnicküberladenen 
Briefstil  jener  Zeit? 

Weiteren  frühma.lichen  Kunststoff  machen  uns  die  Tafelwerke  von 
A.  Goldsclimidt,  Elfenbeinskulpturen  aus  der  Zeit  der  karolingischen  u. 
sächsischen  Kaiser,  8. — 11.  Jahrh.,  Bd.  1.  2,  Berl.  1914/18,  von  J.  Wil- 
pert,  Die  römischen  Mosaiken  u.  Malereien  der  kirchlichen  Bauten  vom 
4.  bis  13.  Jahrh,,  Freib.  i/B.  1916,  sowie  von  U.  Zimmermann,  Vor- 
karolingische   Miniatureyi,    Denkmäler    deutscher   Kunst,    III.    Malerei, 

I.  Abt.,  4  Mappen  mit  Textband,  Berlin  1916  (auch  für  Paläographie 
beachtenswert)^),  zugänglich.  Ob  das  1911  vom  deutschen  Verem  f. 
Kunstwissenschaft  von  österreichischen  Kunsthistorikern  unter  Leitung 
des  leider  1921  verstorbenen  M.  Dvofäk  in  Angriff  genommene  Werk 
der  Bearbeitung  und  Veröffentlichung  sämtlicher  Denkmäler  der  älteren 
deutschen  ^^'andmaler•^.i  die  Not  der  Zeit  überwinden  wird?  Bei  der 
starken  Hinneigung  der  Gegenwart  zur  ma  heben  Kunst  wäre  ihm  weit- 
gehende Anteilnahme  sicher  ^). 

1)  Vgl.  dazu  die  Besprechung  von  A.  Ilaseloff  im  Repert.  f.  Kunstwiss.  42,  lil2U. 

2)  Auf  einem  engeren  Gebiete  hat  F.  iiaxl,  Verzcichn.  asirolofjischer  u.  mythol. 
ilhi.str.  Ihs.  des  lat.  MA.  i.  röm.  Bibliothel-en ,  S.  B.  Heid,  Ak.  1915,  neues  Material 
vorgelegt,  das  für  die  Beziehungen  von  Antike  und  MA.  fruchtbar  ist.     0.  Weise  hat 

II.  Z.  111  (1917)  Jahresberichte  xur  Archäologie  des  früheren  MA.  (bis  Mitte  des 
13.  Jh.)  eröffnet,  welche  die  Denkmälerforschungen  mehr  unter  dem  GesichtspuiiVte 
des  Quellenwerts  als  nach  künstlerischer  Schätzung  verzeichnen  wollen.  Die  größere 
Knapiiheit  und  die  Bescinänkung  nur  auf  das  Bedeutsamere,  zu  der  die  deutsche 
Notlage  diese  Berichterstattung  im  weiteren  Fortgang  gezwungen  hat,  gereicht  ihr 
nur  zum  Vorteil.  Vgl.  0.  Weise,  Untersuehtmr/en  x.  Oesch.  d.  Architektur  u.  Plastik 
d.  früheren  MA.,  Lei[iz.  1916.  Fruchtbare  neue  Gesichtsiiunkte  auf  diesem  Gebiete 
eröffnet  dits  Buch  von  K.  M.  Swohoda,  Römische  u.  roniaii.  Palmte,  ^Vien  1919,  das 
starke  Nachwirkungen  der  römischen  Villen-  u.  Palastarchitektur  duixh  Vermittlung 
Frankreichs  auf  die  entsprechenden  romanischen  Bauten  Deutschlands  nachweist.  — 
Auf  einem  ganz  anderen  Gebiete  .sind  die  archäologischen  Funde  kulturgeschichtlich 
nutzbar    gemacht    in    dem  Buche  von   T.  J.  Arne,  La  Suede  et  V Orient,  in  Archives 

12 


Eben  Dvorak  hat  auf  Grund  reichster  Denkmälerkenntnis  eine  tief- 
dringende Studie  über  ma. liehe  Kunstauffassung:  Idealismus  ti.  Natura- 
lismus in  der  gotischen  Skidptur  u.  Malerei,  H.  Z.  119,  1918  (auch  ge- 
sondert erschienen)  veröffentiicht,  die  wohl  zum  Besten  zählt,  was  auf 
diesem  Gebiete  in  jüngster  Zeit  geschrieben  wurde. 

Für  ähnliche  Probleme,  wie  sie  Worringer  kurzerhand  deduktiv  und  konstmktiv 
lösen  möchte,  wird  hier  Aufschluß  in  enger  Verbindung  mit  den  übrigen  geistigen 
Erzeugnissen  der  Zeit  gesucht. 

Nachdem  schon  in  altchristlicher  Zeit  der  Sensualismus  der  klassischen  Kunst 
durch  den  Spiritualismus  abgelöst  und  in  der  frühma.lichen  und  romanischen  Kunst 
eine  Periode  des  Antimaterialismus  gefolgt  ist,  wird  im  gotischen  Idealismus  das  Ver- 
hältnis zwischen  Übersianlichem  und  Sinnlich-Wahrnehmbaren  auf  eine  neue  Grund- 
lage gestellt.  Von  dem  obersten  Prinzip  einer  übersinnlichen  Bedeutsamkeit  aus  wird 
die  Welt  neu  entdeckt  und  gedeutet.  Das  Abweichen  von  der  Naturtreue  beruht 
nun  nicht  auf  Unvermögen  des  Sehens  oder  der  Technik,  sondern  auf  der  wohl- 
erwogenen Absicht,  eine  Welt  übernatürlicher  Gebilde  mit  gesteigertem  seelischen 
Ausdruck  darzustellen  ^).  Eine  relative  Annäherung  an  die  Natur  bringt  auch  das  mit 
sich,  aber  keine  objektive,  wie  die  der  Alten,  sondern  eine  subjektive,  vom  indivi- 
duellen Bewußtsein  ausgehend  und  auf  das  Seelische  gerichtet,  nicht  auf  eine  syn- 
thetische Norm  der  Körperschönheit,  —  eine  Tendenz,  die  nun  die  der  ganzen  weiteren 
Kunst  wird.  Ein  neuartiger  Naturalismus  —  das  scheint  bemerkenswert  —  wächst 
also,  wenn  auch  dem  spiritualistischen  Hauptprinzip  untergeordnet,  schon  in  der  Gotik 
und  innerhalb  des  kirchlichen  Rahmens  seit  dem  12.  Jahrh.  empor,  beginnt  nichr 
erst  mit  einer  Emanzipation  davon;  er  erstarkt  allmählich  durch  Beobachtimg  und 
Erfahrung  und  wird  durch  arabische  Einflüsse  gefördert.  Die  Befreiung  von  den 
supranaturalistischen  Eücksichten  und  die  Stellung  des  Kunstwerks  auf  eigene  Gesetze 
erfolgt  dann  freilich  erst  durch  den  Anstoß  aus  Italien  seit  Giotto  und  die  Aufnahme 
der  Anregamg  im  Norden  durch  van  Eyck.  Es  ist  unmöglich,  die  feinen  Gedanken- 
gänge D.s  in  wenige  Sätze  zusammenzuziehen. 

Ich  hebe  gerade  dies  Moment  eines  langsamen  Heraufwachsens 
eines  subjektiv -psychischen  Naturalismus  innerhalb  der  Gotik  heraus, 
weil  es  geeignet  ist,  den  allmählichen  Übergang  vom  MA.  zur  Neuzeit 
auch  auf  dem  Gebiete  der  Kunst  zu  belegen,  wenigstens  in  diesem 
Punkte  die  Gotik  eher  als  Vorstufe,  denn  als  absoluten  Gegensatz  zur 
Renaissance,  deren  Neues  darum  nicht  verkannt  werden  soll,  aufzufassen. 
Eben  das  Fließende  dieser  Entwicklung  ist  es  ja,  das  bei  tieferer  Er- 
gründung  einer  scharfen  Periodisierung  Schwierigkeit  bereitet;  darum 
vermag  auch  die  Erörterung  über  den  Abschluß  der  ma, liehen  Epoche, 
über  Beginn,  Namen  und  Wesen  der  Renaissancebewegung,  so  eifrig 
sie  fortgesetzt  wird,  noch  zu  keiner  völligen  Übereinstimmung  zu  führen. 

Gerade  die  hundertste  Wiederkehr  des  Geburtstages  von  J.  Burck- 

d'etudes  orientales  VIII,  UpsaU  1914,  wo  auf  ihrem  Grunde  in  bedeutsamer  Weise  die 
Beziehungen  zwischen  Schweden,  Rußland,  Byzanz,  Persien  usw.  vom  8. — 11.  Jahrh. 
erschlossen  werden.  Von  sonstigen  kunstgeschichtlichen  und  archäologischen  Werken 
des  Auslands  sei  nur  herausgegriffen :  A.  K.  Porter,  Lombardic  Architecture,  3  Bände 
mit  Abbildungsband,  New  Haven/Lond.  1917;  C  Enlart,  Manuel  d' archeologie  fran(^aise 
depuis  les  temps  merovingieiis  jusqu'ä  la  Renaissance,  Bd.  I  Architecture  religieuse. 
1.  Teil  Periodes  merov..  carol.  et  romanc,  2.  Ed.,  Paris  1919.  Bd.  III  Le  Costtcme, 
Paris  1916. 

1)  Vgl.  auch  F.  Anitchkof,  L'esthetique  au  moijen  äge,  Le  Moyen  age  29,  1917/18, 
wo  der  Versuch  gemacht  wird,  die  Grundlagen  von  Kants  Ästhetik  schon  im  Mittel- 
alter aufzudecken. 

lo 


hardt  am  25.  Mai  1918  hat  bei  aller  Würdigung  seiner  überragenden 
Bedeutung  den  Abstand  klar  erkennen  lassen,  den  die  Gegenwart  von 
seiner  Auffassung  der  Renaissance  vielfach  genommen  hat.  Einer  seiner 
Schüler,  (\  Neumann,  hat  das  in  seinen  „Gedanken  über  JaJcoh  Burck- 
hardt",  Deutsche  Rundsch.  44,  1918  (abgedr.  i.  d.  Büchlein  JaJc.  B., 
Deiäschl.  n.  d.  Schiveiz,  1919)  nicht  zum  erstenmal,  aber  wiederum 
höchst  eindrucksvoll  formuliert. 

„Was  er  in  seiner  Kultur  der  Renaissance  in  Italien  beschrieb,  war  keine 
italienische  Kulturgeschichte  vom  13.  bis  zum  17.  Jh.,  sondern  die  bewußt  einseitige 
Darstellung  der  Bestrebungen,  Gedanken  und  Gefühle  einer  Minorität,  die  allmählich 
fast  die  ge.samto  Bildung  gestaltete :  die  konservativen  Mächte ,  das  Fortleben  der 
christlich-ma.lichen  Welt  in  Italien  wird  mit  Kunst  und  Absicht  beiseite  gelassen." 
Das  sind  aber  nicht  nur  Unterströmungen,  sondern  ..kostbare  Provinzen"  sind  geradezu 
.,dem  MA.  entrissen",  mit  Dante,  Petrarca'),  Bokkaz  ..drei  Edelsteine  aus  der  Krone 
des  MA.  ausjjebrochen  und  der  Renaissance,  der  unwiderstehlichen  Vorführerin,  zu- 
geeignet". „Zieht  man  schließlich  von  der  italienischen  Renaissance  Burckhardtischer 
Meinung  die  Annexionen  ab,  so  bleibt  als  großartiges  Phänomen  die  Durchdringung 
des  italienischen  Geistes  mit  der  Antike  seiner  Vorzeit  übrig."  „Seine  Renaissance 
ist  die  Ge.schichte  einer  aristokratischen  Minorität." 

Nur  mit  diesen  herausgerissenen  Sätzen  kann  hier  das  erörterte 
Problem  angedeutet  werden.  —  Eine  Überschicht  ist  es  nun  wohl, 
mindestens  bis  ins  19.  Jh.,  stets  gewesen,  die  ein  Kulturzeitalter  bestimmt 
hat,  und  ob  es  ratsam  wäre,  die  große  Kulturepoche  Italiens,  die  Burck- 
hardt  als  die  der  Renaissance  zusammenfaßt,  nach  überwiegend  mittel- 
alterlichen und  vorherrschend  neuzeitlichen  Elementen  zu  spalten,  dürfte 
sehr  fraglich  sein.  Wo  liegt  aber  ihr  Ursprung  ?  Indem  man  die 
irrationalen  Mächte  in  ihr  höher  werten  lernte,  hat  man  seit  dem  1885 
erschienenen  Buche  von  H.  Tliode  (f  1920)  den  Ausgangspunkt  dieser 
„Humanitätsbewegung"  wohl  in  Person  und  Wirksamkeit  des  hl.  Franz 
von  Assisi  gesucht.  Das  hat  mit  dazu  beigetragen,  die  internationale 
Literatur  über  diesen  auch  so  manchem  Weltkinde  teuren  Heiligen  in 
den  letzten  Jahrzehnten  immer  stärker  anschwellen  zu  lassen.  Glück- 
licherweise ist  der  Überblick  jetzt  sehr  erleichtert.  Zu  U.  Holzapfels 
Handbuch  der  Geschichte  des  Franzishanerordens ,  Freib.  i./Br.  1909, 
zu  den  Übersichten  über  die  Neuerscheinungen  im  Archivum  Francis- 
canum  Historicum,  Quaracchi  1908ff. ,  und  in  den  Franzi  spanischen 
Studien,  Münst.  191 4 ff.  -'),  tritt  jetzt  das  Büchlein  von  P.  Fidentius 
van  den  Borne,  Die  Franz isJciis-ForscJmng  in  iJirer  EntwicMimg  dar- 
gestellt, VeröfF.  aus  d.  kirchenhist.  Semin.  München  IV,  Nr.  6,  Münch. 
1917,  ein  kenntnisreicher,  ruhig  urteilender  Überblick  vom  katholischen 
Standpunkt  aus,  der  zur  Einführung  in  die  Probleme  warm  empfohlen 
werden  kann. 


1)  IL  W.  Eppelsheitner,  Über  Petrarcas  Religiosität,  A.  f.  Kult.  12,  1916,  betont 
die  im  Rahm(>n  der  alten  Dogmatik  vorherrschenden,  schon  ganz  human i.stischen  Züge, 
Abkehr  vom  System  und  suekulativer  Erkenntnistheorie,  von  Aristoteles,  von  asketi- 
.scher  Auffassung,  Hinwendung  zur  Persönlichkeit  u.  Lebensphilosophie,  zu  Plato,  zur 
Bildungsreligion. 

2)  Vgl.  auch  die  in  Quaracchi  1918  mit  3  Bändchen  eröffnete  Piceola  Biblioteea 
dl  coltura  franccKcana  von  V.  Facchinetti. 

14 


Man  ersieht  daraus,  wie  Erhebliches  in  der  kritischen  "Würdigung  und  Bereit- 
stellung der  Quellen  geleistet  worden  ist,  aber  ebenso  auch,  daß  sich  die  Forschung, 
soweit  die  Auffassung  der  Persönlichkeit  des  Ordensstifters  in  Betracht  kommt,  einiger- 
maßen im  Kreise  bewegt  hat.  Von  der  modernen  Aufmachung  P.  Sabatiers  ^)  und 
seiner  Nachahmer  ist  sie  unter  eifriger  Mitarbeit  protestantischer  Forscher  wesentlich 
zu  der  von  katholischer  Seite  stets  festgehaltenen  Beurteilung  zurückgekehrt,  freilich 
nicht  ohne  daß  das  Bild  von  legendarischen  Zutaten  gereinigt  und  wesentlich  vertieft 
worden  wäre. 

Sehr  eindringlich  ist  namentHch  die  neueste,  mehr  verstandesraäßige 
Analyse  von  protestantischer  Seite,  die  H.  Tilemann,  Studien  zur  In- 
dividualität des  Franziskus  von  Assisi,  Beitr.  z.  Kult.  21,  Leipz.  1914, 
unternommen  hat. 

Franz  erscheint  da  als  asketischer  Idealist,  der  in  dem  Heroismus  des  Entsagens, 
in  der  höchsten  Steigerung  der  Leistung  das  Seligkeitsgefühl  findet,  das  auf  seine 
Umgebung  überströmt,  der  Kirche,  auch  wo  er  die  von  ihr  durchgesetzten  Ab- 
schwächungen  bitter  empfindet,  unbedingt  ergeben,  ein  Gottbegeisterter,  der  sich  leiten 
läßt,    eine  Individualität,  aber  kein  Individualist,  ein  Tollender  ma.licher  Religiosität. 

Mau  mag  gegenüber  der  Schärfe  dieser  und  ähnlicher  Formulierungen  mit 
K  We7ick,  Theol.  L.  Z.  1919,  Nr.  12,  einige  Vorbehalte  machen  und  die  feinsinnige 
Darstellung  bevorzugen,  zu  der  dieser  Gelehrte  in  der  1918  erschienenen  2.  Aufl. 
des  bekannten  Buches  ., Unsere  religiösen  Erzieher"  die  neueste  Forschung  knapp 
zusammengefaßt  hat.  Der  Grundzug  der  Auffassung  bleibt  der  gleiche,  und  da  selbst 
Sabatier,  der  eine  Neubearbeitung  seines  Buches  vorbereitet,  von  seiner  früheren 
Anschauung  wesentlich  zurückgekommen  zu  sein  scheint  (vgl.  v.  d.  Borne  S.  86),  so 
dürfte  bis  auf  weiteres  eine  Art  Endergebnis  erreicht  sein,  wobei  natürlich  die  religiöse 
Bewertung  je  nach  der  Konfession  verschieden  bleibt. 

Ein  ewig  erneutes  unkritisches  Nacherzählen  dieses  Heiligenlebens  2) 
sollte  nun  einmal  aufhören;  wenigstens  in  dem  verarmten  Deutschland 
sollten  wir  uns  solchen  Luxus  nicht  mehr  gestatten.  Der  ernstlichen 
Forschung  bleiben  hier  Aufgaben  genug;  um  die  Hersteilung  der  ersten 
Ordensregel  von  1210  hat  sich  z.  B.  V.  Kyhal  bemüht,  der  auch  wieder 
die  Unterschiede  zwischen  der  zweiten  und  dritten  Regel  von  1221  u. 
1223  scharf  betont  und  das  Testament  mehr  in  der  Richtung  Sabatiers 
beurteilt  [Die  Ordensregeln  des  Id.  Franz  v.  Ä.  und  die  urspr.  Verfassung 
des  Minoritenordens,  Beitr.  z.  Kult.  20,  1914;  eher  d.  Test.  d.  M.  F.  v.  A., 
M.  I.  ö.  G.  37,  1915).  Der  Ausbreitung  und  Geschichte  des  Ordens 
wenden  sich    andre  Studien    zu  ^).     Das    Ergebnis  ist    nun   aber ,  wenn 

1)  Bekanntlich  hat  Sabatier  selbst  eifrig  und  bedeutsam  an  der  festeren  quellen- 
kritischen Begründung  und  Umformung  des  Bildes  mitgewirkt.  Was  in  den  beiden  von 
ihm  herausgegebenen  Serien:  Collection  d'ctudes  et  de  documents  etc.  und  Opuscules 
de  critique  historique  zuletzt  erschienen  und  weiter  zu  erwarten  ist  (darunter 
6  Bände  von  Sab.  selbst  mit  neuen  Ausgaben  der  wichtigsten  Quellen  zur  Geschichte 
des  hl.  Franz)  findet  man  ßev.  bist.  131,  1919,  S.  2U6  verzeichnet. 

2)  Vgl.  z.  B.  R.  Saitsehick,  F.  v.  A.,  Münch.  1916;  A.  Verger,  Vie  de  s.  F.  d'A., 
Tours  1914;  Cuthbert,  The  romantieism  of  St.  Francis,  Lond.  1915;  D.  Sih-&stri, 
Fr.  d'Äss.  e  l'Italia,  Rom  1917;  G.  Cerri,  Patriottismo  di  s.  Fr.  d'Ass.  Novara  1918; 
6\  Fr.  d'Ass.  le  jo~ngleur  de  Dien  par  A.-M.,  Montpellier  1917.  A'^gl.  auch  E.  Smith, 
Saint  Cläre  of  Assisi,  her  life  and  legislation,  Lond.  1914. 

3)  Vgl.  F.  A.  Oroeteken,  Die  Franziskaiier  a.  Fürstenhöfen  bis  x,.  M.  d.  14.  Jh., 
Münst.  Diss.  1915;  R.  Schmitx,  D.  Ziest,  der  süddeutschen  Franziskanerkonventiialen 
a.  Ausg.  des  MA.,  Freib.  Diss.  1915;  A.  Sciwifer,  Die  Orden  des  hl.  F.  i.  Würt. 
bis  z.  Ausg.  Ludw.  d.  B.,  Tüb.  Diss.  1916;  fortges.  i.  d.  Blatt,  f.  würtemb.  Kirchen- 

15 


wir  zum  Ausgangspunkt  dieser  Erörterung  zurückkehren,  nicht  mehr  zu 
bezweifeln:  die  rüekwärtsgewandten  übernationalen  Ideale  des  lil.  Franz 
mit  ihrer  kulturfeindlichen  Askese  und  der  vorwärtsstrebende,  anfangs 
stark  nationale,  diesseitsfreudige  Geist  der  italienischen  Renaissance  sind 
zwei  entgegengesetzte  Welten ,  lassen  sich  nicht  zu  einer  Einheit  zu- 
sammenfassen. Die  Person  des  Stifters  zum  mindesten  hat  hier  aus- 
zuscheiden, wenn  auch  sein  Orden  alsbald  eine  Richtung  nahm,  die  von 
dem  ursprünglichen  Ideal  ablenkte. 

Damit  soll  eine  Einwirkung  des  Geistes  einer  religiösen  Erneuerung 
vom  Franziskanertum  her  auf  die  Männer  der  werdenden  Renaissance 
natürlich  nicht  bestritten  werden;  namentlich  ein  Einfluß  der  von  den 
Spiritualen  gepflegten  joachitischen  Hoffnungen  steht  ja  außer  Zweifel  ^). 
Und  überhaupt  sind  die  religiösen  Antriebe  in  den  Anfängen  von  Re- 
naissance und  Humanismus  neuerdings  auf  das  Nachdrücklichste  betont 
von  K.  Burdach. 

Renaissance  bedeutet  nicht  etwa  Wiedergeburt  der  Antike,  sondern  Wiedergeburt 
eines  ursprünglichen  Adam,  Verjüngung  der  Welt,  Kückkehr  zur  Menschlichkeit,  zur 
Einfachheit  und  Gesetzmäßigkeit  der  Natur  aus  Verworrenheit,  Versöhn örkelung  und 
Unnatur  der  Scholastik,  eine  Reaktion,  wie  die  Rousseaus  und  der  deutscheu  Romantik 
gegen  den  Rationalismus.  Die  Selbstbesinnung  auf  die  nationale  Vergangenheit  des 
römischen  Altertums  soll  dafür  nur  als  Hebel  dienen;  aber  zunächst  kein  Gedanke  an 
sklavische  Nachahmung,  wie  bei  früheren  sog  „ Renai-ssancen ",  sondern  allenthalben 
Erweckung  zum  Leben,  Beseelung,  Umschaffung  zu  eignem  Neuen!  Man  weiß,  wie 
B.  bei  .seineu  Studien  über  die  Ursprünge  der  neuhochdeutschen  Schriftsprache  und 
die  Geschichte  der  deutscheu  Bildung  im  Sy)ätmittelalter  durch  di"  Einwirkung  der 
italienischen  Frührenaissance  auf  Prag  und  die  deutsch -böhmische  Literatur  um  die 
Mitte  des  14.  .Ih.  hingeführt  -worden  ist  auf  die  Be.strebungen  des  römischen  Volks- 
tribunen Rieuzi,  und  wie  er  diese  Figur,  was  manchem  zunächst  als  eine  seltsame 
Laune  erscheinen  mochte,  zu  einem  Hauptmittelpunkt  seiner  weitausgreifeuden  kultur- 
historischen Forschungen  gemacht  hat. 

Nicht  lange  vor  dem  Kriege  hat  er  einen  Teil  dieser  wesentUch 
ideengeschichtlichen  Untersuchungen  veröff'entlicht  in  dem  Halbbande 
Rienzo  und  die  geistige  Wandlung  seiner  Zeit  (Vom  MA.  z.  Reformation. 
H.  Briefwechsel  des  Cola  di  Rienzo,  1.  Teil,  erste  Hälfte,  Berlin  1913.) 
Die  in  breiten  Windungen  aufsteigenden  Gänge  dieser  auch  so  manchen 
Seitenweg  nicht  verschmähenden,  bisher  noch  nicht  abgeschlossenen 
Forschung  und  die  Störungen  der  Kriegszeit  haben  dem  bedeutenden 
Buche  noch  nicht  den  starken  Einfluß  auf  die  ma. liehe  Historie  gebracht, 
der  ihm  sicherlich  gebührt.  Doch  hat  B.  seine  Ergebnisse  wiederholt 
in  noch  weitere  Zusammenhänge  gestellt  und  einem  größeren  Kreise 
vorgetragen  {Deutsche  Ilemiissance  i.  d.  Sammlung  „Deutsche  Abende"  IV, 
Berlin  1916  und  das  willkommene  Büchlein  Reformation,  Renaissance, 

gesch.  1919,  1920.  Monum.  Germ.  Franciscana,  2.  AU.  1.  Bd.  D.  Kustodien  Gold- 
herg  v.  Breslau,  1.  Teil  1240-1517  von  Chr.Ecisch,  Düs:;.  1917;  J.  Sever,  The  Eng- 
lisk  Franfiseans  under  Henry  III.,  Oxford  1915.  A.  0.  Little,  Studies  in  Engiish 
Francisrnn  //ist.,  Lond.  1917.  Wonig  bekannt  dürfte  in  Deutschland  auch  noch 
sein  das  Büchlein  von  L.  GiUet,  Ilistoire  artistique  des  ordres  memlkuits,  Paris  1913. 
1)  li.  Wolhan,  Z.  f.  ö.st.  Gymn.  67  (1916)  möchte  die  Reuai.ssance  im  antikirch- 
lichen Sinne  aus  Sektenwi  .sen,  Mystik,  Minnegesang  herleiten.  Vgl.  dazu  den  Exkurs 
in  der  2.  Aufl.  von  Burdachs  Deutsche  Renaissance. 

16 


Humanismus,  das  zwei  etwas  ältere  Abhandlungen,  um  wertvolle  An- 
merkungen bereichert,  zusammenfaßt,  Berlin  1918)  ^).  Und  endlich  hat 
er  gemeinsam  mit  A.  Bernt  im  3.  Bande  des  großen  Werkes:  Vom  MA. 
z.  Reformation  1917  dem  deutschen  Volke  die  abschließende  Ausgabe  und 
überreiche  Kommentierung  des  wundervollen  ,,  AcJcermami  aus  Böhmen" 
von  Johann  von  Saaz  geschenkt,  der  in  der  kraftstrotzenden  und  klang- 
reichen Sprache  von  1400  denn  doch  noch  viel  mächtiger  wirkt,  als  in 
der  vom  Insel verlage  verbreiteten  Übersetzung  ^) ,  und  von  keinem 
Historiker  ungelesen  gelassen  werden  sollte  ^). 

Daß  diese  aus  langjährigen  Vorbereitungen  nun  üppig  hervorschießenden  Lei- 
stungen Burdachs  zu  dem  AllerwertvoUsten  gehören,  was  uns  die  jüngste  Kultur- 
geschichtsforschung gebracht  hat,  wird  auch  der  freudig  anerkennen,  der  im  einzelnen 
Vorbehalte  macht.  B.s  Klage  über  den  ,, Jahrbücherhorizont"'  einer  Richtung  der  bis- 
herigen deutschen  Geschichtswissenschaft  wird  in  der  Gegenwart  sicher  Gehör  finden. 
Aber  seine  Flüge  in  ideengeschichtliche  Höhen  führen  doch  mitunter  durch  recht 
dünne  Luft.  Hat  eine  umfassende  Kulturbewegung,  wie  die  italienische  Renaissance, 
nicht  doch  breitere,  erdfestere  Grundlagen,  und  hat  man  nicht  z.  B.  aus  der  neuen 
städtischen  Wirtschaftsentwicklung,  trotz  B.s  Widerstreben,  gewisse  Voraussetzungen 
für  seelische  Umstellung  und  geistige  Horizonterweiterung  abzuleiten?  Rienzis  histo- 
rische Rolle  wird  man  nun  geutiB  gerechter  würdigen,  aber  den  Eindruck,  daß  diese 
ganze  Gruppierung  weltbeweg^^er  Gegensätze  um  ihn  als  Mittelpunkt  zu  einer  ge- 
wissen Überschätzung  führt,  wird  mau  nicht  ganz  los.  Für  die  Frage  der  Periodi- 
sierung,  von  der  wir  oben  ausgingen,  ergibt  sich  auch  aus  diesen  tiefeindringenden 
Untersuchungen,  wie  schwer  eine  reinliche  Scheidung  zwischen  älteren  und  neueren 
Momenten  ist,  wie  zähe  eingewurzelte  \  orstellungen  haften.  Man  wird  sich  auf  die 
genaueste  Darlegung  der  Entwicklung  beschränken  müssen.  In  solchen  Übergangs- 
zeiten ist  jede  Entscheidimg,  hier  überwiege  das  Alte,  dort  das  Neue,  mehr  oder 
weniger  subjektiv.  Für  die  Einschätzung  Kaiser  Friedrichs  IL  gibt  B.  wertvolle  Ge- 
sichtspunkte „Dieses  tragische  Genie,  dieser  Prophet  des  modernen  kosmopolitischen 
Kulturgedankens  verblutete,  weil  er  zwischen  den  Zeiten  stand."  Beurteilt  man  ihn 
nach  der  imperialen  Stellung,  zu  der  ihn  Überlieferung  und  Schicksal  zwangen,  so 
ist  Mar,  daß  er  sich  überwiegend  in  ma.lichen  Vorstellungen  bewegte;  wie  hätte  er 
mit  modernen  Ideen  eben  diese  Position  verteidigen  können?  Ob  da  nun  aber  der 
Kern  seines  Wesens  zu  suchen  ist  oder  in  den  zukunftsvolleren  Kräften  seines  Innern, 
die  auch  B.  nicht  leugnet,  bleibt  die  Frage.  Gerade  darin,  daß  er  eine  Rolle  zu 
spielen  gezwungen  war,  zu  der  ihn  wertvolle  Veranlagungen  seiner  Natur  nicht  zu 
bestimmen  schienen,  lag  ja  jene  Zerrissenheit  beschlossen,  die  sein  Schicksal  wurde. 
Soviel  Einwirkung  auf  die  keimende  Renaissancekultur,  wie  B.  dem  Papste  Bonifaz  VIII. 
zuschreibt,  möchte  man  doch  zum  allermindesten  auch  für  Friedrich  in  Anspruch 
nehmen ,  wenn  auch  darüber  keine  Meinungsverschiedenheit  bestehen  karm ,  daß  das 
gesamte  1.3.  Jh.  nur  für  die  Vorgeschichte  der  Renaissance  in  Betracht  kommt,  noch 
nicht  selber  Renaissance  ist. 

Wie  sehr  die  Scheidunsr  zwischen  MA.  und  Neuzeit  dadurch  er- 
Schwert  ist,  daß  die  einzelnen  Institutionen  und  Richtungen :  Staat,  Kirche, 
geistige  Bildung,  Wirtschaftsordnung  sich  nicht  gleichzeitig  wandeln,  hat 
A.  Dove  (f  1916)  in  einer  lehrreichen,  erst  nach  seinem  Tode  ver- 
öffentlichten Abhandlung  Der  Streit  um  das  MA.,  H.  Z.  116,  1916 
betont.     Er  empfiehlt  daher,   von   einem   bestimmt   datierten  Einschnitt 

1)  Vgl.  auch  den  neueren  Bericht  S.  B.  d.  Berl.  Ak.  1920. 

2)  Man  möchte  einen  billigen  Abdruck  des  Urtextes  ohne  Varianten  und  nur 
mit  den  nötigsten  Erläuterungen  erhoffen,  der  auch  in  Universitäten  und  Mittelschulen 
benutzt  werden  könnte. 

3)  Vgl.  dazu  0.  Zedier,  im  16.  Jahresber.  der  Gutenberggesellsch.    Mainz  1918. 

Wissenschaftliclie  For8chimp;sherichte  VII.  2 

17 


abzusehen  und  es  bei  der  Übergangszeit  des  14.  und  15.  Jh.  zu  be- 
lassen ^).  Konservativen  Charakter  trägt  auch  die  längere  Abhandlung 
von   K.   Borinski,    Die  Weltwiedergeburtsidee  in   den   neueren   Zeiten. 

1.  Der  Streit  um  d.  Renaissance  u.  d.  EntstehungsgescJiiclde  der  histo- 
rischen Bcziehiingshegriffe  Bcnaisscmce  u.  MA.,  S.  B.  d.  Münch.  Ak.  1919, 
wo  im  Eingang  die  Literatur  über  den  Streit  der  letzten  Jahrzehnte 
um  die  Renaissance  zusammengestellt  ist.  Er  wendet  sich  scharf  gegen 
die  neueren  Umdeutungen  eines  Begriffes,  der,  wie  durch  eine  sehr  stoff- 
reiche Sammlung  von  Belegen  erhärtet  wird,  auf  dem  Gebiete  der  Lite- 
ratur und  Kunst  über  ein  halbes  Jahrtausend  alt  sei.  „Warum  im  evo- 
lutionistischen  Taumel  alle  Grenzpfahle  umstürzen,  die  doch  nur  unser 
Bestiramungsbedürfnis  errichtet  hat?"  In  Beziehung  zur  Wiedergeburts- 
idee ist  der  Begriff  Mittelalter  entstanden,  der,  wie  P.  Lehmann,  Vom 
MA.  u.  der  lat.  Philologie  des  MA.,  Quell,  u.  Unters,  z.  lat.  Phil.  d.  MA. 
V,  München  1914,  nachgewiesen  hat,  den  Humanisten  des  15.  Jh.  ge- 
läufig war,  wenn  auch  das  Wort  seit  1469  nicht  allzu  oft  begegnet,  ehe 
es  im  17.  Jh.  endgültig  durch  Cellarius  1685  in  den  Schulgebrauch 
eingeführt  wurde.  ;_, 

Faßt  man  zusammen,  so  möchte  man  mit*  Burckhardt  an  der  Einheit 
der  italienischen  Renaissanceperiode  von  Dante,  der  in  sich  den  Gipfel 
ma. lieber  Kultur  mit  bedeutsamen  moderneren  Ansätzen  vereinigt,  bis 
Michelangelo  festhalten,  aber  den  Charakter  einer  Übergangsepoche,  in 
der  anfangs  noch  sehr  starke  ma.iiche  Tendenzen  mit  den  neueren  ringen, 
schärfer  herausarbeiten.  Das  aber  gilt  ja  für  alle  kulturgeschichtlichen 
Periodisierungsversuche,  daß  sie  unter  mehreren  nebeneinander  laufenden 
Strömungen  die  stärkeren  und  zukunftsvolleren  als  kennzeichnend  heraus- 
heben müssen  -). 

2.  Allgemeinere  Darstellungen  und  frühes  iViittel- 

alter 

Das  Bedürfnis  nach  knapp  zusammenfassenden  Gesamtdarstellungen, 
schon  vor  dem  Kriege  als  Gegenschlag  gegen  das  riesenhafte  Anschwellen 
des   Stoffes   vorhanden,    ist   seither   noch   gewachsen-^).     Vortragsreihen 


1)  Das  neuerwachte  Interesse  für  Fragen  der  Einteilung  des  historischen  Stoffes 
zeigt  auch  neuerdings  die  Schrift  von  E.  Oöller,  D.  Periodisienmg  der  Kirchengesch. 
u.  die  epochale  Stellung  des  MA.  zw.  d.  christl.  Altertum  u.  d.  Neuxcit,  Freib.  i./ß.  1920. 
Vgl.  auch  G.  L.  Barr,  How  the  middle  ages  got  thcir  name.    Am.  Hist.  Rev.  2U,  1915. 

2)  Mit  solchem  Endergebnis  stimmen  neuerdings  die  beachtenswerten  Ausführungen 
von  F.  Friedrich,  H.  Z.  122,  lf)20,  im  wesentlichen  überein.  Ebenso  W.  Weisbach, 
Renaissance  als  Stilbegriff,  H.  Z.  120,  1919,  der  das  Durchdringen  der  Ren.  als  kunst- 
geschichtlichen Stilbegriffos  um  1400  ansetzt,  aber  mit  Burckliardt  das  Zeitalter  der 
italienischen  Renaissancekultur  schon  ein  Jahrhundert  früher  anheben  läßt.  Die  zuerst 
auf  italienischem  Boden  vollzogene  formale  Einwirkung  der  Antike  gilt  ihm  mit  Dehio 
und  anderen  als  unausschaitbarer  Faktor  für  die  Renaissance  und  auch  die  angefochtenen 
Bezeichnungen  „französische"  und  „deutsche''  Renaissance  sucht  er  zu  rechtfertigen. 

3)  Anfänger  seien  hingewiesen  auf  die  praktischen  Winke  für  die  Einrichtung 
des  Geschichtsstudiums  in  der  Schrift  von  A.  Meister,  Richtlinien  für  das  Sttidium 
der  Gesch.  des  MA.  u.  der  Neiixeit.,  Münst.  191 G. 

18 


hinter  der  Front  oder  daheim,  die  nachher  dann  wohl  veröffentlicht 
sind,  suchten  ihm  entgegenzukommen  i).  Von  den  älteren  Werken  hat 
G.  Wehers  zweibändige  Weltgeschichte  durch  L.  Hieß  eine  durchgreifende 
Neugestaltung  erfahren,  die  auf  synchronistische  Behandlung  das  Haupt- 
gewicht legt  und  nach  allen  Richtungen  hin  sehr  inhaltreich  ist  (1.  Bd. 
Altertum  u.  MA,  Leipz.  1918).  Seitdem  hat  der  gleiche  Bearbeiter  be- 
gonnen, die  Bände  der  großen  Weberschen  Weltgeschichte  neu  heraus- 
zugeben'). Zu  weit  in  dem  Streben,  die  ganz«  Welthistorie  gleichsam 
in  einer  Nuß,  wie  man  es  früher  etwa  genannt  hätte,  darzubieten,  sollte 
man  nicht  gehen,  wenn  man  noch  fruchtbare  Wirkungen  über  die  üb- 
lichen Kompendien  hinaus  erzielen  will.  A.  Cartellieri,  der  auf  173  kleinen 
Seiten  Grundzüge  der  Weltgeschichte  378 — 1914  (Leipz.  1919)  veröffent- 
licht, spannt  den  Rahmen  doch  zu  eng,  verfolgt  im  wesentlichen  auch 
nur  die  Haupt  Wandlungen  des  europäischen  Staatensystems  ^).  Das 
richtige  Ausmaß  dürfte  in  der  von  L.  M.  Hartmann  herausgegebenen, 
auf  1 2  knappe  Bände  berechneten  Weltgeschichte  in  gemeinverständlicher 
Darstellung  vorgesehen  sein  (Gotha,  seit  1919),  die  aber  mit  des  Heraus- 
gebers eigner  Arbeit  „Der  Untergang  der  antiken  Welt"  das  MA.  nur 
erst  flüchtig  berührt,  indem  die  Geschicke  der  Mittelmeerländer  bis  753 
kurz  behandelt  werden*).  Die  in  der  Vorrede  ausgesprochene  Absicht, 
das  Hauptgewicht  auf  die  Massenerscheinungen  zu  legen,  muß  dem- 
jenigen, für  den  sich  in  der  Wechselwirkung  zwischen  führenden  Geistern 
und  Massen  der  Gang  der  Geschichte  vollzieht,  eine  Verärmerung  be- 
deuten, wie  denn  die  geistige  Kultur  und  die  Schilderung  der  großen 
Persönlichkeiten  in  den  bisherigen  Abschnitten  in  der  Tat  zu  kurz 
kommen  ^). 

1)  Vgl.  z.  B.  Deutscher  Staat  u.  deutsche  Kultur,  auf  Grund  an  der  Univ.  in 
Straßburg  gehalt.  Vorträge  hrsg.  v.  d.  Heeresgruppe  Herzog  Albrecht,  Straßb.  1918. 

2)  Von  H.  Hehnolts  VTeltgeschichte  erschien  Leipz.  1919  in  2.  Aufl.  Bd.  5: 
Italien.  Mitteleuropa,  von  10  verschiedenen  Bearbeitern,  die  Gesch.  dieser  Gebiete  bis 
Ende  des  MA.  umfassend. 

3)  Fr.  Hicketier,  Überblick  üb.  d.  Weltgesch.,  Berlin  1914  kann  auf  höhere  wissen- 
schaftliche Bedeutung  keinen  Anspruch  machen. 

4)  Seitdem  sind  die  Bände  Frühes  MA.  von  S.  Hellmann  1920  und  Späteres 
MA.  von  K  Käser  1921  erschienen. 

5)  G.  F.  Young,  Fast  and  West  through  fifteen  centuries,  44  vor  —  1453  n.  Chr., 
2  Bde.  (bis  740),  Lond.  1916,  ist  ein  umfassender  Versuch,  wie  einst  Gibbon  römisch- 
byzantinische  und  abendländische  Geschichte  in  chronologischem  Fortschreiten  ge- 
meinsam darzustellen ,  aber  nicht  ganz  genügend  fundiert.  Das  Erscheinen  des 
3.  Bandes  der  Cambridge  mediaeval  history  ist  auch  nach  dem  Kriege  dadurch  arg 
verzögert,  daß  die  von  deutschen  und  österreichischen  Verfassern  bearbeiteten  Kapitel 
neu  geschrieben  werden  mußten !  H.  B.  Cotierül,  Mediaeval  Italy  during  a  thousand 
years  305—1313,  Lond.  191.Ö;  ders.,  Italy  from  Dante  to  Tasso,  1300—1600,  Lond. 
1919  (ohne  kritisch  -  historischen  "Wert);  G.  O.  Coulton,  Social  life  in  Britain  from 
the  Conquest  to  the  Reformation,  Cambr.  1918;  C.  B.  L.  Fletcher,  The  making  of 
tcestern  Furope,  Bd.  1.  2  ( — 1190),  New  York  1915-,  J.  Fu-ing,  Normans  and  Plan- 
tagenets 1066 — 1485,  Lond.  1918;  H.  K.  Mann,  The  lives  of  the  popes  in  the  middle 
ages,  Bd.  9 — 12  (1130  — 1216),  S.  Louis  1914/5.  Von  umfassenderen  ausländischen 
Darstellungen  notiere  ich  femer:  B.  B.  Mowat,  The  later  middle  ages,  a  history 
of  Western  Furope  1254 — 1494,  Lond.  1916  j  E.  Emerton,  The  beginmngs  of  modern 

2* 

19 


Die  tTbergangszeit  des  ausgehenden  Altertums,  die  gegen  eine 
hohe,  aber  dahinsiechende  aristokratische  Geisteskultur  die  gesunde 
Faustkraft  roher  Massen  heraudringen  sah,  hat  unsern  Tagen  besonders 
Lehrreiches,  Düsteres,  aber  für  eine  ferne  Zukunft  doch  wieder  HoflF- 
nungsvolles  zu  künden.  Vermutlich  wird  man  sich  noch  tiefer  in  sie 
versenken.  Für  die  Kriegsjahre  fiel  dieser  Ansporn  noch  fort.  Die 
Ausbeute  an  neuer  Forschung  war,  wenn  man  von  dem,  was  besser 
dem  Gebiet  der  alten  Geschichte  zuzuweisen  ist,  absieht,  nicht  eben 
groß.  An  tieferer  Betrachtung  steht  vielleicht  in  erster  Linie  ein  Auf- 
satz von  J.  Gejfcken,  Der  Ausgang  des  griechisch-römischen  Heiden- 
tums, Neue  Jahrb.  f.  d.  klass.  Alt,  usw.  41,  1918.  J.  Sundwail  (Hel- 
singfors),  Weströmische  Studien,  Berlin  1915  möchte  in  aristokratischen 
Rückbildungen,  wie  in  den  Grundherrschaften  der  Senatoren,  die  ein 
gesundes  Steuersystem  verhinderten,  einen  Hauptgrund  für  den  Nieder- 
gang Roms  erblicken  ^).  Wie  von  der  germanischen  Seite  her  A.  Dopsch 
die  Dinge  ganz  neu  betrachtet,  ist  schon  oben  bemerkt.  Mit  der  jüngsten 
Gesamtdarstellung  von  0.  Seeck,  Geschichte  des  Untergangs  der  antiken 
Welt,  deren  5.  Band  von  364 — 410  kurz  vor  dem  Kriege  1913  erschien, 
wird  sich  natürlich  auseinanderzusetzen  haben,  wem  es  um  den  Gang 
der  Dinge  im  einzelnen  zu  tun  ist;  er  mag  sich  an  der  Lebendigkeit 
der  Darstellung  freuen,  ohne  sich  den  stark  subjektiven  Auffassungen 
unkritisch  hinzugeben  ^j.  Die  germanische  Überflutung  Britanniens  hat 
F.  Lot,  Les  migrations  saxonnes  en  Gaule  et  en  Grande- Bretagne  du 
III.  au  V.  siecles,  Rev.  bist.  119,  1915  aus  den  Quellen  neu  dargestellt. 

Bemerkenswert  ist  uamentlich  seine  scharfe  Ablehnung  der  Annahme  von  nord- 
gallischen und  niederrheinischen  Zwischenstationen,  wie  sie  für  die  Sachsen  und  teil- 
weise auch  für  Juten  und  Angeln  namentlich  J.  Hoops  mit  weitgehender  Zustimmung 
in  Deutschland  vertreten  hat.  Insbesondere  wird  das  Bestehen  eines  vorgeschobenen 
thüringischen  Reiches  am  Niederrhein  bestritten  und  der  nordgallische  limes  Saxonicus 
in  der  Notitia  dignitatum  analog  dem  britischen  als  Abwehrgürtel  gegen  die  Sachsen 
erklärt.  —  Zu  dieser  Frage  vgl.  auch  das  archäologische  Material  in  O.  B.  Brown, 
The  arts  in  early  England,  Bd.  3.  4:  Saxon  art  and  industnj  in  tlie  pagan  period. 
Lond.  1915.  Gegen  den  Vorsuch  von  H.  L.  Gray,  English  fleld  sgstetns,  Lond.  1915. 
nach  der  Art  des  Feldsystems  (Zwei-  und  Dreifelderwirtschaft)  die  Ansiedlungen 
z.  B.  der  Angeln  und  Sachsen  zu  scheiden,  hat  P.  Viiiogradoff ,  Oxford  Magazine  v. 
26.  Mai  1916,  Bedenken  geäußert. 


Europe  (1250 — 1450),  Bost.  1917  (setzt  2  frühere  Bände  des  Verf.  in  knapper  Gesamt- 
darstellung fort);  C.  W.  Orton,  Outlines  of  mediaeval  history,  Cambr.  1916. 

1)  A.  Solari,  Gli  Unni  e  Attila,  Pisa  1916  scheint  wortlos  zu  sein;  ebenso 
wohl  E.  Gibbon,  The  story  of  the  Huns,  Lond.  1914;  vgl.  auch  R.  Cessi,  La  crisi 
imperiale  degli  antii  454 — 455  e  l'incursione  t'andalica  a  Borna,  Arch.  stör.  Rom.  40, 
19i7 ;  C.  Manfroni,  Note  critiche  sulla  storia  dei  Vandali,  Atti  e  mem.  della  r.  Acc. 
di  scienze  etc.,  Fadua  1914;  S.  La  Rocca,  Lc  incursioni  vandaliche  in  Sicilia 
440 — 91,  Girgenti  1917.  —  Um  zur  Abwechselung  auch  einmal  dem  Zwerchfell  etwas 
zu  tun  zu  geben,  notiere  ich  hier  die  1918  erschienene  Krieg.sschrift  von  PoiiUney 
Bigelow,  Genscric,  King  of  the   Vandals  and  ßrst  Prussian  Kaiser. 

2)  Von  dem  1921  verstorbenen  Verf.  erschien  jüng.st  noch  ein  schmaler  6.  Bd. 
Vgl.  ■/.  Mayision,  Les  origines  du  rhristianis7ne  chex  les  Ooths,  Anal.  Bolland.  33, 
1914;  S.  Heinach,  Les  funerailles  d'Alaric,  Rev.  archüolog.,  Jan.  1916;  C.  Cipolla 
(t  191G),  Ije  origini  di   Venexia,  Arch.  stör.  it.  73,  1915. 

20 


Die  Deutungsversuche  für  den  Namen  Germanen  kommen  nicht 
zur  Ruhe,  so  wenig  aussichtsvoll  es  auch  ist,  für  irgendeine  Erklärung 
allgemeine  Zustimmung  zu  finden.  Der  Ableitung  aus  dem  Lateinischen 
(=  die  „echten*',  nämlich  Kelten,  mit  denen  sie  ursprünglich  zusammen- 
gefaßt seien,  um  dann  als  wildere,  echtere  von  ihnen  geschieden  zu 
werden)  durch  Th.  BirtJi,  Die  Germanen,  Münch.  1916  setzt  Ed.  Norden, 
S.  B.  d.  Berl.  Ak.  1918  die  keltische,  F.  Kluge  in  Germania,  Korr.-Bl. 
der  röm. -german.  Komm.  d.  deutsch,  arch.  Inst.  3,  1919,  u.  Lit.bl.  d. 
Köln.  Zeitung  v.  6.  Okt.  1918  die  germanische  Herleitung  entgegen^). 
Andrer  Art  und  fruchtbarer  sind  die  aus  dem  Nachlaß  von  A.  Dove 
herausgegebenen  Studien  zur  Vorgeschichte  des  deutschen  Volksnamens, 
S.B.  d.  Heid.  Ak.  1916.  Es  ist  das  umfangreiche,  leider  bei  Beginn 
der  Merowingerzeit  aufhörende  Bruchstück  einer  grundlegenden  Vor- 
arbeit zu  drei  Aufsätzen  des  Vf.  aus  den  Jahren  1890 — 95,  die  in  seinen 
kleinen  Schriftchen  abgedruckt  sind,  persönlich  lehrreich  für  die  gründ- 
liche Art,  mit  der  Dove  seine  manchem  vielleicht  nur  geistreich  er- 
scheinenden Aufsätze  unterbaute,  sachlich  bemerkenswert  namentlich 
für  das  Emporwachsen  des  nationalen  Prinzips  in  der  universalen  Welt 
des  sinkenden  Römerreichs-). 

In  der  ältesten  germanischen  Verfassungsgeschichte  sind 
insonderheit  zwei  Probleme  dauernd  umstritten,  zu  denen  beiden  Ernst 
Mayer  Beiträge  geliefert  hat. 

Einmal  die  Frage  der  Zusammensetzung  der  Hundertschaft.  Das  Buch  Hundert- 
schaft u.  Zehntschaft  nach  niederdeutschen  Rechten,  Heidelb.  1916,  sucht  entgegen 
der  Mengetheorie,  die  v.  Amira,  v.  Schwerin  und  andre  vertreten,  nach  der  das 
„Hundert''  keine  scharf  bestimmte  Größe  darstellen  will,  aus  englischen  und  sächsisch- 
friesischen  Quellen  doch  das  Zugrundeliegeu  fester  Zahlenverhältnisse,  für  die  die 
Geschlechtsverbände  bestimmend  sind,  nachzuweisen,  was  für  unsre  ganze  Auffassung 
von  den  persönlichen  Verbänden  der  ältesten  Zeit  und  den  Schlüssen,  die  daraus  für 
die  Bevölkerungsdichtigkeit  zu  ziehen  sind,  natürlich  von  erheblicher  Bedeutung  ist^). 
Damit  hängt  auch  die  Lösung  des  andern  Problems  zusammen,  die  M.  in  der  Abhand- 
lung Zur  Lehre  vom  gcrm.  Uradei,  Z.  f.  R.,  g.  A.  37,  1916,  versucht.  Der  Ge- 
schlechtsälteste ist  es,  der  zum  Adligen  und  Grundherrn  wird,  wo  mit  einem  dem 
Geschlechtsverband  gehörenden  Großpfluge  gearbeitet  wird,  während  bei  Bestellung 
mit  kleineren  Pflügen  der  Verband  sich  auflöst.  Skandinavischen  Quellen  werden 
hierfür  Belege  abgewonnen.  Wie  in  anderen  Arbeiten  des  Vf.  wirkt  auch  hier  die 
gelehrte  Heranziehung  und  Verwertung  neuen  Rechtsstoffes  befrachtend,  während  den 
Folgerungen  die  letzte  Abklärung  und  Überzeugungskraft  abgeht. 

Die  namentlich  von  sprachlichen  Gesichtspunkten  ausgehende  Unter- 
suchung von  G.  Neckel,  Adel  u.  Gefolgschaft,  Beitr.  z.  Gesch.  d.  deutschen 
Sprache    41,    1916    kommt   zu    Ergebnissen,    die   sich   mit    denen    von 


1)  R.  Muchs  Deutsche  Stammeskunde  (Sammlung  Göschen)  erschien  Berl.,  Leipz. 
1920  in  3    verbess.  Aufl. 

2)  Zur  Herleitung  des  "Wortes  „Heide"  von  fS^tog  vgl.  E.  Schröder,  Gott.  Anz, 
1917,  375  ff. 

3)  Gegenüber  der  Ablehnung  v.  Schwerins   Z.  f.  R.,  g.  A.  37 ,   1916  hat  sich 
E.  Mayer  Viert,  f.  Soz.  u.  Wirtsch.  14,  1918  verteidigt. 

21 


Ph.  Heck  berühren,  die  Edelinge  als  den  Kern  des  Volkes  ansehen  und 
einen  besonderen  Vorzugsadel  bestreiten  ^). 

Die  sorgfältigen,  aber  kein  lebendiges  Gesamtbild  ergebenden  Stoff- 
zusararaenstellungen  für  die  einzelnen  deutschen  Stämme  hat  auch  in 
den  letzten  Jahren  in  dankenswerter  Weise  fortgeführt  L.  Schmidt,  Ge- 
schichte der  deutschen  Stämme  bis  zum  Ausgang  der  Volkerivanderung  II 
3  u.  4  (Quell,  u.  Forsch,  z.  alten  Gesch.  u.  Geogr.,  Heft  29.  ,30),  Berlin 
1915.  1918  2).  Behandelt  das  erste  Heft  die  suebischen  Stämme,  ins- 
besondere Thüringer  und  Alaraannen,  so  leitet  uns  das  andre  mit  der 
Bearbeitung  der  fränkischen  Geschichte  bis  561  hinüber  in  die  Mero- 
wingeraeit^).  Die  Forschung  war  hier  beherrscht  von  der  Bereitstellung 
und  kritischen  Durcharbeitung  des  Qu  eilen  stofFes.  Während  auf  archäo- 
logischem Gebiete  für  die  Erkundung  merowingischer  Bauten  vermittelst 
Grabungen  noch  immer  viel  zu  tun  bleibt,  und  der  Krieg  selbst  da 
Anregung  bot'^),  hat  das  große,  mustergültige  Editionswerk  der  Scrip- 
tores  rerum  Merowingicarum  in  den  Monuraenta  Germaniae  jetzt  unter 
den  Händen  von  B.  Krusch  und  W.  Levison  die  Passio7ies  vitaegue 
sanciorum  mit  Bd.  7,  1919/20  zum  Abschluß  gebracht  und  damit  der 
Forschung  einen  Stoff  erst  recht  zugänglich  gemacht,  der  kultur- 
geschichtlich noch  weiter  verwertet  zu  werden  verdient^).  Die  beiden 
wichtigsten  Quellen  der  Merowingerzeit  harren  freilich  noch  immer  der 
endgültigen  Ausgabe.  An  dem  Versuche  einer  befriedigenden  Edition 
der  Lex  Salica  war  1843  schon  G.  H.  Pertz  gescheitert.  Von  der  bald 
darauf  durch  G.  Waitz  bereits  richtig  skizzierten  textkritischen  Grund- 


1)  Vgl.  H.  Sehreuer,  D.  Becht  der  Toten^  germ.  Untersuchung,  Z.  f.  vgl.  Rechts- 
wiss.  33.  34  (1915). 

2)  Vgl.  auch  0.  Fiebiger  ii.  L.  Schmidt,  hischriftensammlung  x.  Gesch.  der 
Ostgermanen,  Denksohriften  d.  Wiener  Ak.  d.  "Wiss.,  phiL-liist.  Kl.  60,  3,  1917 :  eine 
willkommene  Vereinigung  der  zerstreuten  Inschriften. 

3)  Das  Buch  von  A.  Ealbedel,  Fränkische  Studien,  kleine  Beiträge  z.  Gesch.  u. 
Sage  des  deutschen  Altertums,  Eherings  hist.  Stud.  132,  Berlin  191(i,  ist  von  der 
Kritik  als  wissenschaftlich  unbrauchbar  abgelehnt.  Vgl.  auch  J.  Zoegger,  Du  lien  du 
mariage  ä  l'epoqiie  merovingienne ,  Par.  1915.  Von  E.  Babelons  Le  Rhin  dans 
l'histoire  behandelt  der  2.  Teil  Les  Francs  de  l'Est:  Francs  et  Allemands,  Par.  1917; 
vgl.  A.  Rmid,  Wanderungen  und  Siedelungen  der  Alamannen,  Z.  f.  G.  d.  Oberrh., 
N.F.  32  u.  34,  1917/19. 

4)  Vgl.  z.  B.  G.  Weise,  Studien  x.  Entwicklungsgesch.  des  abeiidl.  Basiliken- 
grundrisses in  den  frühesten  Jahrhunderten  des  MA.,  S.  ß.  d.  Heid.  Ak.  1919,  auch 
oben  S.  12.  Eine  Untersuchung  von  K.  H.  Schäfer  über  Kirchen  u.  Christentum  im 
Rheinlande  zur  röm.  u.  merow.  Zeit  ist  als  1916  vollendet  angekündigt. 

5)  Zur  Genovefalegende,  über  Abfassung  im  8.  Jahrb.,  Merkmale  und  Zweck  der 
Fälschung  vgl.  B.  Krusch  im  N.A.  40,  1915/16.  Darstellende  Schriften  über  ein- 
zelne Heilige  der  Merowingerzeit  fassen  Bekanntes  zusammen  wie  G.  Mctlake,  The 
life  and  tvritings  of  saint  Columban,  Philadelphia  1914  (vgl.  N.A.  41,  331);  Helena 
Concan7ion,  The  life  of  Saint  Columban,  St.  Louis  1916;  /.  J.  Laux,  D.  h.  Kolum- 
ban,  sein  Leben  und  seilte  Schriften,  Freiburg  i.  B.  1919  (vgl.  P.  Lugano,  S.  Colom- 
bano  nionaco  c  scrittore,  Perugia  1917)  oder  kommen  als  bloße  Erbauungsschriften 
histori.sch  nicht  in  Betracht.  Eine  irische  Heiligenlegende  behandelt  quellenkritisch 
Gertrud  Brüning,  Adaninam  (Abt  von  Ili  679—704)  Vita  Columbae,  Z.  f.  kelt.  Philol.  11 
(=  Diss.  Bonn  1916).  —  Angeschlossen  sei  hier  der  Hinweis  auf  das  von  AhtJ.  Her- 
wegen entworfene  Lebensbild:    Der  hl.  Benedikt,  Düsseid.  1917. 

22 


läge  war  der  neueste  Bearbeiter  31.  Krammer  unglücklicherweise  ab- 
gewichen und  hatte  das  bis  dahin  angenommene  Handschrittenverhältnis 
nahezu  umgekehrt.  Br.  Krusch  war  es,  der  nach  der  Ablehnung  durch 
B.  Hilliger  die  gegen  die  neue,  bereits  im  Druck  befindUche  Ausgabe 
obwaltenden  schweren  Bedenken  philologischer,  historischer  und  rechts- 
geschichtlicher Art  so  wirkungsvoll  zum  Ausdruck  brachte,  daß  man  dazu 
Stellung  nehmen  mußte  i).  Hand  in  Hand  damit  gingen  von  juristischer 
Seite  die  inhaltlichen  Untersuchungen  von  Cl.  Frh.  v.  Schwerin  ^).  Bei 
der  Wichtigkeit  der  Entscheidung  hat  die  Zentraldirektion  der  Mon. 
Germ,  zahlreiche  Gutachten  maßgebender  Juristen,  Historiker  und  Philo- 
logen eingeholt,  die  N.  A.  41,  H.  2,  1918  veröflfentlicht  sind.  NatürHch 
war  auch  Krammer  Gelegenheit  zur  Verteidigung  seiner  Ansicht  ge- 
geben; seine  Entgegnung  N.  A.  41,  H.  1,  1917^)  wurde  indessen  von 
K  Heymann,  N.  A.  41,  H.  2,  1918  einer  eingehenden  Widerlegung  unter- 
zogen. Das  Ergebnis  dieses  gesamten,  viel  Kraftaufwand  erfordernden 
Vorgehens,  das  eben  damit  jeden  Vorwurf  einer  leichtherzigen  Ent- 
scheidung ausschließen  wollte,  war  die  Kassierung  der  Krammerschen 
Ausgabe  und  die  Übertragung  einer  neuen  an  Krusch^).  Derselbe  an 
der  Spitze  der  raerowingischen  Forscher  Deutschlands  stehende  Gelehrte 
hat  überdies  die  namentlich  in  sprachlicher  Hinsicht  dringend  notwendige 
Neuausgabe  der  Frankengeschichte  Gregors  von  Tours  übernommen. 
Hoffentlich  ermöglichen  es  bis  zu  deren  Erscheinen  die  allgemeinen  Ver- 
hältnisse auch  eine  Schulausgabe  zu  erschwinglichem  Preise  herauszu- 
bringen, die  uns  endlich  von  der  Benutzung  des  unzulänglichen  fran- 
zösischen Handschriftenabdrucks  '")  befreit  ^) !    Derselbe  Forscher  hat  Gott. 


1)  N.A.  40,  1916;  vgl.  auch  Gott.  Nachr.  1916  u.  Z.  f.  R.  g.  A.  36,  1915. 

2)  N.  A.  40,  1916. 

3)  Vgl.  auch  seinen  Versuch,  seine  Auffassung  des  Handschriftenverhältnisses 
an  dem  Beispiel  der  Titel  De  filtorto  und  De  vestigio  miuando  darzulegen  in  Z.  f.  R., 
g.  A.  36,  1915. 

4)  Vgl.  zur  Lex  Salica:  G.  Seeliger,  D.  Lex  Salica  ti.  König  Chlodowech,  Arch. 
f.  Urk.forsch.  6,  1918,  wo  in  eingehender  Prüfung  des  ersten,  längeren  Prologs  fest- 
gestellt wird,  daß  eine  Beziehung  der  Lex  auf  Chi.  als  Urheber  außer  durch  diesen 
späten  unmaßgeblichen  Prolog  quellenmäßig  nicht  bezeugt  ist,  was  natürlich  innere 
Gründe  dafür  nicht  ausschließt.  Vgl.  auch  E.  Ooldmarm,  Beiträge  %.  Interpretation 
der  Kapitularien  zur  Lex  Salica,  M.  I.  ö.  G.  36,  1915.  Wesentlich  für  die  Erklärung 
der  ältesten  fränkischen  Rechte  ist  endlich  die  Abhandlung  von  E.  Mayer,  Zum  früh- 
mittelalterlichen Münxwesen  u.  der  angeblichen  karolingischen  Bußreduktion,  Viert, 
f.  8oz.  u.  Wirtsch.  13,  1916,  wo  ausgehend  von  angelsächsischen  Verhältnissen  ver- 
sucht wird,  die  schwierigen  Fragen  der  fränkischen  "Währung  einfacher,  ohne  die 
Hypothesen  von  Bußreduktion  oder  Währungsänderung  zu  lösen. 

5)  In  der  neuen  Bearbeitung  R.  Poupardins   von  1913  habe  ich  sie  noch  nicht 


6)  G.  Kurtli  y-\  1916),  Etudes  franques,  2  Bde.,  Paris  1919,  vereinigt  über- 
arbeitete ältere  Abhandlungen  zur  merowingischen  Geschichte  mit  6  neuen  (Les 
nationalites  en  Touraine  au  VL  siecle,  Les  senateurs  en  Gaule  au  VI.  siecle.  De 
l'autorite  de  Gregoire  de  Tours,  Le  bapteme  de  Clovis,  Les  traditions  du  VI.  siecle 
sur  Tapostolicite  de  S  Denis  de  Paris,  Le  Vita  S.  Lamberti  et  M.  Krusch).  Nach  der 
Anzeige  Pirennes,  Moyen  ilge  30,  1919,  ist  in  einigen  der  Ton  gegenüber  der  deut- 
schen Wissenschaft  stark  durch  die  politisch-miütärischen  Ereignisse  beeinflußt. 

23 


Nachr.  1916  die  Entstehung  von  Marculfs  Formelsammlung  in  dem  zu 
Austrasien  gehörigen  Meaux  um  721/22  nachgewiesen  und  textkritische 
Erörterungen  hinzugefügt.  Gegenüber  der  wesentHch  durch  ihn  fest- 
gestellten Anschauung  über  die  Dreiteilung  der  Chronik  des  sog.  Fredegar 
hat  F.  Lot,  Fncore  la  clironiquc  du  Pseudo-Freclcgaire,  Revue  bist.  IJo, 
1914,  die  Einheithchkeit  der  beiden  ersten  Teile  (bis  613  und  bis  642) 
mit  sehr  beachtenswerten  Gründen  darzutun  versucht;  vor  613  müssen 
dann  großenteils  verlorene  Quellen  benützt  sein. 

Darüber  hinaus  ist  Lot  geneigt  anzunehmen,  daß  der  burgundische  Verfasser  in 
austrasische  Dienste  getreten  sei  und  erst  da  um  660  die  gesamte  Kompilation  an- 
gelegt habe,  so  daß  diese  letzten  Endes  doch  ein  einheitliches  Werk  sei,  und  die 
widerspruchsvollen  Auffassungen  darin  auf  die  ausgezogenen  Quellen  zurückzuführen 
seien.  Diese  Ausführungen,  die  auch  B.  Krusch  N.  A.  39,  1914,  S.  548  mit  Anerkennung 
angezeigt  hat,  haben  durch  ihre  verhältnismäßige  Einfachheit  viel  Bestechendes,  wenn 
sie  auch  nicht  alle  Schwierigkeiten  zu  lösen  vermögen. 

Daß  die  quellenkritischen  Untersuchungen  so  sehr  im  Mittelpunkt 
der  merowingischen  Forschungen  stehen,  ist  sachlich  wohlbegründet; 
denn  bei  der  Dürftigkeit  der  Überlieferung  sind  neue  Ergebnisse  fast 
nur  noch  auf  diesem  Wege  zu  erzielen  ^).  Immerhin  zeigt  eine  IStudie, 
wie  die  von  R.  Koebner,  Venantius  Fortunatus,  seine  Persönlichheit 
und  Stellung  in  der  geistigen  Ktdtur  des  3Ierov  in  gerreiches  (Beitr.  z. 
Kult.  22),  Berl.  Leipz.  1915,  daß  eine  feinsinnige  Zusamm.enfassung  der 
kritischen  Einzelergebnisse,  namentlich  wo  es  sich  um  kulturelle  Be- 
ziehungen handelt,  sehr  anregend  wirken  kann  -). 

Gelegentlich  gelingt  es  auch  wohl,  auf  neuem  Wege  neue  Anhalts- 
punkte zu  gewinnen.  Es  mag  da  etvsa  der  Patrozinienforschung 
gedacht  werden,  die  ja  der  ältesten  Missionsgeschichte  vornehmlich  zu- 
gute kommt;  denn  die  Ausbreitungsbezirke  bestimmter  Heiligen  als 
Kirchenpatrone  gestatten  Schlüsse  auf  die  Wirksamkeit  bezüglicher 
Landesmissionen.  Aber  auch  zur  Erkenntnis  des  Eigenkirchen wesens 
ist  es  nützlich,  etwa  auf  fränkischem  Fiskalgut  die  Martinskirchen,  in 
den  Gebieten  geistlicher  Körperschaften  die  Verbreitung  des  betreffen- 
den Stifts-  oder  Klosterheiligen  als  Patron  zu  verfolgen.  Auch  M-eiter- 
hin  bis  in  das  Kreuzzugszeitalter  hinein  vermag  die  Patrozinienforschung, 
über  die  J.  Dorn  im  Arch.  f.  Kulturgesch.  13,  1917  unter  Hinweis  auf 
die  bisherigen  Arbeiten  zusammenfassend  gehandelt  hat,  bescheidene, 
aber  willkommene  Ergebnisse  zu  erzielen  •').    Daß  die  möglichst  genaue 

1)  Th.  Fern',  L'idce  de  patrie  cn  France  de  Clorls  ä  Cl/arlcmagne,  Le  Moyen 
äge  30,  1919,  stellt  einen  wenig  überzeugenden  Versuch  dar,  das  objektiv  ja  un- 
zweifelhafte Zusammenwachsen  der  Jvassen  zu  einem  Gesamtvolk  auch  als  zunehmen- 
des bewußtes  Vaterlandsgefühl  aus  den  Quellen  zu  erweisen. 

2)  Vgl.  li.  Anjrmti^  Sainte  h'adeyonde,  Paris  1917,  trotz  des  Erscheinens  in  der 
Sammlung  „Los  Saints''  als  wissenschaftlich  brauchbar  kritisiert.  Von  M.  Könnecke, 
Das  alte  Ihürim/üche  Königreich  und  sein  Untergang  531  n.  Chr.  erschien  Querf. 
1919  eine  neue  Auflage. 

3)  Vgl.  den  ähnlichen  Überblick  über  Aufgaben  und  Ergebnisse  dieser  Patrozinien- 
forschung von  E.  nennecke,  Z.  f.  Kirchengesch.  38,  1920.  Weitere  regionale  Studien 
derart  z.  B.  von  dcius.  für  Niedersachsen,  Z.  d.  Ver.  f.  Nieders.  85,  1918;  von 
L.  Bönhoff  iw  d.  Künigr.  Sachsen  in  Beitr.  z.  sächs.  Kirchengesch.  31,  1918.     Vgl. 

24 


Zusammenstellung  der  Bischofslisten  dem  Forscher  wichtige  Dienste 
leistet,  versteht  sich  von  selbst.  Von  L.  Dnchesnes  anerkannten  Fastes 
episcopaux  de  Vancienne  Gaule  erschien  1915  Bd  3,  der  den  Norden 
und  Osten  Galliens  (also  die  für  die  deutsche  Geschichte  wichtigen  Pro- 
vinzen Trier,  Reims,  Mainz,  Köln,  Besan9on)  behandelt  und  damit  das 
Werk  zum  Abschluß  bringt,  das  auch  durch  das  Namenregister  aller 
erwähnten  Bischöfe  dem  Forscher  für  die  gesamte  fränkische  Epoche 
gute  Dienste  leisten  wird.  Von  der  Gallia  chrisfiana  novissima,  hrsg. 
v.    U.   Chevalier,  erschien  Bd.   6:    Orange,  Valence  1916^). 

Der  Gegenpol  der  Macht  in  der  Merowingerzeit  war  Byzanz.  In 
den  letzten  Jahrzehnten  vor  dem  Weltkriege  war  die  Forschung  da  in 
internationalem  Zusammenwirken  reich  und  fruchtbar.  Wer  sich  darüber 
unterrichten  will,  mag  den  anregenden  Vortrag  von  E.  Stein,  Die  hy- 
zantinische  Geschichtswissenschaß  im  letzten  halben  Jahrhundert  in  Neue 
Jahrb.  f.  d.  klass.  Alt.  usw.  43,  1919,  zu  Rate  ziehen.  Auch  die  Auf- 
zählung der  neueren  Monographien  zur  byzantinischen  Geschichte  vom 
7.— 15.  Jahrb.,  die  E.  Gerland,  Hist.  Z.  114,  1915,  S.  346 ff.  gegeben 
hat,  kann  als  Ausgangspunkt  dienen^).  Und  die  neueste  kurze  Ge- 
samtdarstellung^) ist  die  im  4.  Bde.  der  2.  Aufl.  von  Helmolds  Welt- 
geschichte (vgl.  oben  S.  19),  abgeschlossen  im  wesentlichen  1914,  ge- 
druckt Leipz./Wien  1919,  verfaßt  von  dem  bald  darauf  im  Dez.  1919 
verstorbenen  M.  v.  Scala.  Der  Band  behandelt  auch  die  übrigen  Völker 
des  südöstlichen  Europa'^). 

Da  die  byzantinische  Wirtschaftsgeschichte  im  Zusammenhang  bisher 
wenig  behandelt  worden  ist,  so  ist  es  wertvoll,  den  darauf  bezüglichen, 
wenn  auch  aus  zweiter  Hand  gearbeiteten,  so  doch  recht  lebendigen 
Abschnitt  der  wirtschaftsgeschichtlichen  Vorlesungen  zu  besitzen  von 
L.  Brentano,  Die  byzantinische  Volkswirtschaft  in  Öchmollers  Jahrb.  41, 
1917  ^). 

Sonst  sind  die  Beziehungen  des  Staates  zur  Kirche  am  meisten  be- 
handelt. Ein  großes,  auf  8  umfassende  Bände  berechnetes  Unternehmen  der 
Straßburger  Wissenschaftlichen  Gesellschaft,  deren  Fortarbeit  auf  deut- 
schem Boden  glücklich  gesichert  ist,  soll  die  Akten  der  ökumenischen  Kon- 
zilien (^Acta  conciliorimi  oectwienicorw»)  mit  den  zugehörigen  Urkunden 
für  den  Zeitraum  von  431 — 879  zur  Ausgabe  bringen  s).    Ein  Volumen 


auch  M.  Benxerath,  Die  Kirchenpatrone  der  alten  Diözese  Lausa7ine  im  MA.,  Fi'eib. 
i.  Schw.  1914. 

1)  Vgl.  J.  Zoegger,  Du  lien  du  mariage  ä  l'epoque  tnerovingienne ,   Paris  1915. 

2)  Vgl.  auch  die  laufende  Berichterstattung  in  der  Rev.  hist.  117,  1914. 

3)  Auch  von  K.  Roths  Geschichte  des  byzantinischen  Reiches  (Samml.  Göschen) 
erschien,  Berlin  191^,  eine  auf  zwei  Bändchen  erweiterte  Neuauflage. 

4)  Zur  Gesch.  der  Stoivcnen  vgl.  die  sehr  gründliche  Studie  von  L.  Hatiptmann, 
Polit.  Umu-ähungen  unter  d.  Slowenen  v.  Ende  des  6.  Jabrh.  bis  z.  Mitte  des  neunten, 
M.  I.  ö.  G.  36,  1915,  auch  betreffs  der  karolingischen  Politik  u.  Organisationen  ihnen 
gegenüber. 

5)  Zur  Kontrole  vgl.  aber  L.  M.  Hartmann,  Ein  Kapitel  vom  spätantiken  und 
frühmittelalterl.  Staate,  Berl.  1913. 

6)  Die  Berl.  Diss.   von    Oeorgine  Tangl,    Die  Teilnehmer  a.   d.  allg.  Konzilien 

25 


des  4.  Gesamtbandes:  Concilium  universale  Coiistantinopolitanum  suh 
Justininno  (553)  hahitum  ed.  Ed.  Schwartz,  Straßb.  1914  mit  zahlreichen 
Dokumenten  über  den  Dreikapitelstreit  usw.,  die  Justinian  als  Theologen 
beleuchten,  hat  das  Wei'k  vielversprechend  eröffnet.  Die  Kaiserin  Theo- 
dora  als  Beschützerin  ketzerischer  Mönche  des  Orients  und  dadurch 
Erhalterin  des  Monophysitismus  schildert  L.  T)uches7ie,  der  nach  seinen 
iStudien  über  die  Kirchenpolitik  der  Kaiser  Anastasius  und  Justin  nun 
auch  die  Zeit  Justinians  ^)  erreicht  hat,  in  dem  Aufsatz  Les  proteges  de 
Theodor a  in  Melange«  d'archeol.  et  d'hist.  35,  1915.  Die  beiden  Nach- 
folger Justinians  behandelt  in  vorzüglicher  Darstellung  mit  tiefeindringenden 
Untersuchungen  zur  Verwaltungs-  und  Finanzgeschichte  jener  Zeit  E.  Stein, 
Studien  zur  Geschichte  des  hyzantinischen  Reiches  vornehmlich  unter  den 
Kaisern  Jiistinus  IL  und  Tiherius  Constantinus ,  8tuttg.  1919.  Ein 
zugleich  kirchenpolitisches  und  dogmengeschichtliches  Kapitel  hat  gleich- 
zeitig mit  V.  kSchubert  (s.  oben  Ö.  5)  sehr  ins  einzelne  gehend  aus- 
gearbeitet W.  M.  Peitz  S.  J.,  Martin  I.  und  Maximus  Confessor,  Bei- 
träge z.  Geschichte  des  Monotheletenstreites  645  —  668,  Hist  Jahrb.  38, 
1917  2).  Damals  hatte  bereits  der  Siegeszug  des  Islam  begonnen,  der 
die  Weltstellung  des  byzantinischen  Reiches  einengte  und  gründlichst 
umwandelte.  Über  die  wichtige  Losreißung  Ägyptens  hat  unter  Aus- 
beutung der  neueren  Papyrusforschung,  koptischer  und  arabischer  Quellen 
neues  reiches  Licht  verbreitet  der  Agyptologe  Em.  Amelineau  (f  1915), 


des  MA.,  Weimar  1916  liegt  mir  nur  im  Teildruck   bis  zur  Karolingerzeit  vor,   das 
Ganze  nach  der  Inhaltsübersicht  bis  1215. 

1)  Vgl.  ders.,  Les  Schismes  Romains  au  VI.  siede,  Mel.  d'arch.  et  d'hist.,  Juni 
1915;  auch  W.  Pudor,  Byxanx,  u.  d.  Ermordung  der  Amalasuntha,  Deutsche 
Gesch.-Bl.  15,  1914. 

2)  Die  reichen  Arbeiten  französischer  Gelehrten  auf  dem  Gebiete  der  byz.  Gesch. 
sind  in  Deutschland  meist  noch  nicht  zugänglich.  Vor  allem  hat  Ch.  Diehl,  Byxance, 
fjrandeur  et  dccadence,  Par.  1919  (mit  den  Abschnitten:  Entwicklung,  Ursachen  von 
Größe  und  Verfall,  Kultur,  Erbschaft)  die  Forschungsergebnisse  der  letzten  Jahrzehnte, 
die  uns  an  Stelle  gleichmäßiger  Erstarrung  überall  den  bewegten  "Wechsel  von  Höhen 
und  Tiefen  haben  erkennen  lassen,  großzügig  und  knapp  zusammengefaßt  und  gezeigt, 
wie  der  Schwerpunkt  der  Kraft  sich  mehr  und  mehr  nach  Kleinasien  verschiebt.  Dazu 
von  de?)is.,  Eistoire  de  l' Empire  bijxantin,  Par.  1919;  Dans  V Orient  bijxantin,  Pai". 
1917  (eine  Sammlung  bezüglicher  Artikel,  großenteils  kunstgeschichtlicher  Art,  bis  hinein 
ins  lateinische  Kaisertum)  und  z.  8.  Jh.:  Uiie  vie  de  Saint  [Etierme de  Auxence)  de  l'epoque 
des  empereurs  iconoclastes,  Comptos  read,  de  l'Ac.  des  Insor.  et  bell.  Lettr.,  1916.  — 
Ferner  die  Arbeiten  von  L.  Brekier,  L' hagiographie  hyxantine  des  VIII  e  IX  siecles, 
Journ.  d.  Sav.,  Bd.  14.  15,  1916/17  und  La  transformation  de  VEmpire  byxantiti 
soics  les  Ilernclides,  ebd.  Bd.  15,  1917.  Die  französische  Forschung  stützt  sich  hier 
weitgehend  auf  das  grundlegende  russische  "Werk  von  J.  Koulakovsky ,  Istoriia  Vi- 
xantii,  Bd.  3  (602—717),  Kiew  1915,  wo  zur  inneren  Gesch.  namentlich  die  langsame 
und  uneinheitliche  Entwicklung  der  Themenverfassung  dargestellt  ist  (vgl.  Besprechung 
Rev.  bist.  VIH^  1918);  von  dems.  auch  eine  kritische  Studie  über  Theophnncs,  in 
Vizantijski  Vrumennik,  Bd.  21.  —  J.  Ebersolt,  Melanges  d'histoire  et  d arclieologic 
byxantines,Va.i-.  1917,  enthält  eine  bemerkenswerte  Skizze  der  Entwicklung  des  byzan- 
tinischen lloflebens  und  Zeremoniells.  In  die  spätere  Zeit  reicht:  G.  Schlimiberger, 
liccils  de  Byxauee  et  des  croisades,  Par.  1916  (Veieinigung  von  Artikeln,  die  Byzanz 
und  den  lateinischen  Orient  vom  7. — 13.  Jh.  betreffen.  Endlich  die  englische  Dar- 
stellung von  E.  Eoord,   The  byxaniine  empire,  Lond.  1915. 

26 


Lct,  conquete  de  VEgypte  par  les  Ärahes,  Revue  bist.  119.  120,  1919^) 
Sonst  war  die  Forschung  zur  frühen  Geschichte  des  Islam  während  der 
Kriegsjahre  nicht  allzu  ergiebig  -). 

Wollen  wir  hier  endlich  noch  einen  Sprung  voraus  in  spätere  Zeit 
machen,  so  mag  der  Hinweis  erwünscht  sein,  daß  JaJc.  J3urcJchardt  in 
seinen  Basel  (seit  1918)  in  mehr.  Auflagen  herausgegebenen  Vorträgen 
von  1844  — 1887,  wo  übrigens  auch  die  Beziehungen  Papst  Gregors 
d.  Gr.  ^)  zur  Stadt  Rom  behandelt  sind,  ein  fesselndes  Kulturgemälde 
von  Bt/mnz  im  10.  Jahrh.  mit  seinen  bei  allen  Schrecken  noch  immer 
bedeutenden  Leistungen  entworfen  hat. 

Die  Beschränkung  auf  ein  nationalgriechisches  Gebilde,  die  Byzanz 
seit  dem  7.  Jahrh.  erfahren  hatte,  gab  im  Abendlande  der  Weltstellung 
der  Karolinger  Raum  zur  Entwicklung.  Hier  haben  nicht  Editions- 
aufgaben, wie  für  die  Merowingerzeit  letzthin  im  Mittelpunkt  der  For- 
schung gestanden;  denn  wenn  wir  auch  noch  die  abschließenden  Aus- 
gaben der  Karolingerurkunden  und  Konzilsakten  der  Spätzeit,  des  Liber 
pontificalis  seit  715,  der  großen  Kapitularien-  und  Dekretalenfälschungen 
aus  der  Mitte  des  9.  Jahrh.  und  so  manches  andre  zu  erwarten  haben, 
so  gestattet  doch  schon  das  Vorhandene  einen  vorläufig  hinreichenden 
Überblick  '^).  Vielmehr  war  es  gerade  eine  neue  kritische  Durcharbeitung 
des  gesamten,  namentlich  urkundlichen  Stoffes,  die  Ä.  Dopsch  in  seiner 
WirtschaftsentwicMung  der  Karolingerseit,  vornehmlich   in  Deutschland, 


1)  Vgl.  J.  Laurent,  JuArmenie  entre  Byzance  et  V Islam  depuis  la  conquete 
a/rabe  jusqu'  en  886  (Bibl.  des  Ec.  fran(;-.  d'Ath.  et   de  Roma  fasc.  117),  Par.  1919. 

2)  Von  Cl.  Huarts  Handbuch  der  Histoire  des  Arabes  (bis  zur  Gegenwart),  das 
sich  gegenüber  dem  älteren  deutschen  Werk  von  A.  Müller,  Der  Islam  im  Morgen- 
u.  Abendland  in  engerem  Rahmen  hält  und  es  auch  da  nicht  eigentlich  übertrifft, 
erschien  Leipz.  1914/15  eine  deutsche  Übersetzung  von  S.  Beck  u.  M.  Färber;  von 
L.  Gaetanis  Siudi  di  storia  Orientale  enthält  Bd  3,  Mail.  1914,  Das  Leben  Mo- 
hammeds, die  Anfänge  des  Kalifats  und  die  Eroberung  Arabiens.  Von  desselben, 
Annali  deW  Islam  erschien  Bd.  8:  daW  anno  33  al  35^  Mail.  1918.  Vgl.  auch 
A.  Baladimri,  The  origins  of  the  Islamic  state,  Übersetzung  aus  dem  Arabischen  von 
P.  K.  Hittin,  Westminster  1916;  O.  M.  Drayeott,  Mahomet  founder  of  Islam,  New 
York  1916;  0.  Andrae,  Die  Person  Muhammeds  in  Lehre  u.  Glauben  seiner  Gemeinde, 
üpsala  1918. 

3)  Vgl.  auch  E.  Spearing,  The  Patriynony  of  the  Roman  Church  in  the  time 
of  Gregory  the  Great,  ed.  by  Evelyn  M.  Spearing,  Edinb.  1918. 

4)  Zur  älteren  Langobardengeschichte  wäre  folgendes  zu  vermerken :  Th.  Hodg- 
kins  Ttaly  and  her  invaders,  Bd.  5  u.  6,  hat  in  der  zweiten,  vom  Sohne  B.  H.  Hodgkin 
besorgten  Aufl.,  Oxf.  1916,  nicht  sehr  erhebliche  Zusätze  und  Berichtigungen  nach 
den  Notizen  des  Vaters  erhalten.  R.  Morghen,  II  palinsesto  assisi^nse  della  Historia 
Langobardorwn  di  Paolo  Diacono,  Rom  1918;  Paulus  Diaeonus,  Eist.  Lang.  1.  1 — 3, 
Rom  1919;  Pauli  Diaeoni  Historia  Romana  ed.  A.  Crivellucci  {f  1914),  in  Fonti 
p.  1.  stör.  d'It.  51,  Rom  1914  (soll  in  Text  und  Quellennachweis  die  Monumenten- 
ausgabe etwas  verbessern).  R.  Cessi,  Per  la  storia  del  regno  di  Alboino  und  Le 
priyne  conquiste  longobarde  in  Italia,  Venedig  1916.  1918  (N.  Arch.  Ven);  A.  Ro- 
viglio ,  Intorno  alla  storia  dei  Longobardi,  (Jdine  1916,  setzt  mit  C.  Cipolla  den 
Einmarsch  der  Lgb.  in  Italien  zu  569,  den  Tod  Alboins  eher  zu  572,  als  zu  573. 
F.  Tarducci,  L'Italia  dalla  discesa  di  Alboino  alla  rnorte  di  Agilulfo,  Cittä  di  Castello 
1914  stellt  sich  vielfach  in  Gegensatz  zu  herrschenden  Meinungen,  wird  aber  von 
der  Kritik  ungünstig  beurteilt. 

27 


2  Bde.,  Weimar  1912/13,  zu  starken  UrawandluDgen  und  Umwertungen 
der  herrsehenden  Anscliauungen  geführt  hatte,  eine  Arbeit,  die  für  die 
Merowingerzeit  noch  erst  zu  erwarten  ist.  Da  diese  bedeutende  Leistung 
und  ihre  erste  Aufnahme  in  der  Gelehrtenwelt  schon  vor  den  Welt- 
krieg fallen,  so  genügt  hier  die  Bemerkung,  daß  eine  Auseinander- 
setzung damit  die  Forschung  lebhatt  beschäftigt  hat  und  noch  weiterhin 
beschättigen  wird.  Im  allgemeinen  haben  die  höheren  AVertungen  für  das 
Gebiet  des  Handels  und  Verkehrsleben  einmütigere  Zustimmung  ge- 
funden, als  die  agrar-  und  sozialgeschichtlichen  Umdeutungen,  über 
welche  die  Erörterung  noch  nicht  überall  zum  Abschluß  gekommen  ist, 
Selbst  die  einleuchtende  Lokalisierung  des  Capitulare  de  villis^) 
nach  Aquitanien  mit  der  starken  Einschränkung  seiner  Geltung  hat  mehr- 
fachen Widerspruch  erfahren,  namentlich  von  philologischer  Seite,  wo 
in  der  Sprache  nordfranzösische  Elemente  betont  werden  '^).  Es  ist  in- 
dessen zweifelhaft,  ob  hier  der  Philologie  das  letzte  Wort  gebührt  und 
nicht  vielmehr  rechts-  und  wirtschaftsgeschichtlichen  Erwägungen.  Dopsch 
selbst  hat  seine  Auffassung  wiederholt  mit  Glück  verteidigt,  in  Spuren 
westgotischen  Rechtes  neue  Stützen  für  sie  gewonnen  ( Wesfgoi.  Recht 
im  Cap.  de  villis,  Z.  f  R.  g.  A.  36,  1915),  u.  a.  auch  den  bekannten 
Bauplan  von  S.  Gallen  mit  der  Klosterreform  Benedikts  von  Aniane 
816/17  auf  dem  Wege  über  Inden-Reichenau  in  Beziehung  gesetzt  und 
damit  in  den  Kreis  dieser  südfranzösischen  Schriltstücke  hineingezogen 
{Das  Cap.  de  vUlis,  die  Brevium  Exempla  u.  der  Bauplan  v.  S.  Gallen, 
Viert,  f  Soz.  u.  Wirtsch.  13,  1916,  S.  4lff.  u.  ebda,  mit  Bestätigung  von 
kunstgeschichtlicher  Seite  her,  S.  609  ff.  •^).) 

Es  sind  nicht  nur  die  von  v.  Inama- Sternegg  vor  einigen  Jahr- 
zehnten (seit  1879)  zum  erstenmal  darstellerisch  zusammengefaßten  wirt- 
schaftsge.schichtlichen  Ergebnisse,  die  nach  manchen  andern  Angriffen 
nun  von  Dopsch  großenteils  völlig  umgerannt  sind,  sondern  auch  manche 
rechtsgeschichtlichen  Vorstellungen,  die  seit  Brunners  klassischem  Werk 
zum  eisernen  Bestand  unserer  Kenntnisse  zu  gehören  schienen,  werden 
von  ihm  und  in  zunehmendem  Maße  auch  von  andern  in  Frage  gestellt. 
So  hat  E.  Mayer  in  der  Festgabe  für  R.  Sohm,  München- Leipzig  1914, 
die  entscheidende  Einwirkung  der  Araberkriege  auf  die  Entstehung  des 
Lehenswesens    und    die    seit  Roth   angenommene  Bedeutung   der  divisio 

1)  Vgl.  W.  Fleischmann,  Capitulare  de  villis  lel  curtis  impcrii  Caroli  Magni, 
Berlin  1919;  A.  Kuem7nel,  Die  La7idgiUerordnung  Kaiser  Karls  d.  Or.,  Z.  d.  berg. 
Geschichtsvpr.  51  druckt,  ohne  die  Forschung  von  Dopsch  zu  berücksichtigen,  nach 
einer  Einleitung  den  lateinischen  und  deutschen  Text  mit  Wortregister,  Glossar  und 
ausführlichen  Erläuterungen. 

2)  Vgl.  insbesondere  die  gelehrten  Darlegungen  von  O.  Batst,  Viert,  f.  Soz. 
u.  Wü-tsch.  12,  1914.    Ebenso  J.  Jiid  u.  L.  Spitzer  in  der  Zeitschr.  AVörter  u.  Sachen  6, 

1914.  Ganz  einmütig  ist  jedoch  die  philologische  Beurteilung  nicht,  vgl.  E.  Winkler, 
Z    f.  rom.  Phil.  37. 

3)  Vgl.  K.   Gareis,  Die  Familia  des   Cap.  de   V.,  in  Festschr.    f.  G.  Cohn,  Zur. 

1915.  Ferner  zur  Handelugeschichte  der  ausgehenden  Karolingerzeit:  K  Schiffmann, 
Die  Zollurhmde  ron  RaffclsteUen  (um  900),  M.  I.  ö.  G.  37,  1917,  Abdruck  mit  zweifel- 
haften Verbesserungen  und  Erläuterungen. 

28 


des  Kirchengutes  dafür  bezweifelt  und  ein  allmähliches  Zusammenwachsen 
von  Vasallität  und  Benefizialwesen  ohne  erheblichen  Einfluß  des  Staats 
und  mit  anderer  Vorgeschichte  angenommen,  eine  Ansicht,  der  auch 
Dopsch  nicht  fernsteht  (M.  I.  ö.  G.  36,  24).  So  hat  ferner  in  einer 
tiefgrabenden  Forschung  H.  Glitsch,  Der  alamannische  Zentenar  und 
sein  Gericht  (Bericht  üb.  d.  Verhandl.  d.  kgl.  sächs.  Ge|.  d.  Wiss.  zu 
Leipzig,  phil.-hist.  Kl.  Bd.  69)  1917  versucht,  das  bisher  angenommene 
Verhältnis  von  Graf  und  Hundertschafts  Vorsteher  umzuwandelu,  indem 
er  dem  letzteren  auch  die  Möglichkeit  des  Vorsitzes  im  ungebotenen 
Ding,  selbst  in  causae  maiores,  ohne  diese  freilich  zum  vollstreckbaren 
Urteil  zu  bringen,  zuschreibt.  In  diesen  Zentenargerichten  erblickt  er 
Keim  und  Mittelpunkt  der  späteren  Allodialherrschaften,  in  dem  Allodial- 
grafen  den  einstigen  Zentenar. 

So  gründliche  Untersuchungen  verdienen  natürlich  ernstlichste  Be- 
achtung und  Nachprüfung,  und  daß  sich  die  deutsche  Rechtsgeschichte 
nie  aus  Scheu  vor  Trübung  des  klar  herausgearbeiteten  Bildes  auf  eine 
Konvenienz  festlegen  darf,  versteht  sich  von  selbst.  Im  übrigen  aber 
ist  gerade  in  unserer  Zeit  die  Mahnung  vielleicht  nicht  überflüssig,  man 
möge  nicht  ohne  die  gewichtigsten  Gründe  an  dem  doch  mit  großer 
Umsicht  und  Sorgfalt  gefügten  älteren  Bau  rütteln,  da  wir  uns  ein 
nutzloses  Abbröckeln  und  Wiederzusammenkitten ,  ein  Herumbewegen 
der  Forschung  im  Kreise  jetzt  noch  viel  weniger  als  früher  leisten  können  ^), 

Andere  Studien  setzen  denn  auch  mehr  die  von  früher  her  ge- 
wiesene Richtung  fort.  Von  den  Leges  Saxonum  und  der  Lex  Thu- 
ringorum  (=  Angliorum  et  Werinorum  idest  Th.)  hat  Gl.  Frhr.  v.  Schiverin 
für  die  Oktavserie:  Fontes  iuris  Germanici  antigui  der  Mon.  Germ,  auf 
Grund  je  der  besten  Handschrift  eine  Neuausgabe  zum  Ersatz  der  alten 
Folioedition  herausgegeben.  Die  sächsischen  Verfassungsverhältnisse  der 
vorkarolingischen  Zeit  haben  durch  die  Entdeckung  der  ältesten  Vita 
des  hl.  Lebuin  (vgl.  Nederlandsch  Archief  voor  Kerkgeschiedenis  1909) 
eine  merkwürdige  Beleuchtung  erfahren;  denn  man  darf  nun  nicht  mehr 
an  der  bisher  nur  durch  die  jüngere  Vita  des  10.  Jahrh.  überlieferte 
Stammesversammlung  aller  Sachsen  zweifeln,  an  der  sich  neben  den 
Fürsten  Vertreter  von  je  12  Edelingen,  Freien  und  Laten  aus  jedem 
Gau  beteiligten.  Darauf  hat  Ä.  Hofmeister,  Über  die  älteste  Vita  Lebuini 
u.  die  Stammesverfassung  der  Sachsen  in  Geschichtl.  Stud.  f  A.  Hauck, 
Leipzig  1916,  hingewiesen  und  gegen  Anzweiflung  von  L.  Schmidt  in 
Korr.  d.  Gesamtver.  64,  1916  seine  Ansicht  in  dem  Aufsatz:  Die  Jahres- 
versammlung der  alten  Sachsen  zu  Marhlo,  Hist.  Z.  118,  1917  erfolgreich 
verteidigt.    Neben  der  verfassungsmäßigen  Einheit  der  alten  Sachsen  ist 


1)  Nach  der  scharfen  Zurückweisung  von  M.  Petit-Dutaillis,  De  la  signißcation 
du  mot  „foret^^  ä  l'epoqiie  franqiie,  Bibl.  de  TEc.  d.  Ch.  76,  1915  ist  zu  den  ab- 
wegigen Thesen  auch  zu  rechnen  die  von  H.  T/mmne,  Forestis,  Königsgut  u.  Königs- 
recht, Arch.  f.  Urk.  2,  1909.  Gegenüber  seiner  Deutung  als  Aussonderung  aus  der 
gemeinen  Mark  zu  Sonderbesitz  bleibt  es  bei  der  früheren  Auffassung  als  Reservation 
für  Jagd  und  Fischfang.  Vgl.  auch  M.  Prou,  La  foret  en  Angleterre  et  en  France, 
Journ.  d.  Sav.  1915,  Juni/August. 

29 


bemerkenswert  vor  allem  der  ständische  Vertretungsgedanke,  wie  er  hier 
zuerst  hervortritt.  Unwillkürlich  werden  wir  daran  erinnert,  daß  die 
stammverwandten  Angelsachsen  später  dies  Repräsentationssystem  über 
die  ganze  Erde  verbreiten  sollten.  Eben  zu  einer  Zeit,  in  der  zwischen 
ihnen  und  uns  alle  Bande  zerrissen  waren,  hat  ein  deutscher  Gelehrter 
F.  Liehenuann  sein  großes,  im  Auftrag  der  Savignystiftung  heraus- 
gegebenes Werk  Die  Gesetze  der  Angelsachsen  mit  einem  3.  Bande,  der 
eine  Einleitung  zu  jedem  Stück  und  Erklärungen  zu  einzelnen  Stellen 
bringt,  Halle  1916  zum  Abschluß  geführt  und  damit  eine  Forschungs- 
arbeit vollbracht,  wie  sie  jenseits  des  Kanals  für  die  nationale  Geschichte 
kaum  in  gleichem  Werte  hätte  geleistet  werden  können  i).  Auch  die 
Berl.  1919  abgeschlossene  Ausgabe  der  Werke  AldJielms  von  R.  Ehwald 
in  M.  G.  Auct.  antiquiss.  XV,  die  ihre  Vorgänger  weit  übertrifft,  darf 
in  ähnlichem  Sinne  hier  genannt  werden. 

Nächst  den  wirtschafts-  und  verfassungsgeschichtlichen  Problemen, 
deren  Erörterung  neu  in  Fluß  gekommen  ist,  steht  im  Mittelpunkte 
unserer  Anteilnahme  an  der  karolingischen  Geschichte  noch  immer  das 
Verhältnis  von  Staat  und  Kirche.  Auf  dem  sicheren  Grunde,  den  die 
großen  Forscher  der  vorigen  Generation  gelegt  haben,  ist  hier  die  Arbeit, 
ohne  zumeist  überraschende  und  umstürzende  Ergebnisse  zu  erzielen, 
doch  in  stetigem  Fortschreiten  begriffen.  Aus  der  älteren  Zeit  hat  der 
Gründer  der  deutschen  Kirche,  Bcniifaz,  obwohl  die  Hauptlinien  seines 
Wirkens  längst  so  festgestellt  sind,  daß  sie  nicht  mehr  verschoben  werden 
können,  die  Forschung  noch  immer  lebhaft  beschäftigt  -). 

M.  Tangl  (f  1921),  der  B.s  Briefe  für  die  Geschichtschreiber  der  deutschen 
Vorzeit,  Nr.  92,  1912,  in  Übersetzung  bearbeitete,  kam  dabei  mehrfach  zu  neuen  Er- 
gebnissen und  konnte  in  der  Oktavserie  der  Epistolae  seledae  T.  I  der  Mon.  Germ,  eine 
gegenüber  der  letzten  Dümmlerschen  nicht  unerheblich  verbesserte  Ausgabe  der 
.S'.  Bonifalii  et  LulU  epistolae,  Berlin  1916,  vorlegen.  Im  N.  A.  40.  41,  1916.  1917 
veröffentlichte  er  Studien  dazu,  die  die  Textgeschichte  endgültig  darlegen  und  bei 
einer  Reihe  von  Stücten  Umdatierungen  begründen.    Mit  //.  Böhmer,  Zur  Öeschichte 


1)  R.  L.  Poole,  The.  chronology  of  Bede's  „  Ilistoria  ecclesiastica"  and  the  Councils 
of  670— 680  stellt  zum  Leben  Wilfrids  von  York  einige  Daten  fest;  H.  Hotvorth, 
The  golden  days  of  the  carly  english  chiirch  from  the  arrival  of  Theodore  to  the 
death  of  Bede,  3  Bde.,  Lond.  1917,  beruht  weitgehend  auf  dem  älteren  knapperen 
AVerke  von  W.  Bright.  In  diese  Epoche  gehört  auch  die  „Vermählung  christlichen 
Inhalts  mit  germanischer  Form",  die  im  sächsischen  Heliand  des  9.  Jahrb.  nachwirkt, 
vgl.  A.  Hciisler,  Heliand,  Liedstil  u.  Epenstil,  Z.  f.  d.  Altert.  57.  li.  L.  Poole, 
St.  Wilfrid  and  the  see  of  Eipon,  Engl.  bist.  Rev.  34,  1919  sucht  die  Bischofszeit 
AV.s  auf  den  verschiedenen  Sitzen  Ripon,  York,  Leicestor  festzustellen,  sowie  das 
Todesdat.um  zu  709  (geg.  W.  Levison  710).  H.  A.  Wilson,  The  calendar  of  St.  Willi- 
brord,  Oxf.  1918,  Engl.  bist.  Rev.  34,  119,  gibt  den  Kalender  heraus,  in  den  Willi- 
brord  eigenhändige  Einträge  gemacht  hat;  W.  Lampen,  Sint  Willibrord^  Utr.  1916. 
/''.  M.  Stenton,  The  stipremaey  of  the  Mercian  Kings,  Engl.  bist.  Rev.  33,  1918, 
schildert  an  den  Titeln  der  Urkunden  die  Entwicklung  zum  Einheitskönigtum.  Bcatriee 
A.  Lecs,  Alfred  the  Great,  the  thriähtcller ,  makcr  of  England  S4S — S99 ,  Newyork 
1915,  wird  als  brauchbare  Einführung  in  den  gegen wäi'tigen  Forschungstand  über  den 
oft  dargestellten  Ilcirrscher  gerühmt;  populär:  A.  E.  Mac  Killiam,  The  story  of  A. 
the  Or.,  Lond.  1914. 

2)  K.  0.  Müller  bespricht  N.  A.  41 ,  1919  das  neugefundene  Bruchstück  einer 
(der  ältesten)  Handschrift  der  Vita  S.  Bonifatii  von  Otloh. 

30 


ies  Bonifatius,  Z.  d.  Ver.  f.  hess.  Gesch.  u.  Landesk.  50,  1916,  wo  die  "Wirksamkeit 
des  Apostels  in  Hessen  klar  herausgearbeitet  ist,  setzt  sich  Tangl,  Bonifatiusf ragen, 
Abh. d.  Berl.  Ak.  1919,  auseinander  und  rechnet  ebd.  mit  F.  J.Bendel,  Shulien  %ur  ältesten 
Oeschichte  der  Abtei  Fulda,  Bist.  Jahrb.  38,  1917  ab,  der  die  Gründungsgeschichte 
Fuldas  auf  ganz  neue  Grundlage  stellen  wollte,  weil  er  die  Vita  Sturmi  von  Eigil, 
von  der  zufällig  keine  alte  Handschrift  mehr  vorliegt,  grundlos  entwerten  zu  müssen 
glaubte  ^). 

Auch  für  unsere  Kenntnis  von  den  Anfängen  des  Erzbistums 
Hamburg  -  Bremen  und  der  nordgermanischen  Mission  glaubte  W.  M. 
Peitz,  S.  J.,  Rimberts  Vita  Anskarü  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt, 
Z.  d.  Ver.  f.  Hamb.  Gesch.  22,  1918,  ein  neues  Fundament  gefunden  zu 
haben,  indem  er  die  kürzere  Form  jener  Vita,  die  man  bisher  für  eine 
tendenziöse  Bearbeitung  des  11.  Jahrb.  zugunsten  der  seit  Erzbischof 
Adalbert  betriebenen  Ausdehnungspläne  hielt,  als  die  ursprüngliche  zu 
erweisen  suchte,  womit  dann  die  überschüssigen  Teile  der  sonst  für  echt 
gehaltenen  ausführlichen  Vita  als  spätere,  unzuverlässige  Zusätze  entwertet 
würden. 

In  weiteren  Untersiielmngen  zu  Urkundenfälschungen  des  MA.  I:  Die  Ham- 
burger Fälschungen  (Ergänzungshefte  zu  „Stimmen  der  Zeit"  II,  3),  Freib.  i./Br.  1919, 
kam  er  auf  die  Überlieferung  der  Vita  Anskarü  zurück  und  zog  aus  der  neuen  Sachlage 
seine  Folgerungen  für  die  Beurteilung  der  sonst  für  Fälschungen  gehaltenen  ältesten 
Hamburger  Papsturkunden,  für  Adam  von  Bremen  und  die  nordische  Missionsgeschichte; 
der  Legationsbereich  der  Hamburger  Kirche  sollte  danach  schon  im  9.  Jahrh.  bis  ans  Eis- 
meer erstreckt  sein.  Die  Richtigkeit  dieser  grundlegenden  quellenkritischen  Umkehrung 
wurde  sofort  von  W.  Leviso?i  und  Ä  Schmeidler,  N.  A.  41,  S.  769  ff.,  1919,  bestritten 
und  ist  dann  von  ersterem  Z.  d.  Ver.  f.  Hamb.  Gesch.  23,  1919,  gründlichst  wider- 
legt worden.  Dieser  Versuch  einer  Umgestaltung  herrschender  Ansichten  hat  sich 
daher  trotz  Scharfsinn  und  Gelehrsamkeit  als  unfruchtbar  erwiesen  und  gehört  zu 
denen,  die  künftig  wegen  Kraftvergeudung  möglichst  vermieden  werden  sollten. 

Für  die  neuen  Beziehungen  zwischen  Staat  und  Kirche  in  der 
Karolingerzeit  2)  schuf  Bonifaz  wohl  die  unentbehrlichen  Grundlagen, 
aber  den  eigentlichen  Ausgangspunkt  bildet  doch  erst  Pippins  ^)  Bund 
mit  dem  Papsttum  von  754.  Darüber  und  über  die  zusammenhängenden 
Probleme  der  karolingischen  Schenkungen  und  der  Anfänge  des  Kirchen- 
staats besteht  bekanntlich   eine   sehr  ausgedehnte,   namentlich   seit   den 


1)  Zur  älteren  deutschen  Missionsgeschichte  seien  die  folgenden  kleinen  Arbeiten 
notiert:  L  Zoepf,  Lioba,  Hathumot ,  Wibotada,  Münch.  1915:  Kl.  Löffler,  D.  An- 
fänge des  Christentums  im  späteren  Bistmn  Münster  i.  W.,  Mitt.  d.  Ver.  f.  Gesch. 
Westf.  9,  1918;  F.  Vetter,  S.  Otmar,  d.  Gründer  u.  Vorkämpfer  des  Klosters  S.  Gallen 
(t  759),  Jahrb.  f.  Schweiz.  Gesch.  43,  1918;  dazu  0.  Scheitviler,  Z  f.  Schweiz. 
Kirchengesch.  13.  Vgl.  auch  A.  M.  Koeniger,  D.  Militärseelsorge  der  Karolingerxeit, 
Veröff.  aus  d.  kirchenhist.  Sem.  München,  4.  Reihe,  Nr.  7,  Münch.  1918.  Populär: 
Th.  Hänlein,  Die  Bekehrung  der  Germanen  xtmi  Christentum,,  I:  Die  Bekehrung  der 
Frauken  u.  Angelsachsen  ( Voigtländers  Quellenb.  78),  Leipz.  1914.  Ich  notiere  hier 
auch  A.  Hofmeister,  Weißenburger  Aufxeielinungen  vom  Ende  des  8.  u.  Anf.  des 
9.  Jh.,  Z.  f.  G.  d    Oberrh.,  N.  F.  34,  1919. 

2)  Vgl.  A.  Pöschl,  Der  Ncnbruchxeheyit ,  Arch.  f.  kath.  Kirchenrecht  98,  1918, 
wo  die  Entwicklung  dieser  Abgabe  von  der  Karolingerzeit  bis  in  die  Neuzeit  ver- 
folgt wird. 

3)  B.  Sepp,  Wann  wurde  Pippin  König?,  Hist.  Jahrb.  38,  1918  möchte  schwer- 
lich richtig,  gegen  Tangl,  Pippins  Thronbesteigung  zwischen  13.  Dez.  751  u.  18.  Jan. 
752,  vermutungsweise  auf  den  6.  Jan.  752  setzen. 

31 


achtziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  stark  anschwellende  Lite- 
ratur, deren  jüngere  Erzeugnisse  man  bei  U.  Froehl,  Beiträge  z.  Gesch. 
der  Entstelning  den  Kirchenstaates,  Diss.  Halle,  1914  zusammengestellt 
findet.  Diese  Arbeit,  die  einige  noch  weniger  herangezogene  Geschichts- 
werke, insbesondere  die  Annales  Mettenses  priores,  auf  ihre  Verwend- 
barkeit tür  das  Thema  sorgsam  durchprüft,  ist  freilich  durch  ihr  gleich- 
zeitiges Erscheinen  mit  dem  Buche  von  JE.  Caspar,  Pippin  u.  die 
römische  Kirche,  Kritische  Untersuchungen  zum  fränlüsch  -  päpstlichen 
Bunde  im  8.  Jahrh.,  Berl.  1914,  alsbald  veraltet,  denn  diese  gewichtige 
Leistung,  die  unsere  Erkenntnis  erheblich  gefördert  hat,  beherrscht  seit- 
dem als  Grundlage  für  alle  Weiterführung  die  Erörterung. 

Die  Auseinaudersetzungen  mit  ihr,  voa  denen  liier  nur  die  von  E.  Elchmann  *), 
Hist.  Jahrb.  37,  1916,  Fed.  Schneider,  D.  L.  Z.  1918,  Nr.  20/21,  und  A.  Brackmann, 
Gott.  Anz.  1918,  Nr.  11/12,  hervorgehoben  seien,  ziehen  sich  durch  die  Kriegsjahre 
hindurch.  Die  Anerkennung  des  methodischen  Ernstes,  mit  dem  allenthalben  die  Reste 
der  brieflichen  und  urkundlichen  Äußei-ungen  zugrunde  gelegt  und  bis  aufs  äußerste 
(gelegentlich  vielleicht  zu  stark)  ausgepreßt  werden,  ehe  die  chronikalischen  ergänzend 
hinzutreten,  ist  allgemein.  Auch  die  Grundzüge  der  kurialen  Politik,  ihr  folgerichtiges 
Streben  nach  Autonomie,  die  religiöse  Bindung  des  karoliugischen  Schutzherrn,  die 
ümdeutuug  der  Garantie  des  status  quo  vor  den  laugobardischen  Eroberungen  zu- 
gunsten des  unbestimmten  Begriffs  der  „Romani",  wie  sie  der  Pakt  von  Kiersy  aus- 
sprach ,  in  eine  Überweisung  an  die  römische  Papstkirche  als  Hauptinteressentin ,  die 
sich  nun  seit  756  stetig  von  Byzanz  ablöst,  bis  Karls  Vorgehen  von  774  eine  neue 
Basis  schafft,  —  das  und  vieles  Einzelne  kann  nach  diesen  gründlichen  Untersuchungen 
als  feststehend  gebucht  werden.  Schwierige  Deutungen,  wie  die  der  vielumstrittenen 
Grenzlinie  in  jenem  Pakt,  vermögen  bei  ihrer  Unsicherheit  natürlich  nicht  gleich- 
mäßig zu  überzeugen.  In  der  Anwendung  fränkischer  Rechtsformen  auf  das  Ver- 
hältnis von  Papst  und  König  schließt  sich  C.,  wenn  auch  mit  gewisser  Zurückhaltung 
gegenüber  Haller,  an  die  seit  Gundlach  aufgekommene  Richtung  der  deutschen  For- 
schung an.  Eine  gewisse  Anpassung  der  kirchlichen  Sprache  an  germanische  Rechts- 
vorstellungeu  wird  sich  schwerlich  in  Abrede  stellen  lassen;  jedoch  mit  der  juristischen 
Ausmünzung  solcher  Wendungen  ist  man  in  der  Tat  wohl  viel  zu  weit  gegangen. 
Einen  starken  Rückschlag  nach  der  andern  Seite  bedeutet  die  Abhandlung  von  K.  Held- 
mann,  Kommendation  und  Königssehuh.  im  Vertrage  von  Ponthion  754,  il.  I.  ö.  G. 
38,  1919,  der  auf  den  Bahnen  Bernheims  (s.  oben  S.  4)  die  betreffenden  Ausdrücke 
einfach  nach  ihrem  biblischen  Ursprung  auslegt,  Kommendation  und  Köuigsschutz  im 
eigentlichen  fränkischen  Rechtssinne  als  auf  diese  einzigartigen  überstaatlichen  Be- 
ziehungen gar  nicht  anwendbar  ablehnt  und  jene  religiöse  Auffassung,  die  C.  erst 
als  spätere  Unideutung  des  juristischen  Verhältnisses  betrachtet,  als  die  ursprüngliche 
ansieilt.  Auch  die  Adoption  des  fränkischen  Herrschers  und  seiner  Söhne  durch  den 
Papst  will  er  nicht  in  dem  römisch-rechtlichen  Sinne  als  Bestimmung  zur  Mitregent- 
scliaft  oder  Nachfolge  nach  Art  der  spätantiken  Kaiser  auslegen,  wie  es  E.  Eichmann, 
Z.  f.  R.  37,  1916  (vgl.  noch  unten)  getan  hat.  Eine  derartige  Auffassung  scheint  mir 
indessen  der  damaligen  Kurie  doch  viel  eher  zuzutrauen  und  fügt  sich  ihren  sonstigen 
Absichten  gut  ein.  —  Über  die  Beurteilung  der  Politik  Pippins,  die  bei  C,  wenn  er 
selbst  auch  extreme  Foi'mulierungen  ablehnt,  doch  nur  in  wenig  günstigem  Lichte 
erecheinen  kann,  sind  die  Meinungen  noch  gespalten").  Keinesfalls  aber  darf  sein 
durch  kirchenpolitische  Rücksichten  und  religiöse  Gefühle  stark  mitbestimmtes  Ver- 
halten lediglich  nach   den  Gesichtspunkten   des  Machtstrebens   beurteilt  werden,   und 


1)  Eichninnnn  eigne  in  die  Karolingerzeit  und  besonders  auf  die  Vorgänge  von 
754  zurückgreifende  Studien  zum  Verhältnis  von  Papsttum  und  Kaisertum  finden 
besser  unten  ihren  Platz. 

2)  P.  liassoiv,  Z.  f.  Kirchengesch.  36,  1916,  sucht  z.  B.  Pip]tins  Politik  zu  ver- 
teidigen. 

32 


überdies  ist  auch  sein  Handeln  auf  einem  gänzlich  ungewohnten,  schwer  zu  über- 
sehenden Felde  gegenüber  einer  alten,  zähen  und  mit  verfeinerten  Mitteln,  wie  z.  B. 
der  tonstantinischen  Schenkung  arbeitenden  Diplomatie  noch  nicht  schlechthin  maß- 
gebend für  seine  staatsmännische  Einsicht  überhaupt,  wie  er  sie  etwa  in  den  weniger 
verwickelten,  geläufigeren  Verhältnissen  nördlich  der  Alpen  zu  bewähren  hatte.  Es 
muß  als  dringender  Wunsch  ausgesprochen  werden,  daß  Caspar  sich  nicht,  wie  es  so 
oft  zu  gehen  pflegt,  durch  die  neuen  Studien  und  Betätigtangen,  denen  er  sich  seit- 
dem zuwenden  mußte,  dauernd  von  der  versprochenen  Fortführung  über  das  Jahr 
774  hinaus,  die  doch  immerhin  sehr  viel  leichter  ist,  abhalten  lassen  möchte. 

Über  die  konstantinische  Schenkung  i)  sind  die  deutschen 
Forscher  schon  seit  einiger  Zeit  zu  annähernder  Übereinstimmung  g3- 
kommen.  Nur  ob  sie  von  der  römischen  Kurie  kurz  vor  oder  kurz 
nach  754  angefertigt  sei,  erscheint  noch  ungewiß.  Von  itahenischer  Seite 
ist  dagegen  der  Versuch  gemacht,  die  Entstehung  noch  weiter  zurück- 
zudatieren. Was  Ä.  Gaudensi  schon  kurz  vor  dem  Weltkriege  auf  der 
Historikerversammlung  in  Rom  ankündigte,  ist  nach  seinem  1916  erfolgten 
Tode  in  ausführlicherer  Begründung  erschienen  in  der  Schrift:  11  Co- 
stituto  di  Costantino,  Bull,  dell'  ist.  stör.  it.  39,  19  i  9. 

Die  Einleitung  zu  dem  hier  vorgelegten  neuen  Text  will  dartun,  daß  der  von 
Papst  Leo  IX.  dem  Patriarchen  Michael  Cärularius  von  Konstantin opel  mitgeteilte 
Text  älter  sei,  als  der  von  S  Denis,  vor  allem,  daß  das  Constitutum  in  der  ursprüng- 
lich griechischen  Vita  S.  Silvestri  enthalten  und  daher  auch  zuerst  griechisch  ge- 
schrieben gewesen  sei,  daß  daher  der  in  drei  vatikanischen  Hss.  überlieferte  griechische 
Text  älter  sei  als  der  lateinische.  Angesichts  der  überzeugenden  btilvergleichung 
zwischen  dem  lateinischen  Text  und  Papstbriefen,  durch  die  einst  Scheffer-ßoichorst 
Zeit  und  Ort  der  Fälschung  bestimmte,  wird  man  diesem  Ergebnis  zunächst  gewiß 
recht  zweifelnd  gegenüberstehen. 

In  engem  Zusammenhang  mit  diesen  Dingen  stehen  auch  die  Nonantolaner 
Forschungen  Oaudenxis,  II  monastero  di  Nonantola,  il  ducato  di  Persiceta  e  la  chiesa 
di  Bologna,  Bull.  delF  ist.  stör.  it.  36  u.  37,  1916,  in  denen  die  schon  1901  be- 
gonnene Veröffentlichung  zu  Ende  geführt  ist  (vgl.  F.  Brandileone,  Di  uno  scritto 
postumo  di  Ä.  G.,  Arch.  stör.  it.  75  II,  1918).  Mit  andern  Quellen  der  wirren  Ge- 
schichtsüberlieferung von  Nonantola  ist  da  die  Vita  Radriani  III  papae  [f  885) 
zuerst  vollständig  gedruckt.  Von  den  umfangreichen  Anhängen,  in  denen  die  Schick- 
sale der  vorbolognesischen  Rechtsschulen  ergründet  werden,  sucht  der  erste  darzutun, 
daß  die  „sacratissimi  cauones",  mit  denen  auf  dem  römischen  Konzil  von  769  die 
neue  Papstwahlordnung  begründet  wurde,  bestimmte  Fälschungen  vermutlich  von  der 
Hand  des  Primicerius  Christophorus  waren,  der  ja  auch  als  Haupturheber  der  kon- 
stantinischen Schenkung  gilt.  Nach  dem  zweiten  Anhang  soll  die  „  karolingische 
Minuskelschrift"'  zuerst  in  der  römischen  Kantorenschule  unter  Papst  Hadrian  I.  ent- 
standen sein.  Der  dritte  Anhang  sucht  eine  förmliche  Abtretung  des  Exarchats  durch 
die  Päpste  des  ausgehenden  9.  Jahrh.  an  Guido  und  Lambert  von  Spoleto  zugunsten 
des  italischen  Regnum  zu  erweisen,  in  welchem  nun  Ravenna  ein  zweites  Zentrum 
neben  Pavia  geworden  sei,  zugleich  Sitz  der  von  Rom  dorthin  übertragenen  Rechts- 
schule ^). 


1)  Chr.  B.  Coloman,  Constantine  tlie  Oreat  and  Christianity  (Columbia  Uni- 
versity  Studios  in  History  etc.  nr.  146),  New  York  1914,  behandelt  im  2.  Teil  die 
christliche  Legende,  im  dritten  das  Constitutum  Constantini,  anscheinend  nur  referierend. 
2)  Vgl.  zu  diesem  Thema  auch  A.  Visconti,  Le  condixioni  del  diritto  ai  tempi 
dei  re  d'Italia  dojm  la  caduta  dell'  impero  carolingio  (in  Mem.  del  r.  istit.  lomb. 
di  scienze  Bd.  23),  Mail.  1915;  O.  Buxxi,  Ricerche  per  la  storia  di  Ravenna  e  di 
Roma  dalV  anno  S50  al  1118^  Arch.  stör.  Rom.  38,  1915,  wo  die  Bestrebungen  der 
Erzbischöfe  von  Ravenna  zur  Selbständigkeit  gegenüber  den  Hoheitsansprüchen  des 
päpstlichen  Kirchenstaates  lehrreich  verfolgt  werden. 

■Wissenschaftllclie  Forschungsbericlite  VJI.  3 

33 


Auf  dem  von  Caspar  betretenen  Wege  läßt  sich  vielleicht  auch  noch 
eine  fe^tere  Grundlage  für  die  Beurteilung  der  Kaiserkrönung  Karls 
d.  Gr.  gewinnen.  Andeutungen  in  dieser  Richtung  hat  Ä.  Brachmann, 
Die  Erneuerung  der  Kaiserivürde  im  Jahre  800,  Geschichtl.  iStud.  f.  A. 
Hauck,  Leipzig  1916,  gemacht  i). 

Er  stellt  den  Schritt  Leos  III.  verständnisvoller,  als  bisher  geschehen,  in  den 
Znsammenhang  der  kurialen  Politik.  Leo  weicht  wohl  in  der  Taktik  der  völligen 
Hingabe  an  Karl  von  Iladrian  I.  und  den  andern  Päpsten  ab,  nicht  aber  im  Ziel; 
der  Schaffung  eines  römisch -hesperischen  Kaisertums  auf  der  Grundlage  der  kon- 
stantiuischen  Schenkung,  die  auch  allein  als  Rechtsboden  der  Verleihung  von  800  zu 
denken  ist.  Dieser  Auffassung,  in  der  doch  eine  künftige  Abhängigkeit  vom  Papsttum 
schlummert,  muß  Karl  widerstreben,  indem  er  nachträglich  die  Anerkennung  durch 
Byzanz  herbeiführt  und  auch  sonst,  durch  Krönung  seines  Sohnes  usw.,  die  Unabhängigkeit 
des  Kaisertums  vom  Papsttum  betont.  Das  ist  einleuchtend.  Aber  ist  damit  nicht  sehr 
gut  vereinbar,  daß  Karl  eine  Titulierung,  die  ihn  in  derartige  Verwicklungen  bringen 
mußte,  für  seine  christlich-universale  Stellung  als  fränkischer  Großkönig  urspiünglich 
überhaupt  nicht  gewollt  hat  und  anfangs  Abneigung  gegen  sie  hegte?  Eine  natürliche 
Auslegung  der  bekannten  Einhardstelle :  „imperatoris  et  augusti  nomen  accepit;  qnod 
primo  —  aversatus  est"  scheint  mir  das  noch  immer  klar  zu  besagen.  Brackmann 
will  freilich  das  „qnod"  nicht  auf  ,, nomen-'  beziehen,  sondern  auf  den  ganzen  Satz 
und  damit  die  Abneigung  Karls  auf  die  ganze  Art  der  Übertragung  durch  den  Papst. 
Das  ist  jedenfalls  eine  künstlichere  Auslegung,  und  das  „primo"  paßt  dazu  nur 
schlecht;  denn  daß  Karl  die  Art  der  Übertragung  später  günstiger  beurteilte,  ist 
kaum  anzunehmen,  wohl  aber,  daß  er  sich  in  den  anfangs  unerwünschten  Kaiser- 
titel   bald  hinemlebte^). 

Zur  Geschichte  Karls  d.  Gr.,  insbesondere  ihrer  quellenkritischen 
Grundlage,  ist  in  erster  Linie  eine  Folge  von  Abhandlungen  zu  nennen 
von  L.  Halphen,  Eludes  critiques  sur  Vhistoire  de  Charlemagne,  in 
mehreren  Bänden  der  Rev.  bist. 

In  der  ersten  (Bd.  124,  1917)  läßt  H.  die  karolingischen  Reichsannalen  (Annales 
regni  Francorum)  bis  788  nicht  aus  den  sog.  ,, kleinen  Annalen"  zusammengearbeitet, 
sondern  umgekehrt  diese  aus  jenen  zu  verschiedenen  Zeitpunkten  unter  Hinzufügung 
lokaler  Nachrichten  ausgezogen  sein.  Die  Entstehung  der  Reichsannalen,  die  schon 
seit  768  annähernd  den  Ereignissen  folgen,  wird  daraufhin  neu  dargestellt.  Die  For- 
schungen richten  sich  vornehmlich  gegen  die  Annahmen  des  191Ö  vor  dem  Feinde 
gefallenen  F.  Kurze,  der  diesen  Fragen  ja  eine  unermüdliche  Tätigkeit  gewidmet,  aber 
in  Deutschland  doch  keineswegs  so  weitgehende  Zustimmung  gefunden  hatte,  wie  H. 
glaubt;  sie  kehren  hier  zur  Auffassung  des  alten  Pertz  zurück.  —  Eine  bestimmtere  Ab- 
grenzung der  einzelnen  Verfasser  der  Reichsannalen  und  ihres  Anteils  hält  H.  für  un- 
möglich;  doch  gewinnt  er  hier  und  in  der  zweiten  Studie  (Bd.  Vlb^  1917),  die  den 
„kleinen  Annalen"  gewidmet  ist,  aus  den  Endpunkten,  bis  zu  denen  in  ihnen  die 
Reichsannalen  ausgezogen  sind,  Anhaltspunkte,  welche  die  aus  anderen  Gründen  angenom- 
menen Einschnitte  zu  795/6  und  801  unterstreichen.  —  Über  Emhards  Vita  Karoli  ^)  ergeht 
in  der  dritten  Studie  (Bd.  126,  1917)  ein  überaus  scharfes  Gericht.  Mit  Holder- Eg?er 
rückt  U.  die  Abfassung  in  Einhards  Alterszeit,  sogar  m  die  erste  Hälfte  der  dreißiüf^r 


1)  Vgl.  auch  C.  Mcda,  Papa  Leone  III  e  la  restauraxione  delV  Lnpero  dord- 
dente,  Rassegna  nazionale  38,  1916. 

2)  Zu  den  Libri  Carolini  und  ihrer  Benutzung  des  Decretum  Gelasianum  vgl.  die 
Zusammenstellungen  von //.  BnsUjm,  der  gegenüber  der  Greifswald.  Diss.  von  F.  Knop, 

1914,  an  der  Verfasserschaft  Alcliwins  festliält. 

3)  Emhards  Life  of  Cf/arlonafpie  ed.  by  H.  W.  Oarrod  and  li.  B.  Monat,  Oxford 

1915,  ist  ohne  wissenschaftlichen  Wert.  In  der  Neuausgabe  der  Übersetzung  in  den 
Geschichtschreib.  der  d.  Vorz. ,  ist  die  Neugestaltung  der  Einleitung  durch  M.  Tangl 
beachtenswert. 

34 


Jahre  des  9.  Jh.  (was  doch  ganz  von  der  Frage  abhängt,  ob  der  ßeichenauer  Biblio- 
tliekskatalog  in  dem  Teile,  der  die  Vita  nennt,  wirklich  später  als  821  zu  datieren  ist). 
Daraus  werden  die  zahlreichen,  von  H.  noch  vermehrt  aufgedeckten  Ungenauigkeiten 
erklärt.  Man  wird  sie  und  eine  aus  pietätvoller  Verehrung  hervorgehende  unwill- 
kürliche Schönfärbung  zugeben,  darüber  hinaus  aber  H.s  Urteil,  das  Einhard  zum 
bewußten  Geschichtsfälscher  zu  stempeln  sucht,  in  mehreren  Punkten,  auch  hinsichtlich 
der  Benutzung  Suetons,  als  ungerecht  empfinden  und  als  unbegründet  erkennen.  Wenn 
Einhard  die  angegriffenen  Feinde  Karls  zweimal  ,.  contra  Francos'^  kämpfen  läßt,  so 
sieht  H.  darin  die  Tendenz,  Angriffskriege  für  Verteidigungskriege  auszugeben,  „et 
Ton  sait  qu'il  a  eu  des  imitateurs  "•,  —  eine  aus  der  Kriegsleidenschaft  entstandene  Ent- 
gleisung, die  zu  den  sonst  ruhigen  und  stets  beachtenswerten  Ausführungen  schlecht 
paßt.  —  Die  vierte  Studie  (Bd.  128,  1918)  gibt  eine  genaue  Analyse  der  „Taten  Karls 
d.  Gr."  von  (Notker),  dem  Mönche  von  S.  Gallen  *).  Der  literarisch-kompiiatorische  Charakter 
des  schulmeisterlichen  Werkes,  der  historische  Unwert  und  Mangel  an  echtem  Sagenstoff 
wird  scharf  und  m.  E.  richtig  betont;  ich  habe  schon  im  Reallexikon  d.  germ.  Alt.  unter 
„Notker"  die  vorherrschende  Übersehätzung  bekämpft.  —  Die  beiden  letzten  zu- 
sammenhängenden Abhandlungen  suchen  fast  ausschließlich  auf  Grund  der  nun  etwas 
anders  bewerteten  Annalen  unter  Ausschluß  der  hagiographischen  Quellen  die  Ereig- 
nisse von  Karls  Sachsenkriegen  im  einzelnen  genauer  festzustellen  und  ihre  Abschnitte 
klarer  herauszuarbeiten,  ohne  in  der  Gesanitauffassuug  Neues  zu  bringen.  Die  Auf- 
fassung der  Capitulatio  de  partibus  Saxoniae  als  Abschluß  der  Gewaltpolitik  von 
782  785  erscheint,  ähnlich  wie  bei  Hauck,  recht  annehmbar;  weniger,  daß  auch  die 
Lex  Saxonum  statt  802/3  schon  785  aufgezeichnet  sein  soll.  Auch  die  Ausführungen, 
die  den  letzten  Sachsenkampf  793  statt  792  ausbrechen  lassen  wollen,  können  nicht 
überzeugen,  da  sie  zur  Annahme  von  zwei  ganz  ähnlichen  Niedermetzelungen  frän- 
kischer Heeresabteilungen  zwingen. 

Bleiben  wir  noch  einen  Augenblick  bei  der  Persönlichkeit  des 
großen  Kaisers  stehen,  so  sind  hier  nur  über  die  Schicksale  des  Toten 
kleinere  Arbeiten  zu  nennen  ^)  und  über  das  Nachleben  Karls  das  Buch 
des  1915  im  Kriege  gefallenen  Heinr.  Hoffmann,  Karl  d.  Gr.  im  Bilde 
der  Geschichtschreihung  des  frühen  MA.  (800 — 1250),  Eherings  Hist. 
Stud.  137,  Berl.  1919  (urspr.  Gieß.  Diss.),  das  in  vielfachem  Anschluß 
an  die  bekannten  Arbeiten  der  Franzosen  G.  Paris,  A.  Kleinclausz  und 
J.  Bödier,  aber  unter  stärkerer  Verwertung  der  historischen  Quellen 
gegenüber  den  poetischen  eine  sehr  sorgfältige  und  brauchbare  Über- 
sicht über  die  Autfassungen  von  dem  großen  Kaiser  bis  zu  dem  Zeit- 
punkte gibt,  in  dem  Sage  und  Dichtung  auch  in  Deutschland  das 
historische  Bild  völlig  zu  überwuchern  begannen.  Bekanntlich  spielen 
dabei  seine  Beziehungen  zum  Orient  eine  große  Rolle.  Tatsächlich  sind 
ja  die  heihgen  Stätten  unter  seinen  Schutz  getreten  (was  L.  Ralphen 
freilich  in  seiner  Einhardkritik  bezweifelt).  Daß  die  unsichere  Lage 
der  Christen  in  Palästina,  insonderheit  ein  Beduinenüberfall  des  Klosters 
S.  Sabas  dazu  den  Anlaß  gegeben  hat,  führt  L.  Brehier ,  La  Situation 
des  chretiens  de  Palestine  ä  la  fin  du  VIII.  siecle  et  Vetahlissement  du 
protectorat  de  Chirlemagne,  Moyen  äge  30,  1919,  nach  den  Peters- 
burg 1914    erschienenen    hagiographischen  Untersuchungen    des   Russen 


1)  Vgl.  den  Neudruck  von  0.  Meyer  v.  Knonmi  in  den  St.  Gall.  Geschichtsquell, 
der  Mitteil.  z.  vaterl.  Gesch.,  Bd.  6,  1919. 

2)  Vgl.  zur  Bestattung  und  zum  Grabe  Karls  die  in  der  Hist.  Viert.  19,  1919, 
Bibliogr  Nr.  2220 ff.  mit  genaueren  Titeln  verzeichneten  kleineren  Schriften  von 
J.  Buchkremer,  F.  Kampeis,  R.  Pick  u.  E.  Teichmmm ;  ferner  F.  de  Mely  in  Comptes 
rendus  de  l'Acad.  des  inscript.  etc.  1915. 

3* 

35 


Loparev  (vgl.  Journ.  des  Savants  Bd.  14.  15)  näher  aus.  Über  die 
rechtliche  Grundlage  dieses  Protektorats  hat  sich  derselbe,  Seances  du 
Congres  Fran^ais  de  la  Syrie  f'asc.  II,  Paris  u.  Marseille  1919  geäußert  ^). 
Zu  seiner  kulturellen  Wirksamkeit  endlich  verdient  Beachtung  P.  Leh- 
mann, Büchersanimlung  u.  Bücherschenkungen  Karls  d.  Gr.,  Hist.  Viert. 
19,  1919,  wo  dem  französischen  Benediktiner  Leclercq,  der  1911  darüber 
gearbeitet  hat,  Plagiat,  schwere  Nachlässigkeiten  und  Irrtümer  nach- 
gewiesen und  über  Traube  hinaus  Nachträge  zum  Thema  gewonnen 
werden. 

Zur  Geschichte  Ludwigs  d.  Fr.  kommt  in  Betracht  eine  die 
herrschenden  Vorstellungen  genauer  umschreibende  Quellenanalyse  von 
W.  Nickel,  Untersuchungen  über  die  Quellen,  den  Wert  u.  den  Verfasser 
der  Vita  Hhidovici  des  Astronomus,  Diss.  Berl.  1919.  Der  Bericht- 
erstatter des  aquitanischen  Teils  dürfte  aber  doch  der  dort  genannte 
Heerführer  Ademar  selbst  sein,  der  dann  später  Mönch  geworden  wäre; 
die  Annahme  eines  gleichnamigen  Sohnes,  der  zufällig  auch  alle  jene 
Feldzüge  mitgemacht  habe,  ist  viel  zu  künstlich.  Den  Astronomen  sucht 
der  Verf.  in  der  Hotkapelle  -). 

Die  letzte  Arbeit  des  am  15.  Aug.  1915  f  B.  v.  Simson,  Pseudo- 
isidor  u.  die  Le  Mans  -  Hypothese  Z.  f  R.  35,  k.  A,  4,  1914,  sucht  nicht 
ohne  Erfolg  die  Einwände  gegen  Le  Mans  als  Heimat  der  großen 
kirchenrechtlichen  Fälschung  zu  widerlegen,  wird  aber  damit  diese  An- 
nahme doch  nicht  zur  Anerkennung  bringen,  da  auf  der  anderen  Seite 
die  Gründe  für  Reims  überwiegen,  und  der  hier  sachverständigste  Forscher 
E.  SecJcel,  der  seine  umfangreichen  Vorstudien  für  die  Monumentenaus- 
gabe des  Benedictus  Levita  N.  A.  41,  1917  fortgeführt  hat,  durchaus 
auf  diesem  Boden  steht  ^). 

Die  fränkische  Reichskirche  wirkte  in  der  ausgehenden  Karo- 
lingerzeit*) stark  hinüber  auf  den  slawischen  Osten.    Die  Einführung 


1)  Der  Versuch  von  M.  Büchner,  ffist.  Jahrb.  35,  1914;  37,  1916  und  Stud.  u. 
Mitt.  z.  Gesch.  d.  Benediktinerord.  35,  1914;  37,  1916  Stücke  des  von  Zeumer  in 
die  Zeit  des  Abtes  Fardulf  (793—806)  gesetzten  Formularbuches  von  S.  Denis  auf 
Persönlichkeiten  der  folgenden  Generation:  Ermoldus  Nigellus  und  Aldrich  von  Sens 
zu  beziehen  und  damit  Entstehung  und  Bedeutung  der  Sammlung  zu  verschieben, 
gehört  zu  den  neuerdings  sich  mehrenden  schlecht  begründeten  Abweichungen  von 
wohlbedachten  älteren  Forschungsergebnissen.  W.  Lcvison,  Hist.  Jahrb.  37,  1916  und 
N.  A.  41,  1917,  hat  ihn  überzeugend  widerlegt  und  die  Richtigkeit  von  Zeumers  Ansatz 
durch  neue  Beobachtungen  nur  noch  sicherer  erhärtet.  Die  Deutung  eines  anderen 
Stückes  als  eines  Briefes  des  Ansegis  an  Eiuhard,  Hist,  Viert.  18,  1916  —  18  ist  an- 
nehmbarer, wenn  auch  die  Beziehung  auf  Michelstadt  und  Obermühlheira  nicht 
überzeugt. 

2)  Vgl.  L.  Itid,  Die  Wiedereinsetzung  Kaiser  Ludwigs  d.  Fr.  xu  St.  Denis 
(1.  Marx,  834)  u.  ihre  Wiederholung  xu  Metx  (28.  Febr.  835),  in  Festg.  f.  A.  Knöpf- 
ler, Freib.  i.  B.  1917. 

3)  E.  IL  Darenport,  The  false  decretals,  New  York,  Oxford  1916,  ist  ein  ohne 
Benutzung  deutscher  Literatur  unternommener  unbrauchbarer  Versuch,  die  Person 
des  Fälschers  als  gutgläubig  in  Schutz  zu  nehmen. 

4)  ./.  Riegel,  Bischof  Salomo  I.  v.  Konstanx  u.  seine  Zeit,  Freiburg.  Diözesan- 
arch.  42,  1914,  bat  von  dem  Wirken  dieses  tüchtigen  Kirchenmannes  (839—871)  in 
Sprengel  und  Reich   und   am  Hofe  Ludwigs  d.  D.  ein  ansprechendes  Bild  entworfen. 

36 


des  Christentums  in  Böhmen  (von  Bayern,  nicht  von  Mähren  aus)  hat 
A.  Naegle,  KircJiengesch.  Böhmens,  Bd.  1,  1.  Teil,  Wien/ Leipz.  1915  bis 
gegen  Ende  des  9.  Jahrh.  gründlich  dargestellt.  Der  2.  Teil  (1918)  führt 
in  eingeherden  Untersuchungen  die  auf  diesem  schwierigen  Felde  nicht 
zu  umgehen  waren,  tief  in  das  10.  Jahrh.  hinein.  Verbesserungen  dazu 
gibt  R.  Holtsmann,  Z.  f.  R  41,  K.  A.  10,  Ui20  (vgl.  auch  A.  Naegle,  Der 
hl.  Wendel,  Rektoratsrede,  Prag  1919).  Wie  solche  Missionsbestrebungen 
in  Mähren  mit  durchkreuzenden  Einflüssen  von  Korn  ^)  und  Byzanz  her 
zu  ringen  hatten,  bis  sie  letzten  Endes  doch  den  Sieg  davontrugen,  das 
ist  jetzt  auf  eine  sichere  Grundlage  gestellt  von  H.  v.  Schubert,  Die  sogen. 
Slawenapostel  Consfantin  und  Methodius.  Ein  grundlegendes  Kapitel 
aus  den  Beziehungen  Deutschlands  zum  Südosten,  S.  B.  d.  Heid.  Ak.  1916. 
In  scharfem  Gegensatz  zu  A.  Brückner  werden  die  unzuverlässigeren 
Legenden  jener  Apostel  zurückgeschoben,  und  die  Darstellung  statt  ihrer 
auf  die  gleichzeitigen  Urkunden  und  Berichte  der  Reichsannalen  auf- 
gebaut. Während  die  zeitweihg  vom  Papsttum  in  Gegenwirkung  gegen 
landeskirchliche  Bestrebungen  geförderte  Slawenmission  in  Mähren  und 
Oberungarn  schließlich  nur  Episode  blieb,  war  der  Sieg  des  slawischen 
Kirchentums  bei  den  Bulgaren  und  Russen  von  schwerwiegendsten  Folgen. 
Vornehmlich  in  die  Ausgangszeit  '^)  der  Karolinger  im  westfränki- 
schen Reiche  bis  zu  ihrer  Ablösung  durch  die  Capetinger  führt  uns 
K.  Voigt,  Die  Jcarolingische  Klosterpolitih  u.  der  Niedergang  des  west- 
fränkischen Königtums,  Kirchenrechtl.  Abb.  90/91,  Stuttg.  1917. 

Ein  sehr  wichtiger  Punkt  in  der  gesamten  Politik  der  Karolinger  ist  stets  die 
ausreichende  Belohnung  der  Anhänger,  der  nach  außen  hin  die  Eeichsausdehnung, 
daneben  aber,  und  sobald  jene  stockt,  in  verstärktem  Maße  im  Innern  die  Verfügung 
über  die  Kirchen  dient.  Der  1912  erschienenen  Arbeit  von  A.  Pöschl  über  die 
Bischofskirchen  ^)  stellt  sich  diese  gründliche  Untersuchung  über  die  Königsklöster 
zur  Seite.  Die  Einleitung  greift  auf  die  frühere  Karolingerzeit  kurz  zurück.  Aus- 
getan haben  alle  diese  Herrscher  die  königlichen  Klöster  an  geistliche  und  weltliche 
Große,  bald  brutaler  wie  Karl  Martell,  bald  mehr  im  Einklang  mit  den  kirchlichen 
Bedürfnissen,  wie  Karl  d.  Gr.,  stets  aber  im  Staatsinteresse.  Der  Unterschied  in  der 
westfränkischen  Spätzeit  seit  dem  Verduner  Vertrage  ist  außer  dem  starken  Anschwellen 
solcher  Vergabungen  der,  daß  nunmehr  auf  Kosten  des  Staates  Vorteilsucht  und  Ge- 
walttat der  Großen  entscheiden,  wozu  die  schwache  Regierung  Ludwigs  d.  Fr.  den 
Übergang  bildet.  Dies  Emporblühen  des  westfränkischen  Eigenkirchenwesens ,  die 
Mediatisierung  der  Königsklöster  durch  die  weltlichen  Aristokraten,  die  sich  ihrer 
nicht  nur  in  der  früheren  Weise  als  Laienäbte,  sondern  geradezu  als  Inhaber  zu 
dauerndem  Familienbesitz  bemächtigen  und  dadurch  vor  allem  schließlich  die  Gegen- 
wirkung von  Cluny  hervorrufen,    bildet   das  Hauptthema    der  gerade  durch  das  Vor- 


1)  Auf  das  wertvolle  Buch  von  E.  Pereis,  Papst  Nikolaus  I.  und  Ätiastasius 
Bibliothecaritis,  Berl.  1920,  das  im  ersten  Teil  die  Grundzüge  der  Politik  des  Papstes 
darstellt,  kann  hier  nur  im  voraus  kurz  verwiesen  werden. 

2)  Vgl.  R.  van  der  Lindeji,  Les  Normands  ä  Louvain  884—892,  Rev.  bist.  124, 
1917,  wo  einige  Einzelheiten  genauer  dargestellt  werden,  als  bei  R.  Parisot  und 
W.  Vogel.  Ferner:  F  Lot,  La  Loire,  l' Aquitaine  et  la  Seine  de  862  ä  866.  Robert 
le  Fort,  Bibl.  de  l'Ecole  d.  Ch.  76,  1915  (Bruchstück  eines  größeren  Werkes  über 
die  Normauneueinfälle). 

3)  Für  das  Kirchengut  in  Italien  vgl.  die  Sonderuntersuchung  von  R.  Endres, 
Das  Kirchengut  im  Bistum  Lucca  vom  8.  bis  10.  Jahrh.,  Viert,  f.  Soz.  u.  ^^"ix*tsch. 
14,  1918. 

37 


legen  des  Stoffes  wertvollen  Darlegung,  deren  spätere  Ausdehnung  auf  Ostfranken  in 
Aussicht  genommen  wird. 

Die  edelsten  und  dauerndsten  Leistungen  der  karolingischen  Epoche 
liegen  auf  kulturellem  Gebiet,  namentlich  dem  der  bildenden  Kunst 
und  Dichtung.  Zu  der  ersten  nenne  ich  neben  den  eigentlich  kuust- 
gescliichtlichen  Forschungen,  die  hier  im  einzelnen  doch  nicht  berück- 
sichtigt werden  können,  die  zuerst  in  der  Z.  d.  Aach.  Geschichtsver.  40, 
1 9 1 8  erschienenen  Forschungen  von  31.  Buchner,  Einhard  als  Künstler, 
in  iStudien  z.  deutsch.  Kunstgesch.  210,  IStraßb.  1919. 

Daß  das  Schwergewicht  von  Einhards  künstlerischem  Schaffen  in  manuigfachei- 
kunstgewerblicher  Betätig\ing  zu  suchen  ist.  wird  man  gewiß  anerkennen,  wenn  man 
auch  die  damaligen  Grenzen  zwischen  ihr  und  der  Architektur  nicht  so  scharf  ziehen 
möchte,  daß  E.  als  Bauherr  in  Steinbach  und  Seligenstadt  nicht  zugleich  sein  eigner 
Baumeister  hätte  sein  können.  Wertvoll  ist  der  Nachweis,  wie  sehr  man  sich  beim 
Bau  des  Aachener  Münsters  der  Idee  nach  und  selbst  bis  in  die  Maßverhjiltnisse  hinein 
den  Tempel  Salomos  zum  Vorbild  nahm.  Auch  sonst  ist  manche  Schilderung  und 
Einzelfeststellung  fördernd.  Die  weiteren  Bemühungen  jedoch,  Kunstwerke  wie  die 
früheren  Erztüren  von  S.  Denis  und  die  bekannte  Keiterstatuette  Karls  d.  Gr.  Ein- 
hard selbst,  der,  obwohl  Abt,  mit  dem  in  S.Denis  dargestellten  „Airaidus  monachus'' 
identisch  sein  soll,  zuzuweisen  und  Wollin,  der  die  Verkleidung  des  Ilauptaltars  von 
S.  Ambrogio  in  Mailand  geschaffen  hat,  mit  einem  Einhardsehüler  Vussin  zusammen- 
zubringen, halten  nicht  streng  genug  die  Grenzen  vorsichtiger  Forschung  inne  und 
bleiben  Hypothesen,  soweit  sie  nicht,  wie  auch  die  S.  47  im  Anhang  II  versuchte  Um- 
bestimmung  zweier  Eiuhardbriefe  (einleuchtender  Anh.  Ij  ganz  unmöglich  erscheinen  ^). 

Die  seltene  Vereinigung  hoher  bildnerischer  und  literarischer  Fähig- 
keiten macht  Einhard  zu  dem  anziehendsten  Vertreter  karolingischer 
Kultur,  deren  dichterische  Leistungen  hinter  den  künstlerischen  wohl 
zurückstehen,  aber  in  ihrer  Folgewirkung  keineswegs  gering  einzuschätzen 
Bind.  Ein  nach  längerer  Pause  wieder  erschienener  Teil  der  Mon.  germ, 
bist.  Poetae  latini  niedii  aevi,  t.  IV,  p.  II,  1,  herausgeg.  v.  K.  Sirecker, 
Berlin  1914,  hat  zum  erstenmal  eine  umfassende  Sammlung  der  Rhythmen 
aus  der  fränkischen  Zeit  vorgelegt  und  damit  das  bisher  zerstreute 
Material,  auch  soweit  es  schon  gedruckt  war,  erst  recht  nutzbar  ge- 
macht -).  Obwohl  es  sich  natürhch  überwiegend  noch  um  geistliche 
StoflPe  dieser  Gelehrtendichtung  handelt,  fehlt  es  nicht  ganz  an  Spuren, 
die  auf  die  lebensfrische  Vagantenpoesie  des  Hochmittelalters  voraus- 
deuten •'). 


1)  Vgl.  übereinstimmend  mit  obigem  Urteil  jetzt  W.  Levison,  N.  A.  43,  428. 
"Wie  es  sich  mit  einem  in  der  Kapitelbibliothek  von  Vcrcclli  gefundenen  „Libellus  de 
Psalmis''  Einhards  verhält,  von  dem  M.  Vattano  in  der  Zoitschr.  Bessarione,  Bd.  19, 
1915  Vorrede,  Anfang  und  Endo  mitteilt,  wird  weiterer  Prüfung  bedürfen.  —  Einen 
Traktat  jener  Zeit  (zw.  795  u.  816)  über  Maße  und  Gewichte  enthält  eine  wieder- 
gefundene IIs.  der  Bibl.  Vallicelliana,  die  aus  der  Lyoner  Abtei  S.  Martin  auf  der 
Isle  Barbe  stammt.  Eine  andere  Es.  ders.  Bibl.  s.  IX.  enthält  eine  anfangs  ver- 
stümmelte Sammlung  von  Briefen  Papst  Nikolaus  I. ;  vgl.  J.  Oiorgi  in  Kendiconti 
d.  K.  Accad.  d.  Lincei,  hist.-phil.  Kl.,  5.  Serie,  Bd.  36,  1917. 

2)  Vgl.  dazu  eine  Einzelstudie  des  am  9.  März  1917  f  ^^-  ^Ve^er  aus  Speier  in 
Gott.  Nachr.  1915. 

3)  R.  Ilrnirie/is,  Der  Ileliand  u.  Haimo  v.  Halberstadt,  Cleve  1916,  versucht 
Haimo  (Bischof  840-  853)  als  Dichter  des  H.  zu  erweisen.  Vgl.  zum  Ileliand  auch 
oben  S.  3U  Anm.  1. 

38 


3.  Längsschnitte  durch  die  mittelalterliche 
Geschichte,  vornehmlich  des  Deutschen  Reiches 

Aus  dem  Zerfall  des  Karolingerreiches  erhebt  sich  der  deutsche 
Staat,  der  an  der  Spitze  von  Mitteleuropa  auf  längere  Zeit  nicht  nur 
als  Macht  die  Führung  im  Abendlande  gewinnt,  sondern  auch  aus  sich 
eine  Fülle  von  Lebenskräften  entfaltet,  neben  denen  einstweilen  alles 
zurücktritt,  was  die  umgebende  Staaten  weit  dagegen  aufzuweisen  hat. 
So  tritt  bis  zum  12.  Jahrhundert  hin  das  Deutsche  Reich  für  uns  nicht 
nur  aus  nationalen  Rücksichten,  sondern  auch  aus  innerer  Berechtigung 
in  den  Mittelpunkt  der  Betrachtung.  Ehe  wir  aber  die  Forschungen 
zu  den  einzelnen  Stufen  seines  Entwicklungsganges  schrittweise  weiter 
verfolgen,  haben  wir  der  Längsschnitte  und  zusammenfassenden  Studien 
zu  gedenken,  die  sich  nicht  auf  eine  Periode  beschränken ;  und  da  über- 
wiegen naturgemäß  neben  ideengeschichtlichen  Betrachtungen 
die  der  Rech  ts-  und  Wirtschaftsgeschichte  angehörenden  StoflFe. 

Für  die  rechtsgeschichtliche  Forschung  in  Deutschland  bedeuten  die 
Kriegsjahre  den  Abschluß  einer  Epoche,  und  zwar  einer  reichen  und 
fruchtbaren,  in  der  die  Führung  in  der  Hand  bedeutender  Juristen  lag. 
Wenn  auch  von  ihnen  noch  einzelne,  wie  K.  v.  Amira,  am  Schaffen  sind, 
so  hat  doch  der  Tod  mit  H  Brunner  (f  11.  August  1915),  R.  Schröder 
(t  3.  Jan.  1917),  R.  Sohm  (f  16.  Mai  1917)  und  O.  Gierke  (f  10.  Okt. 
1921),  um  nur  die  hervorragendsten  zu  nennen,  so  starke  Lücken  in  ihre 
Reihen  gerissen,  daß  man,  wenn  man  überdies  noch  die  psychologische 
Wirkung  der  großen  politischen  Umwälzungen  in  Betracht  zieht,  einen 
tiefen  Einschnitt  machen  muß.  Die  jüngere  Generation  hat  nun  über 
das  reiche  Erbe  zu  walten.  Als  ausführliches  Inventar  darüber  ist  noch 
in  ihre  Hände  gelegt  die  6.  Auflage  von  R.  Schröders  Lehrbuch  der  deut- 
schen Rechtsgeschichte,  I.Teil,  Leipz.  1919,  wo  mit  Ausschluß  von  Privat- 
und  Strafrecht,  sowie  Gerichtsverfahren,  also  den  Abschnitten,  die  dem 
Historiker  etwas  ferner  liegen,  das  Mittelalter  in  Neubearbeitung  bewältigt 
ist.  Den  größten  Teil  hat  der  Verf.  noch  selbst  besorgt;  nach  seinem 
Tode  widmete  sich  E.  Frhr.  v.  Künßherg  opferbereit  dem  Buche,  dem 
er  für  die  Abschnitte  „Gerichtsverfassung"  und  „Territorien"  Ergän- 
zungen, für  den  Paragraphen  „Städte"  und  das  Kapitel  „Rechtsquellen" 
selbständige  Neubearbeitung  zuteil  werden  ließ.  Eine  Charakterisierung 
des  bekannten  Werkes  erübrigt  sich;  man  kann  nur  der  Freude  darüber 
Ausdruck  geben,  daß  es  durch  rastlose  Arbeit  noch  einmal,  und  nun 
wohl  für  längere  Zeit,  gelang,  der  Forschung  auch  des  letzten  Jahrzehnts 
ihren  Platz  im  Rahmen  der  Gesamtdarstellung  anzuweisen.  Jeder,  der 
neuere  Literatur  zur  mittelalterlichen  deutschen  Rechtsgeschichte  sucht, 
wird  nun  zuerst  zu  diesem  vertrauten  Buche  greifen.  Wären  auch  die 
jüngsten  Forschungen  durchgehends  darin  verzeichnet,  so  möchte  deren 
Aufzählung  an  dieser  Stelle  überhaupt  überflüssig  erscheinen.  Indessen 
der  Druck  begann  noch  im  Frieden,  die  einzelnen  Bogen,  nacheinander 
in  Reindruck  fertiggestellt,  zeigen  nur  den  Wissensstand  ihrer  Ent- 
stehungszeit, nicht  des  Erscheinungsjahres  1919.    So  konnten  die  meisten 

39 


Forschungen  der  Kriegszeit  noch  nicht  berücksichtigt  werden.  Sie  hier 
vollständig  aufzuzählen  oder  gar  ihre  Ergebnisse  im  einzelnen  darzulegen, 
erscheint  mir  auf"  eng  beschränktem  Räume  für  diese  Fülle  von  Studien, 
unter  denen  auch  die  lokalen  Monographien  zumeibt  allgemeinere  Be- 
deutung besitzen,  noch  untunlicher,  als  für  die  anderen  Gebiete  der 
Geschichtswissenschaft.  Es  kann  sich  in  noch  höherem  Maße  als  dort 
nur  um  eine  Auswahl  handeln,  und  von  ihrem  Inhalt  kann  nur  soviel 
angedeutet  werden,  wie  notwendig  ist,  um  ihnen  ihre  Stellung  innerhalb 
der  Gesamtforschung  anzuweisen.  Eine  Beschränkung  ist  hier  um  so 
eher  erlaubt,  als  unter  der  rastlosen  Fürsorge  von  U.  Stutz  die  Savigny- 
Zeitschrift  für  RecJitsgeschichte  germ.  Abt.  samt  ihrer  unter  Mitleitung 
von  A.  Werminghoff  stehenden  hanon.  AU.  auch  während  der  Kriegszeit 
ihre  kritischen  Übersichten  über  die  Forschungen  des  jeweils  verflossenen 
Jahres  mit  nur  vorübergehender  Einschränkung  fortführen  konnte,  eine 
Berichterstattung,  der  wir  Historiker  an  Vollständigkeit  des  Wertvollen 
und  Pünktlichkeit  des  Erscheinens  nichts  Gleichwertiges  an  die  Seite 
zu  stellen  haben.  Eine  feinsinnig  bewertende  Auswahl  der  rechtsge- 
schichtlichen Literatur  bis  1918  hat  auch  E.  Heymann  der  von  ihm 
besorgten  7.  Auflage  von  H.  Brunners  Grundzügen  der  deutschen  Rechts- 
geschicJäe,  deren  Text  er  im  übrigen  unverändert  ließ,  eingefügt.  Auch 
andere,  bereits  bewährte  Handbücher  oder  größere  Zusammenfassungen 
sind  in  der  Kriegszeit  oder  kurz  vorher  in  neuer  Bearbeitung  erschienen 
oder  fortgesetzt  worden.  Sie  bieten  vielfach  die  Grundlage  für  weitere 
Forschung,  jedoch  genügt  hier  ein  kurzer  Hinweis  auf  sie  ^).  Von  dem 
durch  jahrelange  Sammlung  vorbereiteten  Deutschen  Rechtste örterhuch, 
dessen  Leitung  nach  R.  Schröders  Tod  E.  Frhr,  v.  Künßberg  über- 
nommen hat,  war  eben  die  erste  Lieferung  (Weimar  1914J  ausgegeben, 
als  der  Krieg  seine  lähmende  Wirkung  begann.  Hoffenthch  gelingt  es, 
die  Schwierigkeiten  zu  überwinden,  mit  denen  ein  so  großzügiges  Unter- 
nehmen, namentlich  wenn  es  allgemein-deutschen,  nicht  provinziellen 
Charakters  ist,  heute  zu  ringen  hat !  Wahrscheinlich  wird  man  zunächst 
versuchen,  es  in  stark  verkürzter  Form  zur  Ausführung  zu  bringen. 

Läßt  man  die  bunte  Mannigfaltigkeit  der  rechtsgeschichtlichen  Einzel- 
forschungen an  sich  vorüberziehen  und  sucht  sie  nach  bestimmten  Rich- 
tungen zusammenzufassen,  so  versteht  sich  zunächst  von  selbst,  daß  von 
der  Mehrzahl  der  Gelehrten  auf  dem  gelegten  Grunde  mit  der  bewährten 

1)  K.  V.  Aniiras  knapper  Grundriß  des  germanischen  Hechts  in  Pauls  Grundriß 
der  germ.  PLilol.  erschien  1913  in  3.  Aufl.  Zu  A.  Meisters  Deutscher  Verfassunr/s- 
geschichte,  2.  Aufl.  1913,  und  ihrer  privatrechtlichen  P^rgänzung  durch  Cl.  Frhr. 
r.  Schwerins  Deutsche  Rcchtscjcschichte,  2.  Aufl.  1915,  erschien  als  Fortsetzung  F.  Har- 
iungs  Deutsche  Verfassungsgeschichte  t\  15.  Jahrh.  bis  xiir  Gegenwart  1915,  in  der 
nur  die  einleitenden  Kapitel  über  Territorialverfassung  und  Keichsrefornibewegung 
allenfalls  noch  zum  Mittelalter  zu  rechnen  sind  (die  letzten  drei  in  Meisters  Grundriß 
der  Geschichtswiss.).  —  Zum  deutschen  Privatrecht  vgl.  0.  Oierke,  Deutsches  Privat- 
recht III,  Leipz.  1917,  und  die  Zusammenfassungen  von  li.  Hübner,  Qrundxiige  des 
deutschen  I'riratrcchts,  8.  Aufl..  Leipz.  V.)\[),\xn()i  E.  Frhr.  v.  Schwind,  Deutsches  Privat- 
recht,  inn  Grundriß  z.  Vorlesungen  und  ein  Lehrbuch  f.  Stud.  I,  Wien/Leipz.  1919,  und 
Cl.  Frhr.  v.  Schwerin,  Grundxiige  rfes  deutschen  Privatrechts.  Bcrl.  1919.  Auf 
//.  Fehrs  Deutsche  Pechtsgeschichte,  Berl. -Leipz.  1921  sei  vorausverwiesen. 

40 


Methode  weitergearbeitet  wird.  Es  gilt  da  etwa  neuen  Erkenntnisstoff 
zu  erschließen  aus  der  örtlichen  Enge  ländlicher  ^),  städtischer  und  terri- 
torialer Rechtsquelien  und  Rechtsverhältnisse  oder  aus  fernen,  noch  nicht 
bis  aufs  letzte  durchforschten  Rechten,  wie  dem  nordischen  oder  spani- 
schen -)  Vergleichsstoff  oder  alte  Gemeinsamkeitswerte  zu  gewinnen.  Auf 
dem  besonderen  Gebiete  der  kirchlichen  Rechtsgeschichte  ist  in  der 
reichen  Schule  von  ü.  Stutz  der  Fortschritt  am  offensichtlichsten;  die 
Übersiedlung  seines  kirchenrechtlichen  Seminars  von  Bonn  nach  Berlin 
(1917)  hat  daran  nichts  geändert^).  Und  so  wird  auch  sonst  vieltaltig 
weiterbauend  gearbeitet. 

Daneben  haben  sich  schon  seit  längerer  Zeit  Bestrebungen  gezeigt, 
welche  die  mancherlei  Hypothesen  und  Wahrscheinlichkeitsschlüsse,  ohne 
die  für  Zeiträume  dürftigen  Quellenstoffes  auch  die  herrschende  Schule 
eine  Gesamtdarstellung  natürlich  nicht  geben  konnte,  in  Frage  zu  stellen 
und  andere  Lösungen  zu  bevorzugen.  Solche  Versuche  haben  durch 
Ausscheiden  von  lebenden  Autoritäten  wie  Brunner  an  Boden  gewonnen,  — 
eine  Nachprüfung,  die  zur  Vermeidung  dogmatischer  Festlegungen  von 
Zeit  zu  Zeit  zweifellos  nötig  ist,  die  auch  mit  frischem  Zuge  wertvolle 
Berichtigungen  erzielen  kann,  die  jedoch,  sofern  sie  nicht  mit  strengster 
Methode  und  aus  vollster  Kenntnis  heraus  vorgenommen  wird,  leicht 
zu  Irrungen  und  Wirrungen  führt,  wofür  es  nicht  ganz  an  Beispielen 
aus  den  letzten  Jahren  mangelt.     Einzelne  sind  uns  schon  oben  begegnet. 

Auch  sonst  wurden  allerlei  Wünsche  laut:  stärkere  Durchackerung 
des  späten  Mittelalters,  für  das  man  ja  stets  eine  sichere  Stoffgrundlage, 
wie  die  der  Waitzschen  Verfassungsgeschichte  entbehrt,  sowie  der  neu- 
zeitlichen deutschen  Rechtsgeschichte,  lebendigere  Verknüpfung  der  Ver- 
gangenheit mit  der  Gegenwart  und  ihren  Fragestellungen,  Herausbildung 
einer  mehr  aus  dem  eignen  Wesen  der  Rechtsgeschichte  hervorgehenden 


1)  Die  SamnüuDg  und  Veröffentlichung  der  Weistümer  machte  auch  während 
der  letzten  Jahre  einige  Fortschritte.  Neben  die  älteren  Sammlungen  (z.  B.  Weis- 
tümer  der  Rheinprovinx,  Bd.  2  von  H.  Anbin,  Bonn  1914)  traten  die  Badischen  Weis- 
tümer  u.  Dorfordnungen,  Erste  Abteilung:  Pfülxische  Weistümer  n.  Dorfordnungen, 
H.  1  von  C.  Brinkmann.  Heid.  1917.  Vorbereitend:  Willi.  Müller,  Verzeichnis  hes- 
sischer Weistümer.  Darmst.  1916;  vgl.  auch  G.  Winter,  D.  niederösterr.  Bannteidings- 
iceseh,  Jahrb.  f.  Landesk.  Niederöst.  13/14,  1916.  Daß  die  Ausbeutung  der  Weis- 
tümer noch  in  den  Anfängen  steckt,  betont  H.  Fehr,  Lber  Weißtumsforschung,  Viert, 
f.  Soz.  u.  AVirtsch.  13,  1916. 

2)  Vgl.  von  dem  im  Mai  1919  verstorbenen  spanischen  Eechtshistoriker  E.  de 
Hinojosa,  El  eleme?ito  germanico  en  el  dereeto  espanol,  Madrid  1915  (dazu  Z.  f.  R.,  g.  A. 
36,  495  f.)  und  E.  Mayer,  Studien  z.  span.  Rechtsgesch.,  Z.  f.  R.,  g.  A.  40,  1919,  wo 
versucht  wird,  dies  für  Deutschland  noch  jungfräuliche  Gebiet  zunächst  einmal  durch 
Studium  seiner  Rechtsquellen  zu  erschließen. 

3)  Eine  Übersicht  über  die  Ergebnisse  in  Bonn  findet  man  in  der  1920  als 
Manuskript  gedruckten,  größtenteils  in  Z.  f.  R.  41,  k.  A.  10,  1920  wiederholten  Schrift 
von  U.  Stutx,  Das  kirr-henrechtliche  Seminar  an  der  Rheinischen  Friedrich-  Wilhelms- 
Universität  XU  Botin  (19;  »4— 1917).  Vornehmlich  Unterrichtszwecken  soll  dienen  E.  Eich- 
mann, Quellensa  mm  hing  xur  kirchl.  Rechtsgesch.  und  xum  Kirchenrecht,  Paderborn 
1912—1916,  Bd.  1  (Kirche  u.  Staat  750—1122),  Bd.  2  (Kirche  u.  Staat  1122  bis  Mitte  des 
14.  Jahrb.),  Bd.  3  von  O.  J.  Ebers  [D.  Papst  u.  d.  röm.  Kurie  I).  Von  Einzelstudien 
vgl.  A.  Pöschl,  Der  Neubruchxehnt,  Arch.  f.  kath.  Kirchenrecht  98,  1918. 

41 


Periodisierung,  Überbrückung  der  germanisch-römiächen  Zwiespältigkeit 
der  Behandlung  zu  einer  Einheit,  und  was  dergl.  mehr  ist  ^).  Ganz 
neu  sind  solche  Forderungen  nicht,  und  wirksamer  als  Programme 
wären  Versuche  zur  Durchführung,  die  Möglichkeit  und  Zweckmäßig- 
keit überzeugend  dartäten.  Sicher  liegt  ein  Drang  nach  schärferer  ge- 
danklicher Durcharbeitung  des  Stoffes,  nach  ideengeschichtlicher  Be- 
handlung im  Zuge  unsrer  Zeit,  und  da  sind  denn  auch  aus  den  letzten 
Jahren   Werke   von  nicht  geringer  Bedeutung  auzutühreu. 

Eine  mustergültige  Monographie  dieser  Art  ist  F.  Kern,  Gottes- 
gnadcritum  und  Widerstandsrecht  im  frühen  Mittelalter  (=  Mittelalt. 
Studien  1,  2),  Leipz.  Ibl4,  ausgegeb.   1915. 

Es  ist  nicht  gerade  überraschend  Neues,  was  dem  Buche  seinen  Wert  gibt; 
der  unmittelbar  aus  den  Quellen  zusammengetragene  Stoff  war  im  einzelnen  meist 
bekannt,  aber  nie  in  solciier  Vollständigkeit  vereinigt,  so  klar  geordnet,  so  geistig  durch- 
drungen. Das  monarchische  Recht,  aus  dem  das  Gottesgnadentum  erwächst,  beruht 
auf  Volkswahl,  Geblütsvorzug,  priesterlicher  Weihe  (namentlich  bis  zum  Investitur- 
streit) und  unter  den  Staufern  Einwirkung  antiker  Herrschervergötteruug.  Der  ent- 
scheidende unter  diesen  Faktoren  bleibt  doch  die  VoJkswahl,  und  auch  rechtlich,  das 
ist  der  Grundgedanke  des  Buches,  erscheint  der  Herrscher  gebunden.  Das  göttliche 
oder  Naturrecht  ist  über  ihm,  es  wird  von  Volksgenossen  gefunden  und  gekündet,  der 
König  ist  nur  sein  Wahrer  und  Vollstrecker. 

Über  die  viittelaUerliche  Anschauung  vom  Recht  hat  der  Vf.  sich  in  eng  damit 
verbundenen  Gedankengängen  H.  Z.  115  (1915),  die  ich  trotz  ihrer  überscharfen  und 
einseitigen  Zuspitzung  den  jüngeren  Fachgenossen  angelegentlich  empfehlen  möchte, 
und  ausführhcher  noch  einmal  in  dem  Aufsatz:  „Eecht  und  Verfassung  im  MAr  ebd. 
120,  1919,  weiter  ausgesprochen.  Er  legt  dar,  wie  es  als  etwas  ein  für  allemal  Be- 
stehendes, auf  den  neuen  Einzelfall  nur  Angewandtes,  über  Staat  und  Herrscher 
Waltendes  gilt,  wie  daher  der  Nachweis  alten  Bestehens  damals  dem  heutigen,  daß 
etwas  gültiges  Staatsgesetz  sei,  gleichkomme,  woraus  sich  denn  auch  die  massenhaften 
fäl-schenden  Zurückverlegungen  in  uralte  Zeit  erklären.  Der  Zweck  des  Staates  ist 
danach,  das  vorhandene  Recht  dem  Einzelnen  zu  beschirmen ;  Schutz  des  Individuums 
bei  Schwächung  der  Staatsgewalt  ist  der  durchgehende  Zug  des  ma.hchen  Rechts- 
begriffs. Der  Herrscher  aber,  der  diesen  Rechtsschutz  versagt,  bringt  sich  selbst  um 
sein  Aurecht  auf  den  Thron.  Damit  münden  diese  Gedankengänge  ein  in  den  Haupt- 
teil des  Kernschen  Buches:  die  Entwicklung  des  Widerstandsrechtes,  für  die  die 
Grundzüge  früher  von  ü.  Gierke  in  seinem  Joh.  Althusius  bereits  gezogen  waren. 
Hier  ist  sehr  klärend  die  Sonderung  der  germanischen  Wurzel  (Treubruch  des  Königs 
iri  dem  Gegenseitigkeitsverhältnis  von  Herrscher  und  Volk)  und  der  noch  stärkeren 
kirchlichen  Auffassung  von  der  Widerstandspflicht  gegen  den  unchri&tlichen ,  recht- 
brechenden  Herrscher,  den  „Tyrannen"  im  augu.stinischen  Sinne  (vgl.  oben  S.  5). 
Beide  vereinigen  sich  im  Investiturstreit.  Damals  sucht  das  Königtum  seine  Sache 
zu  festigen  durch  die  angebliche  Übertragung  der  Gewalt  durch  das  Volk  auf  den 
Herrscher  in  der  Lex  Regia,  woraus  der  frühe  Verfechter  der  Volkssouveränität  Mane- 
^?^^.  ^'^"  Eautenbach  einen  kündbaren  Dienstvertrag  macht,  der  den  pflichtvergessenen 
König  wie  einen  untauglichen  Schweinehirten  fortzujagen  gestattet.  Schon  im  12.  Jahrh. 
vertritt  Johann  von  Salisbury  die  Lehre  vom  Tyrannenmord.  An  Stelle  dieses  form- 
losen Widerstandsrechtes  schafft  zuerst  die  Magna  Cliarta  von  1215  die  konstitutionelle 
Garantie  einer  verfassungsmäßig  organisierten  Selbsthilfe.  Nur  bis  ins  13.  Jahrh.  hat 
Kerns  Buch,  dessen  Bedeutung  durch  diese  wenigen  Sätze  natürlich  nur  unvollkommen 
umschrieben  wird,  die  Betrachtung  geführt »). 

1)  Vgl  2.  B.  E.  Rosenstock,  Der  Neubau  der  deutscJien  Rechtsgeschichte  in  „Die 
Arbeitsgemeinschaft",  Leipzig,  Nov.-Dez.-Heft  1919. 

2)  Von  den  eingeiienderen  ]3osi)rechungen  des  Buches  sei  auf  die  von  E.  Eich- 
mann, Hi.st.  Jahrb.  38,  1917,  mit  abweichenden  Auffassungen,  besonders  hingewiesen. 

42- 


Selbständig  von  ihm  ist  K.  Wohendorjf  (f  1921),  Staatsrecht  und 
Naturrecht  in  der  Lehre  vom  Widerstandsrecht  des  Volkes  gegen  rechts- 
widrige Ausübung  der  Staatsgewalt  {Gi'mrke^  \}nieY&.  126),  Breslau  1915, 
zu  ähnlichen  Ergebnissen  gekommen,  ergänzt  aber  jenes  zeitlich  dadurch, 
daß  er  die  Dinge  vornehmlich  vom  Spätraittelalter  ab  bis  ins  19.  Jahrh. 
führt,  weicht  übrigens  auch  in  der  Behandlungsart  insofern  von  Kern 
ab,  als  er  die  Beziehungen  zum  positiven  Recht  der  Zeiten  in  den 
Mittelpunkt  stellt  ^).  So  ist  wenige  Jahre  vor  der  deutschen  Revolution 
das  Widerstandsrecht  des  Volkes  gegen  den  Herrscher  von  zwei  Seiten 
her  wesentlich  aus  germanischer  Wurzel  hergeleitet,  durch  die  Geschichte 
hindurch  verfolgt  und  seine  wissenschaftliche  Erkenntnis  damit  zu  einem 
gewissen  Abschluß  gebracht  worden "-). 

Eine  ähnlich  klärende  Wirkung  durch  die  Verbindung  reichster 
Kenntnis  mit  schärfster  logischer  Durchdringung  geht  aus  von  dem  kurz 
vor  dem  Kriege  erschienenen  Buche  G.  v.  Belows,  Der  deutsche  Staat 
des  Mittelalters,  Bd.  l:  Die  allgemeinen  Fragen,  Leipz.  1914=^)  Es  ist 
Sohmsche  Art  der  begriflflichen  Erfassung,  aber  ohne  dessen  Neigung 
zu  konstruktiver  Zuspitzung,  darum  wohl  mit  geringerer  Kraft  der  An- 
schaulichkeit, aber  mit  umso  größerer  Andacht  gegenüber  der  mannig- 
faltigen historischen  Wirklichkeit. 

Wenn  bei  der  Betrachtung  des  Widerstandsrechtes  die  Stellung  des  mittelalter- 
lichen Herrschers  schwächer  erscheint,  als  vielfach  angenommen,  so  unternimmt  es 
V.  B.  das  deutsche  Mittelalter  gegen  die  Meinung  zu  verteidigen,  es  sei  staatlos  ge- 
wesen, und  genau  abzugrenzen,  wie  weit  seine  Staatlichkeit  tatsächlich  und  im  Be- 
wußtsein der  Zeitgenossen  gereicht  habe.  Seinem  langjährigen  und  erfolgreichen  Kampf 
gegen  die  giauidherrliche  Theorie  *)  entsprechend ,  bekämpft  er  zunächst  die  alte 
Hallersche  Vorstellung  vom  Patrimonialstaat,  die  mit  dem  Aufschwung  der  wirtschafts- 
geschichtlichen Studien  neue  Kraft  gewonnen  hatte.  Auch  des  Lehnswesen,  dessen 
anfangs  stärkende,  bald  überwuchernde  Wirkung  voll  gewürdigt  wird,  hat  den  Staat 
doch  nie  gänzlich  verschlungen  und  zeigt  seine  auflösenden  Folgen  für  Deutschland 
erst  seit  dem  13.  Jahrb.  Und  nun  scheidet  v.  B.,  was,  da  man  den  Unterschied  mehr 
für  dynamisch  als  sachlich  hält,  nicht  allgemeinen  Beifall  gefunden  hat,  von  dem 
Lehnsstaat  ab  den  Feudalstaat  des  ausgehenden  Mittelalters,  für  den  die  Durchbrechung 
des  Staatsverbandes  durch  Privilegierungen  bis  zu  weitgehender  Zersetzung  kenn- 
zeichnend ist;  man  kann  ihn  natürlich  auch  die  letzte  Phase  des  Lehnsstaates  nennen. 
Selbst  hier  aber  ist  noch  nicht  mit  0.  Gierkes  Genossenschaftsrecht  eine  untrennbare 
Vermischung  von  öffentlichem  und  privatem  Rechte  anzunehmen,  obwohl  sich  die 
Veräußerung  von  Hoheitsrechten  vielfach  in    den   privatrechtlichen  Formen   der  Ver- 

1)  Eine  kurze  Zusammenfassung  nach  den  beiden  Büchern  gibt  H.  Fehr ,  Das 
Widerstandsrecht,  M.  T.  ö.  G.  38,  1918. 

2)  Einen  einzelnen  staatsrechtlichen  Gedanken  hat  durch  die  Rechtsentwicklung 
hindurch  verfolgt  auch  A.  Werminghoff,  Der  Recht sgedanke  von  der  Unteilbarkeit  des 
Staates  in  der  deutschen  u.  brand.-preiiß.  Geschichte,  Hallesche  Univ.reden  I,  Halle 
1915:  Widerstand  der  staatlichen  gegen  die  privatrechtliche  Auffassung,  in  Deutsch- 
land durch  Kaiserwürde  und  kirchliche  Einheit  gefördert,  aber  in  den  Territorien 
fortgeführt,  von  denen  Preußen  insbesondere  betrachtet  wird  bis  zur  Gegenwart. 

3)  Zur  ersten  Einführung  empfiehlt  sich  die  Lektüre  des  Referats,  das  der  Vf. 
selbst  Internat.  Monatsschr.,  Berl.,  Febr.  1914  gegeben  hat.  Vgl.  auch  die  Besprechung 
von  R.  Hübner,  Z.  f...R.,  g.  A.  35,  1914. 

4)  A.  Zycha,  Über  clen  Aiiteil  der  Unfreiheit  am  Aufbau  von  Wirtschaft  und 
Recht,  1915,  möchte  bei  aller  Anerkennung  solcher  Kritik  die  Leistungen  der  Un- 
freien für  Wirtschaft  und  Recht  doch  sehr  hoch  einschätzen. 

43 


lehnuDg.  Verpfändung,  des  Verkaufs  usw.  abgespielt  hat,  sondern  selbst  da  noch 
waren  unzweifelhafte  Genieinschaftszwecke  und  wenigstens  Reste  eines  begrifflichen 
Scheidungsvermögens  zwischen  öffentlichem  und  privatem  Recht  vorhanden.  Ins- 
besondere haftete  auch  an  dem  veräußerten  üerichtsbezirk  noch  der  staatliche  Cha- 
rakter und  fand  seinen  Ausdruck  darin,  daß  der  Inhaber  in  den  hohen  Adel  eintrat. 
Der  staatliche  Neubau  im  Kampf  gegen  das  Lehenswesen  vollzog  sich  in  Deutschland 
innerhalb  der  Territorien  mit  der  Ausbildung  einer  öffentlich-rechtlichen  Steuer- 
verfassung  und  eines  straffen  Beamtentums.  Immerhin  wurde  dadurch,  daß  sich  das 
staatliche  Leben  hinüberflüchtete  in  die  Territorialstaaten,  der  deutsche  Nationalstaat 
so  gut  wie  völlig  zersprengt,  und  da  auch  in  jenen  der  volle  staatliche  Charakter  sich 
nach  aulieu  und  innen  doch  nur  im  Laufe  einer  langen  Entwicklung  durchsetzte,  so 
trat  im  14.  und  15.  Jahrb.  denn  doch  ein  Zustand  ein,  der  von  Staatlosigkeit  vielfach 
nicht  allzu  weit  entfernt  war.  So  hat  man  innerhalb  des  deutschen  Mittelalters 
zwischen  verschiedenen  Peiioden  zu  unterscheiden,  und  nicht  auf  alle  in  gleichem 
Maße  ist  v.  B.s  Verteidigung  des  staatlichen  Charakters  zu  beziehen ,  wie  man  sich 
doch  auch  wird  hüten  müssen,  die  Dinge,  was  natürlich  nicht  in  v.  B.s  Absicht  liegt, 
nun  in  allzu  hellem  Lichte  zu  sehen.  Ein  zweiter  Band  soll  zu  den  allgememen 
Grundlinien  die  Einzelausführungen  für  die  gesonderten  Gebiete  des  Staatslebens 
bringen,  auch  das  Verhältnis  zur  Kirche  berühren. 

Die  anregende  Wirkung,  die  von  diesem  Buche,  auf  das  wir  bei 
der  Frage  der  deutschen  Kaiserpohtik  noch  einmal  zurückkommen 
müssen,  ausgegangen  ist,  läßt  sich  nicht  nur  aus  eingehenden  Be- 
sprechungen, sondern  auch  aus  selbständigen,  ergänzenden  Studien  er- 
kennen. Öo  möchte  A.  Dopsch,  Der  deutsche  Staat  des  MA.,  M.  I. 
ö.  G.  36,  1915,  bei  lebhafter  Zustimmung  gelegentlich  noch  über  v.  B. 
hinausgehen,  während  F.  Keutgen  seine  in  ähnlicher  Richtung  gehenden 
Gedanken  in  einem  ganzen,  gleichbetitelten  Buche  Der  deutsche  Staat 
im  MA,  Jena  1918  niedergelegt  hat. 

K.  sucht  nicht  wie  v.  B.  die  Vorstellungen  der  ma.lichen  Menschen  selbst  über 
staatliches  und  privates  Recht  aus  den  Quellen  zu  eimitteln,  sondern  geht  ausschließ- 
licher mit  festen  modernen  Begriffen,  die  freilich  bei  den  neueren  Staatsrechtleru 
einigermaßen  im  AVaudel  begriffen  sind,  an  die  Analyse  des  älteren  deutschen  Staats- 
lebens heran,  betont  wie  v.  B.  namentlich  für  die  Frühzeit,  aber  auch  noch  für  die 
Epoche  überwiegenden  Lehnswesens  den  staatlichen  Charakter,  ohne  die  entgegen- 
stehenden privatrechtlichen  Elemente  (z.  B.  Gefolgswesen,  Teilungserbrecht  in  der 
ersten  Periode)  zu  verkennen,  die  späterhin  immer  mehr  die  Oberhand  gewinnen;  viel- 
mehr ist  es  gerade  dieser  Dualismus,  den  er  durch  die  deutsche  Reichsgeschichte 
und  dann  seit  dem  13.  Jahrb.  auch  durch  die  der  Territorien  mit  ihrem  Widerstreit 
zwischen  Landesherren  und  Stauden  hindurch  verfolgt.  Obwohl  die  ersteren  daraus 
.schließlich  als  absoluti.stischo  Sieger  hervorgehen,  haben  doch  die  letzteren,  die  ab- 
weichend von  Rachfahl  und  Spaugenbei'g  als  eine  Vertreterschaft  aus  eignem  Rechte 
aufgefaßt  werden,  stark  dazu  beigetragen,  den  staatlichen  Charakter  der  Territorien 
gegen  privatrechtliche  Neigungen  der  Fürsten,  wie  Erbteilungen,  Veräußerungen,  Ver- 
pfändungen usw.  zu  sichern.  Eben  in  dem  durchgehenden  Rechtsdualismus  der  ger- 
manischen Völker  sieht  K.  im  Gegensatz  zu  der  Rechtseinheit  des  Altertums,  die  zwar 
größere  Kraftzusammenfassung  verbürgt,  aber  auch  die  Gefahr  der  Verknöcherung  in 
sich  geschios,sen  habe,  ein  lebenerhaltendes  Moment. 

Ein  nüchtern  gesunder  Sinn  für  die  historischen  Besonderheiten  und  die  tat- 
sächlichen Machtverhältnisse,  deren  umgestaltender  AVirkuug  erst  die  rechtlichen  Um- 
formulierungen  folgen,  b(;stimmt  diese  aus  laugjährigen  Studien  erwachsenen  Betrach- 
tungen. Die  Kehrseite  davon  ist  ein  gewi.sser  Mangel  an  eindrucksvoller  Gestaltung, 
die  auch  durch  die  Vermischung  von  Untersuchung  und  Darstellung  beeinträchtigt 
wird.  Läßt  man  sich  das  in  diesem  wesentlich  analytischcui  Teil  noch  gefallen ,  so 
darf  man  wohl  hoffen,  daß  der  in  Aussicht  gestellte  weitere  Band,  der  aufbauend 
eine  „zu.sammonhängende  Darstellung  der  deutschen  Staatsgeschichte"  bringen  soll, 
.sich  in  der  künstlerischen  Bewältigung  des  Stoffes  auf  eine  höhere  Stufe  heben  möge. 

44 


Die  breiten  Ausführungen  K.s  über  den  Reichsfürstenstand, 
die  sich  dem  Aufriß  des  Buches  nicht  recht  organisch  einfügen,  aber 
forschungsmäßig  gerade  sein  wertvollster  Teil  sind,  leiten  uns  zu  einigen 
ständegeschichtlichen  Untersuchungen  hinüber,  die,  soweit  sie  sich  nicht 
einer  bestimmten  Periode  einfügen  lassen,  hier  vorweg  zu  nennen  sind. 

Der  Charakter  des  älteren  und  jüngeren  Reichsfürstenstandes,  sowie  Art  und 
Ursachen  seiner  Umwandlung  sind  gerade  neuerdings  wieder  vielumstritten.  Dadurch, 
daß  J.  Fickers  weitvorbereitete  Studien  nach  der  Drucklegung  des  1.  Bandes  seines 
Reichsfürsten  Standes  (1861)  abgebrochen  wurden,  ist  hier  die  Forschung  lange  stecken 
geblieben.  Erst  allmählich  kam  sie  wieder  in  Fluß ,  um  dann  durch  P.  Puntscharts 
Herausgabe  eines  Teils  von  Fickers  2.  Bande  (1911)  weiteren  Anstoß  zu  erhalten. 
Wer  sich  in  die  schwierigen  Probleme,  die  hier  auftauchen,  einführen  will,  wird  zu 
dem  bequem  referierenden  Buche  des  im  Felde  gefallenen  F.  Schönlierr,  Die  Lehre 
vom  Reichsfürstenstande  des  MA.,  Leipz.  1914,  greifen,  wo  insbesondere  auch  Fickers 
Ansicht  von  den  Einseitigkeiten  und  Vergröberungen  Späterer  gereinigt  erscheint;  es 
ergibt  sich,  daß  er  das  lehnsrechtliche  Moment  für  die  Bildung  des  jüngeren  Reichs- 
fürsten Standes  zwar  als  das  ausschlaggebende,  aber  nicht  als  das  einzige  angesehen 
hat,  daß  daneben  doch  auch  nach  ihm  landrechtliche  Momente,  die  mit  der  Ablösung 
des  alten  Herzogsamtes  zusammenzuhängen  scheinen,  eine  Rolle  gespielt  haben. 

Die  neueste  Forschung  geht  nun  in  dieser  Richtung  viel  weiter, 
indem  sie  die  beliebte  Gegenüberstellung  von  Amtsfürsten  und  Lehns- 
fürsten als  überhaupt  nicht  treffend  zu  erweisen  sucht.  Vornehmlich 
sind  da  zu  berücksichtigen  die  einschlägigen  Kapitel  in  dem  doch  recht 
tief  schürfenden  Buche  von  E.  Rosenstock,  Königshaus  u.  Stämme  in 
Deutschland  zwisclien  911  u.  1250,  Leipz.  1914,  in  dem  man  das  Gute 
nicht  um  deswillen  vernachlässigen  sollte,  weil  andres  darin  allzu  über- 
spitzt und  hypothetisch  erscheint. 

R.  sieht ,  indem  er  in  der  Richtung  der  Auffassung  von  Laband ,  Heck  und 
Rietschel  weiterbaut,  in  den  jüngeren  Reichsfürstentümern  weniger  eine  Abwandlung 
des  alten  Fürstenstandes,  als  vielmehr  eine  Neuordnung  des  Reiches  nach  der  1180 
mit  der  Zertrümmerung  Sachsens  und  Bayerns  zum  Abschluß  gebrachten  Auflösung 
der  Stammesherzogtümer.  Eine  herzoggleiche,  übergräfliche  Stellung  in  je  einem  der 
alten  Stammesgebiete  ist  denn  auch  Voraussetzung  für  den  nunmehrigen  Reichsfürsten, 
kennzeichnet  sein  Fahnlehen.  Was  aber  dieser  Neuordnung  erst  ihr  Gepräge  gibt, 
ist  die  inzwischen  anj.'ebahnte  Verschiebung  des  Reichsgebietes  nach  dem  Osten  in- 
folge der  gi'oßen  Kolonialbewegung.  Die  dadurch  mächtig  erweiterten  Marken  lösen 
sich  nun  aus  der  bisherigen  Zugehörigkeit  zu  den  Stammlanden  und  reihen  sich 
ihnen  als  selbständige  Reichsfürstentümer  an.  Diese  Auseinandersetzung  zwischen 
Stämmen  und  Marken  ist  das  wesentlichste  an  der  ganzen  Neuordnung^). 

Was  die  Ablehnung  lehnsrechtlicher  Einwirkungen  auf  die  Neubildung  betrifft, 
die  er  vielmehr  nur  als  nachträgliche  bewußte  Befestigung  der  einmal  errichteten 
Scheidewand  zwischen  Fürsten  und  Magnaten  auffaßt,  so  stimmt  Keutgen  mit  R.  über- 
ein (ob  diese  völlige  Ausschaltung  nicht  doch  zu  weit  geht,  ob  sie  dem  mit  dem 
Lehnsrecht  doch  eng  verbundenen  militärischen  Moment  genügend  Rechnung  trägt?) 
Die  Reichskanzlei  habe  einfach  die  in  Sachsen  schon  vorher  übliche  begrenztere,  die 
Grafen  ausschließende  Anwendung  des  Fürstenbegriffs  auf  das  ganze  Reich  aus- 
gedehnt. Auf  der  andern  Seite  wendet  K.  dem  älteren  Fürstenstande  wertvolle  Unter- 
suchungen zu  und  bestreitet  da  wohl  mit  Recht  den  Amtscharakter  als  ausschlag- 
gebend. Alter  Geburtsadel,  Familienverbindungen,  persönliches  Ansehen,  Besitz, 
politische  Macht  hätten  unter  den  Großen  einen  engeren  Kreis  ohne  genaue  Be- 
stimmung als  die  ersten  herausgehoben.  Sie  sind  nicht  Fürsten,  weil  sie  Reichsbeamte 
sind,  sondern  eher  umgekehrt:  Beamte,  weil  sie  dem  Fürstenkreis  angehören.  —  Ob- 


1)  Kritische  Bemerkungen  dazu  z.  B.  von  v.  Dungern,  M.  I.  ö.  G.  37,  1917. 

45 


wohl  hier  noch  nicht  alles  gesichert  ist,  wird  man  auf  die  Scheidung  von  Amtsfürsten 
und  Lehnsfürsten  doch  schon  jetzt  verzichten  müssen. 

In  der  Ablehnung  der  Fehrschen  Hypothese  von  dem  Nebeneinan- 
der der  alten  Amtstürsten  und  neuen  Lehnsfürsten  bis  in  die  Zeit  des 
Sachsenspiegels  hinein  ist  auch  R.  31ocller,  Die  Nniordnung  des  Beichs- 
fürsfenstandes  u.  der  Prozeß  Heinrichs  des  Löiven,  Z.  f.  R.,  g.  A.  39, 
1918  eindrucksvoll.  Was  er  jedoch  selbst  zur  Erklärung  der  Neuord- 
nung im  Jahre  1180  vorträgt,  ist  bei  allem  Scharfsinn  zu  konstruktiv 
und  ruht  auf  zu  unsicherem  Grunde,  als  daß  es  zu  überzeugen  ver- 
möchte. 

Was  die  geistlichen  Reichsfürsten  betrifft,  so  entbehrten  anfangs 
bekanntlich  die  nicht  reichsunmittelbaren  SufFragane  des  Salzburger  Erz- 
bischofs des  Reichsfürstentitels,  bis  sie  sich  ihn  doch  allmählich  gewohn- 
heitsmäßig aneigneten.  Ihre  Ausnahmestellung  als  Eigenbistümer  (Gurk 
seit  1072,  Chiemsee,  Seckau  und  Lavant  seit  dem  Anfang  des  13.  Jahrh.) 
ist  jetzt  sehr  eindringlich  und  sorgfältig  untersucht  von  Wilhelmine 
Seidenschnur,  Die  Salzhurger  Eigenbistümer  in  ihrer  reichskirchen-  und 
landesrechtlichen  Stellung,  Z.  f.  R.  40,  k.  A.  9,   1919. 

Die  ständegeschichtliche  Forschung  ist  auch  sonst  im 
Gegensatz  zu  der  starken  Nivellierung  der  Gegenwart  in  der  letzten 
Zeit  besonders  lebhaft  gewesen.  Die  fruchtbaren  Untersuchungen  von 
Ä.  Schidte  und  seinen  Schülern  über  die  Edelfreien  und  ihr  Vorwalten 
in  der  deutschen  Kirche  des  MA.  (vgl.  neuerdings  A.  Schulte,  Der  hohe 
Adel  im  Leben  des  ma.lichen  Köln,  S.  B.  d.  Münch.  Ak.  1919)  haben 
neben  den  Forschungen  von  O.  Frh.  v.  Dungern  und  0.  Forst-Battaglia 
das  Interesse  auf  den  Herrenstand  gelenkt.  Der  letztere  hat  früheren 
Schriften  darüber  während  der  Kriegsjahre  umfassende  Studien  folgen 
lassen  unter  dem  Titel:  Vom  Herrenstande.  Hechts-  u.  ständegeschichtl. 
Untersuchungen  als  Ergänzung  zu  den  genealogischen  Tabellen  z.  Gesch. 
des  MA.,  H.  1.  2,  Leipz.  1916.  1915  (Die  genealog.  Tabellen  Lief.  1,  Wien 
1914).  Die  Kritik  hat  die  ungenaue  Eilfertigkeit  seiner  Vorstudien 
gerügt  ^),  auch  in  diesen  und  ähnlichen  Forschungen  die  Vernachlässigung 
der  Rechtsspiegel  beklagt;  gleichwohl  verdankt  man  dem  Buche,  das 
umsichtig  neben  den  rechtlichen  auch  in  vollem  Umfang  die  sozialen 
und  politischen  Besonderheiten  zur  Begriffsbestimmung  überschaut,  sicher- 
Hch  eine  Erweiterung  unserer  Kenntnisse  von  der  Zusammensetzung, 
Zahl  und  Bedeutung  des  Herrenstandes  im  Deutschen  Reiche  und  darüber 
hinaus  in  den  Ländern  Europas.  Wer  sich  mit  diesen  nicht  leichten 
Problemen  beschäftigen  will,  der  sei  hingewiesen  auf  die  einführenden 
und  kritischen  Darlegungen  von  F.  Philippi,  Alter  deutscher  Adel-  u. 
Herrenstand,  D.  L.  Z.  1917,  Nr.  8—10. 

Die  herrschende  Meinung  von  dem  Beamtentum  als  adelsbildendem  Prinzip  seit 
der  Karolingerzeit  wird  hier,  wenigstens  in  dem  meist  beliebten  Umfang,  in  Zweifel 
gezogen,  wobei  sich  der  Vf.  in  ähnlicher  Richtung  wie  Keutgen  betreffs  des  älteren 
Füi-stenstandes  bewegt.  Ebensowenig  kann  von  einer  durchgängigen  „Entfreiung-'  der 
Edelherreu  selbst,  wenn  sie  in  die  Ministerialität  eintraten,  oder  ihrer  Nachkommen- 


\)  Vgl.  namentlich  E.  Vofjt,  H.  Z.  117,  1916. 

46 


Schaft,  wenn  sie  eine  Frau  aus  Dienstmannengeschlecht  heirateten,  die  Rede  sein. 
Denn  neben  den  unfreien  Ministerialen  gab  es  nicht  selten  auch  freie  Dienstmannen, 
die  diese  Freiheit  sich  nicht  etwa  nur  auf  einer  späteren  Entwicklungsstufe  erworben, 
sondern  von  früher  her  bewahit  hatten.  Es  wird  dafür  auf  W.  Wittichs  älteren, 
aber  von  der  Wissenschaft  nicht  gebührend  gewürdigten  Nachweis  für  Niedersachsen 
hingewiesen,  daneben  aber  werden  auch  eigne  Belege  für  Westfalen  erbracht.  Ein 
größerer  Teil  des  späteren  Adels,  als  man  bisher  annahm,  ist  daher  altfreien  Ur- 
sprungs, und  verlor  diese  Standesfreiheit  nicht  durch  Eintritt  in  den  Fürstendienst. 

Die  Frage  nach  der  freien  oder  unfreien  Herkunft  der  Ministerialen 
von  Ritterart,  die  sich  danach  in  zwei  Gruppen  scheiden,  beschäftigt 
auch  W.  V.  Ploiho,  Beitrag  zur  RecJitsgeschichte  des  deutschen  JJradels, 
Viertelj.  f.  Wappen-,  Siegel-  u.  Familienkunde  47,  1919.  Sonderunter- 
suchungen prüfen  die  Ergebnisse  der  allgemeinen  Darstellungen  von 
Moiitor  und  Kluckhohn  an  den  Verhältnissen  einzelner  Stifter  nach,  so 
F.  Joetze,  Die  3Iinisferialität  im  Hochstifte  Bamberg,  Hist.  Jahrb.  06, 
1915  und  J.  Bast,  Die  Ministerialität  des  Erzstifts  Trier,  Beiträge  z. 
Gesch.  des  niederen  Adels,  Trierisches  Arch.  17,  Erg.heft,  Trier  1918^). 
Vornehmlich  aber  hat  sich  die  weitere  Forschung  auseinanderzusetzen 
mit  der  tiefdringenden  Untersuchung  von  V.  Ernst,  Die  Entstehung  des 
niederen  Adels,  Berl.,  Stuttg.,  Leipz.  1916,  der  die  herrschende  Meinung 
von  dem  Hervorgehen  desselben  aus  der  Ministerialität  überhaupt  ein- 
schränken zu  müssen  glaubt,  indem  er  wenigstens  für  das  von  ihm 
untersuchte  schwäbische  Gebiet  in  dem  niederen  Adel  eine  früh  durch 
Zwing-  und  Bannrechte  '^)  zur  örtlichen  Herrschaft  emporgehobene  Freien- 
schicht erblickt,  ihre  Burgen  auf  nichtgrundherrschaftliche  Meierhöfe  zu- 
rückführt ^). 

Zu  den  gesellschaftlichen  Satzungen  des  Ritterstandes  liefert  einen 
wertvollen  Beitrag  TT^  Erhen,  Schivertleite  und  Ritterschlag ,  Z.  f.  hist. 
Waffenk.  8,  1919,  indem  er  den  Bedeutungswechsel  der  Schwertleite 
vom  germanischen  Symbol  der  Volljährigkeit  zum  Zeichen  des  Eintritts 
in  den  Ritterstand  im  12.  Jahrh.  und  die  Verdrängung  der  Schwert- 
umgürtung  durch  den  Ritterschlag  zur  Vereinfachung  bei  Ma?sen- 
erteilungen  (seit  dem  Romzuge  Karls  IV.  1354)  genauer  verfolgt. 
K.  H.  Schäfer  endhch  hat  seine  verdienstlichen  Zusammenstellungen 
über  Deidsche  Ritter  u.  Edelknechte  in  Italien  in  einem  kurz  vor  dem 
Kriege  erschienenen  3.  Buche  mit  Untersuchungen  über  die  im  14.  Jahrh. 
in  kaiserlichen  und  ghibellinischen  Diensten  stehenden  deutschen  Söldner 
in  Pisa  und  Lucca,  die  freiHch  mehr  für  genealogische  und  lokal- 
geschichtliche, als  rechtshistorische  Zwecke  in  Betracht  kommen,  fort- 
getührt  und  damals  noch  zwei  weitere  Bücher  bis  zum  Abschluß  des 
Werkes  in  Aussiebt  genommen  (Quell,  u.  Forsch.,  hrsg.  v.  d.  Görresges.  16, 
Paderb.    1914). 


1)  Vgl.  auch  Dorothea  Zeglin,  Der  hämo  Ugius  u.  die  französische  Ministerialität, 
Diss.  Leipz.  1914:  H.  Wahrheit,  Die  Burglehen  zu  Kaiserslautern,  Diss.  Heidelb.  1918. 

2)  Vgl.  E.  Eichholxer,  über  Zivangs-  und  Bannrechte,  namentlich  nach  sehweixe- 
risc/iem  Recht,  Zur.  Beitr.  z.  Rechtswiss.  54.  Aarau  1914. 

3)  Nicht  zustimmend  H.  Glitsch,  Z.  f.  R.,  g.  A.  37,  1916,  S.  614  ff.  Vgl.  auch 
W.  Gatnenmüller ,  Neuere  Theorien  xur  Entstehungsgeschichte  des  niederen  Adels, 
Z.  d.  hist.  Ver.  f.  Niedersachs.  82,  1917. 

47 


Auch  über  die  unterhalb  der  Edelfreien  folgenden  ständischen 
Schichten  der  Gemein  freien  ist  bekanntlich  im  Anschluß  an  den  hier 
namentlich  durch  Ph.  Heck  wieder  zu  Ehren  gebrachten  Sachsenspiegel 
in  jüngerer  Zeit  lebhaft  diskutiert  worden. 

Dio  Benennung  einer  besonderen  Gruppe  als  „Scböffenbarfreie"  ist  jetzt  besser 
ganz  fallen  zu  lassen,  da  Eike  von  Repgow  selbst  sie  nicht  kennt,  vielmehr  von 
„Schöffenbaren'^  spricht,  die  er  daneben  auch  als  frei  bezeichnet.  Die  Stellung  der 
Schöffen  war  allmählich  ein  Vorzug  der  oberen  Si  hichten  geworden  bis  hinab  zu  den 
freien  bäuerlichen  Dreihufnern.  Daß  nach  der  Annahme  Zallingers  und  seiner  Nach- 
folger Dienstmannen,  insbesondere  in  die  Ministerialität  übergeti-etene  Freie,  dies  Vor- 
recht besessen  hätten,  und  sie  vornehmlich  unter  den  ,,Schöffenbarfreien''  zu  ver- 
stehen seien,  hat  PIi.  Heck,  Die  Ministerialcntlieorie  der  Schöffcnbarcn,  Viert,  f.  Soz. 
u.  Wirtsch.  14,  1918,  gegen  Amira  mit  dem  Hinw'eis  auf  die  Gleichsetzung  von 
„schöffenbar"  und  „frei"  energisch  bestritten.  Ist  nicht  auch  hier  die  Frage  be- 
treffs Freiheit  und  Unfreiheit  innerhalb  der  Ministerialität  aufzuwerfen? 

Die  nächstfolgende  ständische  Gruppe  der  Pfleghaften  (oder  Bier- 
gelden)  ^)  ist  letzthin  nicht  minder  heiß  umstritten  gewesen.  In  den 
bisherigen  Gang  und  jetzigen  Stand  der  Forschung  wird  man  da  am 
besten  eingeführt  durch  die  Studie  von  K.  Beyerle,  Die  Ffleghaften, 
Z.  f.  R.,  g.  A.  35,  1914. 

Zu  dem  nach  den  Forschungen  K.  v.  Amiras  und  E.  Meisters  gewonnenen  Bilde 
dieser  freien  bäuerlichen  Kleinbesitzer  mit  der  aus  der  ursprünglichen  Heersteuer  um- 
gewandelten Gerichtsabgabe  an  den  Grafen,  in  dessen  Untertaneuverband  sie  schließ- 
lich seit  dem  14.  Jahrh.  aufgehen,  hat  B.  urkundliche  Ergänzungen  hinzugefügt  und 
die  Gerichtsbeziehungen,  die  besonderen  Pfleghaftendinge  unter  dem  Grafschafts- 
schultheißen schärfer  herausgearbeitet.  Im  Ergebnis  damit  einverstanden,  versucht 
F.  Pliilippi,  Pfleghafte,  Eixjcn-  m.  Reichsgut,  M.  1.  ö.  G.  37,  1916,  eine  andre  Be- 
gründung, indem  er  das  Eigen  der  sächsischen  Pfleghaften,  wie  schon  in  der  kurz 
vor  dem  Kriege  erschieneneu  Untersuchung  Zur  O erichtsverfasswig  Sachsens  im 
hohen  MA.,  M.  I.  ö.  G.  35,  1914,  auf  altes  Keichsgut  zurückführen  und  den  Grafen- 
zins damit  in  Verbindung  bringen  will.  Dagegen  kommt  Ph.  Heck,  Pßcghafte  und 
Örafschaftsbauern  in  Ostfalen,  Tüb.  1916,  nochmals  mit  neuen  Argumenten  auf  seine 
wenigstens  in  dieser  Zuspitzung  allgemein  abgelehnte  Auffassung  der  Pfleghaften  oder 
Biergelden  als  einer  niederen  Schicht  von  Stadtbewohnern,  nicht  Grafschaftsbauem. 
zurück.  Derartige  Ausführungen  des  Vf.  sind,  auch  wenn  sie  nicht  überzeugen,  stets 
so  kenntnisreich,  scharfsinnig  und  eindrucksvoll  vorgetragen,  daß  sie  eine  eindring- 
liche Entgegnung  erfordern,  die  ihnen  diesmal  von  Cl.  Frh.  v.  Schtverin,  Z.  f.  E., 
g.  A.  37,  1916  zuteil  geworden  ist. 

Indem  wir  uns  die  ständischen  Verhältnisse  der  Städter  für  spätere 
Besprechung  versparen  ^j,  kommen  wir  mit  einigen  Studien  über  die 
Wachszinsigen ,  denen  Ergebung  an  eine  Kirche  und  Hörigkeit  gegen- 
über dem  Titelheiligen  vereinbar  war  mit  Behauptung  des  weltlichen 
Freienrechts,    auf  die   nächste    Stufe   in  der  Folge  der  Stände^).     Zur 


1)  F.  Philippi.,  M.  I.  ö.  G.  35,  1914,  S.  228,  meint  zwischen  den  beiden  nach 
der  Form,  in  der  sie  das  Eigen  besäßen,  einen  Unterschied  machen  zu  sollen. 

2)  F.  Simjp.rmann,  Die  Kennxeich?iung  der  Juden  itn  MA.,  Diss.  Freib.  i.  ß. 
1915,  sei  schon  hier  angemerkt. 

3)  A.  Meisler,  Studien  x.  Oesch.  der  Wachsxinsigkeit  (Arbeiten  von  /.  Schulte 
u,  W.  Holland,  eingeleitet  von  Meister),  Münstersche  Beiträge  z.  Geschichtsforsch. 
N.  F.  31— 3;^,  Münster  1914,  nur  auf  Westfalen  bezüglich,  im  Anschluß  an  d.  Arbeit 
von  Brebaum  über  Süd  Westfalen  (1913).  Vgl.  H.  Frh.  v.  Minnigerode,  Wachszins- 
recht, Viert,  f.  Soz.  u.  Wirtsch.  13,  1916. 

48 


Sozialgeschichte  des  gesamten  bäuerlichen  Berufsstandes  hat  H.  Fehr 
umfassende  Untersuchungen  auf  einem  bisher  wenig  begangenen  Gebiete 
begonnen  in  seinen  Studien:  Das  Waffenrecht  der  Bauern  im  MÄ., 
Z.  f.  R.,  g.  A.  35,  1914  u.  38,  1917. 

Der  erste  Teil  untersucht  das  bäuerliche  Waffenrecht  im  Reichsrecht,  uament- 
lich  nach  dea  Gottes-  uad  Laudfrieden,  der  zweite  das  Territorialrecht  des  ausgehen- 
den MA.  zunächst  für  Bayern  und  Pfalz  Aus  den  iuhaltreichen ,  klaren  und  wohl- 
gegliederten Ausführungen,  die  auch  für  Heeresfolge,  Fehde,  Zweikampf  beachtenswert 
sind,  sei  hier  nur  vermerkt,  daß  das  Waffenverbot  für  die  Bauern,  das  sich  im 
12  Jahrh.  als  eine  Folge  der  Teilung  des  Volkes  in  Wehrstand  und  Nährstand  ergab, 
nicht  lediglich  der  Vorstellung  von  der  höheren  Ehre  und  dem  gesellschaftlichen  Ab- 
schluß des  Kriegerstandes  entsprang,  sondern  daneben  auch  eme  Maßregel  sozialen 
Schutzes  war,  um  die  friedliche  Tätigkeit  des  Landwirts  den  störenden  Einwirkungen 
des  Fehderechts  zu  entziehen,  wie  denn  der  arbeitende  Bauer  mit  Gerät  und  Tieren 
in  den  Landfriedensordnungen  des  ausgehenden  MA.  ausdrücklich  unter  Friedens- 
schutz gegen  alle  Fehdehandlungen  gestellt  wurde.  Die  Landfolgepflicht  zur  Ver- 
teidigung gegen  eindringende  Feinde  blieb  aber  für  die  Bauern  trotz  des  Waffen- 
verbotes wenigstens  zunächst,  und  die  Gerichtsfolge  zur  Ergreifung  Landschädlicher 
dauernd  bestehen.  Daß  sich  die  letztere  im  fränkischen  Recht  auch  auf  Halbfreie 
und  Unfreie,  aber  nicht  auf  Geistliche  erstreckte,  während  die  Landfolge  nur  die 
Waffenfähigen  betraf,  hat  Fehr  noch  in  einer  besonderen  Studie  in  der  Festgabe  für 
R.  Sohm,  Münch.-Leipz.  1915,  ausgeführt^). 

Damit  werden  wir  von  den  ständischen  Problemen  zum  Gerichts- 
wesen hinübergeleitet.  Dort  ist  namentUch  die  Bannleihe  des  Königs 
zum  Gegenstand  voneinander  abweichender  Erörterungen  gemacht. 

H.  V.  Voltelini,  Königsbannleihe  u.  Blutbannleihe,  Z.  f.  R.,  g.  A.  36,  1915,  will 
die  Königsbannleihe,  die  höheren  Friedensschutz  gewährt,  nach  Ursprung  und  Bedeu- 
tung von  der  Blutbannleihe,  die  in  die  Grafschaftsübertragung  eingeschlossen  und  nur 
bei  den  von  geistlichen  Fürsten  abhängigen  Hochgerichten  wirklich  vom  König  ein- 
geholt sei,  scheiden.  Die  Ergebnisse  seiner  Untersuchung  werden  großenteils  abgelehnt 
von  Ph.  Heck,  Die  Bannleihe  ifn  Sachsenspiegel,  Z.  f.  R.,  g.  A.  37,  1916,  der  seiner- 
seits aber  ähnlich  —  und  zwar  trotz  zweier  scheinbar  entgegenstehender  Sachsen- 
spiegelstellen —  eine  persönliche  Erteilung  der  Bannleihe  durch  den  König  nur  an 
die  Kirchenvögte  annimmt,  denen  sie  der  geistliche  Fürst  ja  bis  Ende  des  13.  Jahrh. 
nicht  vermitteln  konnte,  während  die  weltlichen  Fürsten  als  Nachfolger  in  den  her- 
zoglichen Rechten  sie  den  Grafen  zugleich  mit  der  Erteilung  der  Gerichtsgewalt  über- 
mittelten, was  deren  unmittelbare  Verpflichtung  für  den  König  durch  Amtseid  nicht 
beeinträchtigte.  Man  hat  den  Eindruck,  daß  in  dieser  Frage  das  abschließende  Wort 
noch  nicht  gesprochen  ist. 

Als  seit  der  Schwächung  der  deutschen  Zentralgewalt  im  13.  Jahrh. 
die  Herleitung  der  Gerichtsgewalt  vom  König  zuerst  in  den  weltlichen, 
dann  auch  in  den  geistlichen  Fürstentümern  schwand,  blieb  sie  bekannt- 
lich in  einzelnen  Reichsgebieten,  namentlich  Westfalen,  lebendig.  Die 
oben  besprochene  ständegeschichtliche  Forschung  über  die  Pfleghaften 
hat  nun  erneut  zu  einer  Untersuchung  dieser  „Freigrafschaftea"  geführt, 
über  die  in  dem  inhältreichen  Buche  von  Th.  Lindner  über  die  Feme 
(1888)  doch  noch  nicht  das  Letzte  gesagt  ist.  Während  Ä.  Meining- 
haus,  Freigrafenamt  und  Freigraf enleJien  (und  zwei  andere  dahin  gehörige 
Studien  in  Beitr.  z.  Gesch.  Dortmunds  25,  1918)   Einzeluntersuchungen 


1)  Vgl.  H.  Oerdes,    Geschichte   des   deutscJien   Bauernstandes   (Aus  Natur  und 
Geistesw.  320),  2.  Aufl.,  Leipz.-Beri.  1918. 

Wissenscliaftllche  Forschungsberictite  VIT.  4 

49 


zu  den  westfälischen  Freigrafengerichten  bringt,  sucht  A.  Waas,  Zur 
Frage  der  Freigrafschaften,  vornehmUch  in  der  Wetter  au,  Z.  f.  R.,  g.  A. 
38,  1917,  in  die  Grundfrage  Licht  zu  bringen,  ob  wir  es  mit  einem 
Verfallsprodukt  öfFentlichrechtlicher  Verhältnisse  zu  tun  liaben,  was  der 
bisher  zumeist  vorgetragenen  Meinung  entspricht,  oder  mit  Herrschafts- 
rechten, nämhch  altem,  an  „Freie"  ausgeliehenen  Reichsgut,  dessen 
Verwaltung  aus  den  Händen  des  Königs  als  Eigentümers  in  die  des 
Grafen  hinübergeglitten  ist. 

"\V.  knüi^ft  hier  an  die  obengenannten  Forschungen  von  F.  Philippi  an,  der  immer- 
hin den  öffentlichrechtlichcn  Ursprung  der  Verhältnisse  betont,  die  sich  erst  alhnilh- 
fich  bis  zum  13.  Jahrh.  in  fast  ganz  privatrechtliche,  den  Späteren  grundherrlich  er- 
scheinende gewandelt  hätten.  Indem  W.  auch  die  Analogie  der  Schweizer  Freigiaf- 
schaften  heranzieht,  die  Gemeinschaften  freier  königlicher  Muntmannen  in  privatrecht- 
licher Abhängigkeit  vom  König  gewesen  seien  und  mit  öffentlichrechtlichen  Graf- 
schaften nichts  zu  tun  hätten ,  findet  er  den  privatherrschaftlichen  Ursprung  auch 
durch  Untersuchungen  über  die  hessischen  Freigrafschaften  bestätigt  und  erwartet  von 
weiteren  einschlägigen  Forschungen  über  die  im  ganzen  Reiche  verbreiteten  Freigraf- 
schaften  Aufklärung  über  das  zerstreute  Königsgut. 

Wenden  wir  uns  dem  Rechtsgang  ^)  zu,  so  galt  die  Frage  der 
Herleitung  von  Geschworenengericht  und  Inquisitionsprozeß,  soweit  die 
enghsche  Wurzel  in  Betracht  kam,  bisher  als  durch  H.  Brunners  epoche- 
machendes Buch:  Die  Entstehung  der  Schwurgerichte  (1872)  mit  seiner 
Feststellung  fränkisch- normannischer  Hinüberwirkung  nach  England  für 
entschieden.  Neuerdings  hat  man  begonnen,  dies  Ergebnis  kritischer 
zu  betrachten. 

Während  jedoch  K.  Haff,  Beweisjury  u.  Rügeverfahren  im  fränkischen  und  alt- 
dänischeti  Rechte,  Z.  f.  R.,  g.  A.  38,  1917,  durch  den  Nachweis,  daß  das  fränkische 
Recht  mit  seinen  amtlich  bestellten  Rügegeschworenen  schon  vor  lOHG  auf  dem  Wege 
über  Jütland  auf  das  angelsächsische  Recht  gewirkt  hat,  an  der  Bruniierschen  Theorie 
nur  eine  leichte  Korrektur  vornimmt,  sucht  E.  Mayer,  Oeschrrorcncmiericht  und  In- 
quisitionsproxcß,  Münch.  u.  Leipz.  1916,  ihre  Grundlage  zu  erschüttei-n,  indem  er  das 
englische  Geschworenengericht  als  eine  Fortbildung  älterer  angelsächsischer,  nicht 
durch  normannischen  Einfluli  vermittelter  Formen  und  damit  als  eine  gemeingeroianische 
Rechtseinrichtung  auffassen  will.  Er  hat  damit  zunächst  den  scharfen  Widerspruch 
K.  V.  Amiras,  Z.  f.  R.,  g.  A.  37,  1916,  hervorgenifen,  und  man  wird  abwarten  müssen, 
ob  sich  seine  Auffassung  sonst  durchzusetzen  vermag. 

Was  die  italienische  Wurzel  betrifft,  so  war  die  Arbeit  von  Bich. 
Schmidt,  Die  Herkunft  des  Inquisitionspro2csses  (1902),  die  Basis,  von 
der  man  auszugehen  hatte. 

Seitdem  haben  Foi'schungen  von  Kaniorotvicx,  E.  Mayer,  Niese,  Zcchbatier  unsere 
Kenntnis  des  normannisch-sizilischen  und  italienischen  Rechtes  im  12.  und  13.  Jahrh. 
erheblich  erweitert.  Schmidt  selbst  hat  nun  noch  einmal  die  Hau|)tentwicklungs!inien 
gezogen  in  seiner  Studie.  Küniysrechf,  Kirchenrecht  u.  Stadtrcchl  beim  Anfbau  des  In- 
qnis/fionsproxesses,  Festschr.  f.  R.  Sohm,  Münch./Leipz.  191f),  und  darin  seinr?  frülieren 
Ergebni.sse  giuauer  umrissen,  insonderheit  die  Annahme  normannisch-sizilischer  (letzt- 
hin aus  dem  fränkischen  Reiche  stammendei)  Einflüsse  auf  die  Einführung  der  kirch- 
lichen Inquisition    durch  Innozenz  111.    zu   stützen  versucht.     Wie   schon    früher,    so 


1)  Als  eine  gute  Einführung  in  diesen  den  meisten  Historikern  ferner  liegenden 
Stoffkreis  ist  zu  empfehlen:  77.  Planitx,  Handhaft  u.  Blutrache  n.  andre  Formen  des 
ma.lichrn  h'cchtsfianges  in  anschaulichen  DarstcUuncirn  (Voigtländ(>is  Quellcnb.  94), 
Leipz.  1918.     Ähnlich  in  ders.  Samml.  H.  Qlitsch,  Ma.liche  Gottesurteile  (1918). 

50 


hat  auch  jetzt  H.  v.  Volfeh'm,  Hist.  Z.  117,  1916,  diese  Einflüsse  als  quellenmäßig 
nicht  genügend  belegt,  vielmehr  das  italienische  (auf  das  römische  zurückgehende) 
Stadtrecht  als  die  eigentliche  Wurzel  des  kirchlichen  Inquisitionsprozesses  erklärt. 

Über  die  Reich  sacht  sind  in  den  Jahren  vor  dem  Kriege  mehrere 
Studien  erschienen,  die  von  J.  Lechner  in  einer  Besprechung  des  Buches 
von  J.  Poetsch  (1911)  in  der  Krit.  Vierteljahrschr.  f.  Gesetzgeb.  und 
Rechtswiss.  III.  F.  17,  1915,  unter  Hicweis  auf  die  noch  vorhandenen 
Lücken  der  Forschung  kritisch  gewürdigt  werden.  Ihre  Ergebnisse  hat 
Lechner,  Die  Eeichsacht,  Hist.  Viert.  17,  1914,  knapp  und  klar  zu- 
sammengefaßt. — 

Wenn  die  deutsche  Rechtsgeschichte  des  MA.,  zum  mindesten  bis 
ins  13.  Jahrh.  hinein,  im  wesentlichen  ein  festgefügtes  Gebäude  darstellt, 
das  wohl  noch  mancherlei  Umbauten  und  feinere  Durchbildungen  ertährt, 
aber  kaum  noch  eine  Änderung  seines  Grundrisses,  so  hat  die  viel 
jüngere  Wirtschaftsgeschichte  wohl  in  Büchern  wie  denen  von 
Lamprecht  oder  v.  Inama- Sternegg  vorläufige  Notbauten  errichtet,  ist 
aber  erst  in  reichen  Einzeltorschungen  von  verschiedenen  Seiten  her 
damit  beschäftigt,  das  Fundament  lür  die  dauernde  künftige  Darstellung 
zu  schaffen.  Soweit  diese  Studien  aus  lokalen  Stoffen  einzelne  Bausteine 
gewinnen,  würde  ihre  Aufzählung  hier  zu  weit  führen,  wenn  auch  das 
örtliche  Ergebnis  zumeist  nur  dem  größeren  Ziele  dienen  soll  ^j. 

Zu  einigen  Sondergebieten  kann  auf  bequeme  Einführungen  in  den 
derzeitigen  Forschungsstand  verwiesen  werden  -).  Von  umfassenderen 
Darstellungen  ist  außer  dem  schon  oben  im  kulturgeschichtlichen  Ab- 
schnitt behandelten  Werke  von  A.  Dopsch  die  gründliche,  sehr  reiche 
Literatur  verwertende  Neubearbeitung  von  W.  Sombarts,  Der  moderne 
Kapitalismus,  2.  Aufl.,  Bd.  1.  2,  Leipz.  1916/17,  zu  nennen,  aus  der  auch 
für  das  MA.  viel  zu  lernen  ist,  wenn  auch  der  Schwerpunkt  des  Buches 
natürlich  in  der  Behandlung  der  neuzeithchen  Entwicklung  liegt.  An 
die  ablehnende  Besprechung  v.  Belows  in  dem  gleich  zu  nennenden 
Buche  hat  sich  eine  erneute  Auseinandersetzung  geknüpft. 


1)  Einige  Dissertationen  aus  v.  Belows  Freihurger  Schule  ziehen  den  Kreis  der 
Betrachtung  für  einzelne  Wirtschaftszweige  von  vornherein  weiter,  wie  etwa  Lotte 
Wever,  Die  Anfänge  des  deutschen  Leinengetcerbes  bis  7:nm  Ausgang  des  14.  Jahrh., 
1918,  und  W.  Lauenstein,  Das  ma.liche  Böttcher-  und  Küferhanduerk  in  Deutsch- 
land, mit  besonderer  Rücksicht  auf  Lübeck,  Köln,  Frankfurt  a.  M..  Basel  und  Über- 
lingen (also  ohne  giößere  Zusammenfassung)  1917.  —  Von  den  Eheinischen  Urbaren 
erschien  Bd.  3:  Die  urbare  der  Abtei  Werden  a.  R. ,  B.  Lagerbücher,  Hebe-  und 
Zinsregister  vom  14—17.  Jahrh.,  hrsg.  v.  R.  Köfxschke  (Publ.  d.  Ges.  f.  rhein.  Ge- 
schichtsk.  XX,  3),  Bonn. 

2)  Ä.  Zycha,  Zur  neuesten  Literatur  über  die  Wirtschafts-  und  Rechtsgeschichte 
der  deutschen  Salinen,  Viert,  f.  Soz.  u.  Wirtsch.  14,  1918,  faßt  die  Forschunj;en  der  letzten 
beiden  Jahrzehnte  zusammen ;  ./.  Lappe,  Die  Wüstungen  der  Provinx  Westfalen.  Ein- 
leitung: Die  Reehtsgeschichte  der  icüsten  Marken,  MüuNter  i.  W.  1916.  gibt  eine  um- 
fassende Einführung  in  den  Forschungstand  lür  das  gesamtdeutsche  Siedlungsgebiet; 
W.  Lotx.  Finanxuissenschaft  im  Handbuch  des  öff.  Rechts.  Einleitungsbd.  9.  Abt., 
1.  u.  2.  Lief.,  Tüb  1916/17,  kommt  für  die  Finanzgeschichte  des  MA.  in  Betracht, 
wenn  auch  nicht  überall  die  neueren  historischen  Forschungen  verwertet  sind,  wie 
A.  Dopsch  in  Viert,  f.  Soz.  u.  Wirtsch.  14,  1918,  zeigt. 

4* 

51 


Die  Zeit  dürfte  nun  vielleicht  bald  reif  sein  für  einen  neuen  um- 
fassenden und  ersten  vollständigen  Versuch  einer  deutschen  Wirtschafts- 
geschichte. In  dem  von  G.  Brodnits  herausgegebenen  Handbuch  der 
WirtschaftsgcschüMe,  das  eine  Reihe  darstellender  Wirtschaftsgeschichten 
der  einzelnen  Länder  bieten  soll,  wird  man  ihn  zu  erwarten  haben. 
Einstweilen  hat  der  Herausgeber  selbst  den  ersten  Band  einer  gründ- 
lichen Englischen  Wirtschaftsgeschichte,  Jena  1918,  veröfifentlicht,  der  die 
ma.liche  Periode  nicht  in  fortschreitend  chronologischer  Folge,  sondern 
nach  den  einzelnen  Gebieten  des  Wirtschaftslebens  behandelt  i).  Einen 
gewissen  Ersatz  für  die  noch  fehlende  Wirtschaftsgeschichte  des  deut- 
schen MA.  haben  wir  jüngst  erhalten  durch  G.  v.  Belows  Probleme  der 
Wirtschaftsgeschichte,  Tüb.  192t),  wo  wir  außer  zwei  neuen  Abhand- 
lungen zur  älteren  deutschen  Agrar-  und  Steuergeschichte  ältere,  aber 
umgearbeitete  Studien  des  Vf.  vereinigt  finden,  die  sich  mit  fast  allen 
wichtigen  Fragen  der  neueren  wirtschaftsgeschichtlichen  Forschung  be- 
schättigen  und  darum  hier  als  erwünschte  Einführung  genannt  werden 
müssen,  wenn  sie  auch  aus  den  Berichtsjahren  bereits  herausfallen. 

Zum  Schluß  haben  wir  hier  noch  der  Gesamtdarstellungen  der 
deutschen  Geschichte  -)  zu  gedenken,  die  natürlich  meist  auch  in  die 
ältere  Zeit  kurz  zurückgreifen.  Sie  haben  sich  um  einen  beachtens- 
werten Versuch  gemehrt:  K.  Brandis  Deutsche  Geschichte,  Berl.  1919. 

Aus  Kriegsvorträgen  erwachsen,  ist  sie  mit  ihren  235  Seiten  Text  sicherlich  zu 
knapp,  daher  ungleichmäßig  und  z.  T.  skizzenhaft,  erhebt  sich  aber  doch  über  ein 
bloßes  Kompendium ,  indem  sie  die  Vorgänge  wenigstens  in  einzelnen  Abschnitten 
aus  den  tieferen  Volkskräften  herzuleiten  sucht,  auf  die  verfassungsgescbichtlichen 
Entwicklungen  Gewicht  legt  und  für  den  Abschnitt  des  MA.  auch  dem  Forscher  hier 
und  da  Nachdenkliches  zu  sagen  weiß.  Erweckt  es  noch  nicht  überall  den  Eindruck, 
aus  der  Fülle  historischen  Lebens  hervorgequollen  zu  sein,  so  möchte  man  ihm  Ge- 
legenheit wünschen,  in  einer  Neuauflage  unter  einer  gewissen  Ausdehnung  seines 
Umfangs  sich  dem  erstrebten  Ideal  weiter  zu  nähern "), 


1)  E.  Lipson,  An  mtroduction  to  fhe  economic  history  of  England,  Bd.  I :  Ihc 
middle  ages ,  London  1915.  ist  nach  der  Kritik  eine  nicht  ganz  befriedigende  Kom- 
pilation aus  zweiter  Hand.  Vgl.  auch  F.  Bradshaw,  A  social  history  of  England, 
Lond.  u.  Cambr    1918. 

2)  D.  Schäfers  Deutsche  Geschichte  erschien  1919  in  7.  Aufl.;  P.  Joachimsen, 
Vom  deutschen  Volk  zum  deutschen  Staat,  eine  Gesch.  d.  deutschen  Nationalbewußt- 
seins (Aus  Natur  und  Geistesw.),  Leipz.  1916,  behandelt  das  MA.  nur  ganz  kurz; 
E.  F.  Henderson,  A  short  history  of  Germany,  2  Bde.,  Lond.  1916,  ist  nur  eine 
bis  1871  unveränderte  Neuauflage.  Jüngst:  A.  v.  Hofmann,  Polit.  Gesch.  der  Deut- 
schen 1  (bis  919),  Stuttg./ßerl.  1921  (mit  z.  T    sehr  anfechtbaren  Auffassungen). 

3)  Lehrzwecken  sollen  in  erster  Linie  dienen  die  seit  1916  in  Leipzig  erschieneneu 
Quellen  z.  Gesch.  der  ma.  Geschichtschreibung :  L  F.  Kern,  Geschichtschreiber  des 
früh.  MA.;  IL  F.  Vigener,  Deutsche  Geschtchtschreiber  der  Kaiserxeit.  Vgl.  zur 
Historiographie  auch  die  während  des  Krieges  zum  Abschluß  gekommenen  Artikel 
von  K.  Ilampe  ülier  germanische  Geschichtschreibung  des  ersten  Jahrtausends  n.  Chr. 
in  Hoops  Keallcxikon  (s.  S.  7).  Vgl.  auch  K.  Jacob,  Quellenkunde  der  deutschen 
Geschichte  im  MA.  (bis  1400).  Göschensche  Samml.  279,  Berlin  1917. 


52 


4.   Deutsche  Kaiserzeit 

Vom  zehnten  Jahrhundert  ab  steht  die  deutsche  Kaisergeschiehte  i) 
auf  längere  Zeit  unzweifelhaft  im  Mittelpunkt  der  gesamten  abendländi- 
schen Begebenheiten ;  auch  als  vom  Investiturstreit  an  das  Papsttum  im 
Bunde  mit  den  emporsteigenden  nationalen  Kräften  die  deutsche  Hege- 
moniestellung bekämpft,  zeitweilig  erschüttert,  schließlich  unterhöhlt, 
lassen  sich  bis  ins  13.  Jahrh.  hinein  die  europäischen  Geschicke  noch 
um  dies  Zentrum  gruppieren.  So  mag  eine  Literaturbesprechung,  auch 
wenn  sie  sich  keineswegs  auf  deutsche  Geschichte  beschränken  möchte, 
für  diesen  Zeitabschnitt  denselben  Rahmen  wählen. 

Das  Problem  der  deutschen  Kais erpolitik  ist  seit  der  berühmten 
Auseinandersetzung  zwischen  v.  Sybel  und  Ficker  von  Zeit  zu  Zeit 
immer  wieder  erörtert  worden. 

Die  Mehrzahl  der  ma.lichen  Historiker  schien  sich  auf  die  Formel  geeinigt  zu 
haben,  daß  vom  modern  -  politischen  Standpunkt  aus  die  kleindeutsche  Beurteilung 
V.  Sybels,  in  ma.lich-historischer  Betrachtung  jedoch  die  großdeutsche  Fickers  im  we- 
sentlichen recht  behalten  habe.  Wie  jene  Erörterung  selbst  aus  politischer  Erregung 
erwachsen  war,  so  war  die  Zeit  deutscher  Saturiertheit  seit  1871  ihrer  Weiterführung 
nicht  eben  günstig,  während  neue  Erschütterungen  sie  wieder  beleben  mußten.  Jedoch 
ist  sie  noch  kurz  vor  dem  Weltkriege  wieder  in  Fluß  gekommen.  Nachdem  sich  zu- 
letzt D.  Schäfer  in  seiner  Deutschen  Geschichte  und  in  einer  Besprechung  derselben 
F.  Kern  (DLZ.  1912,  Nr.  30)  dazu  geäußert  hatten,  hat  v.  Below ,  der  die  Emflüsse 
persönlicher  Politik  auf  den  deutschen  Staat  des  MA.  und  die  Auflösung  seiner  Ver- 
fassung nicht  aasschalten  wollte,  in  seinem  oben  S.  43  besprochenen  Buche  die  Frage 
erneut  aufgeworfen  und  gründlich  untersucht.  Auf  dem  universalhistorischen  Gebiete 
will  er  dem  Kaisertum  Verdienste  nicht  abstreiten,  stellt  sich  aber  vom  nationalen 
Gesichtspunkte  aus  entschlossen  auf  v.  Sybels  Seite  und  sucht  in  mehreren  Punkten 
die  Schlagkraft  der  Fickerschen  Verteidigung  zu  entkräften.  Ich  habe  ihm  (DLZ.  1914, 
Nr.  48)  entgegengehalten,  daß  selbst  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sich  Nutzen  und 
Schaden  der  Beherrschung  des  Papsttums,  der  Kräftezusammenfassung  Mitteleuropas, 
der  mit  der  Kaiserkrone  verbundenen  Unwägbarkeiten,  der  Verknüpfung  mit  der 
Kultur  Italiens  nicht  so  reinlich  abschätzen  lassen,  daß  die  Verhältnisse  verwickelter 
liegen,  daß  aber  insonderheit  die  universalen  Momente  für  den  frühma.lichen  Menschen 
gegenüber  den  wenig  entfalteten  nationalen  schlechthin  entscheidend  waren,  und 
jede  Zeit  beanspruchen  darf,  nach  ihren  eigentümlichen  Idealen  beurteüt  zu  werden  *). 

Gewiß  waren  die  Mittel  zur  Beherrschung  Italiens  unvollkommen 
und  mußten  seit  der  städtisch-geldwirtschaftlichen  Entwicklung,  die  dort 
seit  dem  11.  Jahrh.  einsetzte,  auf  die  Länge  der  Zeit  versagen.  Das 
ist  kürzlich  von  verschiedenen  Seiten  ausgeführt  worden,  so  von  H.  Da- 
vidsohn, Die  Vorstellungen  vom  alten  Reich  in  ihrer  Einwirhung  auf 
die  neuere  deutsche  Geschichte,  S.  B.  der  Münch.  Ak.  1917,  wo  der  epi- 
sodenhafte Charakter  der  deutschen  Herrschaft  und  die  Unmöglichkeit 
eines  Obsiegens  gegenüber  den  Städten  stark  betont  werden;  so  mit  ein- 
dringender Begründung  von  L.  M.  Hartmann,  Geschichte  Italiens  im 
MA.  IV,  1:  Die  Ottonische  Herrschaft,  Gotha  1915. 


1)  K.  Hampe,  Deutsche  Kaisergeschichte  im  Zeitalter  der  Salier  utid  Staufer, 
erschien  während  des  Krieges  in  3.  u.  4.  (gegen  die  zweite  unveränderter)  Aufl., 
Leipz.  1916  u.  1919. 

2)  Eine  vermittelnde  Stellung  hat  A.  Dopsck,  M.  I.  ö.  G.  36,  1915,  eingenommen. 

53 


Die  Stärke  des  Halbbaades  liegt  iu  den  der  imieroa  Geschichte  gewidmeten 
Abschnitten  ').  Der  Kami^f  um  das  Kirchengut  zwischen  geistlichen  und  weltlichen 
Gewalten  steht  da  beherrschend  im  Mittelpunkt.  Die  Ottonen  regierten  das  Land, 
indem  sie  einen  Teil  der  ürolien  durch  Begünstigung  für  sich  gewannen  und  durch 
sie  die  andern  niederhielten.  Da  die  erstereu  vornehmlich  die  Bischöfe  waren,  galt 
es  ihnen  das  Kirchengut  zu  sichern  und  zu  mehren.  Nicht  ihnen  aber  gehörte  die 
Zukunft  im  Lande,  sondern  den  aufstrebenden  Klassen  der  Valvassoren  und  Stadt- 
bürger. Insofern  setzten  die  deutschen  Herrscher  auf  die  falsche  Karte,  trieben,  wie 
H.  es  mit  einem  leicht  zu  mißdeutenden  modernen  Ausdruck  nennt,  reaktionäre  Politik. 
Immerhin  möchte  man  bezweifeln,  ob  für  sie  ein  anderer  "Weg  gangbar  war,  wenn  sie 
die  Einheit  gegenüber  den  zersplitternden  Sonderinteressen  verfechien  wollten,  sah  sich 
doch  selbst  ein  Arduiu  von  Jvrea,  dessen  „nationales"  Königtum  H.  durchaus  be- 
streitet, von  anderen  Anfängen  her  in  die  gleiche  Richtung  gedrängt.  Und  ein  Re- 
gierungssystem, das  sich  über  hundert  Jahre  bewährte,  wird  man  noch  nicht  deshalb 
verfehlt  nennen  dürfen,  weil  es  gegenüber  der  weiter  fortschreitenden  Entwicklung 
einmal  versagen  mußte.  Auch  sonst  neigt  H.  etwas  zu  sehr  zu  ungün.stiger  Beurteilung 
der  Politik  Ottos  L,  namentlich  gegenüber  dem  technisch  gewiß  auch  darin  überlegenen 
Byzanz.  Solange  Otto  lebte,  war  doch  der  Erfolg  im  allgemeinen  auf  seiner  Seite. 
Aber  eine  derartige  Politik  des  Balauzierens  im  Innern  und  nach  außen  hing  .stark 
ab  von  der  Persönlichkeit  des  Kaisers.  Nicht  ebenso  glücklich  wurde  sie  von  den 
beiden  Nachfolgern  gehandhabt.  In  ihrer  Beurteilung  folgt  H.  im  allgemeinen,  wenn 
auch  mit  mancher  bemerkenswerten  Einzelbeobachtung,  der  herrschenden  Meinung; 
mit  dem  Tode  Arduins  von  Ivrea  bricht  seine  Darstellung,  die,  wie  in  den  vorigen 
Bänden  für  uns  eine  erhebliche  Bereicherung  bedeutet,  einstweilen  ab. 

Ihr  berufenster  Beurteiler  war  wohl  Fed  Schneider  auf  Grund  seiner 
umfassenden  Studien  zu  dem  Buche  Die  ReichsverivaUung  in  Toskana 
von  der  Gründung  des  Lanyohardenreiches  bis  sum  Ausgang  der  Stau f er 
(568  — 1268),  dessen  erster  vor  dem  Kriege  erschienener  Band:  Die 
Grundlagen  (Bibl.  d.  kgl.  preuß.  hist.  Inst  i.  Rom  XI),  Rom  IUI 4,  sich 
allerdings  überwiegend  noch  in  der  stark  nachwirkenden  Langobarden- 
zeit bewegt,  bei  der  ebenso  mühevollen,  wie  dankenswerten  Umschreibung 
des  Reichsgutes  und  der  Reichsabteien  Toskanas  aber  auch  bis  in  das 
11.  und   12.  Jahrh.  vorgreift. 

Dem  Erscheinen  des  eigentlichen  Ilauptteils,  der  .,  die  Organisation  der  Reichs- 
verwaltung, ihre  Tätigkeit,  Ziele  und  Entwicklung,  ihre  Reorganisationen  und  ihren 
Untergang  infolge  des  Falles  des  staufischen  Kaiserhauses  und  der  Tätigkeit  Karls  I. 
von  Neapel  als  toskanischen  Reichsvikars  von  Papstes  Gnaden"  darstellen  soll,  wird 
man  mit  begreiflicher  S])annung  entgegensehen;  wird  er  doch  zur  Beurteilung  der 
Italienpolitik  unsrer  deutschen  Herrscher  wenigstens  für  einen  wichtigen  Gebietsteil 
eine  über  Fickers  Forschungen  noch  hinaus  gesicherte  Grundlage  bieten.  Eine  wert- 
volle Vorarbeit  dazu  sind  die  von  Schneider  veröffentlichten  Analecta  Toscann^  Quell. 
n.  Forsch,  aus  it.  Bibl.  u.  Arch.  17,  1914,  mit  wichtigen  unedierten  Kaiserurkunden 
und  andern  Dokumenten  des  10.  bis  13.  Jahrb.,  die  eingehend  erläutert  sind.  Auch 
hat  Schieider,  Zur  Qeschic.lite  der  OUonen,  Viert,  f.  Soz.  u.  Wirtsch.  14,  1918,  den 
Gang  des  Ilartmannschen  Buches  mit  eindringlichen  ergänzenden  Bemerkungen  be- 
gleitet *),  auch  gelegentlich  eine  abweichende  Ansicht  begründet.  So  will  er  von  den 
Otto  111.  zugeschriebenen  Phantastereien  nach  der  Untersuchung  Halphens  mehr  als 
H.  in   Abzug   bringen   und   erblickt  in    seiner  tatsächlich   geführten   Politik    im   An- 


1)  O.  Salrioli,  Sloria  ecoiiomica  dltalia  ncW  alto  niedio  evo.  Le  nostri  origini, 
Neap.  1914,  vereinigt  zwei  ältere,  hier  umgearbeitete  Studien,  die  zeitlich  etwa  bis 
z.  J.  1000  reichen. 

2)  Vgl.  auch  H.  Viert.  18,  1916,  S.  141  und  die  Besprechurg  von  Mathilde 
Uhlir%,  M.  I.  ö.  G.  37,  1917,  von  R.  HolUmann,  II.  Z.  121,  1920. 

54 


Schluß  an   H.  Reincke  -  Blocli   überwiegend   das  klare  Wollen   des  Bischofs  Leo    von 
Vercelli. 

Wird  so  an  der  Aufhellung  der  Reichsverwaltung  Italiens  im  ein- 
zelnen unaufhörlich  gearbeitet,  so  hat  inzwischen  die  Weltkriegskata- 
strophe mit  ihren  Umwälzungen  weitere  Antriebe  zu  erneuter  Über- 
prüfung der  Auffassung  im  großen  gebracht,  Antriebe,  die,  wie  mir 
scheint,  sämtlich  mehr  auf  die  Betrachtungsweise  Fickers  zurückführen: 
zuerst  der  Wunsch  nach  einer  engeren  Verknüpfung  der  Kräfte  Mittel- 
europas, dann  der  Zusammenbruch,  der  zum  Teil  doch  auch  deshalb 
erfolgte,  weil  die  alte  mitteleuropäische,  auch  über  die  Alpen  hinab- 
reichende Vereinigung  gegenüber  den  Feinden  ringsum  nicht  zustande 
kam ;  weiter  das  Scheitern  der  kleindeutschen  Lösung,  das  von  der  Not 
geförderte  erneute  Emporwachsen  des  großdeutschen  Gedankens,  endlich 
die  anbrechende  Krise  des  Natiopalismus  und  die  keimende  Sehnsucht 
nach  höherer  universaler  Vereinigung;  der  Anlauf  dazu  in  dem  zunächst 
noch  mißgestalteten  Völkerbunde.  Es  sind  keineswegs  flache  Geister, 
die  heute  in  der  universalen  Ordnung  des  MA.  mit  kaiserlicher  oder 
päpstlicher  Spitze  den  vollkommensten  Kosmos  erbUcken,  den  Europa 
jemals  gehabt  habe.  Aus  solcher  Sehnsucht  heraus  wird  man  sich 
künftig  vermutlich  noch  weiter  mit  diesen  Problemen  befassen.  Im 
Grunde  ist  es  ja  freilich  die  antike  Weltreichsidee,  die  sich  gegenüber 
dem  germanischen  Nationahtätsprinzip  solange  siegreich  behauptete,  als 
sich  die  Verwirklichung  des  Friedensideals  durch  sie  noch  nicht  als 
unmöglich  erwiesen  hatte,  was  im  späteren  MA.  offenkundig  wurde. 
Den  Widerstreit  der  beiden  Mächte  hat  U.  Finke  dargelegt  in  einer 
bedeutenden  Rede :  Weltimperialismus  und  nationale  Regungen  im 
späteren  MA.,  Freiburg  i.  B.  u.  Leipz,  1916. 

Ihr  Wert  liegt  vielleicht  weniger  in  der  Führung  der  großen  Züge,  die  ja  im 
allgemeinen  bekannt  waren,  als  in  dem  reichen  Inhalt  vorzüglich  gewählter  Belege, 
welche  die  beste  Grundlage  für  jeden  bieten,  der  sich  weiter  mit  diesen  Fragen  be- 
schäftigen will. 

Kur  in  losem  Zusammenhange  mit  dem  Thema  steht  die  Abhandlung  von 
H.  Prutx,  Die  Friedensidee  im  MA.,  S.  B.  der  Münch.  Ak..  Münch.  1915  (fast  wörtlich 
übernommen  in  das  Buch:  Die  Friedensidee,  ihr  Ursprung,  mifümilicher  Sinn  wid 
allmählicher  Wandel,  Münch.,  Leipz.  1917).  Es  werden  da  nur  wenige  Hauptmomente 
aus  der  Entwicklung  herausgehoben  (Gottesfrieden,  Kaiser  Heinrich  II L,  Jungfrau  von 
Orleans,  die  Pläne  Pius  IL  und  Pauls  IL);  eine  wirklich  eingehende  Geschichte  der 
Idee  bliebe  noch  erst  zu  schreiben.  Andrerseits  hat  R.  Finke,  Der  Gedanke  des 
gerechten  u.  heiligen  Krieges  in  Gegenwart  u.  Vergangenheit,  Freib.  i.  B.  1915 ,  aus 
kriegstheoretischen  Schriften  ma.licher  Kanonisten  und  Theologen  mancherlei  Wert- 
volles mitgeteilt,  ohne  freilich  damit  dies  wenig  betretene  Literaturgebiet  im  Rahmen 
einer  Rede  ausschöpfen  zu  können.  Lockend  konnte  es  erscheinen,  mit  der  ma.lichen 
Kaiseridee  den  modernen  Imperialismus  zu  vergleichen,  wie  es  A.  Werminghoff,  Der 
Imjierialisnins  in  Gegenwart  u.  Vergangenheit,  Grenzboten  76,  1917,  versucht  hat. 
Wenn  er  als  den  Hauptunterschied  die  materiellen  Ziele  des  einen,  die  religiöse 
Färbung  des  ;;adcni  hervorhebt,  so  möchte  man  statt  dessen  stärker  die  ganz  ver- 
.schiedeuen  Ausgangspunk':e  betonen:  gegenüber  der  aus  dem  römischen  Weltreich 
übernommenen  univer.salen  Idee  des  ma.lichen  Kaisertums  die  Übersteigerung  des 
Nationalismus  der  Gegenwart,  die  letzten  Endes  auf  die  dem  Kaisertum  feindlichen 
Bildungen  des  späteren  MA.  zurückzuführen  ist.  —  Von  sonstigen  Arbeiten  zur  Kaiser- 
idee des  MA.  sei  hier  nur  noch  genannt  eine  Rede  des  Verfassers  unserer  neuen 
republikanischen  Reichsverfassung  H.  Prenß,  Die  Wandlungen  des  deutschen  Kaiser- 

55 


gedankens,  Berl.  1917,  in  welcher  die  Bedeutung  des  deutschen  Königtums  sich  denn 
doch   allzusehr  hinter  der  des  Kaisertums  verflüchtigt  *). 

Wer  weiß,  ob  uns  nicht  die  nächste  Zukunft  den  Versuch  einer 
Wiederbelebung  der  alten  Kaisersage  in  gewissen  Schichten  des  Volkes 
bringen  wird?  Die  Forschung  hat  auch  in  den  letzten  Jahren  an  ihrer 
Erkenntnis  weitergearbeitet.  Der  darum  besonders  verdiente  F.  Kam- 
pers untersucht  in  der  Abhandlung,  Die  Gehurtsurhunde  der  ma.lichen 
Kaiseridee,  Hist.  Jahrb.  36,  1915,  noch  einmal  und  in  einer  von  seiner 
früheren  wesentlich  abweichenden  Auffassung  die  berühmte  4.  Ekloge 
Vergils. 

Jüdisch-messianische  Vorstellungen,  eine  verklärende  eschatologische  Umbildung 
des  an  Alexander  d.  Gr.  anknüpfenden  "Weltherrscherideals,  scheinen  ihm  hier  jetzt 
unter  Vermittlung  der  Cumäischen  Sibylle  im  Gegensatz  zum  Nationalrömertum  zum 
erstenmal  auf  den  Westen  einzuwirken,  um  von  da  aus  auf  das  ganze  MA.  ihren  Ein- 
fluß zu  üben. 

Ein  Fund  aus  einer  Reimser  Briefsammlung,  den  K.  Hampe,  Eine 
frühe  Verknüpfung  der  Weissagung  vom  Endkaiser  mit  Friedrich  IL 
und  Konrad  IV.,  S.  B.  der  Heid.  Ak.,  1917,  mit  Erläuterungen  ver- 
öffentlicht hat,  wirkt  als  eine  Bestätigung  im  Sinne  der  von  Kampers 
seit  langem  vertretenen  Forschungsrichtung. 

Es  liegt  hier  die  allerfrüheste  Beziehung  der  mit  Vorstellungen  des  Sonnenkultes 
durchsetzten  Sage  vom  Friedenskaiser  am  Ende  aller  Zeiten  auf  Friedrich  II.  un- 
mittelbar nach  seinem  Tode  und  auf  seinen  in  Italien  erwarteten  Sohn  Konrad  IV. 
vor;  diese  mit  der  tiburtinischen  Sibylle  verknüpfte,  in  dem  kaiserfreundlichen  Tivoli 
entstandene  Weissagung  bildet  zugleich  das  bisher  vermißte  Mittelglied  zwischen  den 
pseudo-joachitischen  Prophetien  der  Gegner  des  Kaisers  und  der  ghibollinischen  Aus- 
gestaltung der  Sage  auf  deutschem  Boden.  Eine  besondere  Lokalentwicklung  dieser 
lej:zteren  hat  W.  Erben,  Untersberg-Studien.  Ein  Beitrag  zur  Oeschichte  der  deutsehen 
Kai^ersage,  Mitt.  der  Gesellsch.  f.  Salzb.  Landesk.  54,  1914,  gründlich  behandelt,  in- 
dem er  sie  letzten  Endes  auf  die  Beziehungen  Friedrichs  I.  zu  Salzburg  zurück- 
führen will '). 

Das  dem  ma.lichen  Imperium  zugewandte  Interesse  der  Forscher 
hat  sich  in  fördernder  Weise  namentlich  mit  den  Formen  der  Kaiser- 
krönung,  ihrer  Entwicklung,  ihrer  Symbolik  und  der  Bedeutung  ihrer 
Wandlung  lür  das  Verhältnis  zum  Papsttum  beschäftigt.  H.  Günter 
hat  Die  römischen  Krönungseide  der  deutschen  Kaiser  von  754 — 15S0 
(kl.  Texte  f.  Vorles.  u.  Üb.  H.  132),  Bonn  1915,  für  Unterrichtszwecke 
herausgegeben  und  in  der  Abhandlung  Die  Krönungseide  der  deutschen 
Könige  im  MA.  (Forsch,  u.  Versuche,  Festschr.  f  D.  Schäfer),  Jena 
1915  ^)  dargetan,  daß  es  sich  da,  abgesehen  von  dem  Eide  Albrechts  I., 

1)  Die  Schriften  von  A.  Paquet,  Der  Kaiserg edanlce,  Frankf.  a.  M.  1915;  F.  Stieve, 
Die  deutliche  Kaiseridee  im  Laufe  der  Jahrhunderte,  kommen  für  das  MA.  wenig  in 
Betracht.  R  Scholz,  Zur  Geschichte  des  ma.lichen  K  lisergcdankrns,  Zeitschr.  f.  Politik 
VII,  1914,  ist  nur  eine  wesentlich  ablehnende  Besprechung  älterer  Schriften  von 
Stengel,  Reincke-Bloch  und  Kampers.  Vgl.  auch  E.  IL  Zeijdel,  Tlie  Holy  Roman  Em- 
pire in   (Jerman  literature.  New  York  1918. 

2)  Vgl.  auch  P.  Hosp,  Ketxertum  und  detdsche  Kaisersage  beim  Minoriten  Jo- 
hann V.   Winierthur,  Franzisk.  Stud.  3,  1915. 

3)  Zur  ma.lichen  Krönungssymbolik  vgl.  ebenda  F.  Kern,  Der  Rex  et  Sacerdos 
in  bildlicher  Darstellung.  , 

56 


den  er  in  diesem  Sinne  auslegt,  nirgends  um  ein  Vassallitätsverhältnis 
zum  Papste  handle,  die  gegenteilige  Behauptung  Klemens'  V.  daher  eine  Ent- 
stellung sei.  Für  das  spätere  MA.  kommen  hier  die  eindringlichen  Unter- 
suchungen R.  MoeUers  in  dem  unten  noch  weiter  zu  berücksichtigenden 
Buche  Ludivig  der  Bayer  und  die  Kurie  im  Kampf  um  das  Reich 
'Eherings  Hist.  Stud.  116),  Berlin  1914,  in  Betracht.  Auf  beiden  Arbeiten 
und  eigenen  älteren  Studien  fußt  E.  Eichmann,  Die  römischen  Eide 
der  deutschen  Könige,  Z.  f.  R.  37,  k.  A.  6,  1916,  der  auch  eine  Über- 
sicht über  die  sonstige  neuere  Literatur  zu  dem  Gegenstande  gibt,  aber 
er  führt  seine  Untersuchung  in  manchem  Punkte  darüber  hinaus. 

Sicherheits-  und  Treueid  sind  nach  ihm  nicht  -wesentlich  verschieden ;  bei  beiden 
aber  fehlt  zur  Vassallität  die  Mannschaft.  Die  anfangs  wechselseitigen  Treuegelöbnisse 
werden  im  12.  Jahrh.  durch  Schwinden  der  päpstlichen  einseitig.  Unter  den  Krönungs- 
ordnungen bedarf  der  Ordo  Cencius  II.  noch  immer  der  genaueren  zeitlichen  Be- 
stimmung*); das  Wort  „fidelitas"  darin  bleibt  umstritten.  Seit  1198  wandeln  sich 
die  Beziehungen  zur  Überordnung  des  Papsttums,  was  im  einzelnen  dargelegt  wird. 
Ein  Lehnsverhältnis  ist  aber  (gegen  Moeller)  auch  von  Albrecht  I.  nicht  eingegangen, 
da  Homagium  und  Investitur  fehlen ;  sein  Eid  trug  die  Form  des  Untertaneneides.  Die 
kuriale  Theorie  von  der  kaiserlichen  Lehnsabhängigkeit  tritt  offen  erst  1312  zutage 
und  wird  1317  durch  Aufnahme  in  die  Klementinen  ein  fester  Satz  des  kanonischen 
Rechts.  E.  schildert,  wie  sie  sich  allmählich  ausgebildet,  wie  die  deutschen  Könige 
ihr  mehrfach  durch  Entgegenkommen  Vorschub  geleistet,  und  betont  scharf  ihre  letzte 
Herleitung  aus  dem  Papstkaisertum  der  konstaatinischen  Schenkung.  Zuletzt  wird 
die  Entwicklung  des  Eömereides  verfolgt.  Auch  wenn  man  in  einigen  Punkten  ab- 
weichender Meinung  sein  kann  "■'),  wird  man  die  hier  nur  flüchtig  angedeuteten  gründ- 
lichen Darlegungen  hoch  einschätzen.  Ergänzend  tritt  dazu  von  demselben,  Die  Adoption 
pes  deutschen  Königs  durch  den  Papst,  Z.  f.  R.,  g.  A.  37,  1916.  Wiederum  auf  Grund 
jener  konstantinischen  Schenkung,  deren  Bedeutung  immer  höher  gewertet  wird,  haben 
Päpste  des  9.  Jahrb.,  so  wird  hier  gezeigt,  versucht,  das  754  mit  den  Frankenherrschern 
eingegangene  Verhältnis  einer  geistigen  Vater-  i^nd  Sohnschaft  umzubilden  zu  einer 
Kaiserdesignation  nach  spätantikem  Vorbild.  Daß  nun  aus  dieser  zum  Designationsakt 
gestalteten  Adoption  sich  letzten  Endes  die  später  von  den  Päpsten  beanspruchte  Appro- 
bation herleite,  ist  doch  nicht  zwingend  erwiesen ;  sie  konnte  mindestens  ebenso  leicht 
aus  der  Krönungsbefugnis  unmittelbar  entwickelt  weiden. 

Da  das  Interesse  für  diese  und  ähnliche  Fragen  so  lebendig  ist, 
so  werden  übersichtliche  Zusammenstellungen,  auch  wenn  sie  nicht  zu 
wesentlich  neuen  Ergebnissen  führen,  willkommen  sein^).  Andere  Arbeiten 
befassen  sich  mit  den  Reichsinsignien,  deren  Geschichte  und  Bedeutung 
im  einzelnen  noch  immer  weiterer  Aufhellung  bedarf  ^). 


1)  In  den  Studien  xur  Geschichte  der  abendländischen  Kaiserkrönung ,  Hist. 
Jahrb.  39,  1919,  wo  der  Anteil  der  laterauensischen  Bischöfe  an  der  Krönung  unter- 
sucht wird,  begründet  ders.  noch  einmal  die  Zuweisung  jenes  Ordo  in  die  Ottouenzeit. 

2)  Vgl.  auch  A.  Hofmeister,  H.  Z.  118,  S.  151  u.   154  ff. 

3)  Eoa  Sperling,  Studien  xur  Geschichte  der  Kaiserkrömoig  und  Weihe,  Diss. 
Freib.  i.  B.  1918,  erörtert  derart  Herkunft  und  Bedeutung  der  Teile  des  Krönungs- 
zeremoniells. Gerda  Baseler,  Die  Kaiserkrönungen  in  Rom  und  die  Römer  von 
Karl  d.  Gr.  bis  Friedrich  II.,  Diss.  Freib.  i.  B.  1919,  führt  für  die  einzelnen  Her- 
gänge das  bekannte  Material  auf. 

4)  A.  Werminghoff ,  Von  den  Insignien  u.  den  Reliquien  des  alten  heiligen 
römischen  Reiches,  Neue  Jahrb.  23,  1914,  verfolgt  deren  Schicksale  rückwärts  und 
gibt  u.  a.  über  den  geistlich-weltlichen  Doppelcharakter  des  Kaisertums  nähere  Aus- 
führungen. Derselbe  hat  im  Anschluß  an  das  1914  erschienene  unzulängliche  Buch 
von  E.   Guglia ,    Geburts-,  Sterbe-  u.   Grabstätten   der   röniischen   Kaiser   u    Könige 

0< 


Eine  von  K.  Burdach  im  Zusammenhang  mit  seinen  Rienzostudien 
(vgl.  oben  S.  ^ß)  hingeworfene  Skizze  hat  E.  Sehoenian,  Die  Idee  der 
Volkssouveränitüt  im  ma.Hchcn  Rom  (Frankf.  Hist.  Forsch.,  N.  F.  H.  2), 
Leipz.   1919,  zu  einem  Gesamtbilde  ausgeführt. 

Die  Ge.schichte  jener  Idee,  die  als  Quelle  do.s  Kai.sertums  wiederholt  mit  dem 
Papsttum  in  freilich  meist  ohnmächtige  Mitbewerbung  gotn^ten  ist,  wird  hier  erstmalig 
in  umsichtiger  und  wirklich  fördernder  Weise  zur  Darstellung  gebracht.  Daß  der 
Stoff  in  solchem  ersten  Wurfe  eines  Anfängei's  nicht  bis  ins  Letzte  erschöpft  werden 
konnte,  verhehlt  sich  der  Verf.  selbst  nicht.  Namentlich  die  Vorgänge  aus  der  Mitte 
des  l;j.  Jaiirh.  dürften  für  das  Reifen  der  Idee  etwas  zu  leicht  behandelt  sein.  Es 
ist  immer  bedenklich,  den  der  spätantiken  Rhetorik  nachgebildeten  Stil  jener  Zeit  als 
phrasenhaft  zu  verwerfen,  statt  sich  um  sein  genauestes  Verständnis  zu  bemühen. 
Den  Versuch  wenigstens  möchte  ich  machen ,  ob  sich  hier  nicht  durch  zeitlich  be- 
grenztere  Untersuchungen    einiger  Schüler   noch   eigänzeuder  Stoff  gewinnen   läßt  ^). 

Wenden  wir  uns  den  Einzelforschungen  zunächst  der  Ottonenzeit 
zu,  so  wird  der  Umfang  unserer  spärlichen  Quellen  da  wohl  kaum 
noch  eine  Erweiterung  erfahren;  an  ihre  schäriere  Erfassung  und  Aus- 
legung müssen  die  geringen  hier  noch  möglichen  Erkenntnisfortschritte 
anknüpfen.  Was  Wunder,  daß  man  ihnen  da  gern  mehr  abpressen 
möchte,  als  sie  hergeben  können. 

Wer  wie  ich  zu  "\^'idukinds  Sachsengeschichte  die  scharfsinnig  durchgeführte 
Hypothese  von  H.  Reincke-Bloch  über  die  frühe  Bearbeitung  von  958  zum  mindesten 
als  nicht  erwiesen  ansieht*),  wird  mit  den  darüber  weit  hinausführenden  unsicheren 
und  teilweise  ganz  unwahrscheinlichen  Vermutungen  von  Gerta  Krabbel,  Hat  Widu- 
kind  seinen  Res  (jesfae  Saxonieae  die  Form,  in  welcher  wir  sie  Iieute  besitxen,  selbst 
gegeben?  (Abh.  üb.  Corveyer  Geschichtschreibung,  2.  Reihe'),  hrsg.  v.  F.  Philippi), 
Münster  i.  W.  1916,  trotz  der  ritterlichen  Verteidigung  Philippis  (H.  Z.  119,  1918), 
schwerlich  etwas  anfangen  können.  Es  heißt  zu  viel  von  der  inneren  Kritik  eines 
Werkes  verlangen,  daß  man  verschiedene  Schichten  seiner  Entstehung  und  tlber- 
arbeitung  voneinander  glaubt  sondern  zu  können,  und  die  ganze  These  von  der  Nicht- 
vollenduug  durch  Widukind  selbst  schwebt  doch  einigermaßen  in  der  Luft. 

Die  Werke  Liutprands  von  Cremona,  die  man  bisher  im  Autograph 
des  Verf,  als  das  man  die  Münchener  Hs.  ansah,  zu  besitzen  glaubte, 
sind  von  J.  Becker,  Liutprandi  episcopi  Cremonensis  opera,  ed.  III  in 


unter  dem  Titel:  Zur  Ikonographie  des  deutschen  MA.,  D.  G.  Bl.  18,  beachtenswerte 
Bemerkungen  gemacht.  /'''/•.  Kampers,  Der  Waise,  Hist.  .Lihrb.  39,  1919,  knüpft  an 
den  bckanntim  Edelstein  der  Kaiserkrone  weltweite  sagengeschichtliche  Betrachtungen, 
die  Benennung  und  Vorstellungskreis  auf  den  Orient  zurückführen,  was  er  üi)rigens 
auch  für  die  sonstigen  Symbole  des  Kaisertums  feststellt,  für  die  nur  ein  spärlicher 
germanischer  Einschlag  anzunehmen  ist, 

1)  A.  de  Boiiard,  La  su~.erainete  du  pape  stir  Rome  aitx  13  et  14  siecles,  Rev. 
hist.  llfi,  1914,  sucht  durch  lose  gefügte  Bemerkungen  deutlich  zu  machen,  daß  sich 
trotz  der  republikanischen  Selbständigkeit  der  Stadt  aus  der  kirchlichen  Stellung  des 
Papstes  doch  immer  wieder  eine  Art  Suzeränität  über  Rom  ergab. 

2)  Vgl.  K.  Ilampe,  Artikel  Widukind  in  Hooijs'  Reallexikon  d.  germ.  Alt.  IV, 
1918/19. 

3)  Die  sonstigen  Forschungen  des  Bandes  von  11.  Schwcrtmann  über  „die  Glaub- 
würdigkeit von  Üstertafeln"  und  von  F.  Philippi  über  den  ,,liber  vitae"',  das  Ver- 
brüderungsbuch des  Klosters  Corvey  1147— 7G  haben,  ohne  des  allgemeineren  Inter- 
esses zu  entbehren,  mehr  lokalhistonscheu  Charakter.  Vgl.  P.  Lehmann,  Corveyer 
Studien ,  Abh.  d  Münch.  Ak.  .'Jü,  1919  {namentl.  über  die  Geschichte  der  Kloster- 
bibliothek). 

58 


SS.  rer.  Germ.,  Hann.  Leipz.  1915,  zuerst  auf  die  richtige  Hss.grund- 
lage  gestellt  worden,  wie  sie  der  Herausgeber  in  vorbereitenden  Ab- 
handlungen bestimmt  hatte,  und  damit  wesentlich  verbessert. 

Für  die  italisch-burgundische  Geschichte  in  der  ersten 
Hälfte  des  10.  Jahrh.  hat  man  daneben  eine  neue  Stütze  gefunden  in 
den  Urkundenausgaben  der  Fonti  per  1.  stör.  d'Italia  von  L.  Schiaparelli, 
der  dazu  in  der  Schrift  /  JDlplonii  di  Ugo  e  di  Lotario  im  Bull.  delF 
Ist.  stör.  it.  34,  1914,  historisch -diplomatische  Untersuchungen  gefügt 
hat.  So  ergeben  sich  Handhaben,  um  diesen  dunklen  Geschichts- 
abschnitt wenigstens  an  einigen  Punkten  aufzuhellen. 

Schon  Ä.  Hofmeister,  Deutschland  und  Biirgund  im  früheren  MÄ., 
Leipz.  1914,  hat  da  über  die  jüngeren  französischen  Forschungen, 
namentlich  Poupardins,  hinaus  eigne  Ergebnisse  gewonnen. 

Besonderen  Eindruck  hat  der  versuchte  Nachweis  gemacht,  daß  die  durch  Ab- 
tretung uiederburguudischer  Ansprüche  König  Hugos  von  Italien  an  Rudolf  II.  von 
Hochbargund  um  933  erfolgte  Vereinigung  der  beiden  burgundischen  Reiche,  von  der 
man  in  allen  Uaudbüchern  liest,  auf  einem  Irrtum  Liutprands  beruhe,  wie  übrigens 
schon  R.  Köpke  1842  vermutete  und  neuerdings  auch  Schiaparelli  annimmt.  Vielmehr 
habe  Hochburgund  diese  Ausdehnung  über  die  südliche  Hälfte  des  arelatensischen 
Königreiches  erst  in  den  vierziger  Jahren  unter  Rudolfs  IL  Sohn  Konrad  erlangt,  und  zwar 
mit  dem  starken  Rückhalt  an  Otto  dem  Großen .  dessen  Einfluß  nun  klarer  und  be- 
deutender hervortritt.  Jene  Annahme  eines  vollkommenen  Irrtums  bei  Liutprand  ist 
indes  in  Deutschland  und  im  Auslande  neben  Zustimmung  auch  Zweifeln  begegnet, 
so  bei  B.  L.  Poole,  Burgundian  notes,  Engl.  bist.  Rev.  30,  1915,  der  sonst  namentlich 
die  schwäbischen  Abtretungen  König  Heinrichs  I.  an  Rudolf  II  um  926  behandelt 
und  hinsichtlich  ihres  Umfangs  (Aargau '?  Basel?)  zu  keinem  sicheren  Ergebnis  kommt. 
Vor  allem  aber  scheint  C.  W.  Previte  Orton,  Itahj  and  Provence  9t)0  —  050,  Engl, 
bist.  Rev.  32,  1917  '■),  der  auch  sonst  beachtenswerte  Richtigstellungen  genealogischer 
und  chronologischer  Art  vorschlägt,  eine  ansprechende  Deutung  gefunden  zu  haben. 
Er  nimmt  Abtretung  der  außerhalb  der  eigentlichen  Provence  gelegenen  Territorien 
von  Vienne  und  Lyon  um  931  an  Rudolf  IL  an ,  die  diesem  allerdings  933  durch 
westfränkische  Einmischung  verloren  gehen,  aber  seinem  Nachfolger  Konrad  um  937 
und  942/3  wieder  zufallen.  Die  eigentliche  Provence  gewinnt  Konrad  erst  nach  dem 
Tode  Hugos  (10.  Apr.  948),  der,  aus  Italien  947  geflüchtet,  seine  letzte  Lebenszeit 
dort  noch  wieder  zugebracht  hat. 

Für  Mittelitalien  um  die  AVende  des  9.  u.  10.  Jahrh.  ergibt  einige  Nachrichten 
die  Translatio  Juvenalis  et  Cassii  episcoporimi  Narniensium  Lucani,  die  A.  Hof- 
meister,  N.  A.  41,  1919,  untersucht  hat,  zugleich  auch  einen  bisher  unbeachteten  frühen 
Beleg  für  den  bei  der  Weinsberger  Frage  vielerörterten  Brauch,  daß  die  Einwohner 
einer  belagerten  Feste  soviel  Habe  mit  sich  nehmen  dürfen,  wie  sie  tragen  können  *). 

Die  für  die  niederrheinischen  Verhältnisse  zur  Zeit  Kaiser  Heinrichs  IL  ^)  wert- 
volle Chronik  Alperts  von  Metz  ist  naqh  der  bereits  früher  im  Faksimile  veröffent- 
lichten hannoverschen  Hs.  in  neuer  .'Ausgabe  herausgebracht  von  Ä.  Huhhof,  Alperti 
Mcttensis  De  diversitate  temporiim,  mit  Einleitung  von  C.  Pijnacker  Hordijk  (Utrechter 
bist.  Gesellsch.  3.  Serie  n.  87),  Amsterd.  1916. 


1)  Vgl.  auch:  f/crs.,   Charles  Constantine  of  Vienna,  Engl.  bist.  Rev.  29,  1914. 

2)  F.  Savi'o,  Gioranni  Diacono  hiografo  dei  rescori  napoletani,  Atti  d.  R.  Accad. 
d.  scienze  di  Torino  50,  1914/15,  bestimmt  als  Abfassungszeit  des  größten  Teils  das 
erste  Jahrzehnt  des  10.  Jahrh. 

3)  Vgl.  H.  Schöppler,  Die  Krankheiteii  Kaiser  Heinrichs  II.  und  seine  ,,  Josephs- 
ehe", Arch.  f.  Gesch.  der  Med.  11. 

59 


Zur  Geschichte  der  ottonischen  Herrscher  sind  nur  ganz 
wenige  Arbeiten  zu  nennen  ^). 

Das  Verhältnis  zu  Dänemark  behandelte  Annemarie  v.  Liliencron, 
Die  Beziehungen  des  Deutschen  Reiches  zu  Dänemark  im  10.  Jahrh., 
Kiel  1914  (auch  Z.  d.  Ges.  f.  schlesw.-holst.  Gesch.  44). 

Das  wichtigste  Ergebnis  ist,  daß  die  Urkunde  Ottos  I.  v.  26.  Juni  965,  durch 
welche  die  drei  jütischen  Bistümer  von  Abgaben  an  den  kaiserlichen  Fiskus  befreit 
werden,  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  für  echt  zu  halten  ist,  was  einen  weitreichen- 
den Einfluß  des  Kaisers  in  Jütland  dartut.  Während  aber  A.  Hofmeister,  H.  Z.  118, 
S.  157  ff.,  daraus  ein  großangelegtes  Vorschieben  der  deutschen  Macht  unter  den  ersten 
Ottonen  und  entgegen  der  fast  allgemein  angenommenen  Meinung  Steenstrups  auch 
das  Bestehen  einer  schleswigschen  Mark  folgert,  bevorzugt  W.  Biereye,  Untersuchungen 
xur  Geschichte  Nordalbingiens  im  10.  Jahrh.,  Z.  d.  Ges.  f.  schlesw.-holst.  Gesch.  46, 
1916,  eine  beachtenswerte  andre  Erklärung:  Otto  habe  nur,  um  dem  Mißtrauen  der 
Dänen  zu  begegnen,  daß  Christianisierung  und  deutsche  Herrschaft  gleichbedeutend 
seien,  auf  Rechte  verzichtet,  die  ihm  als  Schutzherrn  der  Bremer  Kirche  über  deren 
Suffragane  zustanden.  Wie  er  betreffs  der  schleswigschen  Mark  einen  Irrtum  des 
späteren  Adam  von  Bremen  annimmt,  so  verwirft  er  auch  die  von  v.  Liliencron 
verteidigte  Nachricht  des  letzteren,  Heinrich  I.  habe  nicht  nur  den  angrenzenden  dä- 
nischen Teilherrscher  Chnuba,  sondern  auch  den  seeländischen  König  Gorm,  der  in 
Jütland  eingedrungen,  in  Tributabhängigkeit  gebracht. 

Für  die  Ostpolitik  kommt  vor  allem  der  schon  oben  S.  37  an- 
geführte 2.  Bd.  von  Ä.  Naegles  Kirchengeschichte  Böhmens  in  Betracht, 
der  natürlich  die  Beziehungen  Böhmens  zum  Reiche  eingehend  be- 
handelt. Teilweise  in  Übereinstimmung  damit  steht  eine  diplomatische 
Untersuchung  von  R.  HoUzmann,  Die  Urkunde  Heinrichs  IV.  für  Prag 
vom  J.  1080,  Arch.  f.  Urk.forsch.  6,  1918,  der  indes  nachweist,  daf5 
das  973  von  Otto  I.  gegründete,  975/76  zur  Ausführung  gebrachte  Bis- 
tum Prag  seit  dem  Adalbertprivileg  von  985  auch  der  mährischen 
Kirche  übergeordnet  gewesen  ist,  bis  diese  sich  1063,  endgültig  1090 
aus  dieser  Abhängigkeit  löste.  Ders.,  Böhmen  und  Polen  im  10.  Jahrh. 
Eine  Untersuchung  zur  ältesten  Geschichte  von  ScMesien,  Z.  f.  Gesch. 
Schles.  25,  1918,  hat  aus  seinen  Forschungen  die  Folgerungen  für 
Schlesien  gezogen,  dessen  politische  und  kirchUche  Zugehörigkeit  zu 
Böhmen  er  für  das  Gebiet  links  der  Oder  in  der  2.  Hälfte  des  10.  Jahrh. 
erweist. 

Auf  den  Westen  gerichtet  war  die  Tätigkeit  von  Ottos  Bruder 
Brun,  der  als  Politiker  und  Mensch  eine  sehr  feinsinnige  Würdigung 
erhalten  hat  durch  H.  Schrörs,  Erzh.  Bruno  von  Köln  953  —  65,  eine 
geschichtliche  Charakteristik,  Ann.  d.  bist.  Ver.  f  d.  Niederrh.  100,  1917. 
Seinem  klugen  und  kräftigen  Eingreifen  gegen  den  einheimischen  Adel 
verdankte  man  in  erster  Linie  die  sichere  Angliederung  Lothringens 
an  das  Reich  ^).  Darüber  hinaus  griff  er  wiederholt  wie  eine  höhere 
Autorität  in  den  Hader  der  westfränkischen  Neffen  ein. 

1)  Vgl.  //.  Roggc,  Verbrechen  des  Mordes,  begangen  an  weltlichen  deutschen 
Fürsten  i.  d.  Zeit  r.  UlJ—lOöe.  Diss.  Berl.  1918,  wo  versucht  wird,  aus  der  spärlichen 
Zahl  der  Belege  eine  höhere  Rechtssicherheit  in  Deutschland  gegenüber  andern  Län- 
dern zu  folgern. 

2)  Hier  sei  gleich  hingewiesen  auf  das  schon  vor  Kriegsausbruch  abgeschlossene 
Buch  von  li.  Parisut,  Histotre  de  Lorraine  I  Des  origines  ä  1552,  Par.  1919,  sowio 

60 


Die  ältere  französische  Geschichte  gewinnt  allmählich  eine 
gesicherte  Grundlage  in  den  Bänden  der  Charles  et  Diplomes  relatifs 
ä  Vhistoire  de  France. 

Vou  der  jetzt  unter  der  Leitung  von  M.  Prou  stehenden  karolingischen  Ab- 
teilung kommt  hier  in  Betracht:  Reeueil  des  actes  de  Louis  IV.  (936  —  954)  von 
Ph.  Lauer,  Paris  1914.  Von  der  kapetingischen,  die  E.  Berger  leitet,  erschienen,  um 
das  hier  gleich  anzuschließen,  während  des  Krieges  die  Bände:  Reeueil  des  actes  de 
Philippe- Auguste  I  (1179 — 1194)  von  H  Fr.  Delaborde,  Paris  1916  und  Reeueil  des 
actes  de  Henri  IL ,  concernant  les  provinces  frangaises  et  les  affaires  de  France ,  zu 
der  1909  erschienenen  Introduction  L.  Delisles  auf  Grund  von  dessen  "Vorarbeiten 
jetzt  Bd.  1.  von  F.  Berger,  Paris  1916')- 

Zur  inneren  Frühgeschichte  Frankreichs  hat  dort  einige  Bewegung 
hervorgerufen  das  Werk  von  J.  Flach,  Les  origines  de  Vancienne  France, 
dessen  4.  Bd.:  X  et  XI  siecles.  Les  nationalites  regionales;  leurs 
rapports  avec  la  couronne  de  France,  Paris  1917  erschien  2). 

Diese  neue,  mit  großem  Aufwand  von  Gelehrsamkeit  und  kritischem  Scharfsinn 
versuchte  Grundlegung  der  französischen  Verfassungsgeschichte  will  dem  Königtum 
bis  über  die  Mitte  des  12.  Jahrh.  hinaus  keine  lehnsherrlichen  Rechte  über  die  großen 
Seigneurs  zugestehen.  Der  Mangel  an  Quellenbelegen  über  Lehnshuldigungen  erklärt 
sich  nicht  aus  tatsächlicher  Vernachlässigung  bestehender  Rechte ,  sondern  aus  deren 
Nichtvorhandensein.  Diese  Auffassung  erfährt  bei  aller  Anerkennung  der  Leistung 
scharfen  Widerspruch  ^). 

Neuerliche  (übrigens  nach  älteren  Vorgängern  unternommene)  Ver- 
suche von  französischer  (J.  Flach  in  Rev.  des  et.  hist.  Juli/ Aug.  1916) 
und  belgischer  ^eite  (31.  Wilmotte,  Rev.  hist.  127,  1918),  das  lateinische 
Waltharilied  nicht  nur  dem  Mönche  Ekkehard  von  S.  Gallen,  sondern 
überhaupt  dem  deutschredenden  Gebiet  abzusprechen  und  etwa  dem 
romanischen  Lothringen  zuzuweisen,  verdienen  deutscherseits  gründlich 
unter  die  Lupe  genommen  zu  werden,  wie  das  von  K.  Strecker,  Z.  f  d. 
Alt.  57,  1919  und  für  einen  ähnlichen  Versuch  Wilmottes  hinsichtlich 
des  Ruodlieb  in  N.  Jahrb.  f.  d.  klass.  Altert,  usw.  1921  mit  nieder- 
schmetterndem Erfolge  bereits  geschehen  ist. 

Die  mehr  den  Theologen,  als  den  Historiker  interessierende  Schrift 
von  B.  SchwarJc,  Bischof  Bather  von  Verona  als  Theologe,  Diss.  Bonn 
1915,  die  die  Abhängigkeit  R.s  von  der  Tradition  der  Kirchenväter 
stark  betont  und  ihm  wohl  individuelle  Verarbeitung,  aber  keine  auf- 
bauende Kraft  zuerkennt,  weist  uns  nach  Italien  hinüber.    Da  scheint 


auf  die  Stoffzusammenstellung  von  Äug.  Meyer,  Der  politische  Einfluß  Deutschlands 
u.  Frankreichs  auf  die  Metzer  Bischofswahlen  im  MÄ.,  Metz  1916. 

1)  Früher  sind  erschienen:  Lothar  u.  Ludwig  V.  (954—87)  von  L.  Ralphen  u. 
F.  Lot;  Philipp  I.  (1059  —  1108)  v.M.  Prou.  Vor  dem  Abschluß  stehen:  Heinrich  U. 
(wie  oben),  Bd.  2  und  die  Könige  der  Provence  v.  R.  Poupardin.  Weit  gefördert 
sind  die  Könige  Äquitaniens  v.  L.  Levillain  imd  die  ersten  Kapetinger  v.  Martin- 
Chabot;  in  Vorbereitung:  Ludwig  VII.  v.  L.  Ralphen  und  Ludwig  IX.  v.  G.  Daurnet 
u.  H.  Stein. 

2)  Die  Introduction  dazu  abgedruckt  Rev.  hist.  126,  1917.  Drei  weitere  Bde. 
sollen  folgen. 

3)  Vgl.  z.  B.  L.  Ralphen,  Rev,  hist.  129,  1918.  Im  Zusammenhang  mit  dem 
Hauptwerk  steht  J.  Flach,  Le  comte  de  Flandre  et  ses  rapports  avec  la  couronne  de 
France  du  IX.  au  XII.  siede,  Rev.  hist.  115,  1914. 

61 


für  diese  Epoche  L.  RI.  Hartmanns  Darstellung  (oben  S.  53)  einen  vor- 
läufigen Abschluß  gebracht  zu  haben.  Gewiß  gewinnt  die  gesamte 
Kirchenpolitik  Ottos  I.  und  seiner  Nachfolger  durch  Forschungen,  wie 
sie  unten  zum  Investiturstreit  zu  besprechen  sind,  vertiefte  Autfassungen. 
Zunächst  sind  hier  aber  lördernde  Einzeluntersuchungen  kaum  zu  ver- 
zeichnen. 

Weau  R.  L.  Poole,  The  names  and  numbcrs  of  inediaeval  popcs,  Engl.  bist. 
Kev.  32,  1917,  für  Papst  Johann  XU.  die  Beueunung  Oktavian  nur  als  Beinamen  zu 
dem  ursprünglichen  Taufnamen  Johann  annimmt  und  dann  bei  Johann  XIV.  (983), 
der  seinen  Namen  Petrus  aus  Ehrfurcht  vor  dem  Apostel  vermied,  den  frühesten 
Eall  einer  päpstlichen  Namensänd(;rung  erblickt,  so  ist  beides  zu  bezweifeln;  sonst 
aber  bieten  für  die  folgenden  Zeiten  P.s  Bemerkungen  wertvolle  Anregungen.  Die 
Arbeit  eines  meiner  Schüler  wird,  wie  ich  denke,  über  seine  Bemerkungen  und  die 
früheren  von  Knöpfler  hinausführen  *). 

Für  das  byzantinische  Italir-n  sei  hier  hingewiesen  auf  das  zeitlich  umfassende 
Buch  von  Baromie  Diane  de  Guldencrone,  nee  de  Gohineau,  L'Italie  byxantine.  Etüde 
siir  le  haut  inoyen  äge  (400 — 1050),  Paris  1914.  Gerade  für  die  letzten  beiden  Jahr- 
hunderte dürfte  es  sicii  an  das  bekannte  Buch  von  J.  Gay,  das  1917  in  italienischer 
Übersetzung  erschien,  anschließen  und  wenig  Originalwert  haben.  Daß  Byzanz  auch 
für  die  Geschichte  der  Ottonen  nicht  vernachlässigt  werden  darf,  zeigt  der  oben  S.  27 
genannte  Vortrag  von  J.  Burckhardt.  Zum  Verständnis  Ottos  III.  trägt  es  doch  viel- 
leicht bei.  wenn  wir  uns  ennnern,  daß  er  der  Urenkel  jenes  Konstantin  VII.  Porphyro- 
genitus  war,  der  ein  ganzes  Buch  über  das  Zeremoniell  seines  Ilofos  schrieb  und  auf 
diese  Dinge  ein  übertriebenes  Gewicht  legte  '^). 

Die  Zeit  der  Salier  eröffnet  die  neue  Ausgabe  der  Wijwnis  Opera 
(SS.  rer.  Germ.)  ed.  lil.  hrsg.  v.  H.  BreßUm,  Hann.-Leipz.  1915,  jetzt 
mit  deutscher  Einleitung  und  Anmerkungen;  schon  durch  ihren  ver- 
doppelten Umfang  zeigt  sie  die  starke  Bereicherung  gegenüber  der 
zweiten  Auflage^).  Im  Anhang  sind,  wie  bisher,  zwei  vielleicht  Wipo 
zuzuweisende  Gedichte  aus  der  Cambrido;er  Liederhandschrift  abgedruckt, 
die  etwa  gleichzeitig  von  K.  Brcul,  The  Cambridge  songs.  A  yoliards 
song  hook  oj'  the  11.  Century,  Cambr.  1915,  mit  vollständigem  Faksimile 
(und  dadurch  wichtig)  neu  herausgegeben  ist. 

Konrads  II."*)  Mailänder  Gegner  ist  behandelt  von  E.  Wunderlich,  Aribert  von 
Antemiano^  Erxbischof  von  Mailand,  Diss.  Halle  1914.  Er  beurteilt  die  Aussichten 
der  Politik  des  Kaisers   ungünstiger,   als   man  gewohnt  ist,   vermag  aber  das  scharf- 


1)  Zur  frühen  Verwaltiuigsgeschichte  des  Kirchenstaats  vgl.  0.  Falco^  L'ammi- 
7iistrazione  papale  nella  Campagna  e  nella  Marittinia  (750  — 1000),  Arch.  stör. 
Kom.  3H,  1915;  ders.  ebda.  42,  1919:  /  connmi  della  Camp,  e  d.  Mar.  nel  mcdio 
evo  (,bis  E.   12.  Jh.). 

2)  Zu  Heinrich  II.  vgl.  L.  Zoepf,  Deutsche  Gottsucher,  1  Heft:  Kaiser  Hein- 
rich IL  der  Heilige,  Tüb.  1915.  Vgl.  auch  P.  Verdun  di  Cantogno,  Re  Arduino, 
Ivrea  1915. 

3)  A.  H()f))ieister.  Wipos  Verse  über  die  Absta^nnnnuj  der  Kaiserin  Gisela  von 
Karl  d.  Gr.,  llist.  Viert.  19,  1919  wird  mit  seinem  neuen  Erklärungsvorschlag  zum 
14.  Grade  seit  Karl,  nämlich  statt  der  Generationen  die  Ilerrscherpaare  zu  zählen, 
schwerlich  irgendwelche  Gegenliebe  finden;  da  wäre  doch  etwa  die  Vermutun«:,  Wipo 
habe  in  einer  ihm  vorliegenden  (fremden  oder  eignen)  Notiz  Villi  (mit  Einrechuung 
Karls)  in  XI III  verlesen,  einfacher. 

4)  P.  S.  Leicht,  Una  carta  verolana  dcl  1000,  Arch.  stör.  it.  75  II,  1918  ver- 
teidigt Breßlaus  Bestimmung  der  Konstitution  Konrads  II.  von  1037,  Const.  I,  82, 
gegen  abweichende  Zuweisungsversuche. 

62 


umrissene   Bild  Ariberts   natürlich   im   großen   nicht  zu  ändern,   nur  in  Einzelheiten 
eigne  Wege  zu  gehen. 

Aus  der  weiteren  Salierzeit  bis  zum  Ausbruch  des  Investiturstreites 
ist  die  vorzügliche  Editionsleistung  von  B.  Schmeidler,  Magistri  Adam 
Bremensis  Gesta  Hammaburgensis  ecclesiae  pontificum  ed.  III.  (ÖS.  rer. 
Germ.),  Hann.,  Leipz.  1917  zu  nennen,  eine  Frucht  langjähriger  Arbeit, 
die  auf  Grund  der  scharfsinnig  ermittelten  Textgeschichte  die  Ausgabe 
auf  eine  neue  Grundlage  stellt  und  durch  umfassende  Erläuterungen 
bereichert  ^).  In  Übereinstimmung  mit  der  sprachlichen  Untersuchung 
von  E.  Schröder,  Zur  Heimat  des  Adam  von  Bremen,  Hans.  Gesch.bl. 
1917  bestimmt  er  Adams  Heimat  zwischen  den  Oberläuten  von  Werra 
und  Main  und  läßt  ihn  mit  Wahrscheinlichkeit  aus  der  Bamberger 
Schule  nach  Bremen  kommen.  Aus  diesen  Adamstudien  ist  auch  das 
weitere  Buch  Schmeidler  s  erwachsen:  Hamburg  -  Bremen  und  Nordost- 
Europa  vom  9. — 11.  Jahrh.,  krit.  Untersuchungen  zur  hamhurg.  Kirchen- 
geschichte des  Adam  v.  Bremen,  zu  Hamburger  Urkunden  u.  zur  nor- 
dischen u.  ivendischen  Geschichte,  Leipz.   1918. 

Der  Untertitel  allein  gibt  die  richtige  Vorstellung  von  dem  Inhalt,  der  von  jeg- 
licher Darstellung  absieht.  Die  textkritischen  Untersuchungen  zu  Adams  Werk  zeigen 
namentlich,  wie  das  Gleichmaß  der  Charakteristik  des  Erzbischofs  Adalbert  durch 
spätere  Zutaten,  eigne  und  fremde,  gestört  ist'^j.  Die  Urkundenforschungen  suchen 
die  Erkenntnis  der  Hamburger  Fälschungen,  von  denen  schon  oben  S.  öl  die  Rede 
war,  über  F.  Curschmann  hinaus  zu  fördern,  indem  er  zwei  Papsturkunden  des 
9.  Jahrh.  für  Fälschungen  Erzb.  Adalberts  erklärt,  zwei  des  10.  Jahrh.  der  auf  ihn 
folgenden  Generation  und  die  Oründungsurkunde  Ludwigs  d.  Fr.  der  2.  H.'  des 
9.  Jahrh.  zuweist.  Der  letzte  Abschnitt  bringt  Feststellungen  über  Todesjahr  (1074) 
und  Ehe  des  Dänenkönigs  Svend  Estridsen,  über  Beziehungen  Adams  zu  den  Schweden- 
königen, über  die  Obotritenfürsten  des  10.  u.  11.  Jahrh.  und  die  Lage  von  Rethra 
(am  ToUensesee  in  Meckl.-Strelitz).  Die  mehrfach  abweichenden  Aufstellungen  von 
W.  Biereye,  Untersuclnmqen  xur  Geschichte  der  nordelbischen  Lande  in  d.  1.  H.  des 
11.  Jahrh..  Z.  d.  Ges.  f.  schlesw.-holst.  Gesch.  47,  1917,  hat  Schmeidler  N.  A.  41,  1919, 
S.  777  scharf  zurückgewiesen. 

Im  übrigen  war  für  die  ganze  Salierzeit  das  Interesse  der  Forscher 
nahezu  ausschließlich  auf  die  großen  kirchenpolitischen  Gegen- 
sätze gerichtet.  Da  ist  der  Ertrag  sehr  reich.  Im  Auslande  hat  man 
sich  der  Päpste  des  11.  Jahrh.  •^),  insbesondere  auch  derer  von  Sutri 
lebhaft  angenommen. 


1)  Vgl.  D.  Bruun,  The  Icekmdie  colonixation  of  Oreenland  and  tlie  findiny  of 
Vineland.  Kopenh.  19)8. 

2)  Vgl.  ders.,  Über  eine  eigenhändige  Urkunde  Adams  v.  Bremen,  Arch.  f. 
Urk.forsch."  6,  1918. 

3j  R.  L.  Poole,  Papal  chronology  in  the  eleventh  Century,  Engl.  bist.  Rev.  32, 
1917,  sucht  die  genauen  Pontifikatszeiten  der  Päpste  bis  1()73  festzustellen.  In  der 
Rivista  stör.  it.  36,  1919,  S  128  wird  ohne  Ort  und  Jahr  hingewiesen  auf  eine  neuere 
Arbeit  von  Bossi  über  die  Crescenxi  di  Sabina  stefaniani  e  ottaviani  1012  —  llOG. 
Vgl.  auch  /.  Oiorgi,  Biografie  Farfensi  di  papi  del  X  e  del  XI  secolo,  Rom  1916, 
■wo  der  farfensische  Ursprung  des  Pastkatalogs  im  Cod.  Casauatensis  2010  gegen  An- 
zweiflung Duchesnes  verteidigt  wird.  Derselbe  Oiorgi  hat  gemeinsam  mit  dem  in- 
zwischen (1916!  verstorbenen  Ugo  Bahani  endlich  den  fehlenden  1.  Bd.  des  Regesto 
di  Farfa  mit  Vorrede,  Indices  und  ergänzenden  Urkunden,  Rom  1914  herausgebracht, 
durch  üen  das  bekannte  fünfbändige  Werk  nun  abgeschlossen  ist. 

63 


Daß  hier  z.  ß.  die  Darstellung  Haucks  vielfach  in  die  IiTe  ging,  war  ja  auch 
in  Deutschland  nicht  unbemerkt  geblieben.  Die  Verteidigung  des  jungen,  unwürdigen 
Benedikt  I\.  durch  A.  Mai/iis  S.J.,  II  pontefice  Bcnedetto  IX.,  Rom  1916  (aus  Civiltii 
cattolica)  verdient  kaum  Beachtung.  Ernster  zu  nehmen  ist  die  in  Italien  wegen 
ihrer  methodischen  Kritik  geschätzte  Studie  von  G.  B.  Bcjrino,  L'elexione  e  la  deposi- 
zione  di  Grcgorio  VI ,  Arch.  stör.  Rom.  39,  1916').  Danach  sei  dem  jungen  Be- 
nedikt IX.  nur  die  von  ihm  für  das  Papsttum  ausgelegte  Summe  zurückgezahlt;  von 
einem  Kauf  der  Würde  durch  Gregor  VI.  könne  nicht  geredet  werden.  Heinrich  III. 
habe  ihn  auch  nicht  deshalb  abgesetzt,  sondern  weil  er  aus  politischen  Gründen  den 
Reformer  nicht  wollte,  der  auch  gegen  die  Krönung  Heinriclis  und  seiner  Gemahlin 
wegen  der  durch  zu  nahen  Verwandtschaftsgrad  anstößigen  Ehe  Schwierigkeiten  ge- 
macht haben  würde.  Man  wiid  diese  nicht  eben  überzeugend  erscheinenden  Ergeb- 
nisse jedenfalls  scharf  zu  prüfen  haben.  In  ähnliche  Richtung  geht  die  vorsichtiger 
gehaltene  Studie  von  B.  L.  Pools,  Benedict  IX  and  Gregory  VI,  Proceedings  of  tbe 
Briti.sh  Academy  VIII,  1918,  nach  der  Gregor  jedenfalls  keine  Simonie  zu  begehen 
glaubte,  durch  die  Art  seiner  Reformbestrebungen ,  die  auf  den  jungen  Hildebrand 
wirkte,  aber  den  kaiserlichen  Interessen  so  hinderlicli  war,  dal!  er  weichen  mußte. 

Es  folgten  die  von  Heinrich  eingesetzten  deutschen  Pcäpste  -).  Unter 
Leo  IX.  bereitete  sich  nicht  nur  die  Emanzipation  des  Papsttums  im 
Abendlande  vor,  sondern  vollzog  sich  auch  1054  der  endgültige  Bruch 
mit  der  griechischen  Kirche. 

L.  Brillier,  Normal  relations  hetween  Rome  and  tlie  Church  of  the  East  before 
the  Schism  of  the  11.  Century,  The  Constructive  Quarterly,  New  York  Jan.  1917  legt 
die  formalen  Gemeinsamkeiten,  den  modus  vivendi  zwischen  We.st  und  Ost  dar,  der 
trotz  der  Abweichungen  noch  bestand,  bis  das  Schisma  mehr  aus  politischen,  als  reli- 
giösen Ursachen  eintrat. 

Das  allmähliche  Wachsen  und  den  Verlaut'  der  gregorianischen 
Reformbewegung  abweichend  von  der  systematischen  Behandlung  Mirbts 
in  ihrem  historischen  Zusammenhange  zu  schildern  und  die  Stellung  zu 
bestimmen,  die  Gregor  VIT.  selbst  in  ihr  einnimmt,  ist  die  Aufgabe, 
die  sich  A.  Fliehe  in  zahlreichen  Schriften  gestellt  hat.  Es  sind:  Le 
cardinal  Humhert  de  Moyenmoutier ,  Rev.  bist.  119,  1915;  Guy  de 
Ferrare,  etude  sur  la  polemique  religieiise  en  Italie  ä  la  fin  du  XL  siede, 
Ann.  d.  I.  fac.  des  lettr.  d.  Bordeaux  et  des  univ.  du  Midi,  Bull,  italien  15, 
1915;  Etudes  sur  la  polemique  religieuse  ä  Vepoque  de  Greqoire  VII. 
Les  Pregregoriens,  Poitiers,  Par.  1916;  Vclection  d'Urhain  IL,  Moyen 
äge  25,  1916;  Les  theories  germaniques  de  la  souverainete  ä  la  fm.du 
XL.  siecle,  Rev.  bist.  125,  1917;  Llddebrand,  Moyen  äge  30,  1919. 

Den  Inhalt  dieser  Schriften  im  einzelnen  zu  skizzieren,  würde  hier  zu  weit 
führen.  Ein  Hauptgesichtspunkt  ist  der,  daß  Hildebrands  geistig  tonangebende  Rolle 
in  der  Zeit  vor  seinem  Pontifikat  überschätzt  sei.  Er  sei  da  weniger  leitender  Kopf, 
als  ausführender  Arm  der  Reformer.  Die  vorwärtstreibenden  Gedanken  stammten  vom 
Kardinal  Humbert,  dem  Juristen  und  Politiker.  Ihm  gegenüber  habe  sich  Hildebrand 
viel  länger,  als  man  gewöhnlich  annehme,  in  den  Bahnen  der  ethischen  Mönchsideale 
des  gemäßigteren  Petrus  Damiani  gehalten.  Noch  für  den  Pontifikat  Nikolaus  H., 
dessen  Politik  Humbert  bestimmt  habe,  bestreitet  Fl.  den  Einfluß  Hildebrands  auf 
Papstwahldekret  =')  und  Normannenbünduis;  erst  die  Erhebung  Alexanders  U.  (1061), 


1)  Vgl.  (lers.  ebda.  .38,  1015:  Per  la  storia  della  riforma  della  cliiesa  nel  secolo  XL 

2)^^].  K.  Gnc/genhcrger,  Die  deutsehen  Päpste,  Köln  1916  (ob  wissenschaftlich?). 

3)  G.  Schober,    Uns   Wahldekret  v.  J.  1050,  Diss.  Breslau  1914,  sucht  betreffs 

des  kaiserlichen  Mitwirkungsrechtes  bei  der  Papstwahl  einen  mittleren  Weg  zwischen 

den  Ansichten   Scheffer -Boichorsts  (sehr   zweideutige   Anerkennung)  und  v.  Pfiugk- 


die  sein  Werk  war,  habe  ihn  obenauf  gebracht.  Aber  bis  in  die  Anfänge  seines 
eignen  Papsttums  hinein  habe  er  die  Kirchenreform  in  Gemeinschaft  mit  dem  Kaiser- 
tum durchführen  wollen;  erst  der  Widerstand  Heinrichs  IV .  habe  ihn  den  radikalen 
Theorien  in  die  Arme  getrieben.  —  F.  arbeitet  im  allgemeinen  gründlich  und  mit 
nüchterner  Kritik,  stets  führt  er  allgemeine  Urteile  auf  den  Quellenbefund  zurück; 
man  darf  an  seinen  Forschungen  nirgends  vorbeigehen.  Immerhin  bleibt  bei  der  Ab- 
schätzung solcher  Einflüsse  einzelner  Persönlichkeiten  ein  subjektives  Moment  be- 
stehen, das  durch  die  Quellenangaben  nicht  völlig  ausgeschaltet  werden  kann.  Vor 
allzu  weitgehenden  Umwertungen  wird  man  sich  daher  doch  hüten. 

In  gewisser  Beziehung  zu  diesen  Forschungen,  die  ja  die  Publizistik 
jener  Kampfzeiten  weitgehend  berücksichtigen,  stehen  die  kanonistischen 
Studien  von  P.  Fournier,  die  uns  die  Rüstkammer  erschließen,  aus  der 
die  kurialen  Streiter  ihre  kirchenrechtlichen  Waffen  entnahmen. 

Die  allgemeinere  Abhandlung  Thiologie  et  droit  canon  au  moyen  äge,  Journ. 
des  Savants  13,  1915  knüpft  an  das  zerstreute  Abhandlungen  vereinigende  Werk  von 
J.  de  Ghellinck  S.J.,  Le  mouvenient  theologique  du  XII.  siede,  Par.  1914,  worin 
namentlich  dem  erstaunlichen  Einfluß  eines  kompilatorischen  Lehrbuches,  wie  das 
des  Peti-us  Lomhardus,  nachgegangen,  wird,  und  betrachtet  die  Entwicklung  von 
Theologie  und  kanonischem  Recht  vom  Ausgang  der  Karolingerzeit  bis  zum  12.  Jahrh. 
Weiter  hat  Fournier  3  ältere,  wenig  bekannte  italienische  Kanonessammlungen  {Un 
groupe  de  recueiis  canoniques  italiens  des  X.  et  XL  siecles  aus  Mein,  de  TAcad.  des 
inscr.  et  belles-lettres  4u,  Par.  1915)  und  4  auf  Gregors  VII.  Autrieb  ausgearbeitete 
Sammlungen  (eine  unedierte  um  1050,  Atto,  Auselm*),  Deusdedit)  kritisch  untersucht 
(Les  collectio'ns  canoniques  rotnaines  ä  l'epoque  de  Oregoire  VII.  aus  Mem.  etc.  41, 
Par.  1918J-). 

Es  könnte  der  Eindruck  entstehen,  als  ob  vornehmlich  das  Aus- 
land bemüht  gewesen  wäre,  zur  Aufhellung  des  großen  kirchenpolitischen 
Kampfes  beizutragen.  \yährend  indes  die  genannten  Schriften  doch 
mehr  im  Quellenkritischen  stecken  bleiben,  ist  die  deutsche  Forschung 
ja  längst  in  den  Kern  des  Problems,  die  Auseinandersetzung  zwischen 
dem  revolutionären  römischen  Kircheurecht  und  der  konservativen  ger- 
manischen Eigenkircheurechtsidee  vorgedrungen.  Noch  in  den  letzten 
Jahren  vor  dem  Kriege  wurde  versucht,  von  der  Seite  des  Klosterwesens 
her,  in  Studien  über  Klosterimmunität  und  Vogtei,  namentlich  von 
H.  Hirsch  (1913),  den  üingen  ein  noch  tieferes  Verständnis  abzu- 
gewinnen. Daraus  sind  nun  mit  bedeutender,  teilweise  wohl  zu  weit- 
gehender Kühnheit  die  letzten  Folgerungen  gezogen  von  A.  Waas, 
Vogtei  und  Bede  in  der  deutschen  Kaiserzeit,  1 .  Teil  (Arbeiten  z.  deutsch. 
Rechts-  u.  Verfassungsgesch.,  H.  1),  Berl.  1919^). 

Nur  die  Vogtei  ist  hier  zunächst  behandelt.  Im  Anschluß  an  A.  Heusler  wird 
sie   für  das   frühere  deutsche  MA.  abweichend   von  der  vorhergehenden  fräDkischen 


Harttungs  (ausdrückliches  Zugeständnis  in  einem  verlorenen  echten  Papstwahldekret), 
nämlich  Anerkennung  in  einem  besonderen,  verlorenen  Privileg,  aber  niu-  allgemeiner, 
auch  anders  auslegbarer  Hinweis  darauf  im  Wahldekret.  Eine  rechte  Förderung  hat 
die  Schrift  nicht  gebracht. 

1)  Anselmi  ej).  Lucensis  Collectio  canomcm  ed.  F.  T haner ,  Teil  11  erschien 
Innsbr.  1915. 

2)  Vgl.  auch  F.Bliemetxrieder,  Zu  den  Schriften  Ivos  v.  Ghartres,  S.B.  d.  Wien. 
Ak.  182,  1917.  Zur  Publizistik:  Miß  M.  T.  Stead,  Mamgold  of  Lautenback,  Engl, 
hist.  rev.  29,  1914. 

3)  Vgl.  ders.,  Leo  IX.  und  das  Kloster  Muri,  Arch.  f.  Urk.  5,  1914. 

Wissenschaftliche  Forschungsberichte  VII.  5 

65 


Epoche ,  in  welcher  der  Beamtencharakter  der  Kirchenvögte  bisher  zu  ausschließlich 
uusre  Auffassung  bestimmt  hat,  gleichgesetzt  mit  der  germanischeu  Blunt  und  ent- 
sprechend als  Ilerrscliaft,  nicht  als  Beamtentum  erklärt,  wenn  man  auch  kirchlicher- 
seits  seit  dem  12.  Jahrh.  das  letztere  durch  umfassende  Urkundenfälschungen  zu  er- 
härten suchte.  Die  Vögte,  die  also  die  Munt  über  ihre  Kirche  haben,  sind  identisch 
mit  den  Eigenkirclienherren,  so  daß  wir  aus  ihrer  Gescbichte  einen  reichen  Stoff  für 
den  Kampf  um  die  Eigeukirche  gewinnen.  Die  Köuigsmunt  aber  ist  mindestens  seit 
dem  9.  Jahrh.  vermischt  und  gleichbedeutend  mit  der  aus  römischer  Wurzel  stammen- 
den Immunität,  mit  der  sich  also  auch  die  königliche  Obervogtei  über  die  Kirchen 
deckt.  Selbst  die  Banuleihe  des  Königs  an  die  Vögie  wird  nicht  mit  Seeliger  und 
andern  aus  öffentlich  rechtlicher  Befugnis  hergeleitet,  sondern  aus  seinem  herrschaft- 
lichen iluntrechte. 

Auf  wenigen  Zeilen  läßt  sich  nicht  mehr  als  diese  grundlegenden  Hauptthesen 
des  Buches  herausheben.  Sie  werden  mit  ihrer  sciiarfen  Abweichung  von  herrschen- 
den Meinungen  nicht  unangefochten  bleiben.  In  einer  lehrreichen  Besprechung  hat 
bereits  11.  Planitx,  Z.  f.  ß.,  g.  A.  41,  1920,  die  neue  Auffassung  der  Bannleihe  (vgl. 
auch  die  Forschungen  oben  S.  49)  abgelehnt  und  beanstandet,  daß  zwischen  der 
sachenrechtliclien  Eigenkirclienherrschaft  und  der  Vogtei  als  Äluntherrschaft  über  Per- 
sonen trotz  ihrer  oft  praktischen  Vermischung  juristisch  kein  Unterschied  gemacht 
sei.  Das  hindert  ihn  jedoch  nicht,  im  übrigen  den  fruchtbringenden  Hauptgedanken 
und  die  bedeutende  Gesamtleistung  anzuerkennen. 

Für  die  Beurteilung  der  Kaiserpolitik  und  ihrer  kirchlichen  Gegenwirkungen  er- 
gibt sich  daraus  mancherlei.  Gegenüber  den  Sondergewalten  der  Herzöge  begründete 
Otto  d.  Gr.  die  einigende  Macht  des  Königtums  neu,  indem  er  über  das  in  allen 
Stammcsgebieten  verbreitete  Kircliengut  seine  Muntherrsehaft  als  Obervogtei  ausdehnte. 
Damit  strebten  er  und  seine  Nachfolger  .,  die  Kirchen  des  Reiches  in  ihrer  über- 
wiegenden Mehrheit,  von  der  römischen  Kirche  bis  zum  kleinsten  Kloster  zu  um- 
fassen". Die  Verleihung  des  Köuigssclmtzes  in  der  Form  der  Immunität  war  für  jene 
das  Lockmittel,  für  das  Reich  also  zunächst  nicht  eine  Zersetzung,  sondern  Festigung 
der  Einheit.  Eben  als  Inhaber  der  Muntherrsehaft  übte  der  König  die  Einsetzung 
der  Bischöfe'),  während  sich  sein  Einfluß  auf  die  Bestellung  der  Untervögte  da  init 
Ausbreitung  der  Immunität  abschwächte ,  die  mächtigeren  Bischofskirchen  sich  ihm 
bei  geringerer  Schutzbedürftigkeit  auch  eher  entziehen  konnten.  Weitaus  am  nach- 
haltigsten behauptete  sich  die  Vogtei  als  germanische  Muntherrsehaft  sei  es  des 
Königs  oder  des  Adels  gegenüber  den  einzelnen  Kirchen,  insbesondere  den  Klöstern. 
Deren  Kampf  gegen  die  Laienherren  bildet  gewissermaßen  die  untere  Schicht  im  In- 
vestiturstreit. Die  Einmischung  des  Papsttums  erfolgte  hier  seit  1(J49  durch  Leo  IX., 
worauf  schon  Hirsch  hinwies,  in  der  eigenartigen  Weise,  daß  der  Papst,  selbst  Mit- 
glied des  deutschen  Laienadels,  mit  dem  er  das  Interesse  an  einer  Gegenwirkung 
gegen  die  Macht  der  Reichskirche  teilte,  Eigenkirchenherr  von  südwestdeutschen 
KlösteiTi  wurde.  Indem  er  sich  also  noch  nicht  in  grundsätzlichen  Widers] iruch  zu 
dem  Eigenkircheugedankcn  des  kaiserlichen  Regierungssystems  setzte,  verstehen  wir 
die  noch  freundlichen  Beziehungen  Heinrichs  III.  zu  ihm.  Dadurch  konnte  er  auch 
die  zukunftsvolle  Verbindung  zwischen  Papsttum  und  süddeutschen  Dynasten  begründen, 
die  die  Reformer  mit  ihrer  Bedrohung  von  deren  Eigenkircheninteressen  nicht  zu- 
stande gebracht  hätten.  So  aber,  auf  dem  kaiserlichen  Kechtsboden  selbst,  ließen  sich 
die  Ziele  der  Reformer  doch  nicht  erreichen.  Daher  begann  unter  Gregor  VII.  der 
Kampf  gegen  jegliche  Laienherrschaft  über  Kirchen,  damit  gegen  das  Eigenkirchen- 
we.sen.  Die  Kirche  suchte  nun  das  volle  Eigentum  des  Eigenkirchenherrn  in  bloße 
muntschaftliche  Herrschaft,  Vogtei  umzudeuten  (Planitz)  und  für  die  Vogtei  mit  Hilfe 


1)  Vgl.  W.  Gesler,  Der  Bericht  des  Monachus  Hamerslebicnsis  über  die  kaiser- 
liche Kapelle  S.  Simon  und  Juda  in  Goslar  und  die  Beförderung  ihrer  Milglieder, 
Diss.  Bonn  1915.  Mr.n  kann  hier  .statistisch  beobachten,  wie  die  Ka]>elle  geradezu 
eine  Pflanzschule  für  Bischöfe,  die  die  Kaiser  ernannten,  war,  bis  das  \\'ormser  Kon- 
kordat da  einen  Umschwung  brachte  und  an  Stelle  des  Einflusses  der  Zentralgewalt 
den  des  regionalen  Adels  setzte. 

66 


jener  Fälschungen   die   amtsmäßige  Auffassung  zu  begründen,   in  diesem  Sinne  dann 
auch  die  Vogtei  des  Kaisers  für  die  römische  Gesamtkivche  zu  betonen. 

Die  umfassende  Sorge  Gregors  VII.  für  die  Sicherung  des  Kirchen- 
gutes auch  auf  dem  mehr  verwaltungsrechtliehen  Gebiete  hat  W.  Schneider, 
Papst  Gregor  VII.  und  das  Kirchengut,  Diss.  Greifsw.  1919  gut  dar- 
gestellt und  betont,  daß  jener,  abgesehen  von  der  Ernennung  bei  der  Eigen- 
kirchenrechtsinvestitur,  keineswegs  dem  Reiche  seine  Rechte  auf  die 
Regalien,  z.  B.  die  auch  dem  Gegenkönig  Rudolf  zugestandene  Tempo- 
ralieninvestitur ,  habe  bestreiten  wollen,  setzt  aber  doch  wohl  zu  früh 
jene  abstrakten  Scheidungen  voraus,  die  erst  ein  spätes  Ergebnis  der 
publizistischen  Erörterungen  waren. 

Wie  das  Bild  Gregors  und  seiner  Politik  sich  unter  dem  Einfluß 
der  neueren,  namentlich  deutschen  Forschungen  in  letzter  Zeit  gewandelt 
hat,  ohne  daß  doch  der  feste  Kern  seines  Wesens  davon  berührt  worden 
wäre,  hat  J.  P.  Whitney,  Gregory  VII.,  Engl.  bist.  Rev.  34,  1919  dar- 
gelegt. Es  hätte  etwa  betont  werden  können,  daß  auch  die  Unter- 
suchungen A.  Schultes  über  die  ständischen  Verhältnisse  in  der  Kirche 
tiir  die  Gesamtbeurteilung  nicht  gleichgültig  sind,  indem  sie  den  Gegen- 
satz des  allenthalben  mit  demokratischen  Strömungen  ^)  verbündeten 
Bauernsohnes  Gregor  zu  der  aristokratischen  und  dadurch  in  hundert 
weltliche  Interessen  verstrickten  deutschen  Reichskirche  verschärften. 
Auch  mag  schon  hier  darauf  hingewiesen  werden,  daß  die  weitaus 
wichtigste,  durch  die  neueren  Forschungen  in  ihrem  Wert  noch  ge- 
steigerte Quelle  zu  Gregors  Geschichte,  das  Originalregister  seiner  Briefe 
jetzt  durch  die  Ausgabe  E.  Caspars  in  den  Epistolae  seJedae  der  Mo- 
numenta  Germaniae  (erste  Hälfte,  Berl.  1920)  seine  abschließende  Druck- 
legung erhält. 

Die  eindrucksvollste  Szene  des  ganzen  Streites  -)  ist  in  ihrem  äußeren, 
noch  immer  umstrittenen  Verlaufe  noch  einmal  sorgfältig  geprüft  von 
H.  Otto,  Heinrich  IV.  in  Canossa,  Hist.  Jahrb.   37,  1916. 

Der  Hinweis  darauf,  daß  Donizo  das  Wort  ,,stare"  öfter  im  abgeschwächten 
Sinne  des  italienischen  Sprachgebrauches  =  verweilen  anwendet,  dürfte  wohl  die 
Yoistelhmg  eines  eigentlichen  Bußestehens  beseitigen.  Die  Buße  Heinrichs  bestand 
darin,  daß  er  während  eines  dreitägigen  Aufenthalts  im  Flecken  Canossa  in  Büßer- 
tracht betete  und  fastete,  wobei  dahingestellt  bleibt,  ob  er  sich  so  zeitweilig  auch  vor 
dem  Burgtor  gezeigt  habe.  Die  Entwertung  des  Bußakts  gegenüber  den  Verhand- 
lungen wird  gegen  Haller  mit  Recht  bestritten,  gleichwie  auch  der  Vorwurf  der  Un- 
wahrhaftigkeit  des  päpstlichen  Schreibens  an  die  deutschen  Fürsten.  Ebenso  richtig 
wird  die  Auffassung  Campaninis,  der  Bußakt  sei  erst  die  Folge  der  entscheidenden 
Verhandlungen  gewesen,  abgelehnt.  Über  die  Lage  der  Nikolauskapelle,  in  der  die 
entscheidende  Abmachung  mit  der  Gräfin  Mathilde  stattfand,  ob  es  die  nachweisbare 
in  Mongiovanni  oder  die  hypothetische  im  Canossaflecken  gewesen  sei,  kommt  0.  zu 

1)  J.  Goetx,  Kritische  Beiträge  zur  Geschichte  der  Pataria,  A.  f.  Kult.  XII,  1.  2, 
1914,  untersucht  einzelne  Punkte  zur  Urheberschaft  und  Chronologie  der  Mailänder 
Bewegung ;  seine  Herleitung  des  Namens  aus  einem  verderbten  Cathari  ist  indes  völlig 
verfehlt,  vgl.  O.  Schu-artx,  (gefallen  1914)  ebenda  XH,  3.  4,  1916;  es  bleibt  bei  der 
Ableitung  vom  Mailänder  Trödelmarkt. 

2)  Lehrzwecken  dient  das  Büchlein  von  F.  Schillmann,  Kaiser  und  Papst.  Der 
Kampf  Heinrichs  IV.  n.  Gregors  VII.  (Voigtländers  Quellenb.  84),  Leipz.  1918. 

5* 

67 


keiner  sicheren  Entscheidung^).  Darin,  daß  die  Wiederaufnahme  Heinrichs  in  den 
Schoß  der  Kirche  für  Gregor  noch  nicht  seine  volle  Wiedereinsetzung  ins  Königtum 
bedeuten  sollte,  ist  0.  geneigt,  mir  zuzustimmen,  beachtet  aber,  wenn  er  das 
Demütigende  des  Bußaktes  ganz  bezweifelt ,  nicht  die  gegenteilige  Auffassung  der 
deutschen  Fürsten  von  1119. 

Am  24.  Juli  1915  waren  800  Jahre  seit  dem  Tode  der  Großgräfin 
Mathilde  verstrichen.  In  Italien  ist  das  nicht  unbeachtet  geblieben.  Daß 
aber  die  dort  aus  diesem  Anlaß  erschienenen  Gelegenheitsschriften  wissen- 
schafthch  in  Betracht  kommen,  ist  kaum  anzunehmen  •*). 

Am  meisten  dürfte  der  unter  dem  Titel :  Neil'  VIII  centetiario  dl  Matilde  di 
Canossa.  Scritti  varii,  Reggio  Em.  1915  erschienene  Sammelband  bieten,  z.  B  Notizen 
von  A.  Mercati  über  die  Siegel  der  M.,  ihre  Beziehungen  zu  Anselm  von  Canterbury 
und  zwei  weniger  beachtete  Briefe  von  ihr  (Texte  und  Tatsachen  waren  freilich  im 
wesentlichen  bekannt,  neu  die  veröffentlichten  Miniaturen).  Beachtenswert  ist  auch 
N.  Zucc/icllf,  La  contessa  Matilde  nei  documoiti  pisani  (1077—1112),  Pisa  1916. 
Mehr  quellenkritischer  Art  ist  die  Abhandlung  von  P.  Fournier,  Boiiixo  de  Sutn, 
Urbain  II  et  la  ronitcsse  Mathilde  d' apres  le  ,,  Liber  de  vita  christiana  "  de  Bonixo, 
Bibl.  de  l'Ec.  d.  eh.  7*j,  1915  ")•,  sie  sucht  aus  der  späteren  theologisch-kanonistischen 
Schrift  Bonizos  zu  erweisen,  daß  ihm  der  Sinn  für  praktische  Mäßigung  nicht  gefehlt 
habe,  wenn  er  auch  zuletzt  in  Opposition  gegen  die  klug  entgegenkommende  Politik 
TJrbans  IL  geraten  sei. 

Auch  außer  der  Gräfin  Mathilde  haben  einzelne  Persönlichkeiten, 
die  in  dem  Investiturstreit  eine  Kolle  gespielt  haben,  eine  biographische 
Behandlung  erfahren. 

B.  Oaffrey,  Hugo  der  Weiße  und  die  Opposition  im  Kardinalskollegium  gegen 
Papst  Gregor  VII.,  Diss.  Greifsw.  1914,  sucht  diesem  erbitterten  Feinde  Gregors 
mehr  gerecht  zu  werden,  indem  er  ihn  nicht  ganz  ohne  Erfolg  als  grundsätzlichen 
Gegner  der  Refornibestrebungeu  und  Anhänger  der  kaiserlichen  Auffassung  hinstellt, 
ohne  daß  er  freilich  stark  persönliche  Antriebe  und  die  Skrupellosigkeit  seines  Vor- 
gehens zu  tilgen  vermöchte.     Oust.  Schmidt,  Erxbischof  Siegfried  von  Mainz.     Ein 


1)  Abweichend  von  den  von  0.  vorgeschlagenen  Möglichkeiten  möchte  ich  an- 
nehmen, daß  folgende  Gruppierung  der  Vorgänge  am  ehesten  mit  den  Quellen  im 
Einklang  stünde:  Ilerankunft  Heinrichs.  Erste  Zusammenkunft  mit  Mathilde  und 
Hugo  V.  Cluny  etwa  in  Bianello.  Die  beiden  zum  Pa|)ste.  Heinrich  folgt  unver- 
mutet, ohne  die  Antwort  abzuwarten.  Dreitägige  Buße  und  Verhandlungen  vom 
Flecken  Canossa  aus.  Hartnäckigkeit  Gregors.  Heinrich  im  Begriffe  abzuziehen. 
Entscheidende  Zusammenkunft  mit  Mathilde  in  der  Nikolauska[)elle,  in  der  nach  der 
Danstellung  Donizos  (petit  capeliam!)  die  dreitägigen  Verhandlungen  jedenfalls  noch 
nicht  stattgefunden  hatten  (daher  vielleicht  doch  eh»  r  das  entferntere  Mongiovauni). 
Vermittlung  Mathildes,  Nachgeben  Gregors  usw.  —  Mit  der  Örtlichkeit  befassen  sich 
auch  zwei  nach  dem  Titel  wenig  vertrauenerweckende  Schriften  von  O.  Fregni,  Di 
Oregorio  VII  e  di  Enrico  IV,  e  si  cioe  l'incontro  tra  papa  Oregorio  VII  e  l'im- 
peratore  Enrico  IV,  nel  27  gennaio  1077 ,  avvenne  a  Canossa  di  Reggio  Emilia,  o 
in  qualclie  altra  cittä  o  castello  del  Pie/nonfe  e  d'Italia :  studi  critici,  storici  e  filo- 
logici,  Modena  1916.  Ders.,  Di  nuovo  sulla  riipe  di  Canossa,  e  se  cioe  la  rvpe  di 
Canossa  e  quell'  oppidum  Canitsü  di  cui  parla  Oregorio  VII  nella  sua  lettera  — 
del  28  genn.  1077,  Mod.  1917.  Vgl.  auch  F.  Tolli,  Sei  punti  controversi ,  darin  5: 
Enrico  IV  a  Canossa  (sonst  über  Templerprozeß,  Päpstin  Johanna,  Guelfen  u.  Ghi- 
bellinen),  Rom  1914. 

2)  Vgl.  V.  Bianchi-  Cagliese,  M.  d.  C.  nelV  VIII  centenario  dclla  sua  morte, 
Rom  1H15;  L  Tondelli,  M.  d.  C,  Rom  1915;  M.  liuini,  Lagrande  italiana  M.  d.  C, 
eommemorata  nella  sua  volle,  Fir.  1916. 

3)  Vgl.  ders,  Les  sources  eanoniques  du  „Liber  de  vita  christiana"  de  Bonixo 
de  Sutri.  ebd.  78,  1917. 

68 


Beitrag  xur  Oeschichte  der  Mainxer  Politik  im  11.  Jahrh..  Diss.  Königsb.,  Berl.  1917, 
macht,  einer  von  A.  Bnickmann  gegebenen  Anregung  folgend,  die  vielfach  unklare 
Haltung  dieses  Kirchenmannes  im  Investiturstreit  dadurch  verständlicher,  daß  er  seine 
Schritte  von  dein  Standpunkte  der  Mainzer  Interessen  aus  erklärt;  für  die  erste  Rolle, 
die  Siegfried  gern  in  Deutschland  gespielt  hätte,  fehlte  ihm  freilich  die  politische  Be- 
gabung. Keine  erheblichere  Förderung  bringt  die  Arbeit  von  O.  Sellin,  Barchard  II. 
Bischof  von  Halberstadt  (1060—88),  Münch.-Leipz.  1914.  Dieser  Neffe  Annes  von 
Köln  und  sächsische  Gegner  des  Königs,  der  während  des  ersten  Schismas  der  sech- 
ziger Jahre  einmal  eine  eingreifende  Rolle  gespielt  hatte,  wird  unserem  Verständnis 
kaum  näher  gebracht.  P.  D/el)older,  Bischof  Gebhard  III.  von  Konstanz  (1084—1110) 
und  der  Investiturstreit  in  der  Schivcix,  Z.  f.  Schweiz.  Kirchengesch.  10,  1916,  behandelt 
diesen  bedeutenden  Zähringer,  Hirsauer  Mönch  und  gemäßigten  Gregorianer  und  seinen 
Einfluß  auf  die  Schweiz  In  die  letzte  Phase  des  Kampfes  ^)  führen  die  Biographien 
von  R.  Krohn,  Der  päpstliche  Kanzler  Johannes  von  Oaeta  (Gelasius  IL  1118/19), 
Diss.  Marb.  1918  und  von  A^.  Risi,  S.  Bruno  Astense  vescovo  di  Segni,  szia  vita  e 
sue  opere  (1019—1123),  Prato  1918. 

Über  den  vorläufigen  Abschluß  des  Investiturstreites,  das  Wormser 
Konkordat  von  1122,  sind  in  den  letzten  Jahrzehnten  bekanntHch  die 
Meinungen  auseinandergegangen.  Hier  darf  man  sagen,  daß  eine  ver- 
tiefte Auffassung  sich  daraus  ergab,  die  jetzt  wohl  zu  einer  überwiegen- 
den Übereinstimmung  geführt  hat  und  im  wesentlichen  auch  bekräftigt 
wird  durch  die  eindringliche  Untersuchung  von  A.  Hofmeister,  Das 
Wormser  Konkordat.  Zum  Streite  um  seine  Bedeutung  (Forsch,  u. 
Versuche  z.  Gesch.  des  MA.  u.  der  Neuzeit,  Festschr.  f.  D.  fe'chäfer), 
Jena  1915. 

H.  erklärt  die  rein  persönliche,  keine  Dauer  ausdrüciende  Fassung  des  ganz 
nach  dem  Wunsche  Heinrichs  V.  ausgestellten  Investiturprivilegs  vom  13.  April  1111 
damit,  daß  es  eine  Bestätigung  von  Bestehendem  und  damit  wertvoller  war,  als  eine 
aus  päpstlicher  Gnade  abgeleitete  neue  Dauerverleihung,  die  wenigstens  nach  der 
kurialistischen  Kanonistik  seit  Mitte  des  12.  Jahrh.  doch  jederzeit  vom  Papste  abänder- 
bar gewesen  wäre.  Die  Folgerungen  aus  dieser  Auffassung  für  das  päpstliche  Privileg 
des  AV.  K.  sind  angedeutet,  hätten  aber  vielleicht  noch  straffer  gezogen  werden  können. 
Nachdem  der  Kaiser  seinen  Verzicht  auf  die  Investitur  mit  Ring  und  Stab  ausge- 
sprochen, zog  die  Kurie  im  übrigen  ihre  Anfechtung  des  Reichsgewohnheitsrechtes, 
soweit  es  sich  in  bestimmten  Formen  bewegte,  zurück  und  erkannte  es,  mochte  die 
Urkunde  als  Kirchengesetz  anerkannt  oder  nur  geduldet  werden,  damit  an,  auch  wenn 
der  unzweidi  utige  Ausdruck  des  Bestätigens  hier  nicht  gebraucht  wurde.  Wie  man 
im  deutschen  Mittelalter  überhaupt  nicht  nach  Gesetzestexten,  sondern  nach  dem  Ge- 
wohnheitsrecht lebte,  so  galt  hinfort,  auch  wenn  man  den  Wortlaut  des  nur  an  Hein- 
rich persönlich  erteilten  Papstprivilegs  gar  bald  vergaß,  das  abgewandelte  Reichs- 
gewohnheitsrecht weiter,  wobei  natürlich  die  iünftige  Handhabung  von  den  Macht- 
verhältnissen, von  der  Gesinnung  der  Herrscher,  von  Druck  und  Gegendruck  abhängig 
war.  Auf  eine  derartige,  von  H.  nicht  ganz  so  scharf  formulierte,  aber  im  Grunde 
doch  auch  geteilte  Auffassung  wird  man  sich  gewiß  einigen  können.  Auch  einzelne 
andere  Punkte,  wie  das  von  Erzbischof  Adalbert  von  Mainz  selbst  zugestandene  Präsenz- 
recht des  Königs  bei  den  Bischofswahlen  -)  oder  die  Auslegung  der  Urkunde  Innozenz'  II. 
für  Kaiser  Lothar  vom  8.  Juni  1133  erfahren  wertvolle  Förderung,  und  am  Schlüsse 
findet  sich  eine  neue  Textgestaltung  der  päpstlichen  Konkordatsurkunde  auf  Grund 
aller  erreichbaren  Hilfsmittel.  — 


1)  Vgl.  L.  N.  Berhit,  Der  Investiturstreit  tvährend  der  Zeit  Kaiser  Heinrichs  V. 
(in  russ.  Sprache)  I,  Warschau  1915.  —  H.  Hussl,  Die  Urkundensammlung  des  Codex 
Udalrici,  M.  I.  ö.  G.  36,  1916,  bestimmt  die  Herkunft  der  Urkunden,  die  namentlich 
aus  Bamberg  und  Regensburg  stammen. 

2)  Vgl.  dazu  auch  F.  Schneiders  Anal.  Tose,  (oben  S.  54),  S.  28  ff. 

69 


Während  der  salischen  Epoche  waren  die  Normannen  recht 
eigentlich  zu  ihrer  Weltstellung  emporgestiegen,  dem  Zeitenwandel,  der 
sich  im  Laufe  des  12.  Jahrhunderts  vollzog,  bereiteten  sie  vornehmhch 
als  Ötaatsverwalter  und  Kulturvermittler  die  Wege.  Es  mag  deshalb 
an  dieser  Stelle  zu  ihrer  Gesamtgeschichte  rückgreifend  und  vorschauend 
einige  Literatur  kurz  vermerkt  werden. 

H.  Prentoid,  Etüde  critiquc  sur  Diidon  de  Saint  -  Quentin  et  son  Jiistoire  des 
Premiers  ducs  de  Normandie,  Par.  1916,  legt  in  ausführlicher  Einzelkritik  die  legen- 
dären und  unzuverlässigen  Züge  des  Chronisten  hinsichtlich  der  Gründung  und  ersten 
Zeiten  der  Normandie  dar.  Eine  neue  Ausgabe  der  an  Dudo  sich  anschließenden 
Chronik  veranstaltete  J.  Marx,  Oidllaume  de  Jumicges,  Gesta  Norniannorion  ducuni, 
Eouen  1914.  Klassifizierung  der  11  benutzten  IIss.  und  Kennzeichnung  der  entlehn- 
ten Stellen  lassen  zu  wünschen. 

Wer  eine  kurze  Einführung  in  die  normannische  Gesamtgeschichte 
in  der  Normandie,  in  England,  wo  noch  Heinrich  IL  mehr  Normanne, 
als  Angiovine  oder  Engländer  ist,  und  in  Sizilien  bis  zum  Tode  Rogers  II. 
(1154)  wünscht,  möge  sich  wenden  an  das  aus  Vorträgen  erwachsene 
Buch  von  C/i.  H.  Haslüns,  The  Normans  in  European  history,  Boston, 
New  York  1915.  Für  den  gründlichen  Unterbau  bürgen  die  früheren 
Forschungen  des  Vf.  Auch  sein  neuestes  Buch  zeugt  wieder  davon: 
Norman  Institutions  (Harvard  bist,  studies  24)  1918. 

Es  schildert  die  Verwaltung  der  Normandie  ^)  von  Wilhelm  dem  Eroberer ')  bis 
zu  Heinrich  IL  (1135—1189),  zeigt  namentlich  die  militärische  und  fiskalische  Zen- 
tralisation iu  der  Hand  des  Herzogs  und  legt  die  Entwicklung  der  Gerichtsformen 
dar,  wobei  Schwurgerichte  (vgl.  oben  S.  50)  schon  vor  der  Mitte  des  12.  Jahrh.  nach- 
gewiesen werden  ^).  Von  J.  Revels  umfassender  Histoire  des  Normands  erschien 
Par.  1918  der  1.  Band. 

über  den  normannisch-sizilischen  Staat  findet  man  neuer- 
dings Literatur  zusammengestellt  in  der  oben  S.  50  genannten  Schrift 
von  Rieh.  Schmidt  S.  3 — 9  ^).  Für  den  Zentralpunkt,  den  Umfang  der 
Königsgewalt  ist  das  von  Caspar,  Niese,  Clialandon  Skizzierte  noch 
einmal  in  breiteren  Ausführungen  dargelegt  worden  von  M.  Hofmann, 
Die  Stellung  des  Königs  von  Sizilien  nach  den  Assisen  von  Ariano 
(1140),  Diss.  Münst.  1915. 

Ganz  überf lü.ssig  war  es  wohl  nicht ,  aus  dem  Hauptgesetzeswork  Kogers  II.  *) 
die  politischen  und  verfassungsrechtlichen  Folgerungen  für  die  Königsmacht  zu  ziehen; 
aber  wie  die  Kritik  fast  durchgehends  betont  hat,  war  der  Anfänger  solcher  Aufgabe 
nicht  ganz   gewachsen.     Manche  Behauptungen   erscheinen   einseitig  überspitzt.     Daß 


1)  Vgl.  ders.,  The  materials  for  the  reign  of  Hubert  I.  of  Normandy,  Engl.  bist. 
Rev.  31,  1916. 

2)  Vgl.  R.  Francis,  Williani  the  Conqtieror,  Lond.  1915  (populäre  Dai-stellung). 
Für  Heinrich  I.  von  England  (1100—1134)  sind  wichtig  die  reichen  Regesten  von 
W.  Farrcr,  An  outline  Itinerary  of  kimj  Henry  the  First,  Engl.  bist.  Rev.  34,  1919, 

3)  ./.  Lesqiner  hat  im  Bull.  d.  1.  ISoc.  des  Antiquaires  d.  Norm.  32,  1917,  das 
"Wesentlichste  aus  dem  Buche  in  franz.  Übers,  wiedei'gegeben. 

4)  Vgl.  auch  das  Literaturverzeichnis  bei  W.  Cohn,  Das  Zeitalter  der  Normannen 
in  Sixilien,  Bonn,  Lei|)z.  1920. 

5)  Das  schon  1912  in  New  York /Lond.  erschienene  halbpopuläre  Buch  von 
F.  Giirtiss,  liof/er  of  Sicily  and  the  Norninns  in  Lower  Italy  1016—1154  beruht 
stark  auf  den  Werken  von  Caspar  und  Chalandon. 

70 


etwa  Kaiser  Friedrich  II.  überall  auf  dem  von  Roger  gelegten  Grunde  weitergebaut 
hat,  haben  die  Forschungen  der  letzten  Jahrzehnte  ja  genugsam  erwiesen,  aber  seinem 
durch  reicheren  Inhalt,  durch  Klarheit  und  Schärfe  ausgezeichneten  Gesetzeswerk 
nun  jeden  "Wert  gegenüber  dem  seines  Großvaters  zu  bestreiten,  führt  doch  zu  neuer 
Ungerechtigkeit,  und  der  einzige  Ruhmestitel,  der  ihm  nach  dem  Vf.  im  Gegensatz 
zu  Roger  noch  verbleiben  soll,  nämlich  derjenige  eines  konstitutionellen  Herrschers 
ist  doch  höchst  fragwürdig. 

Eine  sehr  gründliche  Arbeit  zur  normannisch-siziiischen  Verwal- 
tungsgeschichte mag  hier,  obwohl  kurz  vor  den  Kriegsjahren  erschienen, 
wenigstens  genannt  werden,  da  sie  schwerlich  allgemeiner  bekannt  ge- 
worden ist:  Evelyn  Jamison,  The  Norman  administration  of  Äpulia 
and  Capua,  more  especially  under  Roger  II  and  William  I  1127 — 1166 
(in  Papers  of  the  Brit.  School  at  Rome  VI)  1913  ^). 

Ein  besonderes  gegen  Osten  gerichtetes  Normannenunternehmen 
endlich  behandelt  A.  Jcnal,  Der  Kampf  um  Ihtrazso  1107\8  mit  dem 
Gedicht  des  Tortarius,  Hist.  Jahrb.  47,  1916.  Die  von  Bohemund  von 
Tarent  statt  eines  Kreuzzuges  unternommene  Kriegst'ahrt  gegen  das 
griechische  Durazzo  (Valona)  endete  infolge  der  gutorganisierten  Abwehr 
mit  einem  demütigenden  Friedensschluß,  fand  aber  gleichwohl  einen 
französischen  Lobredner,  dessen  Heldengedicht  hier  aus  einer  vatikani- 
schen Hs.  zuerst  gedruckt  ist.  — 

Für  die  auf  die  Salierzeit  zunächst  folgende  Epoche  des  Über- 
gewichts kirchlich-pietistischer  Strömungen  undder  Aus- 
breitung neuer  Mönchsorden  war  die  Forschung  der  Kriegszeit 
wenig  ergiebig.  Die  Literatur  der  letzten  Jahre  vorher  findet  man  be- 
sprochen von  G.  Schreiher,  Studien  zur  Exemtionsgeschichte  der  Zister- 
zienser, Z.  f  R.  35,  k.  A.  4,  1914,  und,  was  das  Hinübergleiten  nach 
Ostelbien  betrifft,  ebd.  37,  k.  A.  6,  S.  442  ff. 

Die  Verxeichnisse  der  deutschen  Zisterzienser abteien  tind  Pn'orate  von  P.  Marian 
Gloning,  sowie  der  Zisterzienserinnenklöster  von  P.  Blasiiis  Huemer  in  Stud.  u.  Mitt. 
z.  Gesch.  d.  Bened.-Ord.,  N.  F.  5  u.  6,  19  i  5/1(3  sind  dem  Forscher  um  so  nützlicher, 
als  die  Fortsetzung  von  Jauauscheks  Origines  Cistercienses  nicht  mehr  zu  erwarten  ist. 
H.  Rose  faßt  die  Baukunst  der  Zisterzienser,  Münch.  1916,  erst  in  zweiter  Linie  als 
Gebilde  des  Ordensgeistes  und  seiner  Bauregel .  vielmehr  in  der  Hauptsache  als  eine 
Phase  der  burgundischen  Frühgotik  und  entwickelt  sie  daraus  stilistisch  an  der  Hand 
zahlreicher  photographischer  Aufnahmen.  U.  Stütz,  Die  Zisterzienser  icider  Gratians 
Dekret,  Z.  f.  R.  40.  k.  A.  9,  1919,  erweist  die  spätere  Haltung  des  Ordens  zu  Gratian 
seit  dem  Generalkapitel  von  1188  nicht  als  eine  grundsätzliche  Ablehnung,  sondern 
als  eine  vorläufige  Zurückhaltung  wegen  einzelner  Bedenken  und  der  Scheu  vor  einer 
zu  starken  Hingabe  an  das  Studium  des  kirchlichen  Rechts  -). 


1)  i\^  Oiordano,  Nuovo  contributo  alla  determina%ione  dei  rapporti  fra  Stato  e 
Chiesa  in  Sicilia  al  tempo  dei  Normanni,  Arch.  stör,  sie,  N.  S.  41,  1916,  betont 
das  enge  Verhältnis  zwischen  ihnen  und  der  römischen  Kirche  und  die  Gegenseitigkeit 
der  Zugeständnisse. 

2)  Zur  Geschichte  des  Schwesterordens  kommt  in  Betracht:  B.  Woxasek,  Der 
hl.  Norbert,  Stifter  des  Pränionstratenserordens  n.  Erzbischof  von  Magdeburg,  Wien 
1914;  C.  J.  Kirkfleet,  Historij  of  saitit  Norbert,  St.  Louis  1916.  In  den  Kreis  der 
von  Erzbischof  Konrad  von  Salzburg  begünstigten  regulierten  Chorherren  gehört  die 
Vita  des  Propstes  Lambert  von  Nemcerk  bei  Halle,  die  H.  Brcsslau,  N.  A.  41,  1919, 
scharfsinnig  untersucht.  Vgl.  auch  G.  Wieczorek,  Das  Verhältnis  des  Papstes  Innozetiz,  IL 
%u  den  Klöstern  (1130—1143),  Diss.  Greifsw.  1914. 

71 


Aus  der  Geschichte  der  inneren  deutschen  Kämpfe-)  unter  Kon- 
rad  III.  ist  die  nieistbehandelte  Episode  die  von  den  getreuen  Weibern 
von  Weinsberg.  Die  lebliatte  Auseinandersetzung  darüber,  ob  wir  es 
da  mit  einem  quellenmäßig  beglaubigten  Ereignis  oder  nur  mit  einer 
auf  Wandersage  beruhenden  späteren  Anekdote  zu  tun  haben,  hat  sich 
noch  bis  in  die  Kriegszeit  fortgesetzt.  R.  Ilolkniann  hat  in  der  Hist. 
Viert.  18,  1916/18,  die  Ansicht  von  W.  Norden  und  die  Einfälle  von 
L.  Rieß,  der  nun  wenigstens  hätte  schweigen  und  sich  nicht  noch  einmal 
ebenda  eine  noch  schärfere  Abfertigung  holen  sollen,  auf  das  gründlichste 
zurückgewiesen  und  noch  einmal  dargetan,  daß  die  methodische  Quellen- 
kritik zugunsten  dieses  Einzelzuges  spricht,  womit  ja  eine  gewisse  Auf- 
putzung des  historischen  Kerns  in  der  Erzählung  noch  immer  vereinbar 
ist.  Damit  darf  diese  Erörterung  wohl  als  geschlossen  gelten ;  zum 
mindesten  müßte  der,  welcher  sie  wieder  aufnehmen  wollte,  erst  die 
Darlegungen  Hs  bis  ins  einzelne  hinein  umzustoßen  versuchen  (vgl. 
auch  oben  S.  59). 

Auch  ein  anderes  hervorstechendes  Ereignis  aus  Konrads  III.  Regie- 
rung: seine  Kreuznahme  am  27.  Dez.  1146  hat  man  versucht  in  neue 
Beleuchtung  zu  bringen. 

n.   Cosack,   Konrads  III.  Entschluß  xum.  Kreiaxtig ,   M.  I.  ö.  G.  35,  1914,    will 

die  Entscheidung  nicht  auf  die  Überredungskraft  Bernhards  von  Clairvanx  ^)  zurück- 
führen ,  sondern  auf  die  Kunde  davon ,  daß  auch  der  Gegner  Herzog  Weif  VI.  am 
Weihnachtsabend  das  Kreuz  genommen  habe.  Daß  der  König  bereits  im  Besitz  dieser 
Nachricht  gewesen  sei,  ist  keineswegs  sicher,  und  so  liegt  doch  wohl  kein  zwingender 
Grund  vor,  die  Darstellung  der  Vita  prima  Bernhardi  umzustoßen  '). 

Die  brieflichen  Beziehungen  Konrads  III.  zu  der  geistlichen  Seherin 
Hildegart  von  Bingen  (f  1179)  hat  man  mit  zu  seiner  Charakteristik 
verwendet-,  über  sie  liegt  ein  englisches  Buch  vor  von  F.  M.  Sieele,  TJie 
life  and  vislons  of  St.  Hildegarde,  Lond.  1914,  ein  deutsches  von  Hehne 
Riescli,  Die  hl  it  v.  B.,  Freib.  i.  B.  1918,  und  von  F.  lioth,  Studien 
zur  Lehensheschreihung  der  hl.  H.,  iStud.  u.  Mitt.  z.  Gesch.  d.  Ben.-Ord. 
39,  1918. 

Quellen  zur  Geschichte  Kaiser  Friedrichs  I.  sind  nur  spärlich 
behandelt  worden. 


1)  Vgl.  auch  W.  Hopjje,  Markgraf  Konrad  r.  Meißen,  d.  Ecnhsfilrst  u.  Gründer 
d.  wettin.  Staates,  N.  Arch.  f.  sächs.  Gesch  40,  1919  (auch  gesondert). 

2)  Vgl.  Anto7iietta,  de  Graxia,  Un  episodio  del  contrasto  tra  S.  Bernardo  c 
Riiggero  II  re  di  Sicilia,  1137—38,  Pal.  1915. 

3)  Die  Kreuzzugsgeschichte  ist  bei  den  Forschern  gegenwärtig  wenig  beliebt; 
einer  der  Gründe  dafür  dürfte  sein,  daß  man  neuen  Stoff  vielleicht  nur  noch  aus 
orientalischen  Quellen  erhoffen  kann,  und  da  für  die  meisten  die  Sprache  ein  Hindernis 
bietet.  Einen  derartigen  Versuch,  neues  Material  zu  erschließen,  stellt  dar:  0.  Ter- 
Grigorinn  hhanderian,  Die  KreiixfaJirer  und  ihre  Bexiehungen  xu  den  arvicnischcn 
Nachbarfürsten  Ins  zum  Untergange  der  Grafschaft  Edessa ;  nach  arnicnischcn  Quellen. 
Diss.  Lei]!/..  1916;  vgl,  auch  J.  B.  Chabot,  Edesse  pendant  la  jnrniierc  Croisade, 
Coniptes  rend.  de  l'Ac.  d.  Inscr.  et  B.-Lettres,  l'ar.  1918.  —  Die  knappe  Darstellung 
(auf  57  S. I)  von  F.  I).  Warp,  The  latin  Kingdom  of  Jerusalem,  Lond.  1918,  wird 
kaum  in  Betracht  kommen.  Vgl.  auch  E.  H.  Biirne,  Oenocsc  trade  icith  Syria  in  the 
12.  Century.     Am.  hi.st.  Kev.  25,  1919/20. 

72 


0.  Dn'nkweldcr,  Ist  Gimther  von  Pairis  der  Verfasser  des  Ligurinus?,  Stud.  u. 
Mitt.  z.  Gesch.  d.  Ben.-Ord.  35,  1914,  tritt  gegen  Sturm  wohl  mit  Recht  wieder  für 
die  Identität  des  oberelsässischen  Mönches  Guntlier  mit  dem  Dichter  des  Heldenliedes 
Ligurinus  auf  Barbarossa  ein,  wenn  sich  auch  eine  ganz  sichere  Entscheidung  nicht 
scheint  gewinnen  zu  lassen. 

Das  wertvollste,  auf  gleichzeitigen  Eintragungen  beruhende  Stück  der  kurzen 
Annalen  von  St.  Giorrjcn  auf  dem  Schivarxwald  deckt  sich  uuLefähr  mit  der  Regie- 
rungszeit Friedrichs  L  Hinterher  folgen  noch  wechselnde  Fortführungen  bis  ins 
14.  Jahrb.  A.  Hofmeister  hat  diese  Quelle  auf  Grund  neuer  handschriftlicher  Hilfs- 
mittel in  der  Z.  f.  Gesch.  d.  Oberrh. ,  N.  F.  33,  U)18,  verbessert  herausgegeben  und 
sehr  gründliche  sachliche  Erläuterungen  hinzugefügt,  so  daß  die  Annalen  künftig  nur 
nach  diesem  Druck  zu  benutzen  sind,  Beachtenswert  ist  der  S.  47  geäußerte  Zweifel, 
ob  Pierzog  Friedrich  von  Schwaben  wirklich  mit  Scheffer-Boichorst  als  ältester  Sohn 
Barbarossas  zu  betrachten  sei,  da  ein  zwischen  ll(i4  und  1160  genannter  älterer 
Bruder  Heinrichs  VI.  ja  gestorben  und  sein  Name  Friedrich  dann  auf  einen  jüngeren 
übergegangen  sein  könne. 

E.  Arndt  (gefallen  1915),  Die  Briefsammlung  des  Erxbischofs  Eberhard  I.  von 
Salzburg.  Diss.  Berl.  1915,  gibt  ein  nützliches  Inhaltsverzeichnis  dieser  für  die  Jahre 
1157—62  wertvollen  Sammlung  und  scheidet  in  dem  noch  nicht  gedruckten  Teil  nach 
einer  Untersuchung  der  Wiener  Hs.  von  dem  eigentlichen  Briefbuche  Eberhards  I. 
eine  gesonderte  AdmonterBriefsammluug.  P.  Oiierrini,  Lhi  diploma  inedito  di  Federico 
Barbarossa,  Brescia  1916,  veröffentlicht  die  Belehnungsurkunde  eines  Brescianers 
Mazaperlino  vom  20.  Okt.  115S  aus  dem  erzb.  Archiv  zu  Brescia.  A.  Hofmeister, 
Zur  Eptstola  de  morte  Friderici  miperatoris,  'S.  A.  41,  1919,  verwertet  für  den  be- 
kannten Todesbericht  eine  etwas  abweichende  Überlieferung,  welche  die  bisherige  An- 
nahme, daß  es  sich  hier  um  den  offiziösen  Bericht  des  Bischofs  Gottfried  von  Würz- 
burg handelt,  zu  bestätigen  geeignet  ist. 

Die  Erörterung  über  den  ersten  Zusammenprall  der  kaiserlichen 
und  kurialen  Politik  auf  dem  Reichstage  von  Besangon  hat  zu  einem 
gewissen  Abschluß  geführt  in  der  wertvollen  Abhandlung  von  H.  Schrörs, 
Untersuchungen  sum  Streite  Kaiser  Friedrichs  I.  mit  Papst  Hadrian  IV. 
(1157—58)^),  Bonn.  Univ.-Progr.   1915. 

Wichtig  ist  namentlich  der  Nachweis,  daß  die  Kurie  damals  in  Fortsetzung  ihres  ein- 
greifenden Regimentes  aus  der  Zeit  Konrads  III.  durch  ihre  Legaten  eine  umfassende 
Kirchenvisitation  im  Reiche  vornehmen  lassen  wollte,  wodurch  sich  auch  die  jenen  mit- 
gegebenen Blankomandate  die  umstrittenen  „  paria  literarum  "  besser  erklären.  Indem 
Friedrich  und  seine  Leute  dagegen  ihre  Maßnahmen  treffen,  richtet  sich  ihre  Politik 
gegen  die  unglückselige  Vergangenheit  und  den  päpstlichen  Versuch  ihrer  Fortsetzung. 
Dieser  Verwaltungskonflikt  ist  freilich  nur  die  eine  Seite  der  Sache.  Es  verbindet 
sich  damit  doch  die  Absicht  Hadrians  in  den  schwebenden  hochpolitischen  Fragen 
Verhandlungen  anzubahnen  und  sich  für  den  kommenden  Romzug  und  die  dabei  zu 
erwartenden  Verwicklungen  eine  günstigere  Lage  zu  schaffen.  Die  Art,  wie  man 
die  päpstlichen  Oberhoheitsansprüche  vorbrachte,  aber  so  zweideutig  formulierte,  daß 
gegebenenfalls  eine  Rückzugslinie  gesichert  blieb,  darf  man  doch  wohl  einen  verdeckten 
Vorstoß  nennen.  Man  wollte  noch  nicht  den  Bruch,  sondern  hoffte,  daß  bei  der 
zweideutigen  Fas.suDg  die  Benefiziumsstelle  kaiserlicherseits  durchgehen  gelassen  würde, 
und  man  so  eine  geeignete  Basis  für  die  in  Aussicht  stehenden  Kämpfe  gewänne. 
Darin  freilich,  wie  in  der  Beurteilung  des  deutschen  Episkopats  trug  man  dem  seit 
Friedrichs  Regierung  eingetretenen  Stimmungswandel  nicht  genügend  Rechnung  ^). 


1)  Vgl.  H.  K.  Mann,  Nicolas  Breakspear,  Hadrian  IV.,  Lond.  1914  (illustr.). 

2)  Vgl.  L.  Weibull,  Den  skanska  kgrkans  älsta  historia,  Hist.  Tidskr.  för  Skäne- 
land  5.  1916  (ersch.  1917),  wo  in  dieser  Kirchengeschichte  von  Schonen  z.  B.  auch 
die  in  Burgund  erfolgte  Gefangennahme  Eskils  von  Lund,  die  den  Anlaß  zu  dem  in 
Besannen  überreichten  päpstlichen  Schreiben  gab,  behandelt  wird.  —  Eine  Lebensskizze 


Ehe  Friedrich  zu  dem  entsprechenden  Romzuge  von  1158  auf- 
brach, schöptte  er  um  Ostern  des  Jahres  gleichsam  Atem  in  seiner 
neugebauten  Plalz  zu  Lautern.  Jene  Ghinztage  für  die  Ptalzer  Lande, 
in  denen  auf  den  Plöhen  rings  die  Keichsburgeu  empor wuclisen  und  die 
kaiserhchen  Ministerialen  eine  große  Rolle  in  der  Welt  zu  spielen  be- 
gannen, stehen  naturgemäß  im  Mittelpunkt  der  Darstellung  von  K.  IJampe, 
Die  VfäJzer  Lande  in  der  Stauferzeit,  H.  Z.  115,  1915  (auch  gesondert 
erschienen),  wo  die  Dinge  freilich  auch  noch  weiter  geführt  sind  bis 
zum  Niedergang  der  Reichswaltung  im   lo.  Jahrh. 

Zu  dem  großen  kirchenpolitischen  Kampfe  ist  nur  die  kurze  Ab- 
handlung von  K.  Schamhach,  Das  Verhalten  Rainalds  von  Dassel  zum 
Empfange  der  höchsten  Weihen,  Z.  d.  bist.  Ver.  f  Niedersachs.  80,  1915, 
zu  verzeichnen,  in  der  er  zu  der  These,  Rainald  habe  den  Besitz  seiner 
vier  Propsteien,  die  er  als  erwählter  Erzbischof  von  Köln  noch  behaupten 
konnte,  durch  die  Bischofsweihe  nicht  preisgeben  wollen,  zumal  das 
Kölner  Bischofsgut  damals  höchst  zerrüttet  war,  die  nähere  Begründung 
gibt.  Man  wird  es  danach  doch  für  sehr  wahrscheinlich  halten,  daß 
dies  Motiv  mindestens  stark  mitgewirkt  hat,  selbst  wenn  es  etwa  nicht 
das  einzige  gewesen  sein  sollte;  ängstliche  Selbstsicherung  für  den  Fall 
eines  ungünstigen  Ausgangs  des  Kirchenstreits  lag  Rainalds  Natur  sicher- 
lich ganz  fern.  Die  Urkunden  des  Verbündeten,  den  Rainald  seinem 
Herrn  wenigstens  vorübergehend  gewann,  König  Heinrichs  IL  von 
England,  deren  Veröffentlichung  schon  oben  S.  61  verzeichnet  wurde, 
enthalten  trotz  der  Beschränkung  auf  französische  Gebiete  und  Angelegen- 
heiten auch  Stücke  von  allgemeinerem  Interesse,  z.  B.  solche,  die  Thomas 
Becket  betreffen.  In  England  schreitet  die  Publikation  der  unerschöpf- 
lichen Bestände  des  Record  Office  langsam  vorwärts  ^)  Es  erschien 
auch  eine  (wohl  populäre)  Biographie  des  bedeutenden  Herrschers  von 
L.  F.  Salzmann,  The  life  of  Henri  II,  Bost.   1914  (Lond.  1918)  2). 

Die  italienischen  Kämpfe  Barbarossas  sind,  so  viel  ich 
sehe,  während  der  Kriegsjahre  kaum  bearbeitet  worden  ••).  Trotz  des 
von  iedem  Forscher  auf  diesem  Gebiete  schmerzlich  empfundenen  Mangels 
an  Urkundenedition,  Regesten  und  Jahrbüchern  ließe  sich  hier  über  die 


des  einen  der  beiden  ])äpstlichen  Gesandten  von  Besannen  Bernhard,  Kardinalbischofs 
von  Porto  und  S.  Rufina  (y  1176).  findet  sich  in  der  Veröffentlichung:  Bernhardi 
cardinalis  et  Lateranensis  ccclesiae  jrrioris  Ordo  ofßciorurn  ecclcsiae  Lateranensis, 
hr.sg.  von  L.  Fischer  (Eist.  Forscli.  u.  Quell,  hrsg.  von  J.  Schlecht,  2.  u.  3.  H.), 
Münch.-Freis.  1916. 

1)  Vgl.  The  Oreat  Roll  of  the  Pipe  for  the  32.  year  of  tlie  reign  of  King 
Hcnnj  IL  1185/80  (The  Publications  of  the  Pipe  KoU  Soc.,  Bd.  36),  Lond.  1914,  mit 
Einleitung  von  J.  H.  Round  (für  festländische  Verhältnisse  kaum  ergiebig).  Für  die 
Beziehungen  des  Reiches  nach  Westen  hin  verdient  etwa  Berücksichtigung:  E.  Du- 
vernoy,  Cotalofiue  des  Actes  des  Dues  de  Lorraine  de  1048  ä  1139  et  de  1176  ä  1220 
(das  Mittelstück  .schon  1904  erschienen),  Nancy  1915. 

2)  Vgl.  Susan  Cunningham,   The  stonj  of  Thomas  BecJcet,  Lond.  1914  (populär). 

3)  Vgl.  R.  Beretia,  Delta  compagnia  della  morte  e  deila  compagnia  dcl  Caroccio 
alla  haltaglia  di^Lrfjnano,  Arch.  stör.  lomb.  41,  1914.  Vgl.  auch  0.  v.  Beloic, 
Der  deutsche  Staat  des  MA.  (oben  S.  43),  S.  151  ff. 


74 


\ 


vielfach  noch  immer  bestimmende  politische  Auffassung  (oder  Nichtauf- 
fassung)  des  in  der  kritischen  Einzelarbeit  trefflichen  Giesebrecht  hin- 
sichtlich der  großen  Linien  von  Friedrichs  italienischer  Territorialpolitik, 
die  auch  auf  seine  Nachfolger  weiter  wirkte,  gewiß  erheblich  hinaus- 
kommen. Man  darf  da  von  W.  Lenel  und  Fed.  »Schneider  Aufklärungen 
erhoffen. 

Um  so  reichere  Ausläufer  hat  die  schon  vor  dem  Kriege  sehr  leb- 
haft geführte  Auseinandersetzung  über  den  Sturz  Heinrichs  des 
Löwen  und  die  damit  zusammenhängenden  Fragen  auch  noch  in  den 
Kriegsjahren  erzeugt.  Ich  darf  mich  da  kurz  fassen,  da  ich  auf  eine 
Übersicht  von  F.  Güterhoch,  Neuere  Forschungen  zur  Geschichte  Hein- 
richs des  Löwen,  D.  L.  Z.  1920,  6.  März,  verweisen  kann.  Von  G.  ging 
auch  der  Anstoß  zu  der  neuerlichen  Erörterung  aus,  in  die  neben  anderen 
namentlich  J.  Haller  mit  Energie  und  Scharfsinn  eingriff.  Diese  Aus- 
einandersetzung hat  sich  nun,  nicht  immer  glücklich  und  ergebnisreich, 
aber  für  einzelne  Punkte  doch  förderlich,  fortgesponnen.  An  erster 
Stelle  stehen  da  die  nicht  immer  anmutigen,  aber  tief  eindringenden 
Studien  von  K.  Schanibach,  namentlich  die  umfangreiche:  Noch  einmal 
die  Geinhäuser  Urkunde  und  der  Prozeß  Heinrichs  d.  L.,  Z.  d.  bist.  Ver. 
f.  Niedersachs.  81  u.  83,  1916.  1919  (auch  als  Buch  erschienen)  ^').  Be- 
sonders in  der  Klarleguug  des  Prozeßganges  und  der  Bestimmung  der 
Termine  ist  hier,  wenn  man  auch  über  Einzelnes  streiten  kann,  mit 
methodischer  Sicherheit  das  erreicht,  was  sich  bei  den  widerspruchsvollen 
Schriftstellerangaben  eben  ermitteln  läßt. 

lu  der  Abhandlung  von  P.  J.  Meier,  Zum  Prozeß  Herzog  H.  d.  L.,  Jahrb.  d. 
Gesch.-Ver.  f.  d.  Herz.  Brauuschw.  15,  1915,  verdient,  während  vieles  andere  nicht 
haltbar  ist,  der  Einfall ,  die  Narratio  der  Geinhäuser  Urkunde  auf  den  Wortlaut  des 
Würzburger  Urteils  im  Lehnsprozeß  zurückzuführen,  wohl  mehr  Beachtung,  a's  ihr 
bisher  zuteil  geworden.  Auch  die  Beziehung  des  reatus  maiestatis  auf  Klage  und 
Zweikampf  anerbieten  des  Markgrafen  Dietrich  von  Landsberg  dürfte  richtig  sein.  Das 
bleibt  aber  ebenso  wie  der  Inhalt  dieser  Klage  noch  unsiclier;  daß  sie  auf  die  Hilfs- 
verweigerung vor  der  Schlacht  von  Legnano  zielte,  wie  noch  der  leider  im  Kriege 
1915  gefallene  H.  Niese  wieder  gemeint  hatte'),  ist  jetzt  allgemein  aufgegeben.  Die 
Arbeiten  von  TT".  Biercije  sind  nur  zum  geringen  Teil  förderlich  ^).  Zur  Frage  kommt 
auch  in  Betracht  als  wichtigere  Quelle  Sigeberti  Contimiatio  Aquicinctina  (=  Anchin), 
der  P.  Kath,  Greifsw.  Diss. ,  Brüssel  1914  (auch  im  Bull,  de  la  Comm.  Eoy.  d'Hist. 
de  Belgique  83)  nach  der  Arbeit  von  ß.  Timm  1913  eine  erneute  sehr  eingehende 
Untersuchung  gewidmet  hat.  Daß  dies  Werk  erst  zwischen  1189  und  1199,  wenn 
auch  mit  Benützung  früherer  Notizen  oder  Aufzeichnungen,  niedergeschrieben  ist, 
ist  für  die  Entscheidung  namentlich  der  Chiavennafrage  nicht  gleichgültig. 


1)  Vgl.  ders.  Hist.  Viert.  19,  1919  und  H.  Z.  122,  1920. 

2)  Zu  seiner  1913  erschienenen  Hauptschrift  in  Z.  f.  E.  g.  A.  34  brachte  er  H.  Z. 
112,  1914  noch  Ergänzungen.     Seine  Aufstellungen  sind  fast  sämtlich  bestritten. 

3)  So  in  Einzelheiten:  Die  Kämpfe  gegen  H.  d.  L.  i.  d.  J.  1177—1181,  Forsch, 
u.  Versuche,  Festschr.  f.  D.  Schaefer,  Jena,  1915;  weniger  die  Abhandlung  über  Die 
Wendeneinfülle  1178 — «SO  u.  Die  Herausforderung  H.  d.  L.  durch  Markgr.  Dietrich 
V.  Landsberg,  H.  Z.  115,  1916;  verfohlt:  Contemptus  et  reatus  maiestatis  etc.,,  Hist. 
Viert.  18,  1916.  —  Frieda  Goßmann,  Heinrich  v.  Herford  und  die  angebliche  Einnahme 
Hannovers  durch  die  Gegner  Heinrichs  d.  L.  um  1180,  N.  A.  41,  1919,  macht  wahi'- 
scheiulich,  daß  die  Nachricht  auf  irrtümlicher  Herübernahme  aus  den  Ereignissen  des 
Jahres  1189  beruht. 

75 


Die  Meinungen  darüber,  ob  jene  Zusammenkunft  Barbarossas  mit 
Heinrich  vor  der  iSchlacht  bei  Legnano  1176  als  historisch  oder  legen- 
darisch anzusehen  sei,  gehen  noch  immer  auseinander.  Sie  ist  bekannt- 
lieh bei  weitgehendem  Mangel  an  gleichzeitigen  Aufzeichnungen  nur 
von  späteren,  wenn  auch  immerhin  noch  zeitgenössischen  Chronisten  mit 
einigen  Widersprüchen  namentlich  betreffs  der  (jrtlichkeit  und  mit 
wechselnden  Einzelzügen  überliefert.  Ob  man  daraufhin  nun  annimmt, 
daß  die  Tatsache  der  persönlichen  Begegnung  selbst  aus  der  Luft  ge- 
griffen, vielleicht  auch  durch  Verwechslung  mit  einer  früheren  entstanden 
sei  oder  ob  man  nur  Ausschmückungen  eines  historischen  Faktums  in 
der  Weitererzählung,  etwa  auch  der  Volksdichtung  zugesteht,  das  scheint 
stark  von  der  mehr  skeptischen  oder  mehr  konservativen  Stimmung 
der  Forscher  den  Quellen  gegenüber  abzuhängen.  Gegenüber  der  Ver- 
teidigung der  TatPächlichkeit  durch  Haller  und  mich  hat  F.  Güterbock 
neuestens  seine  ablehnende  Meinung  noch  einmal  vorgetragen,  nicht  ohne 
Geschick,  aber  schwerlich  mit  durchschlagender  Überzeugungskraft  auch 
für  die  Andersdenkenden.  Dies  letzterschienene  Buch  G.s,  Die  Geln- 
häuser  Urhmde  und  der  Prozeß  Heinrichs  d.  L.  (Quell,  u.  Darstell,  z. 
Gesch.  Niedersachs.  32),  Hildesh.,  Leipz.  1920,  muß  hier  doch  schon 
genannt  werden,  weil  dadurch  die  eingehendere  Beschäftigung  mit 
manchen  früheren  Arbeiten  überflüssig  wird. 

Der  noch  weiter  verbesserte  und  gesicherte  Urkundentext  hat  künftig  in  der 
hier  vorgetragenen  Fassung  als  Grundlage  zu  dienen ;  insonderheit  wird  die  bestechende 
Hallersche  Emendation  „trina  citatione"  statt  „quia  citatione",  die  die  jüngste  Er- 
örterung weitgehend  bestimmt  hat,  rettungslos  beseitigt,  wenn  damit  das  störende 
quia  auch  noch  nicht  als  absolut  gesichert  gelten  daii.  Wie  hier,  so  ist  die  For- 
schung, die  von  G.  in  kritischer  Sichtung  in  vielfachem  Anschluß  an  die  Auffassung 
Schainbachs  zusammengefaßt  wird,  in  den  Fragen  der  Interpretation  und  rechtsge- 
schichtlichen Erklärung  mehrfach  zu  älteren  Auffassungen,  z.  B.  Fickers,  zurück- 
gekehrt. In  den  Haujitpunkten  dürfte  sich  eine  Übereinstimmung  herausbilden: 
Stimmungswandel  des  Kaisers  seit  der  Hilfsverweigerung  von  1176,  Eindämmung, 
aber  noch  nicht  Vernichtung  der  Wt'lfenmaclit  sein  Ziel,  die  sächsischen  Fürsten  das 
treibende  Element  im  ersten  wegen  Friedensbruch  eröffneten  landrechtlichen  Prozesse, 
der  Juni  1179  in  Magdeburg  mit  dem  Achtspruche  wegen  Kontumaz  endet.  Fort- 
gesetzte Feindseligkeiten  üeiurichs  gegen  die  sächsischen  Großen,  Achtungs Verletzungen 
gegen  den  Kaiser  und  der  in  der  Nebenklage  Dietrichs  von  Landsberg  durch  Ab- 
lehnung der  Zweikami)fforderung  in  Magdeburg  als  evident  erachtete  Hochverrat  (dies 
noch  umstritten),  bilden  die  Unterlage  des  zweiten  lehnsrechtlichen  Prozesses,  der 
nach  dreimaliger  Ladung  Jan.  1180  in  Würzburg  ebenfalls  wegen  Kontumaz  zur  Ab- 
erkennung der  Lehen  führt;  Verlust  der  Eigengüter  erst  bei  Eintreten  der  Oberacht 
in  Kegensburg  Juni  1 180.  Außerdom  kommt  freilich  noch  eine  erhebliche  Zahl 
politisch  und  rechtsgeschichtlich  wichtiger  Nebenpunkte  in  Betracht,  insonderheit  die 
Verknüpfung  der  Vorgänge  mit  der  Neuordnung  des  Eeichsfürsten.standes  (vgl.  oben 
S.  45) ').     Es  ist  aber  unmöglich,  hier  alle  diese  Einzelheiten  auch  nur  anzudeuten. 

Die  Wichtigkeit  des  Ereignisses  und  die  außergewöhnliche  Reich- 
haltigkeit der  gleichwohl  spröden  und  widerspruchsvollen  Überlieferung 
rechtfertigten  es  wohl,  daß  immer  aufs  neue  ernste  Forscher  gereizt 
wurden,  die  von  den  Vorgängern  noch  nicht  voll  gelösten  Probleme  zu 
bewältigen.    Die  Ergebnisse  entsprechen  vielleicht  nicht  ganz  den  letzten 

1)  Was  E.  Moeller  über  den  Piozeß  Heinrichs  d.  L.  ausführt,  erscheint  unhaltbar. 
76 


Wünschen,  die  hier  wohl  nie  befriedigt  werden  dürften;  im  ganzen  ist 
doch  eine  wesenthche  Klärung  unserer  Erkenntnis  mit  nicht  geringem 
Müheaufwand  eri-eicht.  Für  die  Zukunft  darf  man  nun  aber  die  Forde- 
rung erheben,  daß  nur  unzweifelhafte  Berichtigungen  in  möglichst  knapper 
Form  vorgetragen  werden  möchten,  und  daß  nicht  etwa  Unberufene 
sich  bemüßigt  fühlen,  den  ganzen  Umfang  dieser  schwierigen  Fragen  noch 
einmal  verwii'rend  aufzustöbern.  Es  gibt  ja  genügend  andre  Probleme 
der  ma.lichen  Geschichte,  die  bei  ernstlicher  Behandlung  viel  reicheren 
Ertrag  versprechen,  als  das  hier  nach  allen  Bemühungen  noch  möglich  ist. 
Gleich  wenn  man  bei  der  Figur  Heinrichs  d.  L.  stehen  bleibt,  so 
fehlt  uns  ja  noch  völhg  ein  eindrucksvolles  Gesamtbild  seines  Wirkens^). 
Was  uns  da  die  Kriegsjahre  beschert  haben,  ist  leider  ganz  unzulänglich. 
Es  war  ein  höchst  unglücklicher  Gedanke  des  Verlages  von  0.  Leiner 
in  Leipzig  das  unbefriedigende,  schon  1867  erschienene  Jugendwerk 
von  31.  Philippson  mit  erheblichen  Mitteln  noch  einmal  aufzulegen  und 
den  seitdem  verstorbenen  greisen  Gelehrten,  der  sich  längst  Aufgaben 
der  neueren  Geschichte  zugewandt  hatte,  zu  einer  Umarbeitung  zu  ver- 
anlassen (^Heinrich  d.  L.  Sein  Lehen  und  seine  Zeit,  2.  Aufl.,  Leipz. 
1918).  Verleger  sollten  in  solchen  Fällen  den  Rat  sachkundiger  Ge- 
lehrten einholen! 

Es  ist  mit  dieser  Umarbeitung  wenig  anzufangen.  Sie  steht  nicht  auf  der  Höhe 
moderner  Kritik  und  Auffassung,  gibt  kein  lesbares  Gesamtbild,  muß  für  Einzelheiten 
vom  Forscher  wohl  aufgeschlagen  werden,  bietet  ihm  aber  auch  da  meist  Steine  statt 
Brot.  So  bildet  sie  eigentlich  nur  ein  Hemmnis  für  eine  wünschenswerte  Monographie, 
die  zu  zeigen  hätte,  wie  Heinrich  an  der  Halbheit  seiner  Stellung,  die  ihn  neben  den 
zukunftsvoUen  AVegen  des  östlichen  Territorialfürstentums  auch  die  Bahnen  des  über- 
lebten alten  Stammesherzogtums  wandeln  ließ,  scheitern  mußte,  und  wie  dabei 
Schicksal  und  Persönlichkeit  ineinander  arbeiteten.  —  Noch  weniger  brauchbar  ist, 
bis  auf  die  bequeme^  Bibliographie  im  Anfang,  das  Buch  von  Editha  Grronen,  Die 
Machtpolitik  Heinrichs  d.  L.  und  sein  Gegensatz  gegen  das  Kaisertimi ,  Eherings 
bist.  Stud.  139,  Berl.  1919.  Indem  die  gar  nicht  unbegabte  Verfassei'in  darauf  ver- 
zichtet, die  Erkenntnis  der  Dinge  aus  den  Quellen  herauswachsen  zu  lassen,  sondern 
in  echt  frauenhafter  Weise  die  geheimsten  Motive  von  vornherein  intuitiv  weiß  und 
von  dieser  Grundlage  aus  in  die  Quellen  hineinträgt,  entfernt  sie  sich  von  aller  histo- 
rischen Methode '). 


1)  Neuere  Arbeiten  über  seine  Städtepolitik  vgl.  im  sechsten  Abschnitt.  Da  seine 
Geschichte  in  mannigfacher  Berührung  zu  der  Dänemarks  steht,  sei  hier  auf  einige 
quellenkritische  Untersuchungen  zu  dänischen  Geschichtsquellen  jener  Zeit  hingewiesen. 
Im  Widerstreit  miteinander  stehen  die  Studien  xu  Saxo  Orammaticus  von  C.  Weibull, 
Hist.  Tidskrift  för  Skaueland,  Bd.  6,  1914  und  Bd.  7,  1917/18  (Sonderabdruck  Saxo- 
forskning.  En  stridsskrift,  Lund  1919)  und  Kn.  Fabricius,  Saxo  Valdemarskroenike 
og  hans  Danesaga,  Hist.  Tidsskr.,  8.  Reihe,  Bd.  6.  Für  den  Inhalt  dieser  Kontroverse 
verweise  ich  auf  die  Besprechungen  von  A.  Hofmeister,  H.  Z.  118,  S.  292ff., 
121,  S.  529,  N.  A.  41,  S.  336  und  B.  Schmeidler,  N.  A.  41,  S.  773 ff.,  wo  auch 
über  M.  Gl.  Gertz,  En  ny  text  af  Si-en  Aggesoens  Vaerker,  Kopenh.  1915,  berichtet 
ist.  Vgl.  auch  L.  Weibidl,  Liber  censiis  Daniae,  Kung  Valdemars  Jordebok,  Kopenh. 
1916,  mit  Bemerkung  von  Hofmeister  N.  A.  41,  S.  343  und  M.  Gl.  Gertz,  Scriptores 
minores  historiae  Danicae  medii  acvi  I,  Kopenh.  1917.  Hier  notiere  ich  auch: 
Kn.  Gjerset,  History  of  the  Korwegian  people,  2  Bde.,  New  York  1915  (die  ma.liche 
Gesch.  reicht  über  den  1.  Bd.  hinaus). 

2)  Die  beigegebenen  Untersuchungen  zur  Chiavennazusammenkunft  und  zum 
Prozeß  brauchen  ebensowenig  wie  die  von  Philippson  berücksichtigt  zu  werden. 

77 


Der  Sturz  des  Weifenherzogs  war  das  erste  Glied  in  der  Kette 
der  letzten  großen  Erfolge  Barbarossas.  Sofern  diese  dem  Papsttum 
gegenüber  errungen  sind,  hielt  man  sich  bisher  ganz  an  die  kritische 
Forschung  und  Darstellung  von  SchefFer-Boichorst ,  die  allerdings  nun 
schon  über  ein  halbes  Jahrhundert  alt  ist.  Darüber  hinaus  haben  jetzt 
in  einigen  wichtigen  Punkten  die  rückgreifenden  Untersuchungen  von 
J.  llaUer  über  Heinrich  VI.  und  die  römische  Kirche,  M.  I.  ö.  G.  35, 
1914,  geführt. 

Namentlich  die  territorialen  Auseinandersetzungen  zwischen  Kaisertum  und 
Kurie  nach  dem  Frieden  von  Venedig,  dessen  A'orteile  für  das  erstere  sehr  scharf  betont 
werden,  und  der  Kongreß  von  Verona  1184  werden  dadurch  in  neue  Beleuchtung 
gerückt,  nicht  ohne  daij  in  manchen  Einzelheiten,  z.  B.  hinsichtlich  der  angeblichen 
territorialen  Einigung  in  Verona,  Vorbehalte  am  Platze  wären.  Das  bedeutsamste  und 
überraschendste  Ergebnis  aber  ist,  daß  die  Verlobung  Heinrichs  VI.  mit  der  sizilischen 
Konstanze  nicht  hinter  dem  Rücken  der  Kurie  und  als  ein  feindseliger  Akt  gegen  sie 
zustande  kam,  sondern  daß  kein  Geringerer  der  Vermittler  dabei  war,  als  Papst 
Lucius  ni.  selbst.  Manche  werden  dieser  bisher  vernachlässigten  Angabe  des  Petrus 
de  Ebulo  vielleicht  auch  weiterhin  skeptisch  gegenüberstehen  *).  Indessen  wird  man 
schwerlich  darüber  hinwegkommen,  und  H.  hat  doch  viel  Tntffendes  ausgeführt,  um 
die  neue  Struktur  der  Dinge,  die  sich  daraus  ergibt,  verständlich  zu  machen.  Lucius  III. 
war  dann  wirklich  ein  Papst,  der  im  Interesse  friedlichen  Ausgleichs  nach  dem  langen 
Kampfe,  aber  auch  aus  persönlichen  Neigungen,  den  kaiserlichen  Wünschen  erstaunlich 
weit  entgegengekommen  ist  -).  Er  mochte  damals  hoffen,  daß  die  letzten  verhängnis- 
vollen Folgen  dieses  Schrittes  der  Kurie  erspart  bleiben  würden,  und  H.  hat  solche 
Hoffnung  begreiflich  zu  machen  gesucht,  da  ÄVilhelm  IL  von  Sizilien  seine  Tante  über- 
leben konnte,  und  für  ihn  und  seine  junge  englische  Gemahlin  die  Aussicht  auf  Nach- 
kommenschaft noch  nicht  ganz  geschwunden  zu  sein  brauchte.  Wenn  H.  nun  aber 
darüber  hinaus  darzutun  sucht,  daß  der  Gedanke  an  ein  Erbrecht  Koustanzens  über- 
haupt bei  dem  Verlöbnis  auf  allen  Seiten  gar  keine  oder  nur  eine  ganz  untergeordnete 
Rolle  gespielt  hätte,  so  ist  das  allerdings  ein  starkes  Stück,  das  er  unserer  Fassungs- 
kraft zumutet,  zumal  er  selbst  (allerdings  wohl  irrig  nur  für  einen  früheren  Zeitpunkt) 
anerkennt,  daß  der  Tochter  Rogers  IL  bereits  einmal  von  den  sizilischen  Großen  eine 
Eventualhuldigung  für  den  Fall  eines  kinderlosen  Todes  des  regierenden  Königs  ge- 
leistet worden  sei.  Es  hieße  doch  die  Energie  von  Friedrichs  italienischer  Territorial- 
politik verkennen ,  wenn  man  annähme ,  er  habe  diese  Zukunftsmöglichkeit  bei  dem 
Abschluß  der  Verbindung  nicht  als  einen  Hauptposten  mit  in  Rechnung  gestellt.  Und 
auch  an  der  Kurie  kann  man ,  wenn  anders  überhaupt  Politiker  au  ihr  tätig  waren, 
solche  Erwägungen  schlechterdings  nicht  außer  Acht  gelassen  haben.  Glaubte  der 
greise,  kaiserfreuudliche  Lucius  111.  aus  einer  gewissen  Gegenwartsmüdigkeit  heraus 
diese  Zukunftsgefahr  nicht  scheuen  zu  soUen,  so  zeigte  nach  seinem  baldigen  Tode  die  Wahl 
des  feindseligen  Mailänders  Urban  IIL,  wie  die  Kardiualsmehrheit  seine  letzten  Schritte 
beurteilte.  Das  völlige  Fiasko  von  dessen  überstürzter  Kampfpolitik  gegen  die  über- 
legene Machtstellung  Friedrichs  brachte  dann  freilich  wieder  die  Friedenspartei 
ans  Ruder. 

Die  Fortsetzung  dieser  Studien  hat  Haller  zu  seiner  eigentlichen 
Aufgabe,  einer  Neubegründung  der  Geschichte  Heinrichs  VI.,  vor 
allem    nach    der    Seite   seiner    Beziehungen   zur    Kirche   geführt.      Seine 


1)  Es  ist  z.  B.  zu  betonen,  daß  die  Namen  der  Päpste  Lucius  (lux)  und  Cae- 
lestinus  (caolum)  als  Förderer  der  Verbindung  Heinrichs,  des  Sol  mundi,  mit  der 
Constantia  dem  Dichter  besonders  gut  passen,  so  daß  er  bei  Lucius  wohl  etwas  über- 
treibend nachgeholfen  haben  könnte. 

y)  Bemerkenswert  für  das  damalige  Zusammenwirken  ist  auch  der  von 
F.  Schneider,  Anal.  Tose.  (vgl.  oben  S.  54)  S.  64  ff.  nachgewiesene  Besuch  Friedrichs  L 
am  Grabe  des  h.  Galganus  von  Chiusi  Anf.  Aug.  1185. 

78 


Untersuchung  über  die  sog.  IMarbacher  Annalen,  deren  Ergebnisse  von 
denen  Reincke-Bloehs  und  Oppermanns  stark  abweichen,  haben  vor  dem 
Kriege  eine  lebhafte  Erörterung  hervorgerufen,  die  bei  der  Schwierigkeit 
des  Gegenstandes  kaum  je  zu  allseitiger  Übereinstimmung  führen  dürfte  ^). 
Sie  haben  aber  mit  dazu  beigetragen ,  die  in  der  Kompilation  ent- 
haltenen Sti'aßburger  Annalen,  für  deren  Verfasser  H.  den  Propst 
Friedrich  von  St.  Thomas  in  Straßburg  hält,  als  wohlunterrichtete,  gleich- 
zeitige Quelle  zur  Geschichte  Heinrichs  VI.  noch  höher  als  bisher  zu 
bewerten.  Auch  sonst  war  quellenkritisch  hier  noch  um  so  mehr  zu 
tun,  als  die  von  Th.  Toeche- Mittler  (j  1919)  vor  mehr  als  einem  halben 
Jahrhundert  bearbeiteten  Jahrbücher  schon  damals  nicht  auf  der  Höhe 
standen  und  seitdem  nur  für  einzelne  Abschnitte,  namentlich  von  Reincke- 
Bloch,  die  notwendige  Berichtigung  erhalten  hatten.  H.  hat  nun  das 
Gleiche  für  das  eigentUche  Zentralproblem  geleistet :  die  Beziehungen 
Heinrichs  zum  Papsttum. 

Schon  die  Krönnugsvorgänge  von  1191  treten  teilweise  in  neue  Beleuchtung. 
Vor  allem  wird  dann  die  Geschichte  des  Erbkaiserplanes  unter  Ablehnung  des  ßein- 
hardsbrunner  Berichts,  aber  auch  der  von  Krammer  und  Bloch  voi'getrageneu  Theorien 
über  den  staufischen  Kaisergedanken  ^)  auf  eine  gesichertere  Grundlage  zu  stellen  gesucht. 
Xach  schrittweisen  Erfolgen  bedarf  Heinrich  zur  Überwindung  des  Kölner  Widerstandes 
der  Hilfe  des  Papstes.  Die  Kreuznahme  dient  der  Annäherung.  Im  Herbst  1196 
finden  bei  Rom  die  entscheidenden  Verhandlungen  zwischen  Kaiser  und  Papst  statt. 
Das  Ziel  Heinrichs,  Coelestin  IIP,  dessen  Bedeutung  von  H.  höher  gewertet  wird, 
zur  Königskrönung  seines  Sohnes  an  Stelle  des  Kölner  (und  Pal erni itaner)  Erzbischofs 
zu  bewegen  und  dadurch  den  deutschen  Widerstand  zu  bezwingen ,  mag  gegenüber 
abweichenden  früheren  Deutungen  richtig  erkannt  sein.  Fragen  wir  indes  nach  dem 
Gange  der  Verhandlungen  im  einzelnen  und  nach  den  Zugeständnissen,  die  dem 
Papste  für  dies  Opfer  geboten  wurden,  so  geraten  wir  bei  der  Dunkelheit  und  Ein- 
silbigkeit der  Quellen  in  ein  Gestrüpp  von  Hypothesen  und  Konstruktionen,  in  das 
wohl  die  wenigsten  der  sicherlich  ja  klugen,  aber  auch  eigenwilligen  Führung  H.s 
folgen  werden.  Ich  kann  hier  nur  andeuten,  daß  m.  E.  der  von  Giraldus  Cambreusis 
berichtete  große  Plan ,  die  Kurie  für  die  strittigen  und  an  das  Reich  genommenen 
italienischen  Gebiete  durch  eine  umfassende  Bepfründung  im  Reiche,  ja  in  der  ganzen 
abendländischen  Christenheit  zu  entschädigen  (von  voller  Säkularisation  des  Kirchen- 
staats ist  keine  Rede),  daß  dieser  Plan  jenes  letzte  und  höchste  Angebot  Heinrichs 
dargestellt  hat,  von  dem  er  Const.  1,  525  spricht.  Es  ging  über  die  ähnlichen  An- 
erbietungen Barbarossas  an  Lucius  III.  hinaus  einmal  durch  seinen  Umfang,  dann 
auch,  weil  es  die  Abhängigkeit  der  Kurie  von  der  Reichskasse  vermied;  es  war  auch 
nicht  unausführbar,  denn  es  wies  auf  die  Art  voraus,  wie  tatsächlich  später  die 
Finanzierung  der  Papstkirche  großenteils  erfolgt  ist,  und  in  diesem  Zusammenhange 
bedarf  es  wohl  noch  weiterer  Untersuchung.  Diese  richtige  Erkenntnis  hat  sich  nun 
H.  verbaut  durch  seine  kühne  Deutung  einer  späteren  Äußerung  Innozenz'  III.  in 
seiner  sog.  Deliberatio  von  Ende  1200,  nach  der,  in  H.s  Auslegung,  der  Kaiser  1296 
dem  Papste  als  höchstes  Zugeständnis  die  Lehensnahme  des  Reiches   aus  päpstlicher 


1)  Ein  Nachläufer  zu  der  Kontroverse,  auf  die  hier  nicht  eingegangen  werden 
kann,  war  noch  die  Schrift  von  0.  Opper?nami,  Zu  den  sog.  Marbacher  Annalen, 
Hist.  Viert.  18,  1917. 

2)  Die  Kontroverse  darüber  und  die  fast  durchgängig  skeptischen  Kritiken  fallen 
schon  in  die  Zeit  vor  dem  Kriege.  U.  Stutz  faßt  Z.  f.  R.,  g.  A.  b7,  1916,  S.  553,  das 
Ergebnis  dahin  zusammen ,  daß  jene  Forschung  ideen-  und  sprachgeschichtlich  durch 
die  Einflüsse  des  römischen  Rechts  und  der  neubelebten  (Spät)antike,  sowie  durch 
die  volkstümliche  Vermischung  von  König-  und  Kaisertum  nicht  ohne  Bedeutung, 
dagegen  verfassungsgeschichtlich  ganz  unergiebig  sei. 

79 


Hand  angeboten  habon  soll,  um  dagegeu  seinen  Erbkaiserplan  mit  Coelostins  Hilfe 
durchzuführen  und  den  äußerlich  triumphierenden  l'apst  durch  die  damit  erreichte 
Sicherung  der  Thronfolge  schließlich  doch  mattzusetzen.  Die  Ausführungen  Hs.  über 
diesen  Punkt  sind  höchst  interessant,  und  nicht  leicht  würde  ein  andrer  imstande  ge- 
wesen sein,  für  eine  so  unwahrscheinliche  Sache  ein  so  glänzendes  Plädoyer  zu 
halten.  Daß  indes  der  schließliche  Kichterspruch  der  Geschichtsforschung  dement- 
sprechend lauten  wird,  glaube  ich  trotzdem  nicht.  Selbst  wenn  die  Deutung  der 
fraglichen  Äußerung  richtig  wäre,  würde  mau  noch  nicht  gezwungen  sein,  einem  Poli- 
tiker wie  Innozenz,  der  ja  oft  genug  Worte  und  Sinn  im  Interesse  der  päpstlichen 
Sache  zurechtrückt,  schlechthin  zu  glauben.  Jedoch  die  Bedenken  gegen  Auslegung 
und  Verwendung  jener  Äußerung  scheinen  mir  iiberwältigend  zu  sein,  wenn  sie  auch 
auf  anderem  Gebiete  liegen  dürften,  als  auf  dem  der  sprachlichen  Erklärung,  auf  dem 
M.  Tangl  sie  jüngst  gesucht  hat  •).  Auf  das  Einzelne  oinzugeh(!n,  ist  hier  unmöglich, 
doch  hat  natürlich  jeder,  der  sich  mit  der  Geschichte  Heinrichs  VI.  befaßt,  die  Pflicht, 
sich  mit  diesem  Problem  ernstlich  auseinanderzusetzen.  Der  völlige  Abbruch  der 
A'"erhaudlungen ,  die  an  der  Unüberbrückbarkeit  der  territorialen  Forderungen  schei- 
terten, erfolgte  wühl  erst,  als  der  Verdacht  einer  Förderung  der  sizilischen  Ver- 
schwörung den  Papst  traf. 

Haller  hat  auf  Grund  seiner  tiefeindringendeu  Forschungen  auch  ein  knappes 
Bild  der  Politik  Heinrichs  entworfen  in  dem  Vortrage  Kaiser  Heinrich  VI.,  H.  Z. 
113,  1915  (auch  gesondert),  in  dem  über  jene  Studien  hinaus  die  Gesamtbeurteiluug 
am  Schlüsse  beachtenswert  ist.  Der  Vorwurf  eines  Strebens  nach  schrankenloser 
Weltherrschaft  wird  da  abgelehnt.  Nur  eine  Vorherrschaft  über  die  Nachbarländer 
in  Fortführung  der  älteren  Überlieferungen  sei  das  Ziel  gewesen.  Indem  freilich  zu 
dem  kaiserlichen  jetzt  der  normannisch -sizilische  Interessenkreis  hinzutrat  und  die 
Deutschen  hinauswies  auf  das  Mittelmeer,  zur  Hegemonie  auch  im  Orient,  fehlte  au 
einer  Weltherrscherstellung  doch  nicht  gar  viel.  Hätte  nicht  die  Unvernunft  der 
Naturgesetze  dem  Leben  des  großen  Staufers  vorzeitig  ein  Ziel  gesetzt,  so  hätte  wohl 
eine  dauerhafte  Weltmachtschöpfung  entstehen  können,  der  die  Deutschen  niemals 
so  nahe  gewesen  sind  wie  unter  Kaiser  Heinrich  VI.  —  Es  wird  auch  da  erlaubt 
sein,  die  Kraft  der  Gegenwirkungen,  die  durch  Ziele  und  Methoden  der  kaiserlichen 
Politik  notwendig  allenthalben  ausgelöst  werden  mußten,  höher  einzuschätzen  und  die 
Möglichkeit  des  Bestandes  einer  zugleich  so  ausgedehnten  und  so  schroff  eingreifenden 
Herrschaft  entsprechend  niedriger  zu  werten.  Es  soll  aber  noch  einmal  betunt  werden, 
daß  aller  Widerspruch  gegen  die  bei  H.  gewohnten  Üheispitzungen  und  die  allzu 
selbstsichere  Art  des  Vortrags  die  bedeutende  Wirkung  dieser  Arbeiten  nicht  aufhebt. 
Darum  habe  ich  ihnen  hier  auch  mehr  Raum  gewidmet,  als  ich  im  Rahmen  dieses 
Buches  vielleicht  gedurft  hätte. 

Heinrichs  Persönlichkeit  hat,  wie  mir  mehrfache  Anfragen  von 
Frontsoldaten,  die  Bühnenautfüiiruno^  des  Grabbeschen  Dramas  u.  a.  m. 
zeigten,  die  Geister  in  den  ersten  Kriegsjahren,  da  es  wieder  um  das 
Ganze  ging,  lebhafter  beschäftigt,  als  man  angesichts  der  alle  Gedanken 
und  »Sinne  bezwingenden  Gegenwartsereignisse  hätte  glauben  sollen.  Der 
Absturz  war  diesmal  nocli  erschütternder  als  nach  Heinrichs  Tode.  Es  fehlt 
bei  solchem  Interesse  nicht  an  weiteren  Arbeiten  zu  seiner  Geschichte ; 
doch  treten  sie  hinter  den  Hallerschen  Studien  ganz  zurück  ^). 

1)  Vgl.  M.  Tamß,  Die  Deliheraliu  InnoKenx.'  HI.  S.B.  Berl.  Akad.  1910.  der 
den  nichtöffentlichen  Charakter  der  für  das  geheime  Konsistorium  bestimmten  Deli- 
beratio  m.  E.  richtig  bestimmt  und  die  Äußerung  Innozenz'  III.  wohl  auch  mit  Recht, 
wenn  auch  nicht  mit  ausreichender  Begründung,  auf  einen  Vorgang  bei  der  Krönung 
von  1191  bezieht,  und  die  Erwiderung  Hallers,  Hist.  Viert.  20,  1920,  die  trotz  der 
vorgebrachten  Gegenargumente  nicht  das  letzte  Wort  in  dieser  Sache  sein  dürfte. 

2)  Vgl.  A.  Cartellieri,  Heinrich  VI.  und  der  Höhepunkt  der  staufischeti  Kaiser- 
politik, Leipz.  1914,  wo  u.  a.  versucht  wird,  die  Kreuzzugsabsicht  als  das  Primäre 
gegenüber    dem    Erbkaiserplan    hinzustellen;     H.    Stindt,    Zur    Beurteilung    Kaiser 

80 


In  der  Geschichte  Friedriclis  I.  und  Heinrichs  VI.  spielt  be- 
kanntlich das  Spolienrecht  des  Herrschers,  die  Einziehung  des  beweg- 
lichen Nachlasses  der  verstorbenen  Prälaten,  eine  erhebliche  Rolle,  Es 
ist  vielleicht  diejenige  Epoche,  in  der  die  Bhcke  der  Öffentlichkeit  am 
meisten  auf  dies  Recht  gelenkt  gewesen  sind.  Otto  IV.  hat  sogar  ver- 
leumderisch seine  Einführung  erst  durch  Barbarossa  behauptet;  er  selbst 
und  Friedrich  II.  haben  darauf  Verzicht  geleistet.  So  setze  ich  den 
Hinweis  auf  eine  wertvolle  Untersuchung  über  das  Spolienrecht  am  besten 
an  diese  Stelle.  F.  Prochnoic,  Das  Spolienrecht  und  die  Testierfähigkeit 
der  Geistlichen  im  Ahendlande  bis  siim  13.  Jahrh.  (Diss.  Berl.  als 
Teildr.),  Eherings  Hist.  Stud.  136,  1916,  hat  zum  erstenmal  dies  Recht 
auf  breitester  Grundlage,  nicht  nur  so  weit  es  vom  deutschen  König 
geübt  wurde  und  nicht  allein  im  Reichsgebiet,  sondern  auch  in  den 
andern  europäischen  Ländern  untersucht. 

Er  leitet  den  ganzen  Streit  um  die  Spolie  aus  der  grundsätzlichen  Verschieden- 
heit des  römischen  und  germanischen  Rechts  her,  indem  das  letztere  Testamente 
nicht  kennt  und  Verfügungen  eines  Sterbenden  wegen  geschwächter  Dispositions- 
fähigkeit verwirft,  die  Kirche  aber  Vermachungen  von  Fahrnis  durch  Testament  in 
ihrem  Interesse  begünstigt.  Die  Begründung  des  Eiuziehungsrechtes  mit  dem  Vor- 
rechte des  Muutherren  beim  Mangel  von  Deszendenten  fährt  uns  auf  die  Auffassung 
von  AVaas  (oben  S.  65);  es  hängt  eben  eng  mit  dem  Eigentumsrecht  zusammen.  Die 
geistliche  Gewalt  ist  auch  hier  der  angreifende  Teil,  der  nicht  die  Aufhebung  eines 
drückenden  Ausnahmezustandes,  sondern  unter  Beseitigung  eines  alten  Gewohnheits- 
recütes  die  ^^chaffung  eines  neuen  Privilegs  der  Geistlichen  fordert,  um  Reichtum 
und  Macht  der  Kirche  zu  wahren. 

Das  wird  wie  für  die  westeuropäischen  Staaten,  so  auch  für  das  Deutsche  Reich 
näher  ausgeführt  Der  Nachweis  der  sicheren  älteren  Belege  aus  dem  10.  und 
11.  Jahrh.  (mit  Abweichung  von  Tangl),  die  Handhabung  durch  Friedrich  I.,  die  Preis- 
gabe nur  des  Spolien-,  nicht  auch  des  Regalienrechtes  (wie  Krabho  annahm)  1209  und 
]'213,  da  die  bona  ecclesiarum  vacantium  nicht  als  Gefälle  während  der  Vakanz  auf- 
zufassen sind,  die  Einschränkung  der  Regalie  auf  die  wirkliche  Vakanz  seit  121G  und 
die  allmähliche  Durchsetzung  von  Testierfähigkeit  der  Prälaten  und  Intestaterbfolge 
der  Kirche  seit  Friedrichs  II.  Privileg  von  1220,  —  das  und  manches  andre  verdient 
da  gewiß  für  den  Erforscher  der  staufischen  Geschichte  sorgfältige  Berücksichtigung. 

Der  Tod  Heinrichs  VI.  ist  der  große  Wendepunkt  der  deutschen 
Geschicke  im  MA.  Wohl  reichen  die  Kämpfe  des  Kaisertums  mit  dem 
Papsttum  um  die  politische  Vormacht  noch  weit  in  das  folgende  Jahr- 
hundert hiueya.  Aber  das  Weltbild  ist  doch  tiefgreifend  gewandelt: 
Die  Hegenioniesteliung  des  Imperiums,  das  in  seine  zentralen  Unter- 
nehmungen die  Geschicke  der  Nachbarvölker  mehr  oder  weniger  hinein- 
zog, ist  erschüttert;  über  den  zur  Selbständigkeit  und  Gleichbedeutang 
emporstrebenden  Nationen  Europas  thront  in  neuer  und  eigenartiger 
Weltherrscherstellung  das  Papsttum. 


Eeinrichs  VI.  D.  G.  Bl.  15,  1914  (weitgehende  Rechtfertigung);  F.  v.  Reüxetisiein, 
Deutschlands  u.  Englands  erstes  polit.  Begegnen  im  Ziveifrontenkrieg  Kaiser  H.  VI, 
.,üer  Falke'-,  Nr.  2,  1916.  Ferner:  J.  Geyer,  Papst  Klemens  III  1187  —  91,  Jen. 
hist.  Arb.  7,  Bonn  1914.  Sorgfältige  Regesten  der  Kaiserin  Konstanze  bietet  eine 
Heidelb.  Diss.  von  R.  Ries  (1914),  die  leider  noch  nicht  gedruckt  werden  konnte. 
Wenigstens  der  Zeit  nach  ist  hier  auch  einzureihen:  K.  Rauch,  Die  Erwerbung  des 
Herzogtums  Steiermark  durch  die  Babenberger  (1192),  Z.  f.  R.,  g.  A.  38,  1916,  wo 
die   verfassungsgeschichtliche    Bedeutung  des  Vorgangs  gewürdigt  wird. 

Wissenschaftliche  Forschun^sberichte  VIT.  6 

81 


5.  Das  Jahrhundert  päpstlicher  Weltmacht 

Als  die  Zeit  der  Hauptzäsur  im  abendländischen  j\IA.  erscheint 
uns  jetzt  mehr  und  mehr  schon  das  12.  Jahrhundert.  Da  haben  sich 
Jene  geistigen,  künstlerischen  und  wirtschaftlichen  Wandlungen  an- 
gebahnt, die  das  späte  gotische  MA.  von  dem  i'rüheren  scheiden.  Vom 
franz()sischen  Standpunkt  betrachtet,  bedeutet  das  13.  Jahrhundert  trotz 
reichster  Entfaltung  eher  schon  Erstarrung  der  Schöpferkraft  und  Ab- 
stieg. Dagegen  werden  die  vom  Westen  ausgehenden  Anregungen  in 
den  Ländern  des  Imperiums  nun  erst  in  vollem  Umfang  verarbeitet 
und  zu  originalen  Leistungen  gesteigert.  Während  aber  in  Deutschland 
diese  Entwicklung  durch  die  Zertrümmerung  der  politischen  Macht  vor- 
zeitig ins  Stocken  kommt,  zeigt  Italien  im  Ducento  eine  ununter- 
brochene Aufwärtsbewegung  seiner  Kultur.  Seine  wachsende  materielle 
und  ideelle  Bedeutung  zieht  noch  stärker,  als  schon  im  ausgehenden 
12.  Jahrh.  auch  die  politischen  Kräfte  an  sich.  Ein  ganz  italienisch 
gefärbtes  Kaisertum  kämpft  hier  den  letzten  Entscheidungskampf,  aber 
indem  es  unterliegt,  läßt  es  hier  keine  Leere,  wie  in  Deutschland  zu- 
rück, sondern  räumt  nur  den  Platz  dem  siegreichen  Papsttum,  das  wäh- 
rend des  ganzen  1 3.  Jahrh.  die  Zeit  seiner  höchsten  Weltgeltung  er- 
lebt hafi). 

Derjenige  Papst,  der  sie  vor  allen  andern  begründet  hat,  Innozenz  III. 
(1198 — 1216)  ist  durch  die  Forschungen  der  letzten  Jahrzehnte  kon- 
fessionellen Einseitigkeiten  zwar  noch  nicht  gänzlich,  aber  doch  in  zu- 
nehmendem Maße  entrückt.  Man  kennt  ihn  aus  seinen  bewunderungs- 
würdigen Registern  inmierhin  so  gründlich,  daß  die  Forschung  mehr 
darauf  ausgeht,  einzelne  Auffassungen  richtigzustellen-')  oder  gewisse 
Anschauungen  des  Papstes  übersichtlich  herauszuarbeiten  ''j,  als  daß  sie 
viel  tatsächlich  Neues  über  ihn  vorzubringen  wüßte. 

Das  letztere  gilt,  soviel  ich  sehe,  allein  von  dem  kurz  yor  dem 
Kriege  erschienenen  Buche  von  F.  Baetligen,  Die  Begentschaff  Papst 
Innozenz  II I.  im  Königreich  Sizilien,  Heidelb.  Abhandl.  44,  Heid.  i914. 


1)  0.  Hartiq,  Des  Onuplirius  Panviniiis  Sammlung  von  Papsthücbiisscn  in  der 
Bibliothek  Joh.  Jak.  Fiujrjers  (Codd.  lat.  monac.  If^f)— 160),  Hist.  .]ahrb.  .^8,  1917, 
weist  darauf  hin,  daß  diese  Sammlung  an  Papstbildnissen,  von  denen  schon  einzelne 
des  13.  Jahrh.  aaf  gute  Vorlagen  zurückgehen,  auch  an  Grabschriften  von  Päpsten 
und  Kardinälen,  üntenschriften,  Siegeln,  Wappen  usw.  erheblich  reicher  ist,  als  der 
darauf  beruhende  Druck  von  15(i8,  der  aber  erst  mit  Urban  VI.  einsetzt. 

2)  So  ist  in  der  Frage  der  Exkommunikation  Phi]ipi)s  von  Schwaben  der  von  Hauck 
erhobene  Vorwurf  lügenhafter  Erfindung  nicht  aufrechtzuerhalten.  Die  TJnter- 
.scheidung  zwischen  genereller  und  namentlicher  (für  Philip))  nicht  zutreffender)  Ban- 
nung erklärt  die  Widersprüche  der  beiderseitigen  Angaben  hinlänglich.  Vgl.  anknüpfend 
an  die  Ausführungen  von  /''.  Baetinjcn,  M.  I.  ö.  G.  34,  1913,  die  Bemerkungen  von 
E.  EicJmiaun,  Hist.  Jahrb.  35,  1914. 

3)  Dahin  gehört  Erich  W.  Meyer,  Stnafdheoricn  Papst  In>w.\enx,'  III.,  Diss. 
Jen.  1914,  vollständ. :  Jen.  hist.  Arb.  9,  Bonn  1920.  wo  man  eine  bequeme  Zusammen- 
stellung einschlägiger  Belege  aus  den  Registern  findet,  die  freilich  recht  fruchtbar 
erst  dann  sein  würde,  wenn  versucht  wäre,  die  Weiterbildungen  und  Neuprägungen 
gegenüber  deni  schon  von  den  Vorgängern  Gesagten  zu  scheiden. 

82 


Hier  ist  der  einleitende  Abschnitt  von  Winkelmanns  Jahrbüchern  der  deutschen 
Geschichte  unter  Otto  IV.  auf  Grund  der  jüngeren  Forschungen  und  ungedruckten 
Materials  aus  der  Capuaner  Briefsammlung  völlig  neu  gestaltet  und  auch  in  der  Auf- 
fassung vertieft.  Umsicht  und  Maßhalten  der  päpstlichen.  Vormundschaftsregierung, 
die  trotzdem  vergeblich  mit  der  Anarchie  rang,  treten  ebenso  deutlich  hervor,  wie 
die  Vorstellung,  daß  damit  am  besten  auch  das  eigenste  Inte;  esse  der  Kurie  gewahrt 
werde,  und  ihre  enge  Verbindung  mit  dem  Königreich  möglichst  auch  für  die  Zukunft 
gesichert  werden  müsse,  worauf  z.  B.  die  Übertragung  der  wichtigen  Grenzgrafschaft 
Sera  an  einen  Bruder  des  Papstes  zielte.  Unter  den  Beigaben  ist  die  rechtfertigende 
Beurteilung  von  Heinrichs  VI.  getreuem  Helfer  Markward  von  Annweiler ,  den  ja 
auch  Haller  gebührend  würdigt,  und  der  Regesten nachtrag  für  die  Jugendzeit  Fried- 
richs n.  1199—1209  besonders  hervorzuheben^). 

Die  Politik  Innozenz'  III.  2)  umspannte  die  gesamte  christliche  Welt, 
die  abendländische  Geschichte  jener  Zeit  gliedert  sich  mühelos  ein.  Zu 
ihr  stehen  die  bedeutungsvollen  Gedenktage  Frankreichs  und  Englands: 
die  Schlacht  bei  Bouvines  1214 3)  und  der  Erlaß  der  Magna 
Carta  1215  in  engster  Beziehung.  Über  letztere  ist  die  wertvollste 
Veröffentlichung  jüngster  Zeit:  Magna  Carta.  Commemoration  Essays. 
Witli  a  preface  hy  tlie  Bt.  Hon.  Viscount  Bryce.  Ed.  hy  U.  E.  Maiden 
for  ihe  Boyal  hist.  Society  1917. 

G.  B.  Adams  betont  hier,  daß  Innozenz  III.  nicht  als  Lehnsherr  Englands, 
sondern  als  Papst  die  M.  C.  annulliert  habe.  Von  den  sonstigen  Beiträgen  sind  na- 
mentlich die  ständischen  und  rechtsgeschichtlichen  Erörterungen  mehrerer  Gelehrter, 
darunter  J.  H.  Round  und  P.  Vinogradoff  hervorzuheben.  Der  durch  die  jüngeren 
Forschungen  hervorgerufene  Gesamteindruck,  d  e  M.  C  sei  hastig  gearbeitet  und  un- 
geschickt redigiert,  wird  durch  diese  Abhandlungen  nur  noch  verstärkt,  wenn  auch  ihre 
Bedeutung  für  die  Einschränkung  der  absoluten  Königsgewalt  dadurch  natürlich  nicht 
gemindert  wird*). 

Zur  Geschichte  des  Albigenserkrieges  liefert  A.  Villemagne, 
BuUaire  du  hien  heureux  Pierre  de  Castelnau  martyr  de  la  foi  (16  fevrier 


1)  Hierher  gehört  auch,  ein  Teil  der  von  Fed.  Schneider.  Neue  Dokumente  vor- 
nehmlich aus  Siiditalien,  Qu.  u.  Forsch,  aus  ital.  Arch.  16,  1914  (separ.  1913),  her- 
ausgegebenen Urkunden,  die  sich  insgesamt  über  die  Zeit  vom  11. — 13.  Jahrh.  er- 
strecken. 

2)  Arbeiten,  die  zur  Erinnerung  an  den  Tod  Innozenzens  vor  700  Jahren  er- 
schienen, dürften  wissenschaftlich  kaum  in  Betracht  kommen,  so  C.  Meda,  Un  gründe 
assertore  del  papato.  Nel  VII  centenario  della  morte  di  Inn.  ZU,  Rassegna  naz.  38, 
191*>;  G  Domenici,  Inn.  III,  Rom.  1917;  C.  H.  E.  Pirie-  Gordon ,  Innocent  tke 
Great.  An  essay  on  his  life  and  times ,  London  (Jahr?),  mit  streng  kirchlichem 
Standpunkt,  Vgl.  auch  A.  Serafini,  Inn.  UI  e  la  riforma  religiosa  agli  inixi  del 
sec.  XHI,  Rom  1917. 

3)  Ihre  Bedeutung  wurde  gewürdigt  von  A.  Cartellieri,  Die  Sehlacht  bei  Bou- 
vines im  Hahmen  der  europäischen  Politik,  Leipz.  1914  und  von  J.  Gay,  La  bataille 
de  B. ,  Lille  1914.  Vgl.  F.  Rötting ,  Quellenkritische  Untersuchung  der  Chronique 
rimee  des  Philippe  Mousket  für  die  Jahre  1190—1217,  Jen.  Diss. ,  Weimar  1917 
(Teildruck) ;  Roussel,  Annales  du  regne  de  Philippe- Auguste  pour  1212  et  six  premiers 
mois  de  1213,  These,  Paris  1916.  Vgl.  auch  oben  S.  61.  Sittengeschichtlich  gehört 
in  diese  Zeit:  S.  Schcler  (gefall.  1914),  Sitten  und  Bildung  der  französischen  Geist- 
lichkeit nach  den  Briefen  Stephans  von  Tournay  (-j-  1203),  Jen.  Diss. ,  Eherings  hist. 
Stud.  130,  Berl.  1919  (für  den  Säkularklerus  vielfach  recht  ungünstig). 

4)  Vgl.  W.  S.  Mackechnie,  Magna  Charta,  a  comjnentary  etc.,  2.  umgearb. 
Aufl.,  New  York  1914;  TU.  D.  Guthrie,  M.  C.  and  other  addresses,  Oxf.  1917,  und  die 
kurze  Gedenkscbrift  von  X.  M.  Butler,  M.  C.  1215—1915,  New  York  1915.  Wertlos 
ist  J.  R.  Leeming,  Stephen  Langton,  hero  of  M.  C,  Lond.  1915. 

6* 

88 


1208),  Montpellier  1917,  einen,  wie  es  scheint,  nützlichen  Beitrag.  An 
den  4.  Kreuzzug,  für  den  die  wirtschaftlichen  Gegenbestrebungen  der 
Venezianer  gegen  ihre  genuesischen  und  pisanischen  Mitbewerber  als 
ausschlaggebend,  z  B.  auch  für  den  Ausschluß  des  mit  Genua  zu  eng 
verbundenen  Markgrafen  Bonifaz  von  Montferrat  vom  lateinischen  Kaiser- 
thron, betont  werden,  knüpft  die  Studie  von  F.  K.  Futheringham,  Marco 
Sa7iudo  Comjueror  of  the  Archipelago,  Oxf.  1915,  an,  durch  die  ältere 
in  der  Engl.  bist.  Rev.  erschienene  Darlegungen  um  einige  Kapitel  er- 
weitert werden,  um  zu  zeigen,  wie  Älareo  Sanudo,  der  Schwiegersohn 
des  Dogen  Enrico   Dandolo,  sich  sein  Inselherzogtum  schuft). 

Was  endlich  die  Politik  Innozenz'  III.  gegenüber  dem  deutschen 
Reiche  betrifft,  so  eröff"nete  der  seitdem  1917  verstorbene  F.  Michael 
S.  J.  mit  dem  6.  Bde.  seiner  bekannten  Geschichte  des  deutschen  Volkes 
vom  13.  Jahrh.  bis  zum  Ätisg.  d.  31 A.  eine  neue  Sonderabteiluug:  Poli- 
tische Geschichte  Deutschlands  vom  Tode  Kaiser  Heinrichs  VI.  bis  zum 
Ausgang  des  MA.     1.  Buch,  Freib.  i.  B.  1915. 

Da  der  starke  Band  nur  bis  1227  reicht,  so  wäre  es,  in  gleicher  Ausführlich- 
keit fortgesetzt,  ein  Werk  von  ungeheurem  Umfang  geworden.  Eine  derart  ins  ein- 
zelne gehende  Darstellung,  die  großenteils  doch  auch  oft  Gesagtes  wiederholt,  wäre 
allenfalls  noch  wünschenswert,  wenn  man  hoffi'U  könnte,  hier  das  Erreichbare  an  ob- 
jektiver Wahrheit  zu  finden.  Daß  der  sehr  kenntnisreiche  und  scharfsinnige  Vf.  auf 
seine  Weise  ernstlich  nach  Wahrheitserkenntnis  gestrebt  hat,  soll  nicht  verkannt  wer- 
den; aber  das  Ziel  zu  erreichen,  war  er  nicht  imstande,  weil  er  sich  grundsätzlich 
von  vornherein  auf  den  Boden  der  päpstlichen  Partei  stellte  und  damit  auf  eine  über 
den  Dingen  stehende  Beurteilung,  die  auch  dem  gegnerischen  Stand|)uukt  gerecht  zu 
werden  versucht  hätte,  verzichtete.  Er  ist  mehr  Apologet,  als  Geschichtschreiber  und 
bewegt  sich  in  einseitig  konfessionellen  Bahnen,  die  die  historische  AVissenschaft  sonst 
doch  zu  ihrem  Vorteil  mehr  und  mehr  hinter  sich  gelassen  hat.  Ebenso  veraltet 
■wirkt  seine  durchgängig  moralisierende  Art,  die  sich  so  gänzlich  innerhalb  der  einmal 
gewählten  engen  Schranken  bewegt  und  fast  schon  etwas  Übriges  zu  tun  glaubt,  wenn 
er  einräumt,  daß  „der  als  Dichter  große,  als  Charakter  kleine''  Walther  von  der 
Vogelweide  ,, nicht  von  Grund  aus  gemein  war".  Behält  man  das  alles  stets  im 
Auge,  so  mag  man  auch  aus  der  kritischen  Arbeit  dieses  Buches,  die  besonders  in 
17  Exkursen  niedergelegt  ist,  immerhin  Gewinn  ziehen.  Als  geschickter  Apologet 
trifft  er  eben  mehrfach  auch  das  richtige,  wenn  er  etwa  in  Winkelmauns  Jahrbüchern 
Überbleibsel  seiner  früheren  mehr  ghibeilinischen  Auffassung  oder  bei  Hauck  prote- 
stantische Einseitigkeiten  zurückweist.  Weniger  erfolgreich  erscheint  er  bei  Angriffen 
auf  wohlerwogene  Urteile  Fickers,  und  ohne  sorgfältigste  Nachprüfung  sollte  kein 
Forscher  irgendwelche  Ergebnisse  M.s  übernehmen,  wenn  er  auch  die  Pflicht  hat, 
sich  mit  ihnen  auseinandwrzusetzen.  Denn  auch  bei  dieser  kritischen  Xleinarbeit  ist 
!M.s  Geist  durchaus  befangen;  für  Unvoreingenommenere  ergibt  sich  oftmals  die 
Widerlegung  leicht,  wie  das  H.  Otto,  Eist.  Jahrb.  37,  1916  an  einigen  Beispielen 
gezeigt  hat. 

Auf  den  sehr  reichen  Inhalt  im.  einzelnen  einzugehen,  ist  hier  un- 
möglich. Er  leitet  uns  bereits  in  die  Geschichte  Kaiser  Fried- 
richs II.  hinüber. 


1)  Vgl.  jetzt  auch  H.  Krctschmayr,  Gesch.  von  Venedig  II,  Gotha  1920.  Über 
den  alten  byzantinischen  Kaiser  Isaak  II.  Angelos:  F.  Coqnas.'io,  Un  impcratore 
bixayitino  dclla  decadenxa,  Rom  191;').  Auch  das  umfassendere  Work  von  L.  Oeeo- 
nomos ,  La  vie  religieuse  dans  l' Empire  byxaiitin  au  temps  des  Comnhies  et  des 
Anges,  Par.  1918,  sei  hier  angemerkt. 

84 


"Wenn  schon  dessen  Anfänge  bis  zum  ersten  Bruch  mit  dem  Papsttum  hier  mit 
unverteunbarer  Abneigung  dargestellt  sind ,  wie  wäre  es  erst  bei  einer  Fortsetzung 
des  Buches  für  die  Zeiten  der  großen  Kämpfe  geworden !  Eine  Vorstellung  davon  erhält 
man  aus  zwei  vorbereitenden  Untersuchungen  Michaels  für  den  nächsten  Band:  Eine 
der  auf  fallendsten  Umcahrheiten  Kaiser  Friedrichs  IL,  "L.  t.  kath.  Theol.  40,  1916, 
wo  er  Fickers  Ansicht,  die  Ernennung  Rainalds  von  Spoleto  zum  Statthalter  der  Mark 
Aucona  im  Juni  12'28  sei  nur  Eventualauftrag  gewesen,  bekämpft,  und  Ist  Kaiser 
F.  IL  im  Aug.  und  Sept.  1227  schiver  krank  gewesen?  ebda.  41,  1917,  wo  der  Krauk- 
heitsgrund  Friedrichs  für  seine  Eückkehr  von  der  bereits  angetretenen  Kreuzfahrt  im 
Einklang  mit  der  Behauptung  Gregors  IX.  wieder  als  unwahre  Fiktion  hingestellt  wird. 
Bei  solchem  durchgängigen  Mißtrauen  und  Gegensmn  hätte  M  uns  schwerlich  tiefer 
in  Wesen  und  Politik  des  letzten  großen  Staufers  einführen  können  ^). 

Durchschlagendes  füi'  dies  Thema  ist  aus  den  Berichtsjahren  auch 
sonst  nicht  gerade  zu  verzeichnen ;  doch  war  die  Einzelforschung  reich 
genug.  Von  den  deutschen  Geschichtsquellen  zu  seiner  ersten  Regie- 
rungshälfte hat  die  allerdings  viel  weiter  zurückgreifende  Ursperger 
Chronik  des  Propstes  Burchard  (bis  1229)  in  den  Script,  rer.  Germ, 
durch  0.  Holder-Egger  (f  1911)  und  B.  v.  Simson  (f  1915)  eine  zweite, 
erheblich  verbesserte  Auflage  erhalten,  die  gegenüber  der  vorigen  nament- 
lich einen  reichen  Kommentar  voraus  hat  {Burcliardi  praepositi  ürsper- 
gensis  Chronicon,  ed.  II,  Hann.-Leipz.  1916). 

Als  den  Verfasser  der  Sächsischen  Weltchronik  hatte  schon  K.  Zeumer 
1910  mit  guten  Gründen  wieder  Eike  v.  Repgow,  den  Verfasser  des 
Sachsenspiegels,  in  Anspruch  genommen,  den  er  wegen  eines  Hinweises 
in  der  Chronik  gegen  Ende  seines  Lebens  ins  Kloster  eintreten  ließ, 
wie  er  auch  in  der  Jugend  zum  Geistlichen  bestimmt  gewesen  sei.  Die 
Autorschaft  Eikes  hat  H.  Ballschmiede,  Die  sächsische  Weltchronih,  Diss. 
Berl.  1914,  durch  den  Nachweis,  daß  einige  für  Eike  anstößige  Stellen, 
so  die  betr.  des  geistlichen  Standes,  fremde  Zusätze  seien,  bekräftigt; 
sie  ist  auch  gegen  die  Bedenken  A.  Hoimeisters  (in  der  oben  S.  69 
angeführten  Schrift)  aufrechtzuhalten.  W.  Möllenberg,  Elke  v.  Repgotv, 
H.  Z.  117,  1917,  hat  darauf  zusammengetragen,  was  sich  aus  Werken 
und  Urkunden  für  Eikes  Lebensstellung  und  Anschauungen  etwa  ge- 
winnen läßt,  wobei  sein  völliger  Laiencharakter  scharf  betont  wird.  Viel- 
fach ist  da  freilich  über  Vermutungen  nicht  hinauszukommen ;  das  freie 
Dienstverhältnis,  in  dem  E.  nacheinander  zu  mehreren  Fürsten  gestanden 
haben  soll,  bedarf  wohl  noch  der  Nachprüfung. 

Nach  allem  Streit  der  Meinungen^)  war  es  auch  den  Juristen  ein 
Bedürfnis,  über  das  einzelne  hinweg  zu  einer  Zusammenfassung  von 
Eikes  Anschauungf-n  zu  gelangen.  H.  Fehr,  Die  Staatsauffassung  Eikes 
V.  Bepgau,  Z.  f.  R.,  g.  A.  37,  1916,  hat  eine  Rekonstruktion  des  staat- 
lichen Gesamtbildes  nach  Eikes  Werken  versucht,  die  als  eine  Art  Gegen- 


1)  Vgl.  G.  Schiumherger ,  Une  prise  de  possession  chretienne  de  la  rille  de 
Jerusalem  en  l'an  1229,  Revue  hebdomadaire,  Jan.  19,  1918. 

2)  Zur  Einfühi-ung  in  die  Kontroversen  vgl.  etwa  G.  Colin,  Der  Kampf  um  den 
Ssp.,  Festgabe  der  Univ.  Zürich  z.  Ein  weih.  d.  Neubauten  1914.  Das  von  W.  Ernst 
angenommene  Verhältnis  der  Abhängigkeit  des  Auetor  vetus  de  beneficiis  vom  Ssp. 
Lehnrecht  bestätigt  E.  Möller,  Z.  f.  R.,  g.  A.  38,  1917;  vgl.  ebda.  37,  1916:  F.  Rosen- 
stock,  Die  Verdeutschung  des  Ssp.,  Z.  f    R.,  g.  A.  37,  1916. 

85 


stück  zu  V,  Belows  Bucli  über  den  deutschen  Staat  im  MA.  (vgl.  oben 
S.  43)  gelten  darf,  für  den  Anfänger  leichter  zu  überschauen,  weil  es 
uns  das  innere  Keichsgelüpje  zu  bestimmter  Zeit  (1220  —  30)  vorführt  und 
der  V.  Belowschen  Polemiken  entbehrt. 

Noch  war  damals  die  Staatseinheit  und  wenigstens  eine  gewisse  Leistungskraft 
des  Ganzen  vorhanden.  In  dem  Streben ,  die  zertrennenden  Reohtsgegensätze  zur 
Erhaltung  der  Einheit  zu  überwinden,  sieht  F.,  der  natürlich  auch  zu  manniufachen 
Streitfragen  (z.  B.  betr.  df;r  Bannleihe,  vgl.  oben  S.  49,  in  konservativem  Sinne) 
Stellung  nimmt,  nicht  zum  wenigsten  Eikes  Größe. 

E.  Eichmann  hat  Die  Stellung  Eikes  v.  Repgau  zu  Kirche  tmd 
Kurie,  Hist.  Jahrb.  3b,   1917,  noch  näher  ins  Auge,  gefaßt. 

Jenen  Rechtszwiespalt  zeigte  gerade  in  jenen  Jahren  vornehmlich  auch  das  in 
starker  Wandlung  begriffene  Kircheurecht.  Noch  waren  die  sich  anbahnenden  hiero- 
kraiischen  Umbildungen  nicht  in  die  Praxis  gedrungen;  wer,  wie  der  konservative 
Eike  auch  hier  nur  das  bisher  geltende  Recht  abspiegelte  und  für  das  gleich- 
berechtigte einmütige  Zusammenwirken  von  Papsttum  und  Kaisertum  eintrat,  war 
darum  ebensowenig  wie  manche  Kauouisteu  jener  Tage  von  einem  kirchenfemdlichen 
Zuge  erfüllt.  Wenn  K.  0.  Hugdmann  mit  dieser  Gesamtauffassung  im  allgemeinen 
wohl  einverstanden  i-st  und  insbesondere  die  Kinflüsse  des  maßvollen  Kanonisten  Jo- 
hannes Teutonicus,  der  als  Domherr  Joh.  Zemeke  in  Halberstadt  ein  engerer  Lands- 
mann des  Sachseuspieglers  war,  auf  Eike  betont,  so  möchte  er  doch  in  einigen  Punkten 
dessen  staufisch-nationale  Gesinnung,  die  er  freilich  von  der  imperialistischen  scheiden 
zu  können  glaubt,  erkennen.  In  der  Abhandhing:  „In  den  Ban  mit  reckte  komen'', 
Z.  f.  R.  38,  k.  Ä.  7,  1917,  dürfte  er  gegen  Eichmanns  Auslegung  (=  iudiqio,  im 
Unterschied  von  der  excommunicatio  latae  sententiae)  erwiesen  haben,  daß  der  Aus- 
schluß von  der  Wahl  zum  Könige  den  iusta  causa  Gebannten  treffen  sollte,  wobei 
die  fürstlichen  Wähler  selbst  die  Überprüfung  vorzunehmen  gehabt  hätten  (ähnlich 
.schon  J.  Hashngcn  ebda.  37,  k.  A.  6,  1916).  Die  unt^'i-schiedliche  Behandlung  von  Bann 
und  Acht  im  Landrecht  und  Lehnrecht  des  Ssp.  deutet  auf  den  Einfluß  von  Fried- 
richs II.  "Privileg  an  die  geistlichen  Fürsten  von  1220  und  rückt  die  Datierung  des 
Werkes  innerhalb  des  Zeitraums  von  1215—35  mehr  in  die  erste  Hälfte.  Von  H.s 
winteren  kanonistischen  StreifKÜgen  durch  den  Sachsenspiegel,  Z.  f.  R.  40,  k.  A.  9, 
1919,  kommt  hier  namentlich  der  erste  Abschnitt:  Die  Wirkungen  der  Kaisenveihe 
nach  dem  Ssp.  in  Betracht.  Im  Zusaminenhange  mit  den  Zeitanschauungen  wird  hier 
der  Stelle  Ssp.  Landr.  III,  52,  §  1  die  Auslegung  gegeben,  die  Weihe  durch  den  Papst 
verleihe  lediglich  den  Kaisertitel,  nicht  die  schon  durch  die  deutsche  Wahl  begründete 
kaiserliche  Gewalt.  U.  Stutz  hat  in  einem  Nachwort  sogleich  widersprochen,  und  in 
der  Tat  läßt  die  farblose  Fassung  der  Stelle  nicht  sicher  erkennen,  daß  Eike  hier  den 
Standpunkt  ausdrücklich  habe  vertreten  wollen,  auf  den  man  sich  in  Deutschland 
Später,  1252  und  zur  Zeit  Ludwigs  d.  B. ,'  gegenüber  den  päpstlichen  Ansprüchen 
allerdings  gestellt  hat.  Die  persönliche  Haltung  Eikes  hat  aber  H.  im  allgemeinen 
wohl  richtig  umschrieben  *). 

Eine  eingehende  Beschäftigung  mit  den  Werken  dieses  großen 
Juristen,  dessen  Wertschätzung  nach  einer  Zeit  hyperkritischer  Gering- 

1)  Eine  kleinere  Arbeit  aus  A'.  Zemncrs  Nachlaß,  Das  vermeintliche  Wider- 
siandsrecht  gegen  Unrecht  des  Königs  u.  Richters  im  Ssp.,  Z.  f.  R.,  g.  A.  35,  1914, 
hat  bei  der  Forschung  gegenüber  der  älteren  Meinung  keine  Annahme  gefunden. 
A.  Pfalx,  Die  Überlieferung  des  Deutsche n^^picgcls,  S.  B.  d.  Wien.  Ak.  191,  1919,  läßt 
da.s  Verunglückte  des  Versuches,  das  ösp. recht  in  allgemeindeutsche  Form  umzu- 
gießen, deutlich  erkennen,  führt  aber  über  Fickers  Aasgabe  nicht  eiheblich  hinaus.  — 
H.  Knapp,  Das  Rcchtshuch  Ruprechts  v.  Freisiinj  (Ri2S) ,  Leipz.  1916,  macht  uns 
mit  einer  späteren ,  aus  der  Rechtspraxis  hervorgewachseueu  Piivatarbeit  nach  Art 
der  S])iegel  des  13.  Jh.  bekannt,  die  namentlich  straf-,  gewerbe-  und  lehenrechtliohe 
Bestimmungen  rnHifilt 

86 


achtung  längst  wieder  in  steilem  Aufstieg  ist,  bleibt  für  die  Erkenntnis 
der  deutschen  Zustände  unter  Friedrich  II.  unerläßlich. 

Als  sittengeschichtliche  Quelle  wird  man  daneben  die  Schriften 
seines  Zeitgenossen  Caesarius  v.  Heisterbacli,  der  freilich  ein  ganz 
andrer  Heiliger  war,  nicht  mißachten. 

/.  Oreven  hat  sich  wiederholt  mit  ihnen  beschäftigt  [Kleinere  Studien  xii  C.  v.  H., 
Ann.  d.  hist.  Ver.  f.  d.  Niederih.  99,  1915,  und  Die  EnMekung  der  Vita  Engelberti 
des  G.  V.  E.,  ebd.  102,  1918).  Diese  Vita,  ursprünglich  zur  Aufnahme  in  die  Bücher 
der  Mirakel  bestimmt,  dann,  um  den  Märtyrertod  des  tüciitigen  Reichsverwesers  zu 
preisen,  ausführlicher  nnd  selbständig  gestaltet,  ist  natürlich  die  Hauptquelle  für 
W.  Kleist,  Der  Tod  des  Erzbischofs  Engelbert  von  Köln,  Diss.  Berlin  1914,  gedr.  1918 
(auch  Z.  f.  vaterl.  Gesch.  u.  Alt.  Westf.  75,  1917),  der  einigermaüen  wahrscheinlich 
macht,  daß  Gefangennahme  statt  Tötung  von  Friedrich  von  Ysenhurg  beabsichtigt  war, 
und  als  Grund  von  dessen  Feindschaft  die  Bestrebungen  Engelberts  ansieht,  seine 
lothringische  Herzogsgewalt  stärker  zur  Geltung  zu  bringen. 

Bleiben  wir  zunächst  bei  den  deutschen  Verhältnissen  unter 
Friedrich  II.  stehen,  so  gehört  hierher  der  wichtigste  Teil  der  Abhand- 
lung von  K.  Weller,  Zur  Organisation  des  EeicJisgiifes  in  der  späteren 
Stauferseit,  Forsch,  u.  Versuche,  Festschr.  f.  D.  Schäfer,  Jena  1915.  In 
den  beiden  ersten  Jahrzehnten  des  13.  Jahrh  wurde  eine  Neuordnung 
des  gesamten  Reichsgutes  und  staufischen  Hausbesitzes  versucht,  bei  der 
durch  Anlage  von  Städten  und  Burgen,  Verbesserung  des  Münzwesens 
und  Bau  von  Reichsstraßen  eine  vernünftigere  Verwaltung  und  vorteil- 
haftere Nutzung  erstrebt  wurde.  Zu  den  damals  neu  eröffneten  Reichs- 
straßen möchte  W.  doch  auch  abweichend  von  der  Verlegung  in  das 
12.  Jahrh.  durch  Karl  Meyer  (1911)  den  Gotthardpaß  rechnen,  dessen 
Gangbarraachuag  die  Reichsunmittelbarkeit  von  Uri  (1231)  und  Schwyz 
nach  sich  gezogen  habe. 

Andrerseits  weist  Karl  Meyer,  Zum  Freiheitsbrief  König  Heinrichs  für  die  Ge- 
meinde Uri  V.  26.  Mai  1231,  22.  hist.  Neujahrsbl.  d.  Ver.  f.  Gesch.  u.  Alt.  v.  Uri 
1916,  wenigstens  für  Uri  die  Initiative  dazu  nicht  einer  weitsichtigen  Reichspolitik, 
sondern  den  Urneru  zu,  welche  die  Summe  zur  Lösung  des  den  Habsburgern  ver- 
pfändeten Tales  selbst  aufbrachten. 

Willi)  Cohn,  Kaiser  Friedrich  II.  und  die  deutschen  Juden,  Monatsschr.  f.  Gesch. 
u.  Wiss.  d.  Jud.  62,  1918,  ordnet  abweichend  von  der  einseitigen  Beurteilung  durch 
Graetz  Friedrichs  Haltung  den  deutschen  Juden  gegenübei  ganz  in  die  Gesichtspunkte 
seiner  großen  Pohtik  ein,  die  ihn  zwang,  mannigfache  Rücksichten  zu  nehmen ,  ohne 
daß  für  ihn  persönlich  Voreingenommenheit  und  Intoleranz  eine  Rolle  gespielt  hätten. 

Zu  den  wichtigsten  inneren  Wandlungen  der  an  Verfassungs- 
neubildungen so  reichen  Epoche  Friedrichs  II.  gehört  sicherlich  die  sich 
anbahnende  Verengerung  des  Kreises  der  Königswähler,  die  bald  nach 
dem  Tode  des  Kais' rs  zum  Kurfürstentum  führte  und  Deutschland 
zum  reinen  Wahlreich  machte.  Man  kennt  die  endlose  Erörterung  dieses 
Problems.  B.  Wunderlich,  Die  neueren  Ansichten  über  die  deutsche 
Königsivahl  und  der  Ursprung  des  KurfürstenkoUegizims,  Eherings  hist. 
Stud.  114,  Berlin  1913,  gibt  aus  den  beiden  letzten  Jahrzehnten  vor 
1913  den  Inhalt  von  etwa  50  Schriften  zu  dieser  Streitfrage.  Man  mag 
dies  Buch  mit  einiger  Vorsicht  zur  ersten  Einführung  verwenden.  Die 
jüngeren  Erscheinungen,    die    bis  in  das  Jahr  1914  hineinreichen,  sind 

87 


nicht  durchweg  erfreulich.  ludem  die  Quellenuüterlage  sich  nicht  mehr 
erweiterte,  kam  man  entweder  zu  Wiederhokingen  oder  zu  phantasie- 
vollen Konstruktionen,  bei  denen  die  Theorien  über  die  Kaiserwalil  (vgl. 
oben  S.  79j  eine  große  Rolle  spielten.  Da  diese  Forschung  mit  Kriegs- 
beginn einstweilen  ins  Stocken  gekommen  ist,  so  kann  hier  darüber 
niclit  im  einzelnen  berichtet  werden.  Übersichten  findet  man  bei 
M.  BucJiner ,  Zur  neuesten  Literatur  iiher  die  Entstehung  des  Kur- 
fürstenkoUegs,  Hist.  Jahrb  37,  1916  und  G.  Bonivetsch,  Neue  Beiträge 
zur  Geschichte  des  Kurfürstcnlcollegiums  und  der  deutschen  Köniqsivahl, 
Lit.  Rundsch.  40,  1914.  Auch  auf  die  eindrucksvollen  Bemerkungen 
von  Ernst  Mayer ,  Z.  f.  R.,  g.  A.  35,  1914,  8.  528,  sei  verwiesen.  Das 
schon  oben  S.  45  genannte,  in  seinem  reichen  Inhalt  nicht  leicht  knapp 
zu  umschreibende  Buch  von  E.  Bosenstoch,  der  die  Stämme  als  kon- 
stitutive Verbände  der  älteren  Zeit  abgelöst  werden  läßt  durch  die  zum 
Lehnshof  des  Königs  vereinigten  Reichsfürsten  mit  den  Erzbeamten 
als  gegebenen  Führern,  verdient  auch  hier  zum  mindesten  vorsichtige 
Berücksichtigung.  Den  soliden  Boden  einer  nüchternen  Einzelunter- 
suchung betritt  man  mit  der  Schrift  von  K.  G.  Ilugelmann,  Die  Wahl 
Konrads  IV.  zu  Wien  i.  J.  1237,  Weim.  1914. 

Die  für  die  erste  Abspaltung  eines  engeren  Wahlkollegiums  \Aächtigen  Vorgänge 
sind  mit  aller  Sorgfalt  geprüft,  wenn  man  auch  über  Einzelheiten  verschiedener  An- 
sicht sein  kann.  Eine  gewisse  Unklarheit  hat  das  Hineinspielen  der  Kaiserwahlidee 
bereitet.  Ich  möchte  die  Erhebung  Konrads  jetzt  doch  nur  insofern  für  imregelmäßig 
halten,  als  der  Wahl  die  abschließende  Krönung  nie  gefolgt  ist,  und  damit  allerdings 
einer  Eigenständigkeit  wie  bei  Heinrich  (VII. )  besser  vorgebeugt  wurde,  überdies  der 
lebende  Vater  die  Rolle  des  Sohnes  jetzt  schärfer  auf  die  eines  hießen  Vertreters  be- 
schränkte. Gewiß  ist  der  Erbanspruch  des  staufischen  Hauses  in  der  Wahlurkunde 
stark  betont.  al)er  daß  Konrad  nach  des  Vaters  Tode  auch  in  dessen  außerdeutschen 
Eeichen  sofort  die  volle  Herrschaft  (ohne  den  kaiserlichen  Titel)  anzutreten  hatte, 
entsprach  doch  nur  dem  geltenden  Staatsrecht^). 

In  die  vierziger  Jahre  iührt  uns  M.  Stimming,  Kaiser  Friedrich  IL 
und  der  Abfall  der  deutschen  Fürsten,  H.  Z.  120,  1919.  Auf  die  ego- 
istischen Gesichtspunkte  der  fürstlichen  Territorialpolitik,  in  die  der  Vf. 
bei  seinen  Mainzer  Studien  tiefere  Einblicke  getan  hat,  wird  hier  der 
Hauptnachdruck  für  ihr  Verhalten  gelegt.  Erstmalig  verwendet  ist  eine 
wichtige  Mainzer  Urkunde  von  1242,  die  uns  den  Mainzer  Domkustos 
Friedrich  als  leidenschaitlichen  staufischen  Parteigänger  zeigt. 

Albert  Beham,  jener  geschäftige  Agent  der  Kurie  bei  den  deutschen  Fürsten, 
des.sen  Konzeptbuch  zur  Neuausgabe  in  den  Epistolae  .selectae  der  Alon.  Germ,  in 
Aussicht  genommen  ist,  wurde  von  G.  Leidinger,  Untersuclnmgen  xur  Passauer  Ge- 
schichtsschreibung des  MA.,  S.B.  d.  Münch.  Ak.  1915.  als  Verfasser  eines  in  Bruch- 
stücken erhaltenen  Geschichtswerkes  wahrscheinlich  gemacht,  das  man  bi.sher  fälsch- 
lich dem  Mitte  des  15.  Jahrb.  lebenden  Domdekan  Bm-khard  Krebs  zugeschrieben  hat. 

Den  Hauptschauplatz  der  Wirksamkeit  des  letzten  großen  Staufers 
bildete  Italien.  Für  dies  Gebiet  ist  daher  die  Forschung  reicher,  zu- 
mal   daran    auch   das  Ausland  beteiligt  ist.     Um  die  Hoffnung,    einmal 


1)  Gegen  von  Dungerns  Leugnung  des  Walilmomentes  für  das  ältere  Deutsche 
Reich  wendet  sich  K.  G.  Htigelmmiti ,  W(fr  Deutschland  eifi  Wahlreich?  M.  I. 
ö.  G.  36,  1915. 

88 


eine  wissenschaftlich  wertvolle  Ausgabe  der  sizilischen  Konstitutionen 
Friedrichs  zu  erhalten,  hat  uns  der  Krieg,  der  H.  Niese  hiuwegrafFte, 
betrogen.  Sie  wäre  auch  die  Grundlage  gewesen,  auf  der  sich  die  noch 
immer  fehlende  Gesamtdarstellung  von  Verfassung  und  Verwaltung  dieses 
wunderbaren  Staatswesens  hätte  aufbauen  können.  So  bleiben  wir  vor- 
derhand auf  Arbeiten  für  einzelne  Verwaltungszweige  angewiesen,  und 
da  ist  die  wertvollste  jüngere  Veröffentlichung  die  von  E.  Sthamer,  Die 
Verwaltung  der  Kastelle  im  Königreich  Sizilien  unter  Kaiser  Friedrich  II. 
und  Karl  I.  von  Änjou.  (Ergänzungsbd.  1  zu  dem  vom  preuß.  bist. 
Institut  in  Rom  herausg.  Werke :  Die  Bauten  der  Hohenstaufen  in  Unter- 
italien.)    Leipz.   1914. 

Es  war  bekanntlich  ein  Hauptmittel  zur  militärischen  Sicherung  seines  Reiches, 
daß  Friedrich  die  wichtigsten  Burgen  namentlich  in  den  Grenzgebieten  an  sich  brachte, 
sie  durch  Neuanlagen  vermehrte ,  und  anstatt  sie  als  Lehen  auszutun ,  in  staatliche 
Verwaltung  nahm.  "Wie  das  neue  Verwaltungssystem,  das  nahezu  drittehalbhundert 
Burgen  umfaßte,  beschaffen  war  und  arbeitete,  erfahren  wir  zum  erstenmal  aus  dieser 
Darstellung.  Außerdem  Uikundenmaterial  Friedrichs,  vornehmlich  dem  gegen  Winkel- 
manns  Druck  verbe.s.sert  herausgegebenen,  topographisch  überaus  wichtigen  Statutum 
de  reparatione  castroruvi  beruht  sie  weitgehend  auf  Auszügen  aus  den  reichen  Re- 
gisterbänden Karls  I.  von  Anjou,  der  auch  in  dieser  Hinsicht,  so  mit  dem  gewaltigen 
Ausbau  der  Festung  Lucera^j,  die  staufischen  tJberlieferungen  fortführte. 

Die  Kriegsrüstung  Friedrichs  II.  zur  See  hat  Willy  Cohn  in  mehreren 
Einzelaufsätzen,  die  trotz  ihres  halbpopulären  Anstrichs  und  der  etwas 
entlegenen  Druckstelle  auf  gründlicher  Forschung  beruhen,  behandelt. 
Nachdem  er  sich  schon  früher  durch  eine  Studie  über  die  normannisch- 
sizihsche  Flotte  (19 10)  die  nötige  Grundlage  geschaffen  hatte,  schrieb 
er  während  der  Berichtsjahre  die  Aufsätze:  Der  Kampf  der  Flotte 
Kaiser  F.  IL  gegen  Genua-);  Organisation  und  Venvaltung  der  Flotte 
Kaiser  F.  II.;  Die  Kreiazugsflotten  Kaiser  F.  II,  alle  in  der  Armee- 
u.  Marine  Zeitschr.  „Überall**  1916  Jan,  Febr.,  1918  Okt.,  Nov.,  Dez., 
1919  Aug.,  Sept.;  dazu  eine  Zusammenstellung  der  Lebensdaten  von 
Friedrichs  Admiral  Heinrich  von  Malta,  Hist.  Viert.  18,  1916^).  Seit- 
dem hat  er  auch  die  Flotte  unter  Konrad  IV.  und  Manfred  (Berl.  1920) 
behandelt,  so  daß  wir  uns  nun  über  diesen  bisher  vernachlässigten  Teil 
des  staufisch-sizilischen  Staatswesens,  wenn  auch  etwas  mühsame,  so 
doch  hinreichende  Aufklärung  verschaffen  können. 

Friedrichs  persönliche  Kulturbestrebungen  erfahren  eine  neue 
Beleuchtung  durch  F.  Wiedemami,  Fragen  aus  dein  Gebiet  der  Natiir- 


1)  Es  sei  hier  gleich  hingewiesen  auf  P.  Egicli,  La  colonia  Saracena  di  Lucera 
e  la  sua  distrtm'one,  Neap.  1915,  fortgesetzt  im  Arch.  stör.  nap.  39.  Derselbe  gab 
einen  Codice  diplomatico  dei  Saraceni  di  Lurera,  Neap.  1917,  heraus.  Inhaltlich 
nicht  bekannt  ist  mir  die  kurze  Schrift  von  R.  Napolitaiio,  Federico  II,  Re  Manfredi 
e  le  Pugiie,  Andria  1914. 

2)  Vgl.  auch  C.  Imppviale  di  S.  Atigelo,  Genom  e  Federico  II  di  Hohenstaufen, 
Rassegna  naz.  37,  1915;  Th.  Hirschfeld,  Drei  neue  Kaisern rkunden  ans  Genua,  Qu. 
u.  Forscli.  aus  it.  Arch.  16,  1914,  veröffentlicht  zwei  Urkunden  Friedrichs  U. ,  eine 
Karls  IV. 

3)  Vgl.  auch  ders.,  Das  Amt  des  Admirals  in  Sizilien  unter  Kaiser  F.  II.  in 
Beitr.  z.  Sprach-  u.  Völkerk.,  Festschr.  f.  Alfr.  Hillebrandt,  Halle  1913. 

89 


Wissenschaften,    gestellt    von    Friedricli    II.    dem    Hohenstaufen ,    A.  f. 
Kult.  11,   1914. 

Aus  einer  Schrift  des  ägyptischen  Rechtsgelehrten  Qarafi .  der  x.wi.-,' In-n  1283 
und  1286  starb,  erfahren  wir,  daß  Friedrich  zur  Zeit  des  Sultans  al  Kamil  (1218  —  38) 
den  muslimischen  (jelehrten  zur  Prüfung  Fragen  vorgelegt  hat,  die  ihn  für  physi- 
kalisch-astronomische und  physiologisch-optische  Problenie  lebiiaft  interessiert  zeigen  '). 

Das  Bild  des  staufischen  Kaiseis,  wie  es  uns  in  der  Chronik  seines  jüngeren 
Zeitgenossen  Salimbene  erscheint,  und  der  bunte  Hintergrund  italienischi.'U  Lebens, 
von  dem  es  sich  abhebt,  sind  jetzt  weiteren  Kreisen  zuganglich  gemacht  durch  die 
sorgfältige  Übersetzung  von  Ä.  Dorcn,  Die  Chronik  des  Minoritcn  Salimbene  von 
Parma,  Geschichtschreiber  d.  deutsch.  Vorzeit  9.j.  94,  Bd.  1.  2,  Leipz.  1914.  Die 
biographisch -kritische  Einleitung  faßt  die  neueren  Forschungen,  die  ja  das  meiste 
0.  Holder-Egger  verdanken,  kurz  zusannnen-). 

Der  j^roße  Konflikt  mit  dem  Papsttum  entstand  bekanntlich 
nicht  aus  Unnachgiebigkeit  Friedrichs  gegenüber  den  vordringenden 
kirchlichen  Forderungen.  Ein  Punkt,  an  dem  allenthalben  die  Ansprüche 
von  Staat  und  Kirche  aufeinander  prallten,  war  die  erstrebte  Steuer- 
freiheit der  Geistüchen.  Im  Gegensatz  zu  Frankreich  und  England  kam 
Friedrich,  der  da  schon  an  einzelne  Verfügungen  seiner  Vorfahren  an- 
knüpfen konnte,  den  Forderungen  der  Kirche,  die  einen  uübelasteten 
Klerus  schon  im  Interesse  ihrer  eignen  Besteuerungspiäne  brauchte,  er- 
staunlich weit  entgegen.  Hat  man  doch  sein  Krönungsgesetz  vom  22.  Nov. 
122Ü  geradezu  als  „Magna  Carta  der  deutschen  Kirchenfreiheit"  be- 
zeichnet. Diejenigen  Gewalten  im  Reiche,  die  sich  künftighin  der 
steuerlichen  Exemtion  des  Klerus  —  und  in  gerichtlicher  Hinsicht  lagen 
die  Dinge  ähnlich  —  mit  zäher  Hartnäckigkeit  entgegensetzten,  und  in 
der  Zukunft  auch  manche  Erfolge  nach  dem  Vorbilde  der  westeuro- 
päischen Staatsgesetzgebung  errangen,  waren  Städte  und  Territorien. 
Für  Deutschland  hat  dies  Thema  jetzt  E.  Mach,  Die  hirchliche  Steuer- 
freiheit in  Deutschland  seit  der  Dehretalengesetzgehiing ,  Stutz'  kirchen- 
rechtl.  Abh.  88,  Stuttg.  1916,  vorzüglich  und  umfassend  bearbeitet^). 
Auch  für  Italien  möchte  sich  wohl  aus  einer  ähnlichen  Gesamtbehand- 
lung mancherlei  Aufklärung  ergeben. 

Wie  eifrig  Friedrich  auch  in  Sachen  der  Ketzerverfolgung  der 
Kirche  das  weltliche  Schwert  zur  Verfügung  stellte  und  der  Einführung 
der  Inquisition  ')  Vorschub  leistete,  ist  bekannt.    Der  groIJe  Kampf  ging 


1)  Vgl.  auch  K.  Siulhoff,  Ein  diätetischer  Brief  an  Kaiser  F.  IL  von  seinem 
Ilofpliilosoplien  Maaister  Thcodorns,  Arch.  f.  Gesch.  d.  Mediz.  9,  1916. 

2)  Vgl.  E.  Emerton,  Fra  Salimbene  and  tlie  Francisean  ideal,  Harvard  Theo- 
logical  Review,  Okt.  1915;  P.  M.  Bicilli,  Salimbene,  Odessa  1916. 

y)  In  enger  Berülirung  mit  diesem  Thema  steht  die  Abhandlung  von  A.  Dopsch, 
Jieformkirche  und  Landeslicrriichkeit  in  Österreich,  Festschr.  des  ak.  Ver.  deutscher 
Historiker  au  d.  Univ.  Wien  1914,  wo  die  in  dieser  Hinsiciit  besonders  frühe  Ent- 
wicklung im  deutschen  Südosten  geschildert  und  für  die  Entstehung  der  Landeshoheit 
in  Weiterfüiirung  der  Forschungen  von  H.  Hirsch  starkes  Gewicht  auf  die  Anlehnung 
der  exemtiMi  Rctormklöster  an  das  Landesfürstentum  gelegt  wird. 

4)  E.  Jordan,  La  responsahilile  de  l'cglise  dans  la  repression  de  l'heresie  au 
moyen  üfjc,  Par.  1915,  sucht  gegen  Versuche  einer  Verteidigung  der  Kirche  deren 
Verantwoitliclikeit  für  die  Schre(;knisse  der  Inquisition  stark  zu  unterstreichen,  ohne 
nach  Forschungen,  wie  denen  von  Hausen,  Lea,  Moliuier,  Lauglois,  gerade  Neues  zu 

90 


um  die  Befestigung  der  kaiserlichen  Herrschaft  in  Italien,  und  da  hing 
das  Letzte  stets  von  der  Behandlung  Mailands  und  der  Lombarden  ab 
Durch  einen  größereu  Zeitraum  hindurch  zu  verfolgen,  wie  die  Haltung 
Mailands  durch  das  Zusammenwirken  der  Außenpolitik  gegenüber  Keichs- 
gewalt  und  Nachbarstädten  mit  inneren  Verfassungswandluugen  bedingt 
war,  möchte  wohl  hier  und  da  zu  neuer  Erkenntnis  führen.  Elisabeth 
Abegg,  Die  PolifiJc  Mailands  in  den  ersten  Jahrsehnten  des  13.  Jahrh., 
Beitr.  z.  Kult.  24,  Leipz.  1918,  hat  sich  dies  Ziel  gesteckt;  da  aber 
ihre  sorgtältige  Darstellung  zunächst  nur  bis  1225  reicht,  so  bildet  sie 
mehr  eine  Vorstudie  zum  Hauptthema  und  bringt  noch  keine  über- 
raschenden' Ergebnisse. 

Nach  dem  Tode  Ottos  IV.  sei  Friedrich  nach  Ansicht  der  Vf.  wohl  in  der  Lage 
gewesen,  eine  Schautelpolitilc  über  den  lombardischeu  Parteiungen  wie  Heinrich  VI. 
zu  übeu,  anstatt  sich,  vielleicht  aus  persönlichem  Rachegefühl,  gänzlich  der  Neben- 
buhlerin Cremoua  hinzugeben  und  dadurch  Mailand  mehr  und  mehr  der  Kurie  in  die 
Arme  zu  treiben.  Man  wird  dazu  immerhin  die  Frage  aufweifen,  ob  Friedrich  bei 
geminderter  Macht  auf  die  Dauer  dasselbe  Spiel  hätte  durchführen  können,  das  doch 
auch  schon  unter  seinem  Vater  in  wenigen  Jahren  eine  wachsende  Opposition  emportrieb. 

Die  umfangreichen  Studien  von  G.  Marchetti-  Longhi,  La  lec/axione  -in  Lom- 
bardia  di  Gregorio  da  Montelongo  1238  —  51,  Arch.  stör.  Eom.  o6— 38,  1913—15, 
behandeln  ausführlich  die  bedeutende  AVirksauiteit  dieses  päpstlichen  Legaten  und 
Heerführers  und  dnicken  im  letzten  Teile  ein  Legationsregister  und  das  Itmerar 
Gregors  *). 

In  dem  letzten  Riesenkampfe  zwischen  Kaisertum  und  Papsttum 
bildet  den  Haupteinschnitt  das  lange  Konklave  von  1241  —  43  -),  über 
das  zuletzt  der  von  mir  aus  der  Reimser  Briefsammlung  in  den  S.  B. 
d.  Heid.  Ak.  191.3  veröffenthchte  wichtige  Kardinalsbrief  neues  Licht  ver- 
breitet hat.  Die  dort  geschilderte  furchtbare  Behandlung  des  Kollegiums 
durch  den  römischen  Senator  hatte  dessen  Zerspaltung  und  dadurch  vor 
allem  die  lange  Verzögerung  der  zweiten  Papstwahl  bewirkt. 

An  diese  Vorgänge  knüpft  sich  ein  Versuch  Innozenz'  IV.,  durch  die  Dekretale 
,,  Quia  f requenter '■,  die  dann  freilich  auf  den  "Widerstand  von  Kardinälen  stieß  und 
nicht  zum  geltenden  Recht  geworden  ist,  die  sofortige  Neuwahl  am  Sterbeorte  des 
letzten  Papstes  unter  Ausschluß  der  abwesenden  Kardinäle  festzusetzen.  Darüber 
handelt  ausführlich  H.  Singer,  Das  c.  Quia  frequenter,  ein  nie  in  Gdtunrf  geicesenes 
„Papstu-ahldekret"  Innozenz'  IV.  Zugleich  ein  Beitrag  zur  Frage  der  SelbsUmhl  im 
Konklave  (die  hier  auch  ausgeschlossen  werden  sollte,  woran  sich  aber  eine  wechsel- 
volle Entwicklung  knüpft),  Z.  f.  E.  37,  k.  A.  (i,  1916.  ' 

Der  Stillstand  in  dem  großen  Ringen  wurde  noch  eine  Weile  fort- 
geführt durch  die  neu  einsetzenden  Friedensverhandlungen,  für  deren 
Verlauf  ich  hier  doch  auf  die  kurz  vor  dem  Kriege  erschienene  gründ- 


bringen.    Vgl.  auch  E.  Gorham,   The  mediaeval  inquisiiion  (kurze  Darstellung),  Lond. 
1919;  Ä.  de  Stefano,  Saggio  sui  motz  ereticali  dei  secoli  XII  e  XIII,  Rom  1915.  _ 

1)  Vgl.  ders.,  II  patriarcato  di  Aquileja;  il  papato  e  l'ivipero  fmo  alla  prima 
metä  del^s.  XHI,  Vened.  1916  (Sonderdr.  aus  Nuov.  Arch.  Veneto).  Vgl.  auch 
/.  Kucxynski,  Le  bienheureux  Guala  de  Bergamc,  de  l' ordre  des  Freres  Precheurs, 
evcque  de  Bergame,  paciaire  et  legat  pontifical  (f  1244),  Stäffis  1916. 

2)  Fed.  Schneider  veröffentlicht  aus  dem  früheren  Archiv  des  Dominikaner- 
klosters in  Siena  Ein  Schreiben  der  Ungarn  an  die  Kurie  aus  der  letzten  Zeit  des 
Tatareneinfalles  (2.  Febr.  1242),  M.  1.  ö.  G.  36,  1915,  das  die  Kriegslage  in  West- 
ungarn zu  jener  Zeit  mit  neuen  Einzelheiten  darlegt. 

91 


liehe  Untersuchung  von  C.  JRodenherg  hinweisen  möchte,  da  sie  in  der 
Festgabe  für  ^leyer  v.  Knonau  1913  etwas  versteckt  gedruckt  ist.  Im 
allgemeinen  hält  sie  sich  im  Rahmen  der  durch  Ficker  bestimmten  Auf- 
lassung, wenn  sie  auch  in  einzelnen  Punkten  die  Haltung  des  Papstes, 
der  anfangs  einen  Ausgleich  in  der  Lombardenfrage  noch  ehrlich  erhofft 
habe,  etwas  günstiger,  in  dem  Fall  Viterbo  vielleicht  zu  günstig,  beurteilt. 
Der  Abbruch  der  Verhandlungen  führte  zu  dem  weltgeschichtlichen 
Akte  des  Konzils  von  Lyon.  Hier  hat  W.  E.  Lunt,  The  sources  for 
the  first  Cvwicil  of  Lyons  1245,  Engl.  bist.  Rev.  33,  1918,  der  gelehrten 
Welt  eine  merkwürdige  Überraschung  bereitet.  Er  weist  uns  auf  eine 
erstklassige  Quelle  zu  den  Konzilsverhandlungen  hin,  die  *  säriitlichen 
Forschern  aller  Länder  völlig  entgangen  ist,  obwohl  sie  seit  dreiviertel 
Jahrhunderten  im  Drucke  vorliegt !  Dieser  führt  den  Titel:  Documenta 
illustrative  of  English  History  in  the  13.  and  14.  centuries,  selected  from 
the  Records  of  the  Departement  of  the  Queens  Remerabrancer  of  the 
Exchequer,  ed.  Sir  Henry  Cole,  1844  (o.  Ort), 

Die  dort  zum  Abdruck  gebrachten  AlteD.stücke  sollten  höchstwahrscheinlich 
König  Eduard  I.  in  seinem  Streit  mit  Erzbischof  Peckham  von  Canterhury  über  kirch- 
liche Befugnisse  1279  als  Memorandum  dienen,  und  die  darin  enthaltene  Konzilsdar- 
stellung ge'ht  nahezu  sicher  zurück  auf  den  von  den  englischen  Gesandten  1245  an 
Heinrich  III.  übersandten  Bericht.  Dieser  vermag  uns  nun  zwar  nicht  etwas  grund- 
legend Neues  zu  bieten,  da  wir  ja  schon  sehr  ausführliche  Quellen  besaßen.  Immer- 
hin ist  es  kritisch  sehr  wichtig,  daß  wir  nun  bei  den  zahlreichen  Differenzen  zwischen 
der  Brevis  nota  und  der  Darstellung  von  Matthäus  Paris,  eine  ausschlaggebende  dritte 
Quelle  besitzen,  die,  wie  zu  erwarten,  regelmäßig  zugunsten  der  Brevis  nota  ent- 
scheidet. Im  emzelnen  ist  z.  B.  zur  Beurteilung  der  letzten  Sendung  des  kaiser- 
lichen Boten  Walter  v.  Ocra  wichtig,  daß  seine  Anwesenheit  bei  der  zweiten  Konzils- 
sitzung nunmehr  belegt  wird. 

Eben  in  die  Zeit  des  Lyoner  Konzils  fällt  die  erste  scharfe  Oppo- 
sition Englands  gegen  den  Druck  der  Papstkirche,  der  namentlich 
durch  Pfründenbesetzung  und  finanzielle  Ausbeutung  auf  dem  Lande 
lastete.  L.  Bcliio,  Innozenz  IV.  und  England.  Ein  Beitrag  zur  Kirchen- 
gescJäcJite  des  13.  Jahrh.,  Berl.-Leipz.  1914,  führt  die  von  Else  Gütschow 
für  die  Zeit  des  dritten  Innozenz  gezogenen  Linien  weiter. 

Die  anfangs  gefährliche  Koalition  von  Krone,  Kirche  und  Adel  wußte  der  Papst 
durch  die  Gewährung  eines  Zehnten  an  den  schwachen  König  Heinrich  III.  zu  zer- 
sprengen, und  dies  ])oliti.sche  Bündnis  zwischen  Kurie  und  Krone  fühlte  nun  zu  noch 
schrankenloserer  Kirchenbeherrschung  und  starker  Demoralisation ,  durch  die  selbst 
Männer  von  strengster  Kirchlichkeit  wie  Eobert  Grosseteste,  der  Bischof  von  Lincoln, 
abgestoßen  und  an  die  Seite  der  weltlichen  Stände  in  der  Richtung  auf  Revolution 
getrieben  wurden.  Die  aus  H.  Bresslaus  Schule  hervorgegangene  Arbeit  weiß  sich 
trotz  der  Fülle  von  Einzelheiten ,  die  uns  die  reichen  englischen  Geschichtsquellen 
jener  Ejtoche^)  ebenso  wie  die  päp.stlichen  Register  bieten,  zu  einer  geistigen  Durch- 
dringung des  Stoffes  zu  erheben. 


1)  Die  urkundlichen  Veröffentlichungen  zur  Regierung  Heinrichs  III.  (1216 — 72) 
haben,  nachdem  die  Patent  Rolls  1913  zum  Abschluß  gekommen  sind,  mit  anderen 
Serien  ihren  Fortgang  genommen.  Von  dem  Calcndar  of  C/ose  Bulls  erschien  Bd.  5 
{1-242— 47).  Lond.  191(j.  Aus  der  Reihe  der  Close  Rolls  .sind  wieder  die  Vollzugs- 
an Weisungen,  meist  Geldzahlungen  betreffend,  als  Uberaic  Rolls  ausgesondert,  von 
denen  Bd.  1  (1221— 4U)  Lond.  19I7  herauskam.  Vgl.  auch  JL  L.  Canon,  The  grcat 
roll  of  Ihr  pijtr  for  ihc  20.  ijear  of  the  reign  of  IL  III.  1241142 ,    Xew-Haven  1919; 

92 


Ein  Gegenstück  zu  dieser  Arbeit  ist  die  von  K.  Wenck  angeregte 
Marburger  Diss.  von  Werner  Meyer,  Ludwig  IX.  von  Frankreich  und 
Innozenz  IV.  in  den  Jahren  1244 — 1247,  Marb,  1915. 

Ähiilicbe  Gravamioa  wie  in  England  führten  in  Frankreich  doch  zu  abweichenden 
Ergebnissen,  weil  Ludwig  d.  Heil,  bei  aller  Verehrung  der  Kirche  ihr  gegenüber 
nicht  der  haltlose  Schwächling  war  wie  Heinrich  III.  Was  hier  über  seine  würdige 
und  feste  Vertretung  der  Interessen  von  Staat  und  Kircbe  Frankreichs  und  seine 
wiederholt  versuchte  Friedensvermittlung  zwischen  Papst  und  Kaiser  ausgeführt  wird, 
war  im  allgemeinen  ja  bekannt.  Einen  erstaunlichen  Höhepunkt  erreicht  die  Spannung 
zwischen  dem  König  als  Vertreter  der  staatlichen  und  ständischen  Beschwerden  und 
der  Kurie  in  einer  zum  Juni  1247  in  Lyon  vorgetragenen  Rede  eines  französischen 
Gesandten.  Dies  von  Matthäus  Paris,  überlieferte  Schriftstück  ist  denn  auch  oftmals 
und  noch  1913  von  L.  Saltet  als  Fälschung  verdächtigt.  Verf.  sucht  die  von  Berger 
und  Langlois  angenommene  Echtheit  erfolgreich  zu  bekräftigen,  indem  er  den  Inhalt 
enger  in  den  historischeu  Zusammenhang  einfügt  und  namentlich  auf  die  Beeinträch- 
tigung hinweist,  die  Ludwigs  Kreuzzugsunternehmen  durch  die  unerbittliche,  ganz  in 
Weltlichkeit  verstrickte  Kriegspolitik  des  Papstes  erlitt  ■•). 

Die  Figur  Ezzelins  III.  von  Romano,  für  dessen  Geschichte  italienische 
Editoren  tätig  waren  -) ,  leitet  uns  aus  dem  Riesenkampt  der  vierziger 
Jahre  hinüber  in  die  Zeit  der  letzten  Hohenstaut'en.  Für  sie 
sind  hier  nur  kleinere  Beiträge  zu  verzeichnen,  für  Deutschland  eine 
willkommene  Bereitstellung  von  ÖtofF  in  0.  Dobeneckers  nach  ihrem  Wert 
hinlänglich  bekannten  Uegesta  dipJomatica  necnon  epistolaria  historiae 
Thuringiae,  Bd.  3,  2.  Teil  1247 — 66,  Jena  1915,  wo  auch  die  Schicksale 
von  Friedrichs  II.  Tochter  Margarethe  •')  zu  berücksichtigen  waren ;  für 


ferner  Calendar  of  Inquisitions.  Miscellaneous :  Chancery ,  Bd.  1.  2  (Heinrich  III. 
bis  Eduard  KL),  Lond.  1916 ;  Calendar  of  Inquisitions  „post  mortem'-'',  Bd.  9  Edward  III, 
years  21—25,  Lond.  1917.  Für  die  Weiterführung  der  Darlegungen  Dehios  bis  zum 
Ende  des  .lahrh.  hat  hinsichtlich  der  kirchlichen  Besteuerung  TF.  E  Lant  reichen 
Stoff  bereitgestellt  in  den  Abhandlungen :  Papal  taxation  in  England  in  the  reign 
of  Edward  I. ;  Colleciors'  account  for  the  clerical  tenth  levied  in  'England  by  order 
of  Nicholas  IV.  (1296— 1302} ;'  A  papal  tenth  levied  in  the  British  Isles  from  1274  -80, 
Engl.  bist.  Rev.  30 — 32,  1915 — 17.  Von  dem  großen  Werke  des  ersten  bedeutenden 
juristischen  Schriftstellers  um  die  Mitte  des  13.  Jahrb.  iu  England:  Bracton,  De 
legibus  et  consuetudinibus  Ängliae,  ed.  by  G.  E.  Woodbine  erschien  New-Haven  1915 
4er  1.  Bd.  einer  neuen  besseren  Ausgabe,  welche  die  sechsbändige  der  Rolls  Series 
ersetzen  soll.     Vgl.  J.  H.  Round,  Bractoniana,  Engl.  bist.  Rev.  31,  1916. 

1)  Bei  der  Rolle,  die  die  Westalpen  in  den  damaligen  Beziehungen  zwischen 
Papst  und  Kaiser  spielen,  sei  hier  hingewiesen  auf  das  größere  Werk  von  A.  Tallone, 
Tomaso  I.  marchese  di  Saluxxo  (1244 — 96),  monograßa  storica  con  appendice  di 
documenti  iiiediti,  Casale  Monferrato  1916.  Weniger  dürfte  in  Betracht  kommen 
das  Schriftchen  von  J.  Orsier^  Pierre  II.  de  Saroie  le  Petit- Charlemagne  (1208—68) 
et  le  droit  de  succession  ä  la  couronne  de  Savoie  du  XII.  au  XIV.  siede,  Par.  1917. 

2)  Vgl.  im  neuen  Muratori  (Script,  rer.  ital.):  Gerardus  Maurisius,  Cronica 
dominonan  Ecelini  et  Alberici  fratrum  de  Romano  (1183 — 1237)  a  cura  di  G.  Soranxo, 
Cittä  di  Castello  1914  und  Chronicon  marchiae  Tarvisinae  et  Lombardlae  (1207 — 70) 
a  cura  di  L.  A.  Botteghi,  ebd.  1917.  Ferner  A.  Tallone,  EKxelino  III.  da  Romano 
nel  „Memoriale  di  Guglielmo  Ventura,  Arch.  Muratoriano  II,  fasc.  19.  20,  Bologna 
1917,  eine  Vorstudie  zur  neuen  Ausgabe  des  Memoriale.  Daran  sei  hier  gleich  an- 
geschlossen die  Ausgabe  des  Ferretus  v.  Vicenxa  ( — 1318)  von  C.  Cipolla,  Bd.  2  (Fonti 
p.  la  stör.  d'It.)  Rom  1914. 

3)  Vgl.  ders.,  Margarethe  v.  Hohenstaufen ,  die  Stammutter  der  Wettiner,  I 
(1236 — 65),  Beil.  z.  Jahresb.  d.  Gymn.,  Jena  1915,  wo  vornehmlich  die  Festsetzung 
der  Wettiner  in  Thüringen  und  Pleißnerland  behandelt  ist. 

93 


Italien  außer  einer  Arbeit  von  K.  Goll,  Die  Geißler  fahrten  im  J.  1260 
u.  J2Ü1  (Progr.  d.  Staatsrealfryntin.  i.  17.  Bezirke,  Wien  1914)  Eiogel- 
heiten  zu  dem  Icidenscliaitlichen  Kampf  um  Sizilien,  anknüpfend  meist 
an  urkundliche  Funde.  So  Fed.  Schneider,  Konrad  IV.  ^)  in  Latisana, 
M.  I.  ö.  G.  38,  1918,  unter  Verwertung  eines  Briefes  des  Königs  an 
Aldobrandin  Cacciaeonti,  ghibellinisclien  Vertrauensmann  in  Siena,  vom 
6. —  io.  Dez.  1251  über  die  Pläne  zur  Fahrt  ins  sizilische  Reich;  so 
Analekten  von  K.  Harstedt  und  F.  Kern,  Zum  Kampf  um  Sizilien 
1256  u.  1258,  M.  I.  ö.  G.  35,  1914,  ein  weiteres  Heft  der  von  J.  de  Loye 
und  P.  de  Ccnival  besorgten  Ausgabe  der  Registrcs  Alexandre  IV.,  Bd.  2, 
3.  Pontifikatsjahr  1256/57,  Par.  1916,  vor  allem  aber  zur  Geschichte 
I\Ianfreds  zwei  Veröffentlichungen,  die  sich  aus  den  archivalischen 
Studien  des  durch  den  Krieg  in  seiner  Weiterarbeit  gestörten  Geschicht- 
schreibers von  Florenz  li.  Davidsohn  ergaben. 

Die  eine:  Wirtschaftslcrieg  im  MÄ.,  S. B.  d.  Müncli.  Ak.  1915,  behandelt  den 
wirtscliaftlichen  Druck,  den  Papst  Urban  IV.  durch  Begünstigung  fiorentiuischer,  gegen 
die  8taufer  verpflichteter  Bankherren  seit  \Hi2  auf  die  ghibellinischen  Städte  Pisa 
und  Siena  ausübte,  —  ein  frühes  Beispiel  moderner  Krieg-führung  mit  Finanzmaß- 
nahmeu!  Die  andere  liciert  „Beiträge  xur  Oesehichte  Manjreds''\  Quell,  u.  Forsch, 
aus  it.  Arch  u.  ßibl.  17,  Rom  1914.  Vor  allem  wird  hier  der  wichtige  Bericht  des 
Sieneser  Notars  Baldus  von  der  Kurie  an  seine  Vaterstadt,  den  Fed.  Schneider  mit 
unhaltbarer  Beweisfülu'ung  zu  12(J3  setzen  wollte,  zwingend  für  das  Jahr  1262  er- 
wiesen und  die  damalige  politische  Lage  durch  nähere  Ausführungen  erhellt.  Weiter 
wird  auf  usurpatorische  Ausübung  von  Eeichsrechten  in  Toskana  durch  Beamte  Man- 
freds luid  auf  einen  angeblichen  Plan  des  Königs  mit  seinem  Gegner  Karl  von  Anjou 
durch  eine  Heiratsverbindung  in  Verwandtschaft  zu  treten  *)  hingewiesen. 

Als  König  von  Sizilien  ist  Karl  ^)  bekanntlich  in  die  Bahnen  seiner 
normannischen  und  staufischen  Vorgänger  getreten.  Für  sein  Hinüber- 
greifen nach  Toseana  besitzen  wir  jetzt  den  ersten  Teil  einer  Urkunden- 
sammlung in  den  Documenti  delle  relazioni  tra  Carlo  I.  d'A'ngio  e  la 
Toscuna,  ed.  S.  Terlizzi  (Doc.  d.  stör.  patr.  p.  1.  Tose.  XH)  parte  I, 
Flor.,  Rom  1914.  Ein  großer  Teil  des  meist  aus  dem  Staatsarchiv  von 
Neapel  stammenden  Materials  war  schon  durch  die  Publikationen  von 
del  Giudice  und  Minieri-Kiccio  bekannt  und  ist  hier  nur  im  Regest  wieder- 
holt. Hat  auch  die  Edition  nicht  ungeteilte  Anerkennung  gefunden,  so 
bleibt  die  Zusammenfassung  des  urkundlichen  Stoffes  für  den  Benutzer 
natürlich  doch  bequem.  Karls  östliche  EroberungspoHtik  auf  den  Spuren 
Robert  Guiscards,   die   ihn  u.  a.  auch  zum  Oberherrn  des  Fürstentums 


1)  G.  Ehrismanns  neue  Ausgabe  der  Konrad  IV.  gewidmeten  Weltchronik  Riddolfs 
ron  Ems,  Berlin  1915,  hat  nur  literarisches  Interesse. 

2)  Betreffs  einer  von  M.  angeregten  Disputation  über  den  Zweck  in  der  Natur 
vgl.   (IL  Bäumcker,  S.ß.  d.  Münch.  Akad.   192U. 

3)  Mit  dieser  erst  um  1380  durch  den  Danteiommentator  Benvenuto  von  Imola 
überlieferten  Nachriclit  dürfte  indes  doch  schwerlich  etwas  anzufangen  sein.  Ich 
vermute,  daß  die  (päpstlichen)  Briefe,  auf  die  sie  zurückgeführt  wird,  mißverstanden 
sind  und  sich  in  Wirklichkeit  auf  die  1262  durch  Aragonien  vermittelte  affinitas 
Manfreds  mit  dem  französischen  Königshause,  also  auch  Karl  v.  Anjou,  bezogen,  die 
Urban  IV.  gern  verhindert  hätte. 

4)  Rhythmen  und  Distichen  über  Karls  Siege  hat  aus  der  St.  Galler  Hs.  1008 
L.  Delisle,  Bibl.  de  l'Ec.  d.  Ch.  77,  1916,  mitgeteilt. 

94 


Achaja  und  seiner  Anhängsel  machte  i),  führte  am  Ende  zum  Zusammen- 
schluß seines  östlichen  und  westlichen  Gegners,  worüber  R.  Sternfeld, 
Der  Vertrag  zwischen  dem  Paläologen  Michael  VIII.  und  Feter  von 
Aragon  im  J.  1281,  Arch.  f.  Urk. -Forsch.  6,  1918,  Aufschlüsse  gegeben 
hat,  und  im  weiteren  zu  dem  Gegenschlage  der  Sizilianischen  Vesper  2)^ 
die  Karls  Weltstellung  vernichtete  ^), 

Nach  dem  Sturze  des  lateinischen  Kaiserreichs  war  diese  Erhebung 
des  sizilischen  Volkes  auch  für  das  Ansehen  des  Papsttums  ein  weiterer 
Schlag,  dem  bald  als  dritter  der  Verlust  des  letzten  Restes  christlicher 
Besitzungen  in  Syrien  *)  folgen  sollte.  Diese  Einnahme  von  Akkon 
hat  auf  Grund  auch  arabischer  Quellen  ^),  die  aufs  neue  die  völlige 
Zuchtiosigkeit  der  Lateiner  als  Hauptursacbe  ihres  Untergangs  erkennen 
lassen,  geschildert:  G.  Schiumherger,  Fin  de  la  domination  franque  en 
Syrie,  aj)res  les  dernieres  croisades.  Frise  de  Saint- Jean-d' Acres ,  en 
Van  1291  par  Varmee  du  Soudan  d'Egypte,  Par.  1914. 

Immerhin  hatte  die  Schwächung  Neapels  die  Kurie  auch  von  einem 
lastenden  Drucke  befreit.  Von  seiten  des  Imperiums  aber  war  nach 
ihrem  Endsiege  über  das  staufische  Haus  ernstlich  für  sie  auch  nach 
Herstellung  des  deutschen  Königtums  vorderhand  nichts  zu  befürchten. 
Für  die  Geschichte  Rudolfs  von  Habsburg  bleibt  seit  Redlichs  Re- 
gesten und  Darstellung  der  Forschung  nicht  mehr  viel  zu  tun. 

M.  Vancsa  hat  Die  Anfänge  des  Hauses  Habsburg  in  Osterreich  (Österreichs 
Ruhmeshalle  4.  Reihe  Nr.  10),  Leipz.  1918,  populär  dargestellt;  A.  Dopsch,  Neue 
Forschungen  über  das  österreichische  Landrecht,  Arch.  f.  öst.  Gesch.  106.  1918,  sucht 
gegenüber  anderen  Gelehrten  zu  erweisen,  daß  der  Hauptteil  des  ausführlicheren 
Laudrechts  II.  auf  Ottokar  IL  und  das  J.  l'iGÖ  zurückzuführen  sei,  während  das 
sonst  für  älter  gehaltene  kürzere  Landrecht  I  aus  Rudolfs  Zeit  stamme;  Tl.  Heu- 
berger,  Graf  Meinhard  II.  von  Tirol  und  von  Görx,  Herzog  von  Kärnten,  Ztschr.  d. 
Ferdiuandeunis,  III.  I'olge,  59.  Heft,  1916,  hat  von  diesem  treuen  Helfer  Rudolfs, 
diesem  dem  Vorbilde  Kaiser  Friedrichs  IL  nachstrebenden,  modern  gerichteten  Fürsten 
ein  Lebensbild  entworfen. 

Man  weiß,  auf  welch  geringes  Maß  die  italienischen  Ansprüche  des 


1)  Vgl.  F.  Cerone,  La  sovranitä  napoletana  sulla  Morea  e  sidle  isole  vieine, 
Arch.  stör.  nap.  N.  S.  41,  1916. 

2)  Vgl.  E.  Sieardi,  Due  cronache  del  Vespro  in  vulgare  siciliano  del  see.  XIU 
(Rer.  it.  Script,  fasc.  157.  158),  Bol.  1917.  Jiit  einiger  Skepsis  wird  man  wohl  dem 
mir  noch  nicht  zugänglichen  Versuch  desselben  Verf.  gegenübertreten,  die  Florentiner 
Chronik  der  Brüder  Malespini  gegen  das  Verdikt  Scheffer -Boichorst  wiederum  in 
Schutz  zu  nehmen,  zumal  er  sich,  nach  der  Überschrift  zu  urteilen,  in  ein  nationa- 
listisches Gewand  ileidet  {Ch-itica  tedesca  e  suggestione  italiana,  Nuova  Antologia  v. 
16.  Mai  1917). 

o)  Zum  Zweikampfplan  zwischen  Karl  v.  Anjou  und  Peter  v.  Aragon  vgl.  die 
Abhandlung  von  F.  Soldevila,  Pere  U  el  Gran  el  desafiament  amb  Charles  d' Anjou 
(Extret  dels  Estudis   Unirersitaris  Catalans),  Barcel.  1919. 

4)  Ein  inhaltreicher  Brief  vom  22.  April  1260  über  die  damaligen  Ereignisse 
im  Orient  an  Karl  v.  Anjou  ist  Bibl.  de  l'Ec.  d.  eh.  78,  1917  aus  den  Archives 
nationales  in  Paris  abgedruckt. 

5)  Vgl.  Moufaxxal  Ihn  Abil-Faxail,  Histoire  des  sidtans  mamlouks,  arab.  Text 
mit  franz   Übers,  v.  E.  Blochet,  Paris  (1916)  in  Patrologia  orientalis  XII,  3. 

95 


Reiches  unter  den  ersten  Habsburgern  beschränkt  wurden  ^).  Viel- 
erörtert ist  jener  Plan,  das  Imperium  überhaupt  in  Teile  zu  zerschlagen 
und  Italien  ganz  von  einem  deutschen  Erbreiche  zu  trennen. 

Daß  er  nicht,  wie  man  allgemein  angenommen,  dem  Dominikanergeneral  Huinbert 
do  Roinanis  zuzuschreiben  ist,  dessen  wirkliche.  1585  als  üpusculum  tripartituin  ge- 
druckte Koformschrift  ihn  nicht  enthält,  hat  Berf/in  Birrlovan,  Die  rerniehdlidte  und 
wirldiclie  Refnnnschrift  des  Dominikancrgenerals  Huinbert  de  Ronianis,  Diss.  l'^reib. 
i.  B.  lOlÜ,  dargetan  (wo  auch  die  sonstige  Literatur  über  den  Plan  verzeichnet  ist). 
Gegen  das  positive  Ergebnis  der  Verfasserin  indes,  daß  die  im  Sinne  jenes  Planes 
abgeänderten  Auszüge  aus  dieser  Schrift  wohl  von  einem  Italiener  für  das  zweite 
Lvoner  Konzil  von  1274  angefertigt  seien,  hat  K.  Wench,  H.  Z.  118,  S.  '299.  unter 
Hinweis  auf  die  von  ihm  selbst  zu  erwartende  richtigere  Bestimmung  von  Autor  und 
Zeit  Einspruch  erhoben.  Die  Haltung  Ilunibeits  gegenüber  Kreuzzugsproblem,  Griechen- 
schisma und  Kirchenreform  ist  ausführlich  erörtert.  — 

An  der  Spitze  der  christlichen  Völker  Europas,  als  eine  das  Abend- 
land beherrschende  Macht  war  doch  trotz  mancher  lokalen  Nöte  das 
Papsttum  an  die  Stelle  des  Imperiums  getreten.  Noch  schien  auch 
diese  oberste  kirctiliche  Leitung  der  Staatenwelt  den  herrschenden  An- 
schauungen -)  zu  entsprechen,  wie  sie  soeben  Thomas  von  Aquino  ein- 
drucksvoll und  noch  gemäßigt  im  Sinne  der  „potestas  indirecta  in 
temporalibus''  zusanmiengetaljt  l)atte.  Zu  der  überaus  reichen  Literatur 
über  die  Staatslehre  dieses  Doctur  angelicus  trat  die  tüchtige  Schrift 
von  W.  Müller,  Der  Staat  in  seinen  BeaieJnmgen  zur  sittlichen  Ord- 
nung hei  Thomas  v.  Aquin,  Beitr.  z.  Gesch.  d.  Phil.  d.  MA.  19,  Münst. 
i.  W.  1916,  zu  der  man  auch  die  ergänzenden  Bemerkungen  von  M.  Grab- 
mann 3^,  D.  L.  Z.  1918,  Sp.  674  ff.  beachten  möge.  Noch  waren  Geister 
wie  Roger  Bacon,  deren  Forschungen  letzten  Endes  zur  Auflösung  des 
hierarchischen  Weltsystems  führen  mußten,  einsame  und  verfolgte  Vor- 
läufer einer  künftigen  Epoche.  Eben  über  diesen  hellsichtigen  Ahner 
war  die  Forschung  im  Anschluß  an  die  700.  Wiederkehr  seines  Geburts- 
tages lebhaft  *). 

1)  Vgl.  C.  Manaresi,  Documenti  sull'  attivitä  dei  giiidici  iniperiali  degli  ajipelli 
sul  finire  del  see.  XIII  a  Milaiio,  Arch.  stör,  lomb.,  ser.  5.  44,  1917. 

2)  Vgl.  L.  P  Karsavin,  Orundxäge  der  ma.lichen  Religiosität  im  12.  u.  13.  Jahrh,, 
besond.  in  Italien  (in  russ.  Spr.),  Petersb.  1915. 

3)  Vgl.  M.  0 rahmann,  Forschungen  üher  die  lateinischen  Äristotelesüber- 
setxungen  des  13.  Jahrh.,  Beitr.  17,  Münst.  i.  "W.  1916,  vvo  man  ein  Bild  der  Äristoteles- 
rezeption  in  der  1.  H.  d.  13.  Jahrh.  erhält.  Vgl.  auch  das  Werk  von  Duhem  oben 
ö.  6  mit  seinen  bedeutsamen  Ausführungen  über  das  Weltbild  im  12.  u.  13.  Jahrh. 

4)  Wichtig  vor  allem  das  vou  A.  G.  Little  herausgegebene  Werk  :  Roger  Baron. 
Essays  contribiited  hg  various  ivriters  etc.,  O.xf.  1914,  mit  erstklassigen  Beiträgen  und 
einem  Verzeichnis  aller  Hss.  und  Ausgaben  der  Werke  B  s.  Ferner  Cl.  Baeumher, 
Roger  Bacons  Naturphilosophie,  ins/ies.  seine  Lehre  ron  Materie  und  Form,  Franzisk. 
Stud.  3,  1915  und  L.  Ihorndike,  The  true  Roger  Bacon,  Amer.  bist.  Rev.  21,  1916, 
wo  die  Abhängigkeit  B.s  von  seinen  Quollen  stark  betont  wird,  ohne  daß  dadurch  die 
starke,  alles  zusammenfassende  Persönlichkeit  zu  verlieren  brauchte.  —  Zur  Bildungs- 
geschichte des  ausgehenden  13.  Jahrh.  sei  hier  noch  vermerkt;  ^1/.  Blerbaiim.  Bettel- 
orden und  Wcltgeistlichkeit  an  der  Universität  Paris,  Texte  u.  Untersnehungen  x. 
literar.  Armuts-  n.  Exemtionsstreit  des  13.  Jh.  (125.5  —  72)  in  Fjanzisk.  Stud.,  2.  Bei- 
heft, Münst.  i.  W.  1919;  F.  Pclstcr  S.  J.,  Der  Heinrich  v.  Oent  xtigesvhriehene  Cata- 
logus  rirorum   illustrium   u.   sein  wir/dicher    Verfasser   [etwa   Heinrich    v.    Brü.ssel, 

96 


Von  den  Päpsten  dieser  Zeit  erhielt  Hadrian  V.  (1276)  eine  aus- 
führliche, gut  geschriebene  Monographie  von  Natdlie  ScJiöpp,  Papst 
Hadrian  V.  (Kardmnl  Ottohuono  Fieschi),  Heidelb.  Abh.  49,  Heid.  1916. 

Er  war  nur  einen  Monat  Papst,'  hat  aber  als  Kardinal  während  aller  Pontifikate 
seit  Innozenz  IV.,  dessen  Neffe  er  war,  eine  einflußreiche  Rolle  gespielt.  Durch 
sein  Eingreifen  als  Legat  in  die  englischen  "Wirren  12GÖ-68')  und  den  Reichtum 
der  damaligen  englischen  Chronistik,  durch  die  Erhaltung  von  Resten  eines  Legations- 
registers, durch  seine  genuesischen  Beziehungen  und  anderes  liegt  ein  verhältnismäßig 
ausgiebiges,  hier  noch  um  6  Inedita  vermehrtes  Quellenmaterial  vor.  das  uns  tiefere 
Einblicke  in  Wirken  und  E'ersönlichkeit  dieses  Mannes  gestattet  -).  Er  kann  uns  recht 
eigentlich  als  Typus  gelten  für  jene  stark  individualistisch  entwickelten  Kardinäle 
des  13.  Jahrh. ,  die  mit  ihrer  diplomatischen  Gewandtheit,  ihrer  toleranten  Weltan- 
schauung, ihrer  Verstrickung  in  weltliche  Interessen,  ihrem  Feiiischmeckeitum  in 
Kunst.  Wissenschaft  und  Lebensgenuß  zu  den  ähnlich  gerichteten  Erscheinungen  der 
Renaissance  hinüberleiten. 

t?eine  Geschichte  bietet  aber  auc!i  beachtenswerten  Stoff  lür  das 
Emporstreben  des  Kardinalats,  das  uns  in  großzügiger  Übersicht 
vom  11.  bis  zum  15.  Jahrh  von  J.  Luhes,  MacJttbcstrehungen  des  Kar- 
dinalkoJleghims  yegenühey  dem  Papsttum,  äI.  1.  ö.  G.  35,  1914,  geschildert 
worden  ist.  Eben  im  Laute  de.-*  13.  Jahrh.  hat  es  neben  einem  weit- 
reichenden Anteil  am  Kirchenregim.ent  tiuanzielle  Sicherstellung  und 
Witverwaitung  erlangt  Für  die  Welt,  darin  hat  K.  Wenck  recht,  hat 
es  wohl  nie  so  viel  bedeutet  wie  damals;  denn  seine  Weltgeltung  war 
eben  doch  unlöslich  an  die  des  Papsttums  gekettet.  Als  es  mit  dieser 
in»  14.  Jahrh  abwärts  ging,  da  haben  die  Kardinäle  zuletzt  in  den 
Zeiten  des  Schismas  ihre  Machtstellung  auf"  Kosten  des  Papsttums  mit 
Wahlkapitulationen  und  anderen  Mitteln  wohl  noch  rücksichtslos  vor- 
schieben können,  und  diesen  Moment  mag  Lulves  wohl  als  Höhepunkt 
ihrer  Selbstbewußtseinsentwicklung  bezeichnen.  Aber  ein  Schüler  Wencks 
E.  Sehelenz  hatte  in  seinen  erst  im  Teildruck  vorliegenden  tüchtigen 
Studien  zur  GeschicJde  des  Kardinalats  im  IS.  und  14.  Jahrh.  bis  zur 
Aufstellung  der  ersten  Wahlkapittdation  im  J.  1352,  Marb.  Diss.,  Berl. 
1913,  doch  auch  gezeigt,  daß  die  Entwicklung  im  14.  Jahrh.  für  das 
Kollegium  zunächst  wenig  günstig  war,  da  der  Geschäftskreis  von  Sonder- 
behörden und  Kommissionen  seine  Macht  beschränkte,  und  die  Päpste 
sich  von  ihm  keineswegs  so  abhängig  fühlten,  wie  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten des   13    Jahrh. 

Einige  neuen  Nachrichten  zur  Geschichte  von  Päpsten  und  Kurie 
im  ausgehenden   13.  und  beginnenden   14.  Jahrh.  von  Nikolaus  III.   bis 


Jlönch  in  Afflighem?),  Hist.  Jahrb.  39,  1919,.  sowie  Schriften  über  Marco  Polo: 
J.  Wüte.  Das  Buch  des  M.  P.  als  Quelle  für  die  Religionsgeschichte,  Berl.  1916  und 
eine  kommentierte  schwedische  Ausgabe  seines  Reiseberichts  von  B.  Thordanan, 
Stockh.  1917. 

1)  Dazu  druckt  seitdem  Rose  Graham,  Cardinal  Ottoboni  and  tlie  monastery 
of  Sirafford  Langthurne,  Engl.  hist.  Rev.  H3,  1918,  weitere  Urkunden,  die  Auflehnung 
jenes  Zisterzienserklosters  gegen  'seine  Visitation  betreffend. 

2)  Auf  OttoboDus  beziehen  sich  auch  mehrere  Stücke  der  von  Th.  Hirschfeld 
gedruckten  Genueser  Dolcianente  xur  Gesch.  Roms  n.  des  Papsltiints  im  13.  Jli.  in 
Quell,  u.  Forsch,  aus  it.  Arch.  17,  1914;  sonst:  Ratifikation  des  Waffenstillstandes  zw. 
Genua  u.  Venedig  v.  1-283  zu  Orvieto  vor  Papst  Martin  IV.  u.  a. 

Wissenschaftliche  FoischungsbericUte  VII.  7 

97 


Johann  XXII.  enthält  eine  Orvietaner  Fortsetzung  der  Papstchronik 
des  Martin  von  Troppau,  über  die  L.  Fumi  und  Ä.  Cerlini,  Una  con- 
ünuazione  orvietana  dclla  cronaca  dl  Martin  Pohno,  Arch.  Murat.  14, 
Cittk  di  Castello  1914  gehandelt  haben.  Mit  Einzelheiten  auch  zum 
Attentat  von  Anagni  1303  leiten  sie  uns  zur  Zeit  Papst  Bonifaz'  VIII. 
Das  Jahrzehnt  vor  dem  Kriege  hat  da  bekanntlich  ganz  unter  dem 
Eindruck  der  erstaunlich  reichen  Schätze  gestanden,  die  von  H.  Finke 
aus  dem  Kronarchiv  von  Barcelona  zutage  gefördert  sind.  Schon 
seiüe  Bücher  über  Bonifaz  (1902)  und  über  den  Untergang  des  Templer- 
ordens ^)  (1907)  beruhten  darauf.  Seitdem  sie  dann  in  den  beiden 
Bänden  der  Acta  Aragonensia  1908  der  Öffentlichkeit  übergeben  sind, 
haben  sie  die  Forschung  dauernd  befruchtet.  Finke  selbst  hat  noch 
weitergesammelt  und  für  diese  Nachlese  einen  weiteren  Band  in  Aus- 
sicht gestellt.  Seine  Schüler  und  andere  Gelehrte  haben  in  einzelnen 
Monographien  und  Untersuchungen  den  wunderbaren  Stoff  nach  ver- 
schiedenen Richtungen  hin  ausgebeutet.  Ich  kann  da  auf  die  anregende 
Zusammenstellung  verweisen,  die  K.  Wende,  Acta  Aragonensia,  Hist,  Z. 
122,  1920,  gegeben  hat. 

Zu  der  bis  dahin  noch  wenig  erforschten  inneren  Geschichte  Aragoniens  kommen 
da  aus  den  Bericlitsjahren  in  Betracht:  K.  Schivarx,  Aragonesische  Hofordnwigen  hn 
13.  und  14.  Jahrli.;  Studien  zur  Oeschichte  der  Ilofämter  imd  Zentralbehörden  des 
Königreichs  Aragon,  Abh.  Freib.  i.  B.  54,  Berl.  1914,  wo  aus  den  reichen  Hoford- 
nungen von  etwa  127(5 — 1:-{44  wertvolles  Vergleichsmaterial  für  das  Studium  der 
Behördenorganisation  ma.licher  Staaten  gesammelt  ist,  und  L.  Klüpfel,  Verualtungs- 
geschichte  des  Königreichs  Aragon  xu  Emle  des  13.  Jahrh.,  Stuttg.  1915,  wo  eine 
noch  größere  Stoffmasse  aus  den  spanischen  Archiven  j:;ewonnen  und  in  klarer,  über- 
sichtlicher Gestaltung  der  deutscheu  Forschung  zugeführt  ist.  Eine  weitere  Frei- 
burger Dissertation  von  Bertha  IVehling,  Zur  Charakteristik  der  diplomatischen  Kor- 
respondenz Jaymes  IL  von  Aragonicn  ^),  Münst.  i.  W.,  schildert  Wesen  und  Darstel- 
lungsart der  einzelnen  aragonesischen  Prokuratoren  und  Gesandten,  wie  man  ähnlich 
wohl  auch  die  Verfasser  der  sjjäteren  venezianischen  Relationen  charakterisiert  hat, 
und  gewinnt  auch  einige  Züge  zu  dem  Bilde  des  bedeutenden  Herrschers,  dem  wir 
vornehmlich  Reichtum  und  AVert  der  Barceloneser  Urkunden.schätze  für  diese  Epoche 
verdanken.  Für  die  im  Mittelpunkt  seiner  Politik  stehende  sizilische  Frage,  der  natür- 
lich auch  Arbeiten  von  Finkes  Schülern,  so  von  dem  1915  gefallenen  H.  Rohde,  ge- 
widmet sind,  ist  jetzt  auch  G.  La  Mantia,  Codice  diploniatieo  dei  re  aragojiesi  di 
Sicilia  1282-1355,  Bd.  1  (Doc.  p.  serv.  a.  stör.  d.  Sicilia  Ser.  I,  Bd.  23),  Pal.  1918, 
zu  Rate  zu  ziehen  ^). 


1)  Eine  recht  verdienstvolle,  sehr  fleißige  Arbeit  ist  die  von  M.  Schüpferling, 
Der  Tempelherrenorden  in  Deutsehland,  Diss.  Freib.  i.  Schw.,  Banib.  1915.  Sie  ent- 
hält ein  V'erzeichnis  der  Tempelgüter  in  Deutschland  und  Ö.sterreich,  Überblick  über 
"Wirksamkeit  und  Organisation  des  Ordens,  auch  über  die  Verdienste  um  die  Ger- 
manisatiou  des  O.stens,  endlich  die  Geschichte  seines  in  Deutschland  durch  keinen 
inneren  Verfall  begründeten  Untergangs  1312  und  die  Schicksale  seiner  meist  Johan- 
nitern und  Bettelorden  anfallenden  Besitzungen. 

2)  Vgl.  auch  Auguste  Stönnnnn,  Studien  xur  Gesch.  des  Ivönigreichs  Mallorka, 
Abh.  Freib.  i.  B.  66,  Berl.,  Leipz.  1918  (nät  Benutzung  Finkescher  Funde,  z.  B.  für 
Papst  Johann  XXII.  und  die  damalige  Kurie).  —  Briefe  französischer  Könige  und 
andrer  hoher  Persönlichkeiten  an  ihn  druckt  J.  Miret  y  Sans,   Moyen  .Ige  28,  1915. 

3)  Von  derselben  Veröffentlichung  erschien:  Ser.  I,  Diplomatica  Bd.  21,  Pal. 
1914;  Ser.  II,  Bd  10  Capiloli  inediti  delle  cittä  detnaniali  di  Sic,  Pal.  1918;  Ser.  IV, 
Cronacho  Bd.  13,  Pal.  1916. 

98 


Aus  der  Freiburger  Schule  ging  auch  hervor  das  gründliche  Werk 
von  L.  Mohler,  Die  Kardinäle  Jahoh  und  Peter  Colonna,  ein  Beitrag 
zur  Geschichte  des  Zeitalters  Bonifaz'  VIII.  (Quell,  u.  Forsch.,  hrsg. 
V.  d.  Görresges.,  Bd.  17),  Paderb.  1914. 

Es  ist  mehr  Untersuchung,  als  Darstellung,  was  hier  geboten  wird,  iin  ganzen 
eine  erhebliche  Bereicherung  unserer  Kenntnis,  wozu  auch  die  ungedruckten  Beilagen 
beitragen.  Insonderheit  über  die  Anfänge  des  Zwistes  mit  dem  Papst,  die  starke  Be- 
einflussung der  französischen  Kirchenpolitik  *)  seit  dem  Tode  von  Peter  Flotte  und 
dem  Hervortreten  Nogarets,  den  Vorwurf  der  Ketzerei  gegen  Bonifaz,  den  Verf.  in 
sorgfältiger  Prüfung  ablehnen  zu  müssen  glaubt"^),  gewinnt  unsere  Erkenntnis,  wenn 
auch  wie  E.  Jordan,  Eev.  hist.  122,  bemerkt,  in  einigen  Punkten  abweichende  Auf- 
fassungen möglich  bleiben. 

Rieh.  Neumann,  Die  Colonna  und  ihre  PolitiJc  von  der  Zeit  Niko- 
laus IV.  bis  zum  Abzüge  Ludivigs  d.  B.  aus  Born  (1288 — 1328),  Öamml. 
wiss.  Arb.  H.  29,  Langensalza  1916,  bietet  mehr  Darstellung  und  er- 
gänzt Mohlers  Buch  derart,  daß  er  eine  vollständigere  Familiengeschichte 
gibt ,  ihre  Linien  sondert ,  ihre  Genealogie ,  ihre-  Besitzungen  feststellt, 
auch  die  Schicksale  der  Mitglieder,  die  nicht  Kardinäle  waren,  verfolgt  ^). 
Mit  ihm  nicht  etwa  identisch  ist  Bich.  Neumann,  Die  politischen  Be- 
ziehungen zivischen  dem  deuf seilen  Beiche  und  Aragonien  in  der  Zeit 
von  Budolf  V.  Habsburg  bis  Buprecht  v.  d.  Pfalz,  Diss.  Freib.  i.  B.  1917, 
wo  das  hierfür  nicht  gerade  ausgiebige  Barceloneser  Material  die  Grund- 
lage bildet. 

Auch  für  die  Geschichte  der  der  Verweltlichung  des  Papsttums  feind- 
lichen Spiritualen  waren  die  aragonesischen  Funde  nicht  ganz  unergiebig. 
Die  bekannteste  Persönlichkeit  unter  jenen,  der  Dichter  Jacopone 
von  T  0  d  i  hat  vornehmlich  von  der  literarischen  Seite  her  aufs  neue 
italienische  Forscher  beschäftigt  *). 

Was  die  deutsche  Reichsgeschichte  während  dieser  Zeit 
betrifft,  so  wird  man,  nachdem  die  Münchener  historische  Kommission 
in  Fortführung  der  Jahrbücher  der  deutschen  Geschichte  zusammen- 
fassende Darstellungen  auch  für  die  Regierungen  der  spätmittelalterlichen 
Kaiser  und  Könige  ins  Auge  gefaßt  und  demgemäß  Adolf  von  Nassau 
und  Albrecht  I.  an  Bearbeiter  vergeben  hat,  deren  Leistungen  abzu- 
warten haben.  Die  Zeitläufte  sind  solchem  Unternehmen  leider  wenig 
günstig,  und  methodisch  sollte  ja  auch  eigentlich  die  Neubearbeitung 
der   Regesten   der  Darstellung   voraufgehen.     Als   eine  Vorstudie   dafür 


1)  Die  kurze  Schrift  von  V.  Inglese  d'Amico,  Lotta  tra  Bon.  VIII  e  Filippo  il 
Bella  e  cause  determinatriei  del  trasporto  della  sede  poniifieia  in  Ävigtione,  Belluno 
1914,  ist  schwerlich  beachtenswert. 

2)  Dazu  sei  hier  auch  schon  hingewiesen  auf  die  Freib.  Diss.  von  Cl.  Sommer, 
Die  Anklage  der  Idolatrie  gegen  Papst  Bonifaz   VIII.  und  seine  Porträtstatuen,  1920. 

3)  Vgl.  C.  Cipolla,  Sülle  tradixioni  antibojiifaciane  rispetta  a  Quido  da  Monte- 
feltro  e  alla  guerra  dei  Colomia,  Atti  d.  r.  Ac.  d.  scienze,  Turin  1914. 

4)  A.  d'Ancona,  J.  d.  T.,  il  giullare  di  Dio  clel  secolo  XHI,  Todi  1914;  J.  Pacheu, 
J.  d.  T.,  frere  mineur  de  S.  Fran^ois,  auteur  presume  du  Stabat  Mater  (1228—1306), 
Paris  1914;  J.  d.  T. ,  Le  satire  ricostituite  etc.,  p.  cura  di  B.  Brugnoli,  Flor.  1914; 
A.  Amato,  La  teologia  di  fra  Jacopone  da  Todi,  Perugia  1915. 

7* 

99 


kann   gelten    C.   Hentse,   England,   Franhreich   und  König   Adolf  von 
liassaii  1294 — 98,  Diss.  Kiel  1914. 

In  der  von  Kern  im  Anschluß  an  die  Auffassung  von  Boutaric  und  Funck- 
Brentano  nachgewiesenen  Bestechung  durch  Frankreich  trotz  des  englischen  Bünd- 
nisses sieht  der  Verf.,  der  die  verwickelten  Fäden  dieser  politischen  Beziehungen  zu 
entwirren  sucht,  den  Urgrund  für  jene  Mißgriffe  und  Unterlassungen,  die  schließlich 
zu  Adolfs  Absetzung  und  Vernichtung  führten.  Daraus  ergibt  sich  natürlich  eine 
höchst  ungünstige  Beurteilung  seiner  unehrenhaften  Kondottierepolitik. 

In  der  Gescliiclite  Albrechts  I.  bildet  der  Eid,  den  er  dem  Papste 
1303  zu  leisten  hatte,  nach  wie  vor  einen  umstrittenen  Punkt.  Während 
H.Finke,  Weltlniperialismus  (s.  oben  8.55),  8.  2C>,  ihn  wieder  als  Lehnseid 
auftaut  und  li.  Möller  (oben  S.  57)  weniojstens  die  Form  auf  den  Bischofs- 
eid zurückführt,  spricht  E.  Eichmann,  Z.  f.  R.  37,  k.  A.  6,  1916  (vgl. 
oben  S.  57),  das  vielleicht  befreiende  Wort,  daß  die  Eidesformel  für 
Vassalien,  Bischöfe,  Untertanen,  Bundesgenossen  wesentlich  die  gleiche 
war  (ähnlich  schon  Möller),  aus  ihr  al.so  keine  zwingenden  [Schlüsse  zu 
ziehen  sind.  Da  Hom^ium  und  Investitur  fehlten,  so  war  es  kein  Lehns- 
eid,  wenn  ihn  auch  die  Kurialen   bald  dazu  stempelten. 

Alle  politischen  Vorgänge  und  geistigen  Strömungen,  in  deren  Mittel- 
punkt Boniiaz  VIII.  als  der  letzte,  zwar  widrige,  aber  doch  bedeutende 
Vertreter  des  weltbeherrschenden  Papsttums  steht,  einmal  in  diesem 
Brennpunkt  zusammenzufassen,  müßte  nach  allen  Forschungen  der  letzten 
Jahrzehnte  für  einen  ebenso  methodisch  geschulten  und  kenntnisreichen, 
wie  künstlerisch  begabten  Historiker,  der  die  dem  deutschen  Gelehrten 
besonders  naheliegende  Gefahr,  sich  an  den  überreichen  Stoff  zu  ver- 
lieren, vor  allem  anderen  zu  meiden  hätte,  eine  der  lohnendsten  Auf- 
gaben der  gesamten  ma.lichen  Geschichte  sein! 

6.  Strukturwandlungen,  vornehmlich  im 
deutschen  Reiche 

(Städtewesen,  Hanse,  Kolonisation  des  Ostens,  Territorial- 
en t  w  i  c  k  1  u  n  g) 

Früheres  und  späteres  MA.  scheiden  sich  —  abgesehen  vielleicht 
von  Italien  —  kaum  in  einem  andern  europäischen  Staate  so  scharf  wie 
in  Deutschland.  Das  ist  nicht  nur  in  dem  Sturz  des  Imperiums  be- 
gründet, sondern  auch  in  den  durchgreifenden  Wandlungen  seines  inneren 
Lebens  und  der  ungeheuren  Verschiebung  seiner  Grenzen. 

Unter  jenen  Wandlungen  ist  in  sozialer  und  wirtschaftlicher  Hinsicht, 
ja  für  die  gesamte  Kultur  die  folgenreichste  die  Entfaltung  des  Städte- 
wesens,  die  sich  schon  seit  dem  11.  Jahrh.  vorbereitet  und  wesentlich 
in  den  beiden  folgenden  vollzogen  hatte.  Auf  den  ehemals  so  hitzig 
geführten  Streit  über  die  Entstehung  der  deutschen  Städte  braucht  hier 
nicht  zurückgegriffen  zu  werden.  Seit  den  so  ungemein  klärenden  For- 
schungen von  S.  Rietschel  hat  er  zeitweilig  einer  Beruhigung  und  ge- 
wissen Annäherung  der  Meinungen  Platz  gemacht.  Man  ist  aber  darum 
doch  nicht  stillgestanden,    sondern  hat  Rietschels   im    allgemeinen    doch 

100 


zu  einfaches  Schema  der  Hauptentwicklungstypen  zu  berichtigen  und 
der  Wirklichkeit  der  Dinge  genauer  anzupassen  begonnen.  Was  der- 
art in  den  letzten  Jahren  geleistet  wurde,  kann  hier,  da  der  Gegen- 
stand ja  verwickelt  genug  ist,  nur  mit  knappen  Ötichworten  angedeutet 
werden.  \A'er  sich  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Forschung  rasch 
unterrichten  will,  möge  die  Artikel  „cStadt"  von  0.  Schlüter  und  nament- 
lich „Stadtvertassung"  von  G.  Seeliger  in  Hoops'  Reailexikon,  Bd.  4, 
1918/19  (s.  oben  S.  7),  vornehmen,  die  freilich  nur  den  Aufstieg  bis 
zur  Höhe  des  MA.  behandeln,  üie  allgemeinen  Öiedlungsbedingungen 
für  ein  geschlossenes  Gebiet  hat  R.  Gradmann,  Die  städtischen  Sied- 
lungen des  Königreichs  Württemberg,  Forsch,  z.  deutschen  Landes-  u. 
Volkskunde  21,  H.  2  (H.  1:  Das  ländliche  Siedlungswesen),  Stuttgart 
1914,  ausgezeichnet  dargestellt  und  dabei  doch  auch  den  starken  Ein- 
schlag bewußten  menschlichen  Willens  vielfach  betont. 

Die  von  J.  Fritz  und  S.  Rietschel  so  sehr  in  Aufnahme  gebrachten 
topographischen  Gesichtspunkte  der  Grundrißbildung  werden  fortdauernd 
weiter  verfolgt  ^},  von  P.  J.  Meier  nach  Ansicht  einiger  Forscher  sogar 
überspannt,  wenn  er,  wie  in  früheren,  sonst  belehrungsreichen  Arbeiten, 
so  auch  in  dem  Vortrage:  Die  Fortschritte  in  der  Frage  der  Anfänge 
und  der  Grundrißhildung  der  deutschen  Stadt,  Korr.  d.  Gesamtver.  d. 
deutschen  Gesch.  u.  Altertumsver.  1914,  das  Rietschelsche  Schema  der  regel- 
mäßigen Marktansiedluügen  auch  in  den  allmählich  erwachsenen  alten 
Römerstädten  sucht  und  auch  da  gewisse  Typen  zu  erkennen  glaubt.  Darin, 
sowie  in  der  örtHchen  Scheidung  von  Markt-  und  Stadtansiedlung  ist 
ihm  W.  Gerlach,  Zur  Frage  der  Grundri ßhildung  der  deidsdien  Stadt, 
H.  Viert.  17,  1916  und  Kritische  Bemerhungen  zu  neuen  Untersuchungen 
über  die  Anfänge  der  Städte  im  MA.,  ebda.  19,  1919,  entgegengetreten, 
während  er  mit  ihm  in  der  Ablehnung  der  Umwandlung  als  sicheren 
Kriteriums  für  die  Scheidung  von  Markt  und  Stadt  übereinstimmt  -). 
Der  Mahnung  Ms,  Münzwesen  und  Denkmälerkunde  au  den  deutschen 
Universitäten  mehr  zu  pflegen  und  für  die  Stadtforschung  fruchtbar  zu 
machen,  wird  man  beipflichten;  einstweilen  dürfte  es  für  erstere  an 
geeigneten  Kräften  i'ehlen.  F.  Meurer,  Der  ma.Hche  Stadtgrundriß  im 
nördlichem  Deidschland  in  seiner  Enttviddung  zur  Reyelmäßigleit  auf 
dem  Grunde  der  Marldgestaltung ,  Berl  (1915),  weist  auf  Rietschels 
Bahnen  mit  Hilfe  einer  reichen  Stadtplansammlung  die  wachsende  Regel- 
mäßigkeit der  Grundrisse  namentlich  tür  das  östliche  Kolonialgebiet  nach. 

Einen  soliden  und  erfreulichen  Fortschritt  bedeutet  die  ebenfalls 
von  Rietschels  Studien  ausgehende  erweiterte  Doktorarbeit  von  TT^  Spieß, 
Das  Marlitprivileg,  K.  Beyerles  deutschrechtl.  Beitr.  XI,  3,  Heidelb.  1916. 


1)  Vgl.  K.  0.  Müller,  Alte  und  7ieue  Stadtpläne  der  obersclucäbischen  Reichs- 
städte, Stuttg.  1914.  Auch  J.  F.  Tout,  Mediaevcd  toten  planning.  Manchester  1917, 
gehört  wohl  hierher.  Die  lokale  Untersuchuug  vou  C.  Barchers,  Villa  und  Civitas 
Goslar,  Z.  der  hist.  Ver.  f  Niedersachs.  84,  1919,  behandelt  die  Entstehung  von  Stadt, 
Grundriß,  Bevölkeningsschichten  usw. 

2)  In  desselben.  Die  Enfsiehnngsxeit  der  Stadtbefestigungen  in  Deidscldand,  Leipz. 
1913,  findet  man  S.  12  die  Literatur  der  bisherigen  Stadtplanforschung  aufgezählt. 

101 


Hier  ist  ähnlich  wie  etwa  von  E.  Stengel  für  die  Imniunitätsprivilegien, 
von  H.  Hirsch  insonderheit  für  die  Klosterinimunität  ein  absichtlich  beschränkter,  aber 
um  so  festerer  Bodon  für  die  Beurteilung  gewonnen  durch  vollständige  Ausbeutung 
der  kaiserlichen  Markturkunden  von  800  bis  über  den  Zeitpunkt  der  vollendeten  Aus- 
bildung der  ina. liehen  Stadtverfassung  weit  hinaus  und  da  ziemlich  ohne  Vorarbeit. 
Die  Entwicklung  von  den  Wochen-  und  Jahrmarktsprivilegierungen  der  Karolingerzeit 
zu  den  die  Marktsiedlung  voraussetzenden  ottonischen  Urkunden  und  weiterhin  zu  den 
von  den  Marktprivilegien  im  engeren  Sinne  sich  abspaltenden  Freiungsurkunden  des 
12.  Jahrli.,  die  sich  wieder  im  13.  nach  dem  Prinzip  der  Ummauening  zu  Stadt-  und 
Fleckenurkunden  ausgestalten,  wird  hier  sorgfältig  dargelegt;  daneben  ergibt  sich 
mancherlei  Neues  für  die  Einzelheiten  der  Markthaltung.  Daß  mit  dieser  ausschließ- 
lichen Verweitung  der  Kechtisformeln  noch  nicht  das  Letzte  erreicht  ist,  daß  nament- 
lich wirtschaftliche  Momente  hinzugenommen  werden  müssen ,  ist  von  den  Kritikern 
mit  ergänzenden  Ausführungen  betont  worden  '). 

Einen  wertvollen  Beitrag  zur  rechtlichen  und  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung der  städtischen  Stifter,  insbesondere  der  Domfreiheit,  und  ihre 
Auseinandersetzung  mit  den  einschränkenden  Bestrebungen  der  Bürger- 
schaften, liefert  K.  llofmann,  Die  engere  Immunität  in  deutschen  Bischofs- 
städten, VeröfF.  d.  Sekt,  der  Görresges.  f.  Rechts-  und  Sozialwiss.  H.  20), 
Paderb.  1914.  Ohne  daß  die  Meinungsverschiedenheit  Seeligers  und 
Rietschels  über  Wesen  und  Ursprung  dieser  engeren  Immunität  eindeutig 
entschieden  würde,  ist  über  Lage,  Bewohnerschaft,  Imraunitätsgerichts- 
barkeit,  Besteuerung  usw.  ein  sehr  brauchbarer  Stoff,  namentlich  für  das 
spätere  MA.  aus  typischen  Bischofsstädten  bereitgestellt. 

H.  Wihel,  Die  ältesten  deutschen  Stadtprivilegien,  Arch  f.  Urk.  6, 
1918,  hat  vornehmlich  das  wichtige  Diplom  Heinrichs  V.  für  Speier  von 
1111  gründlich  untersucht  und  kommt  unter  der  Voraussetzung,  daß 
die  sonst  für  königliche  Diplome  geltenden  Regeln  hier  nicht  aus- 
nahmsweise außer  acht  gelassen  sind,  zu  dem  Ergebnis,  daß  es  in  seiner 
einstmals  als  Inschrift  am  Dom  angebrachten  Gestalt  sehr  wahrscheinlich 
eine  Fälschung  ist,  die  durch  Zusammenfügung  eines  echten  Privilegs 
Heinrichs  V.  über  die  Befreiung  vom  Buteil  und  einer  Bischofsurkunde 
entstand.  Eine  Verfälschung  durch  Einschub  nimmt  W.  auch  für 
Heinrichs  Wormser  Privileg  von  1114  an.  Für  die  Anfänge  der  deut- 
schen Städte  als  politische  selbständige  Körper  ist  diese  Untersuchung 
natürlich  von  großer  Bedeutung. 

Wenden  wir  uns  von  da  aus  zu  den  Anfängen  der  bürgerlichen 
Selbstregierung,  so  haben  die  neueren  Forschungen  die  in  Rietschels 
letzter  Arbeit  über  die  Städtepolitik  Heinrichs  d.  L.,  H.  Z.  102  aus- 
geführten Ansichten  hinsichtlich  der  Verdienste  des  Weifen  um  das  Auf- 
kommen der  Ratsverfassung  erheblich  herabgestimmt.  //.  lieincke- 
Bloch,  Der  Freibrief  Friedrichs  I.  für  Lübeck  und  der  Ursprung  der 
Ratsverfassung  in  Detitschland,  Z.  d.  Ver.  f.  Lüb.  Gesch.  u.  Alt.  16,  1914, 
hat  die  Interpolation  dieser  wichtigen  Urkunde  im  Anfang  des  13.  Jahrh. 
erwiesen. 

Daraus  i.st  die  Folgerung  gezogen,  nicht  in  den  Grund ungsstädten  unter  Einfluß 
Heinrichs  d.  L.  sei  der  städtische  Rat  aufgekommen,  sondern  in  den  allmählich   ent- 


1)  Vgl.  F.  Philippi,  D.L.Z.  l'»J7,  Nr.  31—33,   und  A.  Schulte,   Z.  f.  R.  g.  A. 
37,  1916. 

102 


standenen  rheioischen  Städten  gegen  Ende  des  12.  Jahrb.  unter  italienischen  ^),  fran- 
zösischen ^)  und  flandrischen  Einflüssen,  um  dann  erst  in  der  Zeit  von  1212 — 1231 
allgemeia  sich  zu  verbreiten  und  das  Edikt  von  Eavenna  als  Rückschlag  gegen  diese 
mächtii^e  Bewegung  hervorzurufen.  Dies  Ergebnis  hat  F.  Börig ,  Lübeck  und  der 
Ursprung  der  Raisverfassung ,  ebda.  17,  1915,  dahin  abgewandelt,  daß  jene  Inter- 
polation nicht  einem  Gegensatze  von  Rat  und  Bürgerschaft  entsprungen  sei,  sondern 
vielmehr  dem  Bestreben,  die  städtischen  Freiheiten  gegen  die  Beamten  des  Stadtherm 
zu  sichern,  daß  aber  auch  vor  der  Erwähnung  von  „consules'"  ein  Gemeindeausschuß 
bestanden  habe,  und  daium  das  Verdienst  des  Weifenherzogs  nicht  wesentlich  zu 
mindern*),  der  Ursprung  der  bürgerlichen  Selbstregierung  doch  in  den  Gründungs- 
städten zu  suchen  sei  Diese  letzte  Folgerung  ist  nicht  zwingend,  da  Yoi'stufen  der 
Ratsverfassung,  wie  die  Wahrnähme  behördlicher  Funktionen  durch  das  Schöffenkolleg 
am  Rhein  schon  vor  ihrem  ersten  nachweisbaren  Auftreten  1149  vorauszusetzen  sind, 
wie  0.  V.  Below,  Zur  Oeschichte  der  deutschen  Stadtverfassung ,  Jahrb.  f.  Nat.-ök.  u. 
Stat.  105,  1915,  bemerkt.  Ebenda  wendet  er  sich  gegen  die  von  Joachim  verfochtene, 
auchi  von  Seeliger  als  möglich  zugegebene  Funktion  der  Kaufmannsgilden  als  den  Rat 
vorbereitender  Gemeindevertretung.  Deren  Einfluß  auf  Stadtverfassung  und  Zunft- 
bildung in  dem  jetzt  überwundenen ,  durch  Nitzsch  bestimmten  Sinne  spielt  aber 
begreiflicherweise  noch  eine  große  Rolle  in  der  aus  dem  Nachlaß  herausgegebenen 
Abhandlung  von  O.  SchmoUer  (f  1917),  Die  älteren  deutschen  Kaufgilden  und  die  der 
Nachbarländer,  Jahrb.  f.  Gesetzgeb.  usw.  42,  1918. 

In  der  Frage  der  Entstehung  des  Rates  schließt  sich  der  Ansicht  Reincke-Blochs 
an  H.  H.  Eberle,  Beiträge  %ur  Oeschichte  der  Bestellung  der  städtischen  Organe  des 
deutschen  MA.  I.  Das  Ratskollegium  in  den  deutschen  Städten  bis  %ur  Zeit  der 
Zunftkämpfe,  Progr.  d.  Friedr.  Gymn. ,  Freib.  i.  ß. ,  1915;  die  Arbeit  bringt  vor- 
nehmlich Beiträge  zur  Geschichte  des  Patriziats*).     Aus   norddeutschem  Material  ge- 


1)  Ich  stelle  hier  einige  neuere  Schriften  zur  italienischen  Städtegesch lohte  zu- 
sammen. Q.  MengoxKi,  La  cittä  italiana  neW  alto  medio  evo.  II  periodo  lango- 
hardo-franco,  Rom  1914.  vermag  die  allerdings  notwendige  Erneuerung  von  K.  Hegels 
Städteverfassung  von  Italien  für  den  behandelten  frühen  Abschnitt  nicht  zu  bieten 
und  ist  nur  mit  Vorsicht  zu  benutzen.  ./.  Luchaire,  Les  democraties  italiennes,  Par. 
1915,  wird  als  knappe,  auch  für  ein  weiteres  Publikum  bestimmte  Dar.^tiUung  der 
verfassungsgeschichtlichen  Entwicklung  bis  ins  16.  Jahrh.  gelobt.  Vgl.  ferner: 
D.  Bixxarri,  Ricerche  sul  diritto  di  cittadinanKa  nella  costituxione  coinunaJe,  Turin 
1916;  A.  Solmi,  Le -leggi  piii  anticlie  del  Comiine  di  Piacenza,  Arch.  stör.  it.  73  II, 
1915;  G.  Pardi,  Disegno  della  storia  demografica  di  Firenxe,  ebda  741,  1916  (Ver- 
such einer  Bevölkerungsstatistik  durch  das  ganze  MA.  bis  zur  Gegenwart").  Von  Städte- 
geschichten seien  nur  genannt:  T.  Rossi  u.  F.  Gabotto  (f  1918),  Storia  di  Torino, 
Bd.  1  (bis  128U),  Tur.  1914,  und  menrere  Darstellungen  der  Geschichte  Venedigs: 
H.  Kretschmayr,  Geschichte  von  Venedig,  Bd.  2  (vom  13.  bis  z.  l.ö.  Jahrh.),  Gotha 
3920;  E.  Musatti,  Storia  di  V.,  neue  Ausg.,  Mail.  1914/15;  Gh.  Diehl,  Une  republique 
patricienne,  Venise,  Par.  1915  (guter,  knapper  Überblick);  W.  G.  Haxlitt,  The  Vene- 
tian  republic,  New  York  1915;  O.  Bistort  (f),  La  Repubblica  di  Vencxia  dalle  tras- 
onigraxioni  neue  lagune  ßno  alla  caduta  di  Gostantinopoli  (1453),  Ven.  1916. 

2)  Vgl.  Gh.  Bemont,  Les  institutions,  municipales  de  Bordeaux  au  mögen  äge, 
Rev.  bist.  123,  1916. 

3)  Daß  davon  aber  betr.  der  freiheitlichen  Stadtverfassung  erhebliche  Abstriche 
zu  machen  sind,  wenn  auch  eine  großzügige  Begüustigung  der  städtischen  Entwicklung 
aus  wohlbeiechnetem  Eigeninteresse  bestehen  bleibt,  darin  herrscht  jetzt  doch  wohl 
Übereinstimmung.    Vgl.  etwa  G.  v.  Below.  M.  I.  ö.  G.  35,  1914,  S.  381  ff. 

4)  Mehr  ins  Lokale  gehen  die  gleichwohl  auch  für  das  Allgemeine  zu  berück- 
sichtigenden Arbeiten  von  B.  Schranil,  Stadtverfassung  nach  Magdeburger  Recht. 
Magdeburg  und  Halle,  Gierkes  Unters.  125,  Brosl  1915.  wo  u.  a  das  Burding  in 
der  Stadt  behandelt  ist;  P.  Ostwald,  Zur  Stadtrerfassung  im  Lande  des  Deutschen 
Ordens,  D.G.Bl.  15,  1914  (Begünstigung  des  Magdeb.  StaJtrechts  durch  den  Orden 
zur  Erleichterung  der  Kontrolle  durch  möglichste  Einheitlichkeit):  K.  Frölieh,  Zur 
Rats  Verfassung    von  Goslar  im  MA.,  Hans.  Gesch. -Bl.  21 ,  1915    und    F.  Frensdorff, 

103 


schöpft  sind  die  Arbeitoii  von  .4.  Uruts ,  Die  Oebäude  für  hnmnnnuile  Zwecke  in  den 
ma.lifhen  Stäflfctt  Deufsr/t/ands,  Diss  Freib.  i.  H.  1914,  und  F.  Tec/ien,  Ent/inus  und 
Kanfliaiis  im  nUrdlicIicn  Denfsc/iland,  Viert  f.  Soz.  u  Wirtsch.  14,  IÜ18,  wonach  das 
ßathaus  das  ältere  von  beiden  ist,  als  konnnunalos  Gebäude  aber  auch  z.  B.  das 
Gewandhaus  zu  gelten  hat. 

^^'ie  sich  nun  der  f^anze  städtisc  he  Orfijanismus  gliederte,  und 
wia  er  arbeitete,  dafür  ist  uns  ein  u^figeahnt  reiclier  neuer  Stoff  zu- 
gänglich gemacht  und  geistig  durchdrungen  in  den  Veröffentlichungen 
von  K.  Bücher,  die  sich  natürlich  weit  über  die  örtliche  Bedeutung 
erheben. 

In  der  Abhandlung:  Die  Berufe  der  Stadt  Frankfurt  a.  M.  im  MÄ.,  Abh.  d. 
Sachs.  Ges.  d  AV.  '60,  Nr.  3,  Leipz.  1914,  ist  für  das  au.sj;ehende  MA.  ein  ungeheures 
Material,  namentlich  aus  den  Bedebüchern  erarbeitet,  das  eine  über  das  bisher  z.  B. 
für  Nürnberg  Bekannte  noch  hinausgehende  Berufsteilung,  bei  der  freilich  die  wech- 
selnden Benennungen  zu  beachten  sind,  zeigt  (nur  bei  den  Wollvvebern  aus  der  Natur 
ihres  Gewerbes  heraus  die  moderne  Aibeitszerlegung),  die  Stärke  der  einzelnen  Beiuf.s- 
zweige  möglichst  zu  eimitteln  sucht,  die  Bedeutung  des  Kleinhandels,  den  Anteil  der 
Frauen  z.  B.  an  den  Keparatui-gewerben  und  noch  manchen  andein  kulturhistoiisch 
schätzbai'en  Stoff  ins  Licht  stellt.  Das  Werk:  FranL-furter  AiidMirkunden  (Veröff. 
der  bist.  Komm.  d.  Stadt  K.  VI),  Frankf.  1915,  führt  uns  an  der  Hand  der  Urkuudeu 
die  weitverzweigte  Madtverwaltung  mit  den  oberen  Ehreubeamten  und  zahlreichen 
Uuteibeamten  auf  das  grundlichste  vor,  und  der  Vortrag:  Das  .ftädlische  Beamten- 
Uwi  im  MA.,  Vortr.  d.  Gehe.stift.  VIT,  Leipz.  1915,  kann  als  eine  vorzügliche  Einfüh- 
rung in  diese  durch  die  Frankfurter  Verötfentlicnung  großenteils  ueuerschlosseuen 
Verhälti^isse  dienen  *). 

¥An  besonderes  Kapitel  der  inneren  Machtausdehnung  des  Rates 
als  Vertreter  der  Gemeinde  behandelt  Alfr.  Schultze,  Stadtgemeinde  und 
Kirche  im  MA.,  Festschr.  f.  li.  Öühm ,  Münch  Leipz.  1914.  Wie  die 
Stadt  sich  in  den  kirchlichen  Herr.^chdttsverband  der  Pfarrgemeinde  vor- 
drängt und  bei  Pl'ründenbesetzung,  kirchlicher  Vermögensverwaltung  und 
Kirchenzucht  wertvolle  Hechte  erwirbt,  ist  da  eindrucksvoll  geschildert. 
Nach  außen  hin  unterstand  der  städtischen  Fürsoige  u.  a.  auch  das 
Geleitwesen,  über  das  eine  Göttinger  Diss.  von  A.  Ilaverlach,  Das  Ge- 
leitivescn  der  deutschen  Städte  im  MA.,  Hans.  Gesch. -Bl.  20,  1914,  für 
das  späte  MA.  und  ungetahr  den  Umkreis  des  heutigen  lieiciies  unter- 
richtet. Für  die  gleiche  Zeit  hat  P.  Rehne  -)  unsre  Erkenntnis  des 
Stadthiichivesens,  für  das  er  neben  K.  Beyerle  in  erster  Linie  tätig  ist, 
in  mehreren  Studien  weiter  gefördert. 

Wenden  wir  uns  der  ma. liehen  Stadt  als  W  irtsc ha ftsorgan Is- 
mus^) zu,   so   glaubt  J.  G.  van  Dillen,  TIet   economisch   Jcarakfer   der 


Daft  Sladtrecld   von  Wishy ,    ebda.  22,   191G.     In  der  von  mir  nicht   berücksichtigten 
Lokallitei'atur  dürfte  sich  noch  Ähnliches  der  .\rt  find(.m 

1)  Vgl.  IL  Müta(f ,  Zur  Struktur  des  Hauslialts  der  Stadt  Hambitrg  im  MA., 
Diss.  Kiel   1914. 

2)  St  adllni  eh  Studien,  Z.  f.  R. ,  g.  A.  37,  1916,  ausgeliend  von  vier  Städten  des 
Magdeburg('_r  Jv"chtskreises  und  dem  hier  schon  früh  (TiG^^)  einsetzenden  Braun- 
schweig; ("her  die  Kieler  Stadllnlclier  de.-^  MA.,  ebda.  88,  i:.'I7.  Sonstig!^  Studien  über 
Stadtbüclier  einz(;lner  Städte  sind  von  mir  hier  nicht  verzeichnet.  (JrolJenteils  hierher 
gehöii  auch  F.  Käcli .  Quellen  x.  lieehhqesch.  der  Stadt  Marburg,  Veröff.  d  bist. 
Komm,  f    Hess.  u.  ^VaId.  XIII,  Bd.  1,  Marb.   1918. 

3)  Vgl.  die  umfangreiche  Publikation:   Quell.  ,v.  Eeehls-  u.  Wirhcl/aff.'<r/e.-^elt.  der 

104 


middeleeuioschen  stad.  I.  De  theorle  der  gcsloten  stad-huisliouding,  Amst. 
1914.  Biichers  Theorie  der  geschlossenen  k^tadtwirtschafr,  an  der  Wirk- 
lichkeit namentlich  der  niederländischen  JStädte  mit  entwickelten  Handels- 
beziehungen gemessen,  doch  einigermaßen  abmildern  zu  sollen,  was  an 
dem  Typus,  dem  sich  nur  nicht  alle  Einzelheiten  einfügen,  natürlich 
niclits  ändert.  Wie  selir  dieser  durch  Abgeschlossenheit  und  militärischen 
Charakter  bestimmt  war,  und  wie  ähnliche  Bedingungen  durch  Blockade 
und  Krieg  im  jüngsten  Deutschland  wieder  ähnliche  Ersclieinungen 
gezeitigt  haben,  hat  G.  v.  Beloiü ,  Ma.liche  Stadtwirischaft  und  gegen- 
tvärtige  Kriegstvirtschaft,  Kriegswiss.  Zeitfrag.,  hrsg.  v.  Eulenburg,  H.  lU, 
1917,  anschaulich  geschildert. 

Was  die  Entstehung  der  Zünfte  betrifft,  so  hat  (/erseZie  zuletzt  in 
dem  Autsatz  Handicerh  u.  Hofrecht,  Viert,  f.  iSoz,  u.  Wirtsch.  1 1,  1H14,  mit 
der  hotrechtlichen  Theorie  sich  auseinandergesetzt,  die  B,.  Eherstadt,  Der 
Ursprung  des  Zunftivesens  und  die  älteren  Handivefherverhände  des  MA., 
2.  umgearb.  Auii.,  Münch.  1915  ^J  gegen  seine  Kritik  erneut  zu  ver- 
teidigen sucht  -).  Daß  auch  Keutgens  bekanntes  Buch  in  seinem  posi- 
tiven Teil,  der  die  Entstehung  aus  den  Amtern  herleitet,  nicht  voll 
befriedigend,  und  das  Hauptgewicht  doch  auf  die  Einungen  zu  gewerb- 
lichen Zwecken  zu  legen  sei,  hat  v.  Behw  a.  a  O.  13,  1916,  Ö.  230, 
betont  ^).  Die  (^nicht  zum  wenigsten  aucli  aus  seiner  Schule  hervor- 
gegangenen) Aibeiten  über  wirtschaftliche  Verhältnisse  einzelner  deutscher 
Städte  müssen  hier,  obschon  ihr  Endzweck  ja  keineswegs  ein  lokal- 
geschichtlicher  ist,  übergangen   werden  *). 

Die  Dissertatiou  vou  Mercedes  S/ocvcn,  Der  Geicandsclinitt  in  den  deutschen  Städten 
des  MA.,  Abli.  Freib.  i.  Br  H.  59,  Beil.  1915,  hat  F.  Pküippi,  D  L.  Z.  1916,  Nr.  52,;iÖ, 
Gelegenheit  zu  ergänzeudeu  Bemerkungea  gegeben,  in  denen  er  u.  a.  ausfii.rt,  daß 
der  den  Webern  unterssagte,  nur  den  Gewandscbneidern  gestattete  Klein  verkauf  sich 
auf  frühe  Zeit  zurückführe,  in  der  noch  keine  liidu.strie  vorhanden  und  der  Klein- 
handel mit  Tuch  ein  Privileg  der  zum  Patriziat  gehörigen  Gevfandschneider  war,  das 
sie  später  gegen  die  vordringenden  Weber  zäh  festzuhalten  suchten  *). 

Von  allgemeineren  Werken  zur  Handels-  und  Verkehrsgeschichte 
der  deutschen  Städte  ist   zunächst  hinzuweisen    auf   das  Buch  von 


rhein.  Städte.  Kurtrierische  Städte  (1)  Trier,  hrsg.  v.  F.  Rudolph,  m.  Einl.  v.  (?. 
Kentcnich  (Publ  d.  Ges.  f.  rhein.  Gesch.  2itj,  Bonn  1915;  des  letzteren  Gesch.  d.  Stadt 
Trier  erschien  Trier  1915. 

1)  Daraus  der  Ab.schnitt:  Das  Aufsteigen  des  Ho.ndu-erkerstandcs  im  MA.  ge- 
sondert gedruckt  im  Jahrb.  f.  Gesetzg.  usw.  39,  li»15 

2)  Vgl.  die  ablehnende  Besprechung  von  H.  Fchr,  Z.  f.  R.,  g.  A.  37,  1916,  S.  64Gff. 

3)  Vgl.  A.  V.  Dirke,  Die  Bechtsnrhältnisse  der  Haiuhccrkslehrlinge  und  Ge- 
sellen nach  den  deutschen  Stadtrechten  tt.  Zun/tstatuten  des  MA.,  Diss    Jena  1914. 

4)  \gL  J.  Lindlar,  Die  Lebensinittclpolitik  der  Stadt  Köln  im  MA.  (Veröff.  d. 
Köln.  Gesch.- Ver.  H.  2),  Köln  1S)14;  //.  Keußen,  Köln  im  MA.,  Bonn  1918.  Vgl. 
auch  A'.  Rubel,  Gesch.  der  Grafsch.  u.  d.  freien  Reielisstadt  Dortmund,  1  (bis  14UU), 
Dortm.  1917. 

5)  Vgl.  Ad.  Kaiser,  Geschichte  der  Wollweberei  in  Schn-aben  bis  xur  Wende 
des  15.  Jahrb.  (auf  Grund  der  Quellen  von  5  schwäb.  Städten ;  auch  über  Zunft- 
organisation) in  Z.  d.  Ges.  f.  Bef.  d.  Gesch.kunde  usw.  v.  Freiburg  i.  B.  30.  31,  1915/16. 
Ferner:  Oertr.  Wagner,  Das  Gewerbe  der  Bader  mul  Barbiere  im  deutschen  MA., 
Diss.  Freiburg  i.  B.  1918. 

105 


W.  Schmidt  -  Tiimpler ,  GescJdchte  des  Kommissionsgeschäfts  in  Deufsch- 
Jand,  I.  Die  Zeit  his  xiim  Ende  des  16.  Jahrh.,  Halle  a.  S.  1915  ^), 
ein  Beitrag  mehr  zur  Geschichte  des  Handelsrechts,  als  des  Handels 
selbst,  aber  natürlich  auch  für  den  Historiker  lehrreich.  J.  Strieder, 
Studien  zur  Geschichte  kapitalistischer  Organisationsformen:  Kartelle, 
Monopole  und  AJctiengesellschaften  im  MA.  und  zu  Beginn  der  Neuzeit, 
Münch.-Leipz.  1914,  kommt  nur  noch  für  den  Ausgang  des  MA.  in 
Betraciit  und  hat  seinen  Schwerpunkt  im  16.  Jahrh.-).  Die  für  inter- 
nationalen Austausch  und  Abrechnung  so  wichtigen  Champagner  Messen 
behandelt  die  These  von  C.  Alengrij,  Les  faires  de  Cliampagne,  Etüde 
dliistoire  economique,  Par.  1915. 

Auf  einem  beinahe  noch  jungfräulichen  Gebiete  erhielten  wir  mit 
einem  Schlage  wenigstens  für  das  MA.  eine  vorzüghche  Gesamt- 
darstellung in    dem    1.   Teil  des  auf   3  Bände    berechneten  Werkes  von 

W.  Vogel,  Geschichte  der  deutschen  Seeschiffahrt  I:  Von  der  Urzeit  his 
Ende  des  15.  Jahrh.,  Berl.   1915  ^j. 

Die  vorsichtig  kritisclie  Art  des  Verf.  ist  für  die  quelienarmeii  älteren  Zeiten 
besonders  am  Platze;  auch  weiterhin  bedeutet  das  Buch,  das  auf  den  historischen 
Teil  einen  systematischen  über  Reederei,  Bau  und  Ausrüstung  der  Schiffe  usw.  folgen 
läßt,  eine  erfreuliche  Bereicherung  und  Veriebendigung  unserer  handelsgeschichtlichen 
Kenntnis.  Denn  ganz  läßt  sich  aus  der  Haudelsgeschichte  die  Seeschiffahrt  natürlich 
nicht  herausheben.  Namentlich  in  der  Hansezeit  ist  beides  eng  miteinander  verbunden, 
so  daß  das  Buch  da  auch  als  Beitrag  zur  hansischen  Geschichte  zu  betrachten  ist. 

Doch  hat  Vogel  außerdem  auch  eine  für  weitere  Kreise  bestimmte 
Kurze  Geschichte  der  deutschen  Hanse,  Pfingstbl.  d.  hans.  Gesch.- Ver.  11, 
Münch.-Leipz.   1915,  geschrieben. 

Verf.  steht  da  in  Auffassung  und  Einzelforschung  auf  den  Schultern  seines 
Lehrers  D.  öchäfer,  weiß  aber  die  vielseitigen  neueren  Studien  geschickt  zu  ver- 
arbeiten, so  daß  seine  Darstellung  überall  den  gegenwärtigen  Stand  unserer  Kenntnisse 


1)  Vgl.  das  Referat  von   U.  Stutz,  Z.  f.  R.,  g.  A.  36,  1915. 

2)  Vgl.  J.  Apfelbauyn,  Basler  Ilandclsgellscliaften  im  15.  Jahrh.  mit  bes.  Berück- 
sichtigung ihrer  Formen,  Bas.  Diss.,  Beitr.  z.  Schweiz.  Wirtschaftsk.  5,  Bern  1915 
(namentlich  aus  Basler  Gerichtsurkunden  geschöpft,  aber  über  das  lokale  Interesse 
hinausgehend);  K.  Schleese,  Die  HandeUbexiehungen  Obcrdeutschlands,  insb.  Nürn- 
bergs XU  Posen  im  Ausgang  des  MA.,  Diss.  Groifsw.  1915  (=  Z.  d.  bist.  Ges.  f.  d. 
Prov.  Pos.  1915). 

3)  Vgl.  die  ausführliche  Besprechung  von  A.  Bugge,  Z.  f.  Lüb.  Gesch.  18,  1916. 
Ergänzend  die  Abhandlung  Vogels,  Zur  Größe  der  europ.  Handelsflotte  im  15.,  16. 
u.  17.  .Jahrh.  in  Forsch,  und  Versuche  f.  D.  Schäfer,  Jena  1915;  für  das  15.  Jahrh. 
sind  wir  noch  auf  Schätzungen  angewiesen.  Erst  während  des  Druckes  ist  nur  be- 
kannt geworden  das  Buch  von  Co7ir.  Müller,  Altgermanisehe  Mecresherrschaft,  Gotha 
1914.  Es  ist  nicht  im  eigentlichen  Sinne  eine  historische  Leistung,  denn  der  Verf. 
ging  ursprünglich  von  der  Ab.sicht  aus,  eine  Sammlung  der  gesamten  deutschen  See- 
poesie aufzu.stellen  und  dadurch  dem  nationalen  Gedanken  zu  dienen.  Er  hat  sich 
dann  aber  für  die  älteste  Epoche  aus  gut  gewäliltor  Literatur  einen  für  weitere  Kreise 
dargestellten  geschichtlichen  Unterbau  gescluif fen ,  der  die  Abschnitte:  „Urzeit,  See- 
mythische Niederschläge,  Geschichtliche  Anfänge,  Völkerwanderung  zur  S^e,  Ost-  und 
Nordsee  im  Frühmittelalter,  die  AVikingerzeit,  Seeheldentum  in  der  Dichtung"  um- 
faßt und  in  dieser  Vereinigung,  sowie  durch  die  weitgehende  Berücksichtigung  des 
Nordischen  auch  für  den  Historiker  mancherlei  Anregendes  bietet.  Vgl.  auch  die 
umfassendere  populäre  Darstellung  von  B.  Schmeidler ,  Vom  Wikingerschijf  zum 
Handclstauchboot  in  AVi.ss.  u.  Bild.  151,  Leipz.  1919. 

106 


aufzeigt  Ich  halte  es  für  einen  besonderen  Vorzug  der  Schrift,  daß  sie  die  hansische 
Geschichte  nicht  nach  den  verschiedenen  Handelsgebieten  auseinanderfallen  läßt, 
sondern  in  einheitlichem  chronologischen  Gange  als  eine  Gesamtheit  behandelt.  Erst 
so  erhält  man  die  richtige  Vorstellung  von  den  vielen  sich  kreuzenden  Interessen  und 
der  zielbewußten,  mit  sehr  feiner  Diplomatie  betriebenen  Wirtschaftspolitik  der  Hansen, 
von  der  auch  die  deutsche  Gegenwart  noch  lernen  könnte.  Dem  Zweckverbande  ohne 
Rückhalt  an  einer  starken  Reichsmacht  gegenüber  den  erstarkenden  Nationalstaaten 
des  Nordens  noch  länger  die  Führung  zu  sichern,  ging  über  Menschenkraft ^). 

Derjenige  Forscher,  der  die  hansische  Geschichte  in  den  letzten 
Jahrzehnten  wie  kaum  ein  andrer  unermüdlich  gefördert  hat,  Walter 
Stein,  ist  der  Wissenschaft  leider  im  Okt.  1920  durch  den  Tod  ent- 
rissen. Noch  aus  den  Kriegsjahren  sind  wertvolle  Leistungen  von  ihm 
zu  verzeichnen.  Er  hat  den  11.  Band  des  Hansischen  ürkundenhuches 
(1486— löOÜ),  Münch.-Leipz ,  1916  bearbeitete^,  damit  bietet  diese  be- 
deutende Quellenpublikation  nur  noch  für  die  Jahre  1436 — 50  eine  Lücke, 
die  hoffentÜch  bald  geschlossen  werden  wird.  Welche  Verdienste  sich 
Stein  durch  die  umsichtige  und  aufopfernde  Leitung  der  Hansischen 
Geschichtshlätter  erworben  hat,  ist  bekannt.  In  ihnen  wird  sich  ja  jeder, 
der  sich  über  neuere  Literatur  zur  Geschichte  der  Hanse  unterrichten 
möchte,  zunächst  Rat  holen.  Hier  können  daher  aus  den  letzten  Jahr- 
gängen nur  die  bedeutenderen  Beiträge  verzeichnet  werden.  Stein  selbst 
hat  dort  eine  umfassende  Untersuchung:  Die  Hansestädte,  Hans.  Gesch.- 
Bl.  19 — 21,  1913 — 15,  veröffentlicht,  in  der  er  die  einzelnen  Gruppen 
der  Städte  abgrenzt,  ihre  Eigenart  kennzeichnet  und  insonderheit  die 
genauere  Zahl  der  Bundesmitglieder  für  jeden  der  Kreise  zu  bestimmen 
sucht,  was  freilich  für  die  kleineren  nur  annähernd  möglich  ist.  Die 
Gesamtzahl  erreichte  erst  zwischen  1430  und  1470  ihren  Höhepunkt  ^). 
Endlich  hat  Stein  noch  in  weiteren  Aufsätzen  westliche  und  östliche 
Beziehungen  der  Hanse  ins  Auge  gefaßt;  er  handelt  über  den  Umfang 
des  späfmittelalterlichen  Handels  der  Hanse  in  Flandern  und  den  Nieder- 
landen, ebda.  23,  1917,  wozu  ebenda  L.  Lahaine,  Die  Hanse  und  Hol- 
land von  1474:  bis  1525  eine  Ergänzung  mehr  von  der  handelspolitischen 
Seite  bietet.  Nach  dem  Osten  weisen  die  Aufsätze:  Vom  deutschen 
Kontor  in  Koivno,  ebda.  22,  1916  (erst  aus  dem  Jahre  1445  stammt 
die  älteste  Nachricht  über  die  Organisation  dieses  Kontors,  von  1532 
die  letzte  Kunde)  und  Somnierfahrt  und  Winterfahrt  nach  Nowgorod, 
ebda.  24,   1918  ^). 

Die  früher  etwas  vernachlässigten  Handelsbeziehungen  zum  noch 
ferneren    Osten    haben    neuerdings    mehr   Beachtung    gefunden.      Den 


1)  Vgl.  J.  V.   Oierke,  Die  deutsche  Hanse,  Stuttg.  1918. 

2)  Von  ähnlichen  Publikationen  zur  deutschen  Handelsgeschichte  ist  zu  nennen: 
Quellen  xur  Geschichte  des  Kölner  Handels  und  Verkehrs  im  MA.,  hrsg.  v.  B.  Kuske, 
Bd.  2  (vor  dem  1.  erschienen,  der  auch  eine  ausführliche  Einleitung  bringen  soll), 
1450—1500  (Publ.  d.  Ges    f.  rhein.  Gesch.),  Bonn  1918. 

3)  Versuche  wirtschaftlicher  Organisation  im  Bunde  behandelt  0.  Held,  Hansische 
Einheitsbestrebungen  im  Maß-  und  Qeioicldsicesen  bis  x.  J.  1500,  Hans.  Gesch.-Bl. 
24,  1918. 

4)  Vgl.  auch  P.  Werner,  Stellung  und  Politik  der  preußischen  Hansestädte  unter 
der  Herrschaft  des  Ordens  bis  %u  ihrem  Übertritt  xur  Krone  Polens,  Diss.  Königsb.  1915. 

107 


ältesten  Handelszug  durch  Rußland  nordwärts  mit  der  Beteiliojung  von 
Normannen,  Wenden,  Arabern  und  den  Hauptmittelpunkten  Kiew  und 
N(.»w^orod  schildert  für  die  Zeit  vom  JS.  bis  12.  Jahrii.  als  sehr  lebendig 
B.  Ucnniii ,  Zur  Verlehrsfjeschiclüe  Ost-  und  Nordeuropas,  H.  Z.  115, 
191Ö  ^).  Für  den  Düna-  und  Nowgorodhandel  der  deutschen  Kaufleute, 
der  darauf  einsetzte,  hat  L  K  Götz,  Deutschrussische  Handelsverträge  des 
MA.,  Abb.  d.  liamb.  Kolonialinst.  87,  1917,  neues  Quellenmateriai  vor- 
nehmlich russischer  Herkuntt,  das  bis  Ende  des  15.  Jahrb.  reicht,  ver- 
öffentlicht und  selbst  in  einem  kurzen  Aufsatz  Die  Anfänge  des  deutsch- 
russischen  Handels,  Preuß.  Jahrb.  167,  1917,  dargestellt.  H.  G. 
V.  Schroeder,  Der  Handel  auf  der  Düna  im  MA.,  Hans.  Gesch.-ßl.  23, 
1917,  hat  sein  Thema  vom  12.  Jahrb.  bis  zum  Ausgang  des  MA.  ein- 
gehend und  gründlich  behandelt.  Für  die  Schicksale  des  hansischen 
Peterhofes  in  Groß  Nowgorod  ist  eine  sichere  Grundlage  erst  gewonnen 
durch  die  mustergültige  Veröffentlichung  von  W.  Schlüter,  Die  Now- 
goroder Schra  in  7  Fassungen  vom  13. — 17.  Jahrh.,  Dorpat  1914.  Zu 
dem  schon  1911  herausgegebenen  textlichen  Teil  sind  da  sehr  umfassende 
und  lehrreiche  Register  gefügt.  Das  Werk  ist  wichtig  für  den  ganzen 
hansisch-russischen  Verkehr  -). 

Das  bewunderungswürdige  koloniale  Vordringen  der  Deut- 
schen gegen  Osten,  das  mit  dieser  Handelsentwicklung  parallel  ging, 
wäre  namentlich  die  Ostseeküste  entlang  nicht  möglich  gewesen  ohne 
die  neue  Meeresbeherrschung,  die  zum  Hansebunde  führte.  iSie  gab 
Flankendeckung  und  Verkehrsvermittlung.  Beide  Bewegungen  arbeiteten 
sich  hinfort  in  die  Hände.  H.  Witte,  Besiedlung  des  Ostens  und  Hanse, 
Pfingstbl.  d.  bans.  Gösch -Ver.  10,  Münch.-Leipz.  1914,  hat  über  das 
Thema  aus  seiner  reichen  und  eindringenden  Kenntnis  heraus  wertvolle 
Bemerkungen  gemacht,  die  freilich  nicht  eigentliche  Darstellung  sein 
wollen.  Während  des  Weltkrieges  hat  man  dieser  größten  Kraftleistung  des 
deutschen  V^olkes,  die  eine  ungeheure  Ausweitung  des  Reichsgebietes 
zur  Folge  hatte,  begreiflicherweise  lebhatte  Aufmerksamkeit  zugewandt''). 
VV^as  in  mühsamer  Forschung  vorher  erarbeitet  war,  wurde  nun  mehr- 
fach in  kurzen  Aufsätzen  oder  Vorträgen  zusammengefaßt.    Ich  darf  liier 

1)  Den  verschwuudoiien  Üstseei)latz  Jumue  (Viueta  nur  Verle.sung  iu  einer 
Ilelnioldhs.  statt  Jumncta)  sucht  IL  wühl  mit  Recht  auf  der  früliereu  Nordwestspitze 
von  U.sedom  an  der  Mündung  der  Peeue.  Vgl.  zu  dieser  Frage  auch  die  von  der 
Kritik  als  nicht  befriedigend  bezeichneten  Arbeiten  von  G.  Xiebuhr,  Die  Xachricliten 
von  der  Stadt  Junme,  Hans.  Gesch.-Bl.  2.^,  1917  und  J.  F.  Leutx -  Sputa ,  Neues 
Material  xur  Vinetafraije,  in  d.  Zeitschr.  Mannas  8,  1917.  Zur  Geschichte  der  Ost- 
seefisclierei  vgl.  K.  Ja^jow,  Die  Heringsfischcrei  an  den  deutschen  Ostseeküsten  im  MA., 
Arch.  f.  Fischereigesch.  IL  5,  Berl.  Ii)l5.  Die  Vorstellungen  von  der  großen  Bedeutung 
des  Heringsfang.s  im  MA.  sind  danacii  herabzumindern.  Für  den  Fernhandel  kam  nur 
der  Fang  in  den  Gewässern  nördl.  von  Rügen  in  Betracht.  Daß  der  Hering  von  da 
im   KL  .Jahrh.  nach  •Schonen  verzogen  sei,  beruht  auf  Irrtum. 

2)  Vgl.  Tlie  chrovirte  of  Noi-cjorod  lOlß—1471 ,  tränst,  from  tlie  Russin n  bij 
R.  Mifhrll  and  NerUl  For/jes ,  Camden  3.  series  vol.  2.^,  Lond.  1914  und  die  kurze 
Darstellung  von  KL  Lu/fler,  Grofi-Xougorod  und  sein  Pderhof,  I).  G.-Bl.  19,   191Ö. 

'6)  Von  einem  Vortrage  J.  Ilallcrs,  Deutselic  Mac/it  und  Kultur  an  der  Ostsee, 
ist  nur  ein  Zritnng.^refcrat  gedruckt  in  "Wi^s  Vorträge  gehalten        in  AVarschau  191(3/17. 

108 


wohl  auf  mein  Büchlein  Der  Zug  nach  dem  Osten.  Die  liolonisatorische 
Großtat  des  deutschen  Volkes  im  MA.  (Aus  Natur  und  Geisteswelt 
Nr.  731),  Leipz.-Berl.  192  i,  voraui^verweisen ,  weil  ich  dort  am  Schluß 
die  neuere  Literatur  zusammengestellt  hal)e.  Hier  sei  nur  einzelnes 
hervorgehoben. 

Eine  knapj^e,  markige  Zusammenfassung  des  Stoffes  gab  D.  Schäfer, 
Das  deiäsche  Volk  und  der  Osten,  Vortr.  d.  Gehestift,  i.  Dresd.  7,  19 i5, 
der  auch  sonst  wiederholt  das  Interesse  weiterer  Kreise  auf  diese  Dinge 
lenkte  ^).  Auf  Grund  seiner  ebenso  weitausgedehnten,  wie  ins  Kleine 
hinabdringenden  Studien,  namentlich  seiner  dreibändigen  Geschichte  der 
Deutschen  in  den  KarjKithenl ändern  (1907 — 10),  ist  auch  B.  F.  Kaindl 
unermüdlich  bestrebt  gewesen,  seine  gelehrten  Kenntnisse  m  kleinere 
IMünze  umzusetzen,  so  in  den  Schriften:  Die  Deutschen  in  Osteuropa 
(Bibl.  des  Ostens  1),  Leipz.  1916;  Die  Deutschen  in  Gcdisien  und  der 
Bukowina,  Frankfurt  a.  M.  1916;  ,, Polen"  und  „Böhmen"  (Aus  Nat. 
u.  Geistesw.  547  und  701),  L-ipz.-Berl.  1916,  1919;  Die  Ansiedlimg 
der  Deutschen  in  den  Karpathenländern  (Aus  Ost.  Vergang.) ,  Leipz., 
Prag,  Wien  1917;  Zur  Geschichte  des  deutschen  Rechtes  im  Osten, 
Z.  f.  R.,  g.  A.  4  0,  1919.  Ders.,  Zur  älteren  Geschichte  der  Deutschen  in 
den  Sudetenländern,  Hist.  Viert.  19,  1919,  hat  in  dem  Streite  über  Zeit 
und  Art  der  deutschen  Besiedlung  Böhmens  eine  zwar  der  Annahme 
früherer  Kolonisation,  wie  sie  B.  Bretholz  vertrat,  zuneigende,  aber 
immerhin  mehr  vermittelnde  Haltung  eingenommen. 

Sicher  war  es  verdienstlich  von  Bretholz,  in  Böhmen  und  Mähren  anf  Hof.  Adel, 
Priilaten  und  namentlich  Klöster  mit  ihrem  bäuerlichen  Anhang  die  schon  seit  der 
Salierzeit  immer  stärkeren  deutschen  Einflüsse  zu  betonen,  die  ja  auch  im  Gegensatz 
zu  Polen  durch  Einfügung  in  die  kirchliche  Organisation  Deutschlands  gefördert 
wurden.  Daß  aber  die  eigentliche  große  Kolonisationsbeweguug  hier  nicht  schon  wie  die 
bayrisch -österreichische  in  sehr  früher  Zeit,  wohl  gar  .seit  den  Tagen  Karls  d.  'rr., 
einsetzte,  sondern  im  engen  Zusammenhang  mit  der  nördlicheren,  obersäohsisch-schle- 
sischen  erst  seit  dem  Ende  des  12.  .Jahrh.  in  größerem  Umfange  begann  ,  dafür  hat 
doch  B.s  Hauptgegner  A.  Zifcha,  Vber  den  Ursprung  der  Städte  in  Bohnen  vnd  die 
Städtepolitik  der  Prxemysliden,  Mitt.  d.  V^er.  f.  Gesch.  d.  Deutsch,  i.  Bölim.  ba  54,  auch 
im  Sonderdruck  Pi'ag  1914  und  Eine  neue  Theorie  über  die  Herkunft  der  Deutschen 
in  Böhmen,  ebda.  54,  1915,  eindrucksvolle  Gründe  vorgebracht.  Brethoh  hat  sich  in  der 
Z.  d.  deutsch.  Ver.  f.  d.  Gesch.  Mähr.  u.  Schles.  18,  1914,  auch  M.  I.  ö.  G.  38,  1918, 
verteidigt.  Darin  stimmen  beide  Forscher  wesentlich  überein,  daß  neben  den  bisher 
überschätzten  fürstlichen  Xeugründungen  von  Städten  andre  aus  schon  bestehenden 
döiflichen  Ansiedlungen  sich  al'mäblich  entwickelt  haben,  bis  sie  schließlich  mit  Stadt- 
recht begabt  wurden.  Hinsichtlich  der  bäuerlichen  Kolonisation  fehlt  es  hier  noch  an 
grundlegenden  Untersuchungen. 

Den  gleichfalls  heißumstrittenen  Beginn  der  deutschen  Kolonisation 
in  Schlesien  ist  Kaindl  ebenfalls  geneigt  bis  gegen  die  Mitte  des  12.  Jahrh. 
zurückzuschieben.  //.  Beutter ,  Das  Siedlungsivesen  der  Deutschen  in 
3Iähren  und  Schlesien  bis  zum  14.  Jahrh.  (Aus  Ost.  Vergang.  Nr.  14), 
Leipz.,  Prag,  Wien  1918,  gab  da  eine  populäre  Darstellung.  Hier  wie 
anderwärts    wird    die    früher    übertriebene    Bedeutung    der    flämischen 

1)  Vgl.  auch  die  populären  Darstellungen  von  F.  Nagel,  Die  Ostlandwanderung 
der  Deutschen,  Berl.  1918,  und  TT'.  Classen,  Wie  der  deutsche  Osten  entstanden  ist, 
Hamb    (1919). 

109 


Kolonisten  jetzt  leicht  unterschätzt.  Eine  sehr  lebensvolle  Schilderung  ihrer 
Wirksamkeit  in  einem  der  alten  Reichsgrenze  nähergelegenen  Gebiet 
gab  L.  Naumann,  Veranlassung,  Umfang  und  Bedeutung  der  flämischen 
Siedlungen  in  der  Vrovinz  Sachsen.  Neujahrsbl.  d.  bist.  Kom.  f.  d,  Prov. 
Sachs,  u.  Anh.,  Nr.  40,  Halle  a.  S.  1916  0- 

Es  ist  hier  nicht  der  Platz,  zur  deutschen  Ostkolonisation  alle  die 
kleineren  Aufsätze  in  mehr  populären  Zeitschriften,  oft  eingereiht  in 
größere  Zusammenhänge,  aufzuzählen,  zumal  sie  zur  Erweiterung  unsrer 
Kenntnis  kaum  etwas  beigetragen  haben  dürften.  Doch  möchte  ich  den 
anregenden  Vortrag  von  G.  Dehio,  Livland  und  Elsaß,  Berl.  191H, 
hervorheben. 

Die  neuen  östlichen  Kolonialgebiete  sind  auch  dadurch  für  die  weitere 
Entwicklung  des  Deutschen  Reiches  von  tiefgreifendem  Einfluß  gewesen, 
daß  dort  die  kräftigsten  und  selbständigsten  Territorien  emporwuchsen 
und  am  frühesten  die  Einrichtung  des  modernen  Staatswesens  ausbauten. 
Für  die  beiden  bedeutendsten  findet  man  neuere  Zusammenfassungen  in 
größerem  Rahmen  bei  0.  Hintze,  Die  Hohenzollern  und  ihr  Werk,  Berl. 
1915  und  bei  A.  Luschin  v.  Ehengreuth,  Handbuch  der  österreichischeil 
Beichsgeschichte  I,  2.  Aufl,  Bamb.  1914  (mit  Verzeichnis  der  bis  dahin 
erschienenen  fepezialliteratur) ,  sowie  in  desselben,  Grundriß  der  öster- 
reichischen Beichsgeschichte,  2.  Aufl.,  Bamb.  1918  ^).  Die  Forschung  zur 
Entstehung  und  Verfassungsentwicklung  der  deutschen  Territorien 
steht  noch  auf  der  Stufe,  daß  durch  Untersuchung  einzelner  Gebiete 
der  Stoff  bereitgestellt  wird,  aus  dem  später  eine  allgemeinere  Darstellung 
zu  erwachsen  hat.  Nur  das  erstere  Thema  der  Territorialentstehung 
gehört  noch  voll  ins  MA.  Der  Rahmen,  den  hier  schon  1909  für  die 
geistlichen  Territorien  grundlegend  A.  Hauck  entworfen  hat,  ist  seitdem 
durch  Monographien  mit  besonderem  Inhalt  gefüllt  worden.  Dahin  ge- 
hört jetzt  auch  die  wertvolle  Untersuchung  von  M.  Stimniing,  Die  Ent- 
stehung des  weltlichen  Territoriums  des  Erzbistums  Mainz,  Quell,  u. 
Forsch,  z.  hess.  Gesch.  3,  Darmst.  1915. 

Bei  der  engen  Beziehung  des  Erzbistums  zur  Reichspolitik  kommt  der  Arbeit 
von  vornherein  ein  über  das  provinzielle  hinausgehendes  Interesse  zu.  Der  werdende 
Territorialstaat  beruht  hier  nicht  wie  andre  auf  der  Grafengerichtsbarkeit,  sondern  in 
erster  Linie  auf  gruudherrschaftiichen  Rechten.  Der  besonders  weitverzweijite  und 
zersplitterte  Besitz  wurde  noch  durch  die  Politik  Friedrichs  I.  auf  das  äußerste  be- 
droht, bis  Konrad  von  Witteisbach  den  Bestand  sicherte.  Und  erst  im  13.  Jahrh. 
begann  die  zielbewußte  Ausdehnung,  die  Abrundung  geschlossener  Gebiete,  die  Ver- 
wandlung von  Lehnshoheiten  in  direkte  Herrschaftsrechte,  die  vom  Erzbischof  und  seinen 
Beamten  wahrgenommen  wurden.  Zu  Beginn  des  14.  Jahrh.  war  die  Hauptmasse 
des  Territoriums  vorhanden,  dessen  Entwicklung  seitdem  nur  folgerichtig  fortzu- 
schreiten brauchte. 

Weniger  ergiebig  ist  W.  Schmidt-Ewald,  Die  Entstehung  des  welt- 
lichen Territoriums  des  Bistums  Halberstadt,  Abh.  Freib.  i.  B.  60,  Berl. 


1)  Vgl.  ./.  W.  Thompson,  Diäch  andFlemish  colonixation  in  mediaeval  Oermany, 
Amer.  Journ.  of  Sociology,  Sept.  1918. 

2)  Von  dem  geplanten  Werke:  Württem bergische  Regesten  v.  1301  —  1500,  das 
alle  Urkunden  und  Akten  des  Stuttgarter  Staatsarchivs  für  diese  Zeit  kurz  verzeichnen 
soll,  erschien  der  Anfang:  I  AUwürttemberg,  1.  Teil,  Stuttg.  1916. 

110 


1916,  wo  der  Entwicklungsprozeß  dieses  geschlossenen  Territoriums  nörd- 
lich vom  Harz  bis  zur  Mitte  des  14.  Jahrh.  doch  vorwiegend  lokal- 
geschichtliches Interesse  hat  ^). 

Das  andre  Hauptthema  der  Territorialforschung,  die  verfassungs- 
mäßige  Entwicklung,  bei  der  die  Ausgestaltung  zum  dualistischen 
Ständestaat  im  Vordergrunde  steht,  spielt  nur  noch  mit  der  Vorgeschichte 
im  MA,  F.  Machfahl,  Waren  die  Landstände  eine  Landesvertrehing  ?, 
Schmollers  Jahrb.  f.  Gesetzg.  40,  1916,  der  gegen  einen  Angriff  von 
Schiefer  den  Vertretungscharakter  der  Landstände  verteidigt,  hat  dort 
S.  1142  Anm.  1,  neuere  Arbeiten  zur  Geschichte  der  Landstände  ein- 
zelner Territorien  verzeichnet.  Der  Zusammenhang  mit  dem  16.  und 
17.  Jahrb.,  dem  „klassischen  Zeitalter  des  dualistischen  Ständestaats", 
ist  aber,  da  die  Dinge  nur  im  Hinblick  darauf  ihre  rechte  Bedeutung 
gewinnen,  für  derartige  Forschungen  so  selbstverständlich,  daß  dieser 
Hinweis  genügen  mag,  und  das  Einzelne  besser  der  neuzeitlichen  Bericht- 
erstattung vorbehalten  bleibt. 

7.  Ausgehendes  Mittelalter 

Nicht  mehr  die  beiden  universalen  Mächte  bestimmten  hinfort  letzten 
Endes  die  Geschicke  Europas,  sondern  die  aufstrebenden  Nationen.  Je- 
doch dauerte  die  Auseinandersetzung  von  Papsttum  und  Kaiser- 
tum noch  eine  gute  Weile  fort,  und  gerade  im  Niedergange  erstanden 
beiden  erst  die  entschlossensten  und  folgerichtigsten  Verteidiger.  Auf 
der  einen  Seite  die  Bulle  „Unam  sanctam*'  und  jene  Kanonisten,  welche 
die  universalen  Ansprüche  der  Kurie  ebenso  nachdrücklich  verfochten, 
wie  sie  die  des  Kaisertums  bestritten.  E.  Will,  Die  Gutachten  des 
Oldradus  de  Fönte  zum  Frozeß  Heinrichs  VIL  gegen  Robert  von  Neapel, 
Abh.  Freib.  i.  B,  65,  Berl.  1917,  lenkt  die  Aufmerksamkeit  in  höchst 
dankenswerter  Weise  auf  die  Denkschriften  des  päpstlichen  Juristen, 
der  die  aus  dem  Bunde  Heinrichs  VIL  mit  der  italienischen  Rechts- 
wissenschaft neuerstandenen  imperialen  Ansprüche  auf  das  schärfste  zu- 
rückwies und  mit  einer  bis  dahin  unerhörten  Entschiedenheit  aussprach, 
in  der  in  Nationen  zerteilten  Welt  sei  für  die  kaiserliche  Universal- 
monarchie die  Zeit  endgültig  vorbei  -).  Auf  der  andern  Seite  die  er- 
habene Erscheinung  Dantes.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  die  geradezu 
unerschöpfliche,  verhältnismäßig  doch  nur  herzlich  wenig  neue  und  ge- 
sicherte Ergebnisse  zutage  fördernde  Danteliteratur  zu  verzeichnen,  die 
mit  jedem  Schritt  näher  an  die  Säkularfeier  des  Jahres  1921  heran, 
immer  mächtiger  angeschwollen  ist  ^).  Hier  kann  es  sich  nur  um  Dantes 
Stellung  in  seiner  Zeit  und  um  seine  politischen  Ideale  handeln. 

1)  Vgl.  auch  L.  Cavelti,  Die  Entwicklung  der  Laiideshoheit  der  Abtei  St.  Oallen  in 
der  alten  Landschaft,  Gossau  1914,  wo  die  neuesten  allgemeineren  Forschungen  auf  ein 
kleineres  Gebiet  fördernd  angewandt  werden. 

2)  Ilildeg.  Hörnicke,  Die  Besetxung  der  deutschen  Bistümer  währ.  d.  Pontifikats 
Klemens'  V.,  Diss.  Berl.  1919,  untersucht  "W'ahlen  mit  und  ohne  päpstliche  Mitwirkung 
und  Provisionen. 

3)  Von   allgemeineren  "Würdigungen   seien   hier   aus  den  Kriegsjahren  nur  ver- 

111 


Die  von  J.  dcl  Liincjo  so  erfolgreich  in  ihrer  Echtheit  veiteidigte  Chrouik  des 
Dino  Onnpaijni  ist  in  der  von  jenem  besorgten  Ausgabe  der  neuen  SS.  rer.  Ital. 
Cittä  di  Gast,  lölo  vollständig  erschienen  M.  Ihre  Schicksale  und  den  ganzen  Dino- 
streit  hat  ders.  sehr  ausführlich  dargestellt  in  dem  zweibändigen  \\'erke  Storla 
esfenia,  viccnde,  avi-enture  d'un  piccol  lihro  de'  tenipi  di  Dante,  Mail.,  Rom,  Neap. 
1918  ■).  Mit  Dantes  iiolitischen  Anschauungen  befassen  sich  Abhandlungen  von 
F.  Ercole,  L'iniitä  politica  della  naxioue  ilaliana  e  l'Iinpero  nel  pensiero  di  Dante, 
Arch.  stör.  it.  75  1,  1917  und  E.  Falk,  Dantes  uppfattniny  av  stat  och  kyrka,  Stockh. 
1917  (?).  Über  die  Abfassungszeit  von  Dantes  Schrift  .,De  Monarchia"^)  gehen  die 
An.Mchten  nach  wie  vor  weit  auseinander.  K.  Burdach  hat  sie  1013  in  seinem  Rienzo- 
bande  (vgl.  dben  S.  Ifi)  verzeichnet.  Daß  die  von  Giuliani  und  Scheffer- Boichor.at 
philologisch-kritisch,  von  Voiiler  auch  aus  dem  Ideengehalt  gut  begründete  Ansetzung 
in  Dantes  letzte  Lebensjahre  irgendwie  ernstlich  erschüttert  wäre,  habe  ich  bisher 
nicht  gefunden ;  mit  ihr  hätte  sich  daher  jeder  Forscher  zunächst  gründlich  aus- 
einanderzusetzen, ehe  er  eine  andre  Meinung  verficht,  was  jedoch  kaum  recht  ge- 
schieht. Ist  jener  Ansatz  richtig,  so  führt  er  uns  schon  in  die  Zeit  des  Thronstreites 
Ludwigs  d.  B.  mit  seinem  habsburgischen  Gegner  und  der  ersten  päpstlichen  Gegen- 
wirkungen gegen  die  Keichsherrschaft  in  Italien. 

Die  problerareiche  Geschichte  Ludwigs  d.  B.  stellt  der  Forsciiuug 
noch  dauernd  lohnende  Aufgaben,  Zunächst  ist  hier  die  Quellengrund- 
lage gesichert  und  erweitert. 

Die  drei  bayrischen  Chroniken  für  diesen  Zeitraum,  die  weitet  zurückreichende 
Chronica  de  gestis  prineipum,  die  Chronica  Ludovici  IV^.  und  die  Chronica  de  ducibus 
Bavariae  muHte  man  bisher  in  den  recht  mäßigen  Ausgaben  in  HöhiUHis  Fontes  be- 
nutzen. Jetzt  liegen  sie  in  vorzüglicher  Edition  zu  einem  handlichen  Bande  vereinigt 
vor  in  den  Scriptores  rerum  Germanicarum  unter  dem  Titel  Chronicae  Bnvaricae 
saec.  XIV.,  hrsg.  von  O.  Leidinger*),  Hann.-Leipz.  1918.  V'on  den  Constitutioncs 
der  Mon  Germ,  bist,  LL.  sect.  IV,  erschien  Bd.  VI,  1.  2.  (1329/.;üj,  liaun.-Leipz.  1914. 
Mit  ihm  erreichte  die  Herausgobertätigkeit  von  J.  Schwalm,  dem  die  Forschung  eine 
besou'iere  Fülle  bisher  ungedruckten  wertvollen  Materials  verdankt,  ihren  Ab.schluß. 
Die  Fortsetzung  der  Constitutioncs  Ludwigs  d.  ß.  kam  seitdem   während  des  Kri<^ges 


zeichnet:  A.  IWlonand-Joyaii,  Dante,  sa  rie  et  snn  (ruvre  (E.xtr.  de  la  Rev.  positi- 
viste  Internat),  Par.  1915;  ./.  B.  Fletchrr,  Dante,  Lond.  1916,  und  die  Neubearbeitung 
des  mit  künstlerischem  Nachfühlen  für  einen  weiteren  Leserkreis  geschriebenen 
Buches  von  K.  Federn,  Dante  und  seine  Zeit,  2.  Aufl.  191(3,  das  zur  historischeu 
Einführung  weit  geeigneter  ist,  als  etwa  die  wesentlich  die  Kotnödie  referierenden 
Yorträge  von  F.  Kern,  Dante,  Tüb.  1914.  Das  Dantebuch  von  B.  Oroce  erschien 
später. 

1)  Die  bisher  nur  in  Lamis  Deliciae  Eruditorum  VI  ungenügend  g'^druckte 
Cronichetta  de'  Crrclii  aus  dem  14.  Jalirh.  ist  von  F.  Magrjini,  Arch.  stör,  it  76  I, 
1918,  besser  herausgegeben. 

2)  Vgl.  von  dems.  die  kleine  Schrift:  Dante  in  patria  c  neU'esüio  errabondo, 
Flor.  1914  (?). 

3)  F.  Moore,  Dante  De  Mnnarcliia.  The  Oxford  text  with  an  introduction  on 
the  political  theorij  nf  Dante  b.  W.  Reade,  Oxf.  1916,  ist  ohne  besondere  Bedeutung, 
der  Text  ohne  Anmerkungen;  sehr  anerkennen.swert  dagegen  die  in  Textgestaltung 
und  Quellennachweisen  verbesserte  Ausgabe  von  L.  Bertalot,  Daniis  Alagherii  De 
monarchia  lihri  HI,  Friedrichsdorf  a.  Taunus,  ^;elbstverlag,  1918. 

4)  Ders.,  Brrnardtis  Xoricus,  Untersuchungen  ■xu  den  Geschichtsqiiellen  von 
Krcmsinünstcr  u.  Tegernsee,  S.  B.  d.  Müneh.  Ak.  1917,  weist  nach,  daß  jener  an- 
gebliche Histoiiker  als  auf  Irrtum  beruliend  aus  den  Kremsmünsterer  Ge.schichts- 
quellen  ganz  zu    tilgen    ist.     Ders.  hat   mit   der   ebenfalls  vortrefflichen  Au.sgabe  von 

Veit  Ampecks  Säintlichen  Chroniken  (Qu.  u.  p]rört.  z.  bayr.  u.  di'utsch.  Gesch  ,  N.  F., 
Bd.  3,  191ü),  die  für  die  bayrische  und  ö.sterreichische  Geschichte  des  ausgehenden 
lö.  Jahrh.  wertvoll  .^ind,  die  Veiöffentlichung  der  wichtig.sten  bayrischen  Laudes- 
chroniken des   15.  Jahrh.  zum  Abschluß  gebracht. 

112 


einstweilen  ins  Stocken.  Als  eine  willkommene  Bereitstellung  von  historischem  Stoff 
führt  auch  von  den  Regesten  der  Erxbischöfe  von  Köln  im  MA.  Bd.  4  (1304 — 1332), 
bearb.  v.   W.  Kisky,  Bonn  1915,  in  Ludwigs  Regierungszeit  hinein  ^). 

Über  die  Gattin  des  Gegenkönigs  hatten  Finkes  Funde  in  Barce- 
lona mancherlei  Neues  gebracht;  es  bildet  die  Grundlage  einer  Bio- 
graphie von  Johanna  Sclirader ,  Isabella  von  Aragonien,  Gemahlin 
Friedrichs  des  Schönen  von  Österreich,  Abh.  Freib.  i.  B  58,  Berl.  1915. 
Auf  den  Höhepunkt  des  kriegerischen  Kampfes  zwischen  den  beiden 
Thronbewerbern  führt  uns  W.  Erben,  Die  Berichte  der  erzählenden 
Quellen  über  die  Schlacht  bei  Mühldorf,  Arch.  f.  öst.  Gesch.  105,  1917. 
Die  kritische  Prüfung  zeigt,  daß  starkes  Mißtrauen  gegen  solche 
Schiachtenberichte  damaliger  Zeit  gerechtfertigt  ist. 

Mit  dem  deutscheu  Thronstreit  verflocht  sich  der  Freiheitskampf 
der  Schweizer  Eidgenossen  2).  Der  600.  Jahrestag  der  Schlacht 
am  Morgarten  hat  die  Erinnerung  daran  neu  belebt'^).  Die  beste  neuere 
Einführung  bietet  hier  B.  Durrer,  Die  ersten  Freiheitskämpfe  der  Ur- 
schweiz  in  der  im  Auftrage  des  Generalstabschefs  bearbeiteten  Schweizer 
Kriegsgeschichte,  1.  u.  3.  H.  1915.  Ders.,  Neue  Beiträge  zur  Aus- 
tmd  Fortbildung  der  Befreiungssage,  Anz  f.  Schweiz.  Gesch.  46.  47, 
1915/16,  hat  auch  sonst  den  Anfängen  der  Schweizer  Bünde  seine  Auf- 
merksamkeit zugewandt.  Die  Paßpolitik  wird  da  als  treibender  Faktor 
immer  allgemeiner  anerkannt;  von  weltentlegenen  Hirtengemeinden  wäre 
niemals  eine  so  bedeutsame  Entwicklung  ausgegangen.  Karl  Meyer, 
Der  Schwurverband  als  Grundlage  der  Eidgenossenschaft,  ebda.  50,  1919, 
sucht  dementsprechend  sogar  nachzuweisen,  daß  nicht  die  lokalen  Tal- 
genossenschaften,  die  altgermanischen  Mark-  und  Gerichtsgemeinden  die 
Grundlage  des  Bundes  gewesen  seien  *) ,  sondern  eine  freie  Schwur- 
vereinigung gegen  die  Einherrschaft  nach  dem  Vorbilde  der  städtischen 
coniurationes  in  Italien,  Nordfrankreich,  Flandern  und  Deutschland. 

Erst  die  Beziehungen  Ludwigs  d.  B.  zu  Reichsitalien  haben 
bekanntlich  zum  offenen  Bruch  mit  der  römischen  Kurie  geführt. 

In  die  Verhältnisse  Oberitaliens  gewinnen  wir  auf  Grund  neuen  Quellen- 
stoffes manche  Einblicke  durch  R.  Davidsohns  Beiträge  zur  Oeschichte  des  Reichs 
und  Oberitaliens  aus  den  %-ur  Zeit  noch  im  Münchener  Reichsarchiv  beßndlic/ien 
Tiroler  Rechmmgsbiichern  der  Jahre  1311/12—1341,  M.  I.  ö.  G.  37,  1917.  Herzog 
Heinrich  von  Kärnten  -  Tirol ,  seine  Beziehungen  zu  den  Königshäusern,  seine  durch 
das  Generalvikariat  von  Padua  und  der  Mark  Treviso  begründete  und  bis  1329  schwach 
behauptete  oberitalische  Schutzherrschaft,  ein  Vorspiel  zu  Ludwigs  Eingreifen  und  der 


1)  /.  Loserth,  Aus  den  Annales  difßniciones  des  Oeneralkapitels  der  Zister- 
xienser  in  d.  J.  1290 — 1330,  N.  A.  41,  1919,  druckt  aus  einer  Grazer  Hs.  Auszüge 
aus  den  Beschlüssen  des  Generalkapitels  ab,  die  sich  auf  Zisterzienserklöster  Deutsch- 
lands, Böhmens  usw.  beziehen  und  für  Ordens-  und  Sittengeschichte  der  Zeit  man- 
cherlei Stoff  bieten. 

2)  Zur  populären  Einführung  vgl.  E.  Oagliardi,  Geschichte  der  schweixerischen 
Eidgenossenschaft  bis  1516  (Voigtländers  Quellenb.  67),  Leipz.  1914. 

3)  Vgl.  M.  Styger,  Die  Gedächtnisse  der  Schlacht  am  Margarten  v.  15.  Wiyiter- 
monat  1315,  Schwyz  1916  und  weitere  kleine  Gedenkschriften. 

4)  Vgl.  A.  Rosa  Benx,  Der  Landatnmann  in  den  urschweixerischen  Demokratien, 
Zur.  1918. 

Wissenscbaftüclie  Forschungsberichte  VII.  8 

113 


luxemburgischen  Signorie,  steht  hier  im  Mittelpunkt.  Auch  kulturhistorischer  Stoff 
und  Gesichtspunkte  zur  Kritik  der  unwahrhaftigen  Chronik  der  Cortusi  bieten  sich  dar. 

Das  Verhältnis  Ludwigs  zum  Papsttum  bis  zum  Höhepunkt 
des  Frankfurter  Reichstages  von  1338  ist  in  dem  oben  8.  bl  genannten 
Buche  von  B.  Moellcr,  dessen  Beilagen  größtenteils  auch  als  Rostocker 
Dissertation  1914  erschienen,  mit  hervorstechender  Begabung  vielfach  in 
neuem  Lichte  hingestellt  worden. 

Noch  entschiedener  als  Hauck  lehnt  M.  die  ungünstige  Beurteilung  des  Politikers 
Ludwig  durch  Kiezler  und  K.  Müller,  aber  auch  die  Auffassung  Pregers  von  dem 
gerissenen,  hinterhältigen  Diplomaten  ab  und  zeigt,  wie  der  AV'ittelsbacher  ehrlich  und 
unentwegt  von  1314 — 13;:58  auf  staufischen  Bahnen  für  das  eine  Ziel  gekämpft  hat, 
die  kaiserliche  Herrschaft  gegen  den  Approbatiousanspruch  des  Papstes,  dem  mit  der 
Krönung  nur  die  Titelerteilung  zustehe,  zu  verteidigen.  Mit  Ausnahme  der  unklugen 
Komzugsepisode,  bei  der  er  unter  fremden  Einfluß  geriet,  ist  er  auch  stets  für  ^'chei- 
dung  des  Kirchlichen  und  Weltlichen  eingetreten.  Nur  für  Verfehlungen  auf  ersterem 
Gebiete  war  er  bereit,  Genugtuung  zu  leisten.  In  Eense  und  Frankfurt  war  er  selbst 
und  nicht  etwa  der  von  Ilöhlbaum  und  andern  ganz  zu  Unrecht  als  Fuhrer  hingestellte 
opportunistische  Territorialpolitiker  Balduin  von  Trier  das  treibende  Element,  und  das 
Ganze  war  durchaus  eine  politische  Aktion  des  alten  kaiserlichen  Einheitsgedankens, 
darum  auch  ein  Abschluß  des  Vergangenen,  nicht  eine  Stufe  zum  Zukünftigen.  Die 
Verwischung  der  Benennung  als  Kaiser  und  König  in  dem  Frankfurter  Keichsgesetz 
„Licet  iui'is"  wird  auf  eine  kanonistische  Glosse  des  Johannes  Teutouicus  zurück- 
geführt. Aus  dem  reichen  Inhalt  des  Buches  können  hier  nur  diese  Hauptgedani<en 
herausgehoben  werden ,  die  im  wesentlichen  einleuchten ,  teilweise  übrigens  zu  der 
alten  Fickerschen  Auffassung  zurücklenken.  Das  letzte  Wort  ist  hier  natürlich  noch 
nicht  gesprochen.  Die  Einzeluntersuchungen  bedürfen  genauer  Nachprüfung;  ge- 
legentlich hat  man  doch  den  Eindruck,  daß  die  Dinge  etwas  zu  klar  herausdestilliert 
sind,  wenn  auch  die  konstruktive  Neigung  des  Verf.  hier  weniger  störend  hervortritt, 
als  in  der  oben  S.  46  genannten  Abhandlung.  Auch  das  Operieren  mit  der  „Kaiser- 
wahltheorie" bewegt  sich  hier  auf  festerem  Grunde  als  im  13.  Jahrh.  Nicht  ganz  ohne 
Gefahr  ist  es  jedoch,  von  den  wirren  Gängen  der  luxemburgischen,  wittelsbachischen, 
habsburgischen  Hausmachtbestrebungen,  ja  auch  der  französischen  und  englischen 
Politik  so  gut  wie  ganz  abzusehen  und  das  Verhältnis  Ludwigs  zur  Kurie  so  isoliert 
zu  betracbten.  Nicht  jeder  wird  beispielsweise  überzeugt  sein ,  daß  Beilage  4  über 
Ludwigs  sog.  Verzicht  auf  das  Reich  von  löo3,  den  M.  als  eine  Ordnung  der  Thron- 
folge mit  approbationsfeindlicher  Tendenz  auffaßt  und  nur  durch  Fälschungen  des 
Böhmen  und  Niedeibayern  entstellt  sein  läßt,  wirklich  auf  den  Grund  der  Wahrheit 
kommt.     Aber  die  gebotene  Anregung  bleibt  auf  jeden  Fall  reich. 

Möller  äußert  sich  auch  über  das  gegenseitige  Verhältnis  von  Lud- 
wigs Appellationen,  über  die  wir  ja  erst  in  jüngerer  Zeit  durch  die 
Forschungen  von  Schwalm  und  Zeuraer  schrittweise  Aufklärung  erhalten 
haben.  Über  diese  hinaus  führt  jetzt  J.  Hofer,  Zur  Geschichte  der 
Appellntionen  König  Ludwigs  d.  B.,  Hist.  Jahrb.  38,  1917. 

Daß  der  Appell  an  ein  Konzil  in  der  Frankfurter  k\)\).  gegenüber  der  Nürn- 
berger keine  Verschärfung  bedeute,  mag  man  bezweifeln;  wichtig  aber  ist  die  Heraus- 
arbeitung der  streitverschärfenden  Einflüsse  von  Ludwigs  Protonotar  Ulrich  Wild. 
Durch  ilin,  nicht  unter  miuoritischer  Einwirkung,  ist  in  der  Nürnb.  App.  der  Vorwurf 
der  Ketzerbegünstigung  dem  Papste  zurückgegeben  und  in  die  Sachsenhäuser  App.  der 
Armutsexkurs  ungeschickt  eingefügt,  der  wahrscheinlich  in  den  Kreisen  lombardischer 
Spiritualen  entstanden  war  und  hier  die  Bannung  Ludwigs  mit  der  Anklage  auf  Ab- 
setzung des  ketzerischen  Papstes  beantworten  sollte,  —  alles  das  nach  dem  Vorbilde 
Philipps  des  Schönen.  Beidemal  bean.standete  Ludwig  den  Übergriff  auf  das  kirchliche 
Gebiet,  hatte  aber  nicht  g'-nug  Sachkenntnis  und  Überblick,  um  das  Bekanntwerden 
der  Nürnb.  Fassung  und  die  eigenmächtige  Versendung  gleichwohl  des  ersten  Ent- 
wurfes der  Sachsenh.  App.  durch  Ulrich  zu  verhindern.  Diese  Ausführungen  sind  auch 
zur  Gesamtbeurteilung  des  Bayern  beachtenswert,  I 

114 


So  verhängoisvoll  diesem  seine  Verbindung  mit  den  papstfeindlichen 
Minoriten  und  radikalen  Gelehrten  auch  geworden  ist,  so  beruht  doch 
gerade  auf  dem  Bunde  mit  der  aufstrebenden  ungebundeneren  Wissen- 
schaft nicht  zum  wenigsten  seine  welthistorische  Bedeutung.  Der 
Publizistik  jener  Tage  hat  sich  daher  auch  nach  längerer  Pause  seit 
ßieziers  Werk  die  Forschung  mit  erneutem  Eifer  zugewandt.  Die  größten 
Verdienste  erwarb  sich  darum  R.  Sdiolz,  der  sein  1911  begonennes 
Werk:  UnheJcannte  Idrchenpolitische  Streitschriften  aus  der  Zeit  Lud- 
wigs d.  B.  1327—54,  Rom  1914;  mit  dem  2.  Bde.  (Bibl.  d.  preuß.  bist. 
Inst.  i.  Rom,  Bd.  10)  abschloß. 

Die  meisten  der  hier  größtenteils  im  Auszug  dargebotenen  Texte  waren  un- 
gedruckt. Darunter  sind  Traktate  des  mehr  und  mehr  auf  die  päpstliche  Seite 
tretenden  Konrad  von  Megenberg,  über  den  auch  Herrn.  Meyer,  Lacrimae  ecclesiae, 
N.  A.  39,  1914,  gearbeitet  hat ;  weiter  solche  von  Wilhelm  v.  Occam,  insbesondere  aus 
seiner  letzten  Zeit  der  unvollständige:  „De  imperatorum  et  pontificum  potestate", 
der  noch  einmal  die  schärfsten  Angriffe  gegen  das  kurialistische  System  zusammen- 
faßt; endlich  wieder  andre  von  Augustinus  Triumphus,  Alvarus  Pelagius,  Landulfus 
Colonna  usw.,  —  im  ganzen  also  eine  sehr  wichtige  Bereitstellung  neuer  Quellen, 
eine  reiche  Fundgrube  für  die  Ideengeschichte  dieser  Zeit! 

Ders.  R.  Scholz  hat  auch  für  Übungszwecke  des  llarsilius  von 
Padtia  Defensor  pacis  (Quellensamml.  z.  deutsch.  Gesch.),  Lcipz.  1914, 
natürlich  in  starker  Verkürzung  (nach  anderem  Drucke  als  A.  CarteUieri 
das  1.  Buch  1913)  herausgegeben.  Für  die  Forschung  ist  freilich,  um 
nicht  falsche  Eindrücke  zu  wecken,  eine  Ausgabe  des  ungekürzten  Werkes 
mit  allem  ma.lichen  Ballast  nach  den  Hss,  unerläßlich.  Scholz  bereitet 
sie  für  die  Oktavserie  „Fontes  iuris  Germanici  antiqui"  der  Mon.  Germ, 
vor,  ebenso  wie  Herm.  Meyer  die  des  Lupoid  von  Bebenburg.  D.  Stieglitz, 
Die  Staatstheorie  des  Marsilius  von  Padtia,  Beitr.  z.  Kult.  19,  Leipz.- 
Berl.  1914,  versucht  den  Defensor  pacis  mit  der  älteren  Publizistik  und 
Scholastik  in  Beziehung  zu  setzen  und  das  Verhältnis  zwischen  demo- 
kratischer Theorie  und  Wirklichkeit  zu  verfolgen,  ohne  erhebliche  Auf- 
klärung zu  bringen. 

An  die  publizistische  Bewegung  unter  Ludwig  d.  B.  darf  man 
wohl  die  der  deutschen  Mystik  anschließen.  Ihre  Anfänge  reichen 
freilich  schon  um  ein  Jahrhundert  zurück.  P.  D.  Stöckerl,  Rruder 
David  V.  Augsburg.  Ein  deutscher  Mystiker  ans  dem  Franziskaner- 
orden (Veröflf.  aus  d.  kirchenhist.  Sem.,  Münch.  IV,  4),  Münch.  1914, 
gibt  das  Wenige,  was  über  Davids  Leben  (f  1272)  bekannt  ist,  charak- 
terisiert ihn  als  Schi-iftsteller  und  bespricht  unter  Benutzung  Münchener 
Hss.  seine  zahlreichen  Traktate,  deren  er  32  mit  Sicherheit  neben  einigen 
unsicheren  nachweist  ^).    Die  „ Offenbarungen "  der  Dominikanerin  Mar- 


1)  /.  Greven,  an  dessen  Buch  über  die  Anfänge  der  Beginen  sich  eine  Kontro- 
verse mit  G.  Kurth  und  A.  Hauck  geknüpft  hat,  da  er  eine  Gründung  durch  den 
Lütticher  Prediger  Lambert  le  Begue  {f  1177)  bestreitet  und  jene  Frauengemein- 
schaften zu  Beginn  des  13.  Jahih.  unter  Förderung  des  sich  gegen  den  übermäßigen 
weiblichen  Andrang  schließenden  Zisterzienserordens  ohne  besondere  Einzelgründung 
emporwachsen  läßt ,  ergreift  mit  der  Abhandlung  Der  Ursprung  des  Beginemvesens, 
Eist.  Jahrb.  35,  1914,  zu  der  Frage  noch  einmal  das  "Wort. 

8* 

115 


garetha  Ebner  aber  fallen  recht  eif!;entlich  in  die  Regierungszeit  Ludwigs, 
zu  dem  sie  mit  schwärmerischer  Verehrung  aufblickte.  L.  Zoepf,  Die 
Mystiherin  3Iargaretha  Ebner  (c.  1291—1351),  Beitr.  z.  Kult.  16,  Leipz.- 
Berl.  1914,  hat  ihr  Wesen,  ihre  durch  Hysterie  beeinflußten  Träume  und 
Visionen  etwas  breit,  aber  mit  einfühlendem  Verständnis  dargestellt,  in- 
dem er  zwischen  der  legendär  katholischen  Autfassung  und  der  alles  auf 
das  Sexuelle  zurückführenden  Erklärung  der  Freudschen  Schule  die 
Mitte  zu  halten  sucht. 

Wenden  wir  uns  zur  Geschichte  der  päpstlichen  Gegner  Lud- 
wigs, so  ist  da  wieder  stärker  die  internationale,  und  hier,  wo  es  sich 
um  die  avignonesische  Zeit  handelt,  naturgemäß  die  französische  For- 
schung beteiligt.  Wegen  der  sehr  vollständigen  Bibliographie  sei  da 
zunächst  verwiesen  auf  das  ältere  Buch  von  G.  Mollat,  Les  papes 
cTÄvignon  1305 — 78,  Par.  1912.  Ders.  hat  die  neue  nach  den  Hss. 
veranstaltete  Ausgabe  von  Si.  Balimus\  Vitae  paparum  Avenionensium, 
Bd.  1,  Par.  1916,  besorgt  und  in  einer  Etüde  critique  sur  les  Vitae 
paparum  Avenionensium  d'iltienne  Baluze,  Par.  1917,  Untersuchungen 
veröffentlicht  über  Verfasser,  Quellen,  Abfassungszeit  und  Wert  der 
einzelnen  Viten. 

Die  zweite  Vita  Benedikts  XII.  und  die  dritte  Klemens'  VI.  ist  danach  mit  an- 
nähernder Sicherheit  dem  bekannten  Johannes  Porta  de  Annoniaco,  dem  wir  die  Schrift 
über  Karls  IV.  Romfalirt  verdanken,  zuzuweisen,  die  fünfte  Vita  Johanns  XXII.  ist 
von  Heinrich  von  Diessenhoven.  Für  jeden  Benutzer  der  Viten  ist  künftig  unerläß- 
lich, daß  er  sich  über  ihren  Wert  bei  Mollat  unterrichtet  \). 

Ders.  setzte  die  Ausgabe  der  Lettres  communes  Johanns  XXII. 
(1316 — 34)  in  der  avignonesischen  Registerserie  mit  Bd.  7,  H.  17,  Par. 
1919,  fort ,  ebenso  wie  J.  M.  Vidal  die  der  Lettres  clo.^es  et  patentes 
interessant  les  2^ays  autres  que  la  France  Benedikts  XII.  (1334—42) 
mit  H.  2,  Par.  1919  2). 

Noch  wichtiger  als  diese  Registerpublikationen  ist  der  gründliche 
Einblick,  den  uns  deutsche  Forschung  in  die  Finanzverwaltuug 
der  avignonesischen  Päpste  eröflfnet  hat  in  den  von  der  Görres- 
gesellschaft  herausgegebenen  Vatikanischen  Quellen  zur  Geschichte  der 
päpstlichen  Hof-  und  Finanzverivaltung  1316 — 1376.  Darin  hat  K.  H. 
Schäfer  dem  1911  erschienenen  2.  Bde.  (Ausgaben  Johanns  XXII.)  ^), 
Bd.  3:  Die  Ausgaben  der  apostolischen  Kammer  unter  Benedikt  XII, 
Klemens  VI.  und  Innozenz  VI.,  Päd.  1914,  folgen  lassen,  während 
E.  Göller  den  4.  Bd.:  Die  Einnahmen  der  apostolischen  Kammer  unter 
Benedikt  XII.,  Päd.  1920,  herausgebracht  hat. 

Nicht  eine  vollständige  Geschichte  Johanns  XXII.  wollte  N.  Valois 
(f  1915)  mit  seinem  umfangreichen  Artikel  Jacques  Duese,  pape  sous 
le  nom  de  Jeati  XXII.  für  die  Hist.  lit^r.  de  la  France,  Bd.  34,  Par. 


1)  Vgl.  M.  Prou,  Les  vies  des  papes  d' Avigno7i,  Journ.  d.  Sav.,  Par.  1918. 

2)  Vgl.  auch  die  auf  Belgien  bezüglichen  Auszüge  von  A.  Fiercns,  Suppliques 
d'Urbain   V.  (13(52 -1370),  Rom  1914. 

3)  Der  Nützlichkeit  halber  sei  hier  auf  die  daraus  im  Sonderdruck  erschienene 
Darlegung:  Der  Geldkurs  im  13.  u.  14.  Jahrh.,  Päd.  1911,  noch  einmal  hingewiesen. 

116 


1914,  liefern,  sondern  nur  unter  dogmatischen,  moralischen,  wissenschaft- 
lichen und  literarischen  Gesichtspunkten  die  Persönlichkeit  dieses  merk- 
würdigen Papstes  betrachten;  gerade  da  aber  konnte  er  aus  seiner 
reichen  Kenntnis  viel  Neues  geben.  —  In  Johanns  letzter  Zeit  hat  be- 
kanntlich der  dogmatische  Streit  über  die  Gottesschau  der  Seelen  der 
beati,  in  den  er  verwickelt  war,  weitgreifende  Wirkungen  geübt;  so 
gehört  in  diesen  Zusammenhang  die  Schrift  von  G.  Hoffmann,  Der  Streit 
um  die  selige  Schau  Gottes  (1331  — 38 J,  Leipz.  1917  ^). 

Für  die  ersten  Jahre  Karls  IV.  haben  wir  eine  sichere  Grund- 
lage erhalten  in  den  Constitutiones  der  Mon.  Germ,  bist.,  Bd.  VIII,  1.  2, 
bearbeitet  von  K.  Zeumer  und  R.  Salomon,  Hann.-Leipz.  1919,  der  die 
Jahre  1346—48  umfaßt  2).  An  sein  Gesetzeswerk  der  Goldenen  Bulle 
von  1356  knüpfen  einige  kleinere  Arbeiten  an. 

Zu  der  dort  erfolgenden  Regelung  des  Laienkurrechts  gibt  M.  Krammer ,  Die 
Frage  des  Latenkurrechts  vom  Interregnum  bis  zur  Goldenen  Bulle,  N.  A.  39,  1914, 
die  Vorgeschichte,  indem  er  im  Rahmen  des  Bekannten  im  einzelnen  sorgfältig  dar- 
legt, wie  die  Anschauung  von  der  Kur  als  einem  gemeinsamen  Eigen  der  Familie  sich 
seit  dem  Interregnum  in  dem  pfälzischen ,  brandenburgischen  und  sächsischen  Hause 
geltend  machte  und  was  dagegen  geschah.  Daß  diese  Regelung  gleichwohl  in  Branden- 
burg über  die  Dispositio  Achillea  hinaus  noch  zwei  Jahrhunderte  mißachtet  wurde, 
ersieht  man  aus  dem  Aufsatz  des  im  Kriege  1915  gefallenen  H.  v.  Caemmerer,  Die 
Testamente  der  Kurfürsten  von  Brandenburg  tmd  der  beiden  ersten  Könige  von 
Preußen,  Veröff.  d.  Ver.  f.  Gesch.  d.  Mark  Brand.  1915.  Ä.  Werminghoff,  Zum  fünften 
Kapitel  der  O.  B.  v.  1356,  Z.  f.  R.,  g.  A.  36,  1915,  behandelt  die  AVahrnahme  der 
Patronatsrechte  des  Reiches  während  der  Vakanz  des  Königtums  durch  die  beiden 
Reichsstatthalter,  eine  Anordnung,  die  auch  im  kleinen  die  Fürsorge  Karls  zur  Er- 
haltung der  Reichsrechte  verrät. 

Wegen  ihres  verwandten  Charakters  füge  ich  hier  an  die  Heidelb.  Diss  von 
El.  Bauer,  Das  Recht  der  ersten  Bitte  bei  den  deutschen  Königen  bis  auf  Karl  IV., 
Kirchenrechtl.  Abb.  94,  b^tuttg.  1919,  die  für  die  Entstehung  der  Rechtsvorstellung  zwar 
weit  zurückgreift,  aber  ihren  Schwerpunkt  doch  in  der  Zeit  der  regelmäßigen  Aus- 
übung dieses  Rechtes  der  Pfründenbesetzung  von  Rudolf  von  Habsburg  bis  Karl  IV. 
hat.  Päpstliche  Provisionen  und  die  dem  königlichen  nachgebildeten  Precesrechte  der 
Fürsten  begannen  auch  da  bald  beeinträchtigend  zu  wirken. 

Für  die  Beziehungen  Karls  IV.  zur  Kurie  und  Cola  di  Rienzo 
bedarf  es  hier  nur  eines  kurzen  Hinweises  auf  die  oben  S.  16  schon 
vorweggenommenen  Forschungen  K.  Burdachs  ^).  H.  Breßlaii,  Briefe 
aus  der  Zeit  des  2.  Bömersuges  Kaiser  Karls  IV.,  N.  A.  41,  1917,  fand 
durch  den  Krieg  Gelegenheit,  die  uugedruckten  Briefe  im  Cod.  450  der 
Laoner  Stadtbibliothek ,  auf  die  ich  früher  hingewiesen  hatte ,  zu  ver- 
öffentlichen;  unter  ihnen  verdient  namentlich  der  Bericht  der  Prioren 
und  des  Gonfaloniere  von  Arezzo  an  den  Kaiser  über  das  Gefecht  kaiser- 


1)  E.  Ströbele,  Nikolaus  v.  Prato,  Kardinalbischof  v.  Ostia  (1803—21),  Diss. 
Freib.  i.  B.,  ist  eine  Parallelarbeit  zu  der  gleichnamigen  Marb.  Diss.  von  F.  Theile,  1913. 

2)  Vgl.  K.  Zwierzina,  Gedichte  des  Lupoid  Eornburg  von  Rothenburg  0.  T. 
(mit  Beziehungen  auf  die  Jahre  1347/48)  in  Festschr.  d.  Erzh.  Rainer  Realgymn., 
Wien  1914.  Die  kurze  Schrift  von  P.  Vidal,  Lettres  patentes  de  l'empereur  Charles  IV, 
(15  Mars  1354).,  Par.  1914,  ist  ohne  allen  neuen  Ertrag. 

3)  Zur  Wiederherstellung  des  Kirchenstaats  vgl.  M.  Antonelli,  II  cardinale 
Albomox  e  il  governo  di  Roma  tiel  1354,  Arch.  stör.  Rom.  39,  1916. 

117 


lieber  und  päpstlicher  Söldner  ^)  gegen  die  Scharen  des  Condottiere  John 
de  Hawkwoüd  vom  15.  Juni  1369  Beaciitung '-). 

Eine  Gesaratgeschichte  Karls  1 V^.,  wie  sie  F.  Vigener  für  die  Münchener 
Historische  Kommission  übernommen  hat,  ist,  wenn  man  die  Kratt  hat, 
nicht  in  den  Einzelheiten  zu  versinken,  eine  der  lohnendsten  Aufgaben 
der  spätmittelalterlichen  Geschichte  ■').  Aber  selbst  unter  diesem  be- 
deutenden Herrscher  konnte  das  Reich  entfernt  nicht  mehr  die  be- 
stimmende Rolle  wie  in  früheren  Zeiten  spielen.  Westeuropa  hat  während 
des  ganzen  14.  Jahrh.  den  stärksten  Einfluß  geübt  und  hätte  ihn  noch 
mächtiger  zur  Geltung  bringen  können,  wenn  sich  seine  Kräfte  nicht 
bald  durch  den  englisch-französischen  Gegensatz  zum  großen  Teil  auf- 
gehoben hätten. 

Für  diese  westeuropäische  Geschichte  muß  ich  mich  mit 
kurzen  Hinweisen  begnügen,  da  die  während  des  Krieges  dort  er- 
schienenen Werke  mit  wenigen  Ausnahmen  in  Deutschland  noch  kaum 
erhältlich  sind. 

Die  Übergangsregierung  Eduards  H.  von  England  (1307 — 27)  ist 
von  T.  F.  Tout  schon  früher  im  dritten  Bande  der  Political  history  of 
England  dargestellt  worden.  Jetzt  hat  er  in  dem  Buche  The  place  of 
the  reiyn  of  Eduard  II*)  in  English  history,  Manch.  1914,  ihre  Be- 
deutung noch  stark  unterstrichen.  Gerade  daß  der  absolutistische  Zug 
Eduards  I.  unter  seinem  schwächeren  Sohne  durch  neues  Emporsteigen 
und  endgültige  Festigung  des  Parlaments  abgelöst  wurde,  verhalf 
moderneren  Bildungen  in  Verfassung,  Verwaltung  und  ständischer  Schich- 
tung zum  Durchbruch.  Eine  Anzahl  von  Schülern  Touts,  deren  Arbeiten 
man  Rev.  bist.  117,  1914,  aufgezählt  findet,  ist  am  Werke,  diese  Ge- 
samtauffassung ihres  Lehrers  in  Einzeluntersuchungen  zu  begründen. 
Ders.  versucht  in  den  Chapters  in  the  administrative  history  of  mediaeval 
England:  The  Wardrobe,  the,  Chamber  and  the  Small  Seals,  2.  Bde., 
Manch.  1919,  eine  Grundlegung  zur  Geschichte  der  Behördenorganisation 
Englan  is  zu  geben. 

1)  Vgl.  B.  Rathgen  u.  K.  R.  Schäfer,  Feuer-  u.  Fernwaffen  beim  päpstlichen 
Heere  im  14.  Jahrh.,  Z.  f.  bist,  ^yaffenk.  7,  1916  (auf  Grund  der  Angaben  päpstlicher 
Rechnungsbücher). 

■  2)  Vgl.  für  die  italienischen  Verhältnisse  dieser  Zeit  die  Neuausgabe  des  Chro- 
nicon  Matinense  des  Johannes  de  Bdx^ano  (bis  ISti-i)  durch  T.  Casini  in  Rer.  it. 
Script.  15.^,  Bol.  1917;  auch  vom  Repertorio  diphmatico  vlsconteo  (Soc.  stör,  lomb.): 
Bd.  2  (1363  -1385,  Urkundenregesten),  xMaü.  1918. 

3)  Vgl.   K.   Wenck,   König   Ludwig  I.    v.   Ungarn,   Kaiser   Karl  IV.   und  die 
rak  Brandenburg  i.  J.  1371,  Schrift,  d.  V.  f.  Gesch.  Berl.  50,  1915;    0.  Stolx,  Ein 

venetianisch- böhmisch -belgisches  Verkehrsprojekt  Kaiser  K.  IV.,  Mitt.  d.  V.  f.  Gesch. 
d.  Deutsch,  i.  Böhm.  52,  1914,  zeigt  auf  (irund  einer  aus  dem  venezianischen  Staats- 
archiv mitgeteilten  Gesandteninstraktion  des  Dogen  Lorenzo  Celsi,  wie  Karl  schon 
um  die  Mitte  der  sechziger  Jahre  die  Anregung  gegeben  hatte,  einen  Teil  des  vene- 
zianisch-flandrischen Transitverkehrs  über  Moldau  und  Elbe  zu  lenken,  wofür  er 
Sicherheit,  Erleichterungen  und  die  Errichtung  eines  venezianischen  Fondaco  in 
Prag  anbot. 

4)  Vgl.  Yearbook:^  of  Edward  77,  ed.  W.  C.  Bolland,  Bd.  11  (1311/12),  Lond. 
1916.     Vgl.  J.   C.  Daries,   The  Baronial  Opposition  to  Edward  II  its   cJiaractcr   and 

olicy,  a  study  in  adininistrative  history,  Cambr.  1919. 

118 


Zur  Geschichte  Eduards  III.  (1327 — 77)  hat  die  wichtige  Samm- 
lung des  Calendar  of  Close  Rolls  mit  Bd.  14  (1374  —  77),  Lond.  1914, 
ihren  Abschhiß  gefunden;  von  andern  Reihen  erschienen:  Calendar  of 
the  Fine  Rolls,  Bd.  5  (1337 — 47),  Lond.  1915;  Calendar  of  the  Charter 
Rolls,  Bd.  5  (1341—1417),  Lond.  1916^)  Die  wichtigsten  Stücke  aller 
dieser  Veröffentlichungen  sind  natürlich  in  der  Regel  schon  in  Rymers 
Foedera  gedruckt.  Für  den  hundertjährigen  Krieg  mit  Frankreich,  der 
unter  diesem  Herrscher  begann,  war  ein  entscheidender,  bisher  nicht 
genügend  gewürdigter  Faktor  die  Geldbeschaffung.  Eben  daß  sie  den 
Engländern  zunächst  durch  starke  Anspannung  der  Finanzen  besser 
gelang  als  ihren  Gegnern,  war  nicht  zum  wenigsten  die  Grundlage  ihrer 
Siege  in  Frankreich.  Das  hat  aus  englischen  Quellen  S.  B.  Terry, 
The  financing  of  the  Hundred  Years'  War  1337 — 60,  Lond.  1914,  dar- 
getan. Auch  das  von  G.  Unwin  herausgegebene  Buch  Finance  and 
trade  imder  Edward  TU  by  members  of  the  History  School,  Manch. 
1918,  ist  in  diesem  Zusammenhang  zu  nennen  ■^). 

Auf  französischer  Seite  folgte  auf  die  mäßigen  ersten  Valois  •^) 
endlich  mit  Karl  V.  (1364 — 80)  ein  ebenbürtiger  Gegner,  der  bald  eine 
Wendung  der  Dinge  hervorrief  Ihm  ist  die  gediegene  Forschung  von 
R.  Delachenal  gewidmet,  der  die  Chroniques  des  regnes  de  Jean  II  et 
de  Charles  V  für  die  Soc.  de  l'hist.  de  France,  Bd.  2  (13  64 — 80),  Par. 
1916,  vorzüglich  herausgab  und  von  seiner  zu  den  besten  neueren  Ge- 
schichtswerken Frankreichs  gerechneten,  von  der  Akademie  preisgekrönten 
Histoire  de  Charles  V,  Bd.  3  (1364 — 68),  Par.  1916,  veröffentlichte. 

Der  schwache  Richard  II.,  der  in  England  an  die  Stelle  seines 
zuletzt  stark  verfallenen  Großvaters  Eduard  III.  trat,  war  am  wenigsten 
geeignet,  die  britische  Sache  wieder  herzustellen  ^).  Für  seine  Regierung 
liegen  einige  Quellenpublikationen  vor  ">).  Mit  ihr  aber  sind  wir  bereits 
eingetreten  in  die  Zeit  der  großen  Kirchenspaltung,  die  Europa  noch 
ganz  anders  als  der  englisch  französische  Streit  in  Atem  hielt. 

Von  den    beiden    im  Beginn    des  Schismas    einander   gegenüber- 

1)  \"gl.  G.  Lapsley ,  ArchbisJiop  Sfratford  and  ihe  Parliamentary  Cn'sis  of 
1341,  Engl.  hist.  Rev.  30,  1915.  Die  Chronica  Johannis  de  Beading  et  Anonymi 
Cantuariensis  1346 — 67,  ed,  by  J.  Tait,  Manch.  1914,  haben  weniger  originalen  als 
quelleukritischen  Wert  wej^en  ihrer  Beziehungen  zu  anderen  Chroniken. 

2)  Vgl.  Dorothy  Hughes,  A  stitdy  of  social  and  constitutional  tendencies  in  the 
early  years  of  Edward  III.,  Lond.  1915. 

3)  Vgl.  J.  Miret  y  Sans,  Leftres  closes  des  prcmiers  Valois  (13'28 — 1414),  Moyen 
äge  29,  1917/18;  J.  Viard,  La  Cour  au  commencement  du  XIV  siede,  Bibl.  de  l'Ec. 
des  Ch.  77,  1916.  behandelt  die  Umwandlung  des  Ivönigshofes,  namentlich  unter  den 
ersten  Valois;  vgl.  ebd.  79,  1918.  Hierher  gehört  auch  H.  Cochin,  Petrarque  et  les 
rois  de  France,  Annuaiie  bull,  de  la  Soc.  de  l'hist  de  France,  auuee  1917,  Par.  1918. 
Mit  dem  Jahre  1345  beginnt  das  vollständige  Verzeichnis  der  Pariser  Parlaments- 
mitglieder in  E.  Maugis,  Histoire  du  Parlcment  de  Paris.  Bd.  3,  Par.  1916. 

4)  Vgl.  L.  Mirot,  Une  tenfative  d'invasion  en  Angleierre  pendant  la  guerre  de 
Cent  ans  (13S5/S6),  Par.  1915. 

5)  Caletidar  of  Close  Rolls:  Rieh.  II.,  Bd.  1  (1377—87),  Lond.  1914:  G.  F. 
Deiser,  Year  books  of  Richard  II  (1377  —  99),  Cambr.  Harv.  Univ.  1914;  Raphael 
Holinslied,  Chronicles :  Richard  II 1398—1400  and  Henry  V,  ed.  by  R.  S.  Wallace 
and  Alma  Hamen,  Oxf.  1917. 

119 


stehenden  Kurien  befaßt  sich  mit  der  römischen  eine  von  Tangl  an- 
geregte sehr  gründliche  Berl.  Diss.  von  Th.  Graf,  Papst  Urhan  VI.; 
Uni  ersuch  ungen  über  die  römische  Kurie  ivührend  seines  Ponlifikates 
(1378—89),  Berl.  1918,  von  der  aber  erst  der  Teildruck  der  drei  ersten 
Kapitel  über  Beamtenersatz,  Kanzleiwesen  und  Finanzgebarung  nebst 
einem  vollständigen  Namensverzeichnis  der  Kurialen  erschienen  ist.  Mit 
dem  Pontifikat  seines  avignonesischen  Gegners  Klemens  VII.  beginnt  in 
seiner  neuen  Form  das  Pepertorium  Germanicum,  Verzeichnis  der  in 
den  päpstlichen  Pcgistern  und  Kameralakten  vorkommenden  Personen, 
Kirchen  u.  Orte  des  Deutschen  Reiches,  seiner  Diözesen  u.  Territoriert 
V.  Beginn  des  Schismas  his  z.  Reformation,  hrsg.  v.  Preuß.  bist.  Inst,  in 
Rom,  Bd.  1 :  Klemens  VII.  v.  Ävignon  1378—94,  bearb.  v.  E.  Göllcr, 
Berl.  1916.  Da  die  politische  Ausbeute  dieser  spätmittelalterlichen 
Register  nicht  der  Rede  wert  ist,  so  hat  man  mit  Recht  die  ausführliche 
Regestierung  des  früheren  Versuchs,  mit  der  nicht  aus  der  Stelle  zu 
kommen  war,  aufgegeben  und  sich  auf  sorgfältige  Namenverzeichnisse 
beschränkt,  in  denen  die  Interessenten  für  ihre  lokalgeschichtlichen,  topo- 
graphischen oder  genealogischen  Zwecke  die  nötigen  Hinweise  für  weitere 
Erkundigung  finden.  Die  eindringende  Einleitung  GöUers:  Klemens  VII. 
und  das  ScJiisma  in  Deutschland  liefert  aber  außer  für  Organisation 
und  Verwaltung  der  Kurie  auch  Ertrag  für  die  politische  Geschichte, 
während  ein  zweiter  Abschnitt:  Die  Grundlagen  des  päpstlichen  Bene- 
fiziahvesens  und  der  Praxis  der  Stellenhesetzung  zur  Zeit  des  großen 
Scltismas  darstellt.  Gerade  für  diese  Zeit  der  Spaltung  ist  es  natürlich 
besonders  lehrreich  zu  sehen,  welche  Bewerber  sich  an  die  avignonesische 
Obödienz  hielten.  Ob  die  gestellte  Riesenaufgabe,  die  nach  Verzicht  der 
Görresgesellschaft  auch  für  die  2.  Hälfte  des  15.  Jahrb.  ganz  dem  preuß. 
hist.  Institut  zufiele,  selbst  in  dieser  beschränkten  Form  noch  Aussicht 
auf  Verwirklichung  hat,  und  ob  das  verarmte  Deutschland  vorerst  nicht 
noch  nötige! e  Arbeit  zu  schaffen  hätte,  dürite  trotz  der  vorzüglichen 
Leistung  dieses  ersten  Bandes  die  Frage  sein. 

An  die  Kurie  von  Avignon  führt  uns  auch  //.  Bresslau,  Aus  der 
ersten  Zeit  des  großen  abendländischen  Schismas,  Abb.  d.  Berl.  Ak.  1919. 

Wichtige  Avignoncser  Akten  sind  durcli  Auflösung  zusammengoleimter  Buch- 
deckel von  französischen  Hss.  wiedergewonnen.  Aus  ihnen  veröffentlicht  Br.  hier 
acht  wertvolle  Stücke,  darunter  von  ganz  einzigartiger  Bedeutung  eine  eigenhändige 
Aufzeichnung  Papst  Klemens'  VII.  vom  Mai  138Ü  für  eine  Antwort  auf  Vorschläge 
zur  Beseitigung  des  Schi.smas,  die  König  Johann  von  Kastilicn  durch  Gesandte  hatte 
machen  lassen,  Erwägungen,  die  eine  Alt  Gegenstück  zu  der  berühmten  Deliberatio- 
Innozenz'  III.  von  1201  bilden. 

In  Vorgeschichte  und  Anfängen  des  Schismas  gewann  einen  Augen- 
blick welthistorische  Bedeutung  die  reizvolle  Figur  der  hl.  Katharina 
von  Siena  (1847 — 80),  die  in  jüngster  Zeit  so  allgemeine  Teilnahme  und 
literarische  Behandlung  erfahren  hat,  daß  sie  darin  fiist  in  Wettbewerb 
mit  dem  hl.  Franz  und  der  Jungfrau  von  Orleans  getreten  ist. 

Die   italienische  Prosa  ihrer  Briefe  *)  macht  sie  den  Italienern  noch  besonders 

1)  Neue  Ausgabe  ihror  Lcltere  von  L.  Fcrrctti,  Bd.  1,  Siena  1918;  eine  andere 
Mail.  li;17. 

120 


wert.  Einen  Versuch  zu  deren  Datierung  unternimmt  E.  Freiin  v.  Seekcndorff ,  Die 
kirchenpolitische  Tätigkeit  der  h.  K.  v.  S.  unter  Papst  Gregor  XL  (1371 — 78),  Abh. 
Freib.  i.  B.  64,  Berl.  1917,  ohne  aber  iibpr  die  Heilige  selbst  neue  Aufschlüsse  zu 
geben.  Nach  den  Titeln  ist  es  sonst  nicht  ganz  leicht  wissenschaftlich  fördernde 
Schriften  von  bloßen  Wiederholungen  oder  Legenden  zu  scheiden;  die  Darstellungen 
häufen  sich  in  übertriebener  Weise.  Annehmbare  Zusammenfassungen  scheinen  zu 
geben  P.  Gauihiex,  S.  Catherine  de  Siemie,  Paris  1916,  und  etwa  C.  M.  Antoui/, 
S.  Catherine  of  Siena,  her  life  a7id  times,  Lond.  1916.  Inedita  bietet  R.  Fawtier, 
Catheriniana ,  Mel.  d'arch.  et  d'hist.  34,  1914.  Einzelne  Beziehungen  fassen  ins 
Auge  E.  Laxxareschi,  S.  C.  d.  S.  ed  i  Lucchesi  und  8.  C.  d.  S.  in  Val  d'Orcia,  Flor. 
1912  u.  15,  sowie  N.  Zucchelli  ed  E.  Laxxareschi  S.  C.  d.  S.  ed  i  Pisani,  Flor.  1917. 
Die  übrigen  Schriften  dürften  mehr  legendarischen  Charakter  haben  ^). 

Aus  dem  kirchlich  und  bald  auch  politisch  gespaltenen  Deutsch- 
land konnte  keine  Lösung  der  schismatischen  Irrung  hervorgehen.  Wie 
das  Reich  davon  in  Mitleidenschaft  gezogen  wurde,  darüber  wird  man 
sich  heute  zunächst  in  dem  letzten  Teil  von  A.  Haucks  Kirche^i geschickte 
Deutschlands  V,  2,  Leipz.  1  920,  unterrichten,  auf  den  hier  deshalb  kurz 
vorausgewiesen  werden  muß.  Die  Darstellung  ist  da  über  das  Kon- 
stanzer Konzil  bis  zum  Erliegen  des  Hussitentums  geführt.  Das  große 
Werk  wenigstens  bis  zu  dem  tiefen  Einschnitt  der  Reformation  zu  voll- 
enden, hat  der  Tod  (7.  Apr.  1918)  dem  unermüdlichen  Gelehrten  versagt. 

Wenzels  von  Lindner  nur  einleitungsweise  behandelte  hoffnungs- 
vollere Anfänge,  die  P.  Kluckhiüm,  Wenzels  Jugendjahre  bis  zum  Antritt 
seiner  Regierung  1378  im  Rahmen  der  Politik  seines  Vaters  Kaiser 
Karls  IV.,  Diss.  Hall,  1914,  mit  solider  Feststellung  des  Tatsächlichen, 
auch  zwei  Regestenanhängen  behandelt  hat,  wichen  bald  schwerer  Ent- 
täuschung. Daß  der  König  nach  dem  Vorbilde  seines  Vaters  auf  das 
Zustandebringen  zahlreicher  Landfrieden  im  Reiche  immerhin  noch  viel 
Mühe  verwandte,  wie  E.  Asche,  Die  Landfrieden  in  Deutschland  unter 
König  Wenzel,  Diss.  Greifs w.  1914,  zeigt,  konnte  den  wachsenden  Un- 
frieden doch  nicht  hintanhalten;  mit  der  Entfernung  von  seinen  Haus- 
machtgebieten nahm  auch  hier  sein  Einfluß  ab  und  an  manchen  Sonder- 
landfrieden war  Wenzel  überhaupt  nicht  mehr  beteiligt.  Merkwürdiger- 
weise ist  gerade  aus  seinen  Jahren  (um  1396)  noch  eine  Aufzeichnung 
auf  uns  gekommen,  die  im  florentiniscben,  lucchesischen,  volterranischen 
und  sienesischen  Gebiet  die  Ländereien  und  Burgen  aufzählt,  die  vom 
Imperium  abhingen,  —  also  eine  Zusammenfassung  alter  Reichsrechte 
zu  einer  Zeit,  in  der  solche  Ansprüche  nur  noch  ein  leerer  Name  waren. 
Darüber  handelt  mit  Edition  des  Stückes  A.  Sorhelli,  La  „Notitia  status 
Hetruriae"  ed  il  tempo  della  sua  comiwsizione ,  Mem.  d.  R.  Accad.  d. 
Scienze  d.  Ist.  d.  Bologna.     Sez.  stor.-fil.,  Serie  II,  Bd.  1,  Bol.  1917. 

Seinem  Gegenkönige  Ruprecht  v.  d.  Pfalz  fehlten  von  vorn- 
herein die  Mittel  für  eine  großzügigere  Politik.  Eben  zu  seinen  Finanzen, 
dem  schwächsten  Punkt  seiner  Herrschaft,  wie  sehr  er  sich  auch  um 
deren  Gesundung  bemühte,  liefert  einen  Beitrag  W.  Sehring,  Die  finan- 


1)  Bemerkenswert  vielleicht  noch  St.  Maconi,  S.  C.  d.  S.  d'apres  u)i  ms.  italien 
du  XV.  siede,  Par.  1919.  Sonst  notierte  ich  Lebensbilder  von  Bertha  Pelikan,  Innsbr. 
1914;  O.  Salatiello,  Pal.  1915;  /.  Joergetzsen,  Kopenh.  1915;  Helene  Riesch,  2.,  3.  Aufl. 
Freib.  i.  B.  1916;   V.  Messeri,  Flor.  1916. 

121 


ziellen  Leistungen  der  Reichsstädte  unter  Ruprecht  v.  d.  Pf  ah,  Diss. 
Greifsw.  (=  ISaraml.  wiss.  Arb.  3G),  Langensalza  1916.  Die  regel- 
mäßigen iSteuern  der  Reichsstädte  waren  unzulänglich;  außerordentliche 
Leistungen  aber  von  ihnen  einzutreiben,  wie  Karl  IV.  und  nachher 
Sigmund  verniuchten,  dazu  fehlte  Ruprecht  der  Druck  der  Macht. 

Zur  Vorgeschichte  des  Pisaner  Konzils  von  1 409,  das  bei  allem 
guten  A\'illen  am  Ende  die  Verwirrung  durch  Erhebung  eines  dritten 
Papstes  nur  steigerte,  erhalten  wir  eine  dankenswerte  VerötFentlichung 
ungedruckten  Quellenstoffes  von  0.  Günther,  Zur  Vorgeschichte  des  Konzils 
von  Pisa;  unheJcannfe  Schriftstüche  aus  einer  Danzigcr  Hs.,  N.  A.  41, 
1919.  Aus  einer  umfangreichen  tSammlung  von  Schriftstücken  werden 
da  offizielle  Schreiben,  eine  Schmähschrift  gegen  den  Kurialen  Rother 
Balhorn,  der  Traktat  des  Antonius  de  Butrio  in  vollständigerer  Fassung, 
eine  Gesandteninstruktion  usw.,  alles  aus  d.  J.   1 408,  mitgeteilt  ^). 

Wie  sich  die  englische  Politik  Heinrichs  IV.  allmählich  von  der 
römischen  Obödienz  her  den  Unionsbestrebungen  zuwandte  und  dadurch 
mit  der  französischen  vorübergehend  auf  dieselbe  Linie  geriet,  schildert 
H.  Jimghanns,  Zur  Geschichte  der  englischen  KirchcvpoUtik  1899 — 1413, 
Diss.  Freib.  i.  B.  1915,  in  solider,  etwas  am  Einzelnen  haftender  Dai'- 
stellung.  Aber  auch  den  inneren  kirchlichen  Verhältnissen  Englands, 
die  durch  ihre  sichere  nationale  Geschlossenheit  dem  Staate  erlaubten, 
den  schismatischen  Wirren,  nur  wenig  berührt,  eine  Weile  zuzusehen, 
wendet  er  seine  Aufmerksamkeit  zu.  Man  erntete  damals  die  Früchte, 
die  in  den  letzten  Jahrzehnten  im  Zusammenwirken  des  Hauses  der 
Gemeinen  mit  der  Reformbewegung  Wiclifs  herangereift  waren. 

Von  den  Werken  Wiclifs  liegen  jetzt  40  gedruckte  Bände  vor, 
deren  Stoff  namentlich  von  der  englischen  Geschichtsforschung  noch 
wenig  ausgebeutet  ist-).  B.  L.  Mannings  iSchriit:  The  people's  faith  in 
ihe  time  of  Wyclif,  Cambr.  1917,  bietet  für  sein  Thema  eine  gute,  aber 
populäre  Zusammenfassung,  in  der  er  die  zeitgenössischen  Quellen  viel- 
fach selbst  zu  Worte  kommen  läßt.  Wissenschaftlich  sucht  J.  Loserth 
in  immer  neuen  Abhandlungen  die  Erkenntnis  Wiclifs,  seiner  Schriften 
und  seiner  Zeit  zu  fördern  ^). 

Wie  gänzlich  von  dem  englischen  Reformator  Johann  Huß  ab- 
hängig ist,    war   längst    bekannt    und  wird    noch   durch    immer  weitere 


1)  Vgl.  Änt.  dcllo  Schiavo,  II  diario  romano  dal  19.  ottobre  1404  al  25.  seit. 
1417,  hr.sg.  V.  Fr.  Isoldi  (Rer.  it.  Script.  158/4),  Bol.  1917. 

2)  Besprechung  seiner  kiicheiipolitiscben  Schriftea  durcli  Maihilde  Uhlirx,  M. 
I.  ö.  G.  3Ü.  ;{7,   1915.  1917. 

3  So:  Zur  Kritik  der  Wiclifhss.  und  Neuere  Erscheinungen  der  Wiclif-  und 
Hiißliteratur  in  Z.  d.  deutsch.  V.  f.  d.  Gesch.  Mähr.  u.  Öchles.  2(i,  191G;  Joh.  r.  Wicl. 
u.  Ouilelinus  Pcraldus,  Studien  %.  Oesch.  der  Entstehung  ron  W.s  Summa  Theologiae, 
S.  B.  d.  Wien.  Ak.  180,  1916;  Die  kirchenpol.  Schriften  W.s  u.  der  englische  Bauern- 
außtand  v  ViSl,  M.  1.  ö.  G.  38,  1919.  Vgl.  aucii  F.  Pijper,  Joh.  Wiclif,  Nederl.  Arch. 
f.  Kerkge.sch.,  N.  S.  12,  1914.  Von  der  Königsb.  Diss.  von  P.  Ocxipica,  Die  literari.schcn 
Widersurher  Wiclifs  u.  der  Lollarden  in  England,  1915.  erschien  nur  Inhaltsangabe 
und  Bibliographie;  die  Arbeit  selbst  wurde  vor  dem  Druck  durch  den  Kusseneinfall 
vernichtet. 

!22 


Entlehnungen  erhärtet.  Der  Jahrhunderttag  seines  Glaubenstodes  konnte 
nicht  vorübergehen,  ohne  zahlreiche  Schritten  hervorzurufen.  Soweit  sie 
populären  Charakter  tragen,  werden  sie  für  die  Forschung  kaum  in 
Betracht  kommen  ^).  Gründliche  Forschung  und  Unvoreingenommenheit 
zeichnen  aus  das  in  tschechischer  Sprache  geschriebene  Buch  von  J.  Sedldk, 
Mag.  Jan  Hus,  1915  mit  ungedruckten  Texten  im  Anhang  -).  Fr.  Mat- 
thaesms,  Der  Auszug  der  deutschen  Studenten  aus  Prag  1409,  Mitt.  d. 
V.  f.  Gesch.  d.  Deutsch,  i.  Böhm.  52.  53,  1914.  15,  behandelt  eingehend 
diesen  mit  Huß'  Leben  eng  verknüpften  Vorgang.  Nicht  durch  das 
Gedenkjahr,  sondern  durch  die  Vorarbeit  für  seine  Kirchengeschichte 
Deutschlands  veranlaßt  sind  A.  Hauchs  bedeutsame  Studien  zu  Johann 
Huß,  Univ. -Progr.  Leipz.  1916,  welche  die  in  der  Kirchengeschichte 
daraufhin  vorgetragene  Auffassung  begründen. 

Sie  bestimmen  den  Grad  seiner  Abhängigkeit  von  Wiclif  und  schildern  den  böh- 
mischen Magister  selbst  als  asketisch  gerichteten  Katholiken,  der  nur  im  Angriff  auf 
Ablaß  und  Papsttum  über  die  gebotenea  Grenzen  hinausging,  als  Ketzer  wider  Willen 
imd  Bewußtsein,  als  Opponenten  und  Kritiker,  nicht  positiven  Reformator  von  eignen 
Ideen,  als  selbstbewußten  nationaltschechischen  Agitator  voll  Kraft  und  Mut,  aber  ohne 
Wahrhaftigkeit,  ohne  sittlich  hochstehenden  Charakter  und  jene  Größe,  die  das  eigne 
Ich  in  der  verfochtenen  Sache  aufgehen  läßt.  Wohlwollend  ist  diese  stark  subjektive 
Beurteilung,  soweit  das  Persönliche  in  Betracht  kommt,  zum  mindesten  nicht;  ob  sie 
das  Wahre  trifft,  muß  sich  erweisen.  Zunächst  kann  man  sich  des  Eindrucks  nicht 
ganz  erwehren,  daß  ein  gut  Teil  dieser  gelehrten  Bemängelungen  federleicht  wiegt 
gegenüber  dem  Heroismus  des  Märtyrertodes  für  die  unbeugsame  Überzeugung.  Und 
wenn  Hauck  aus  H.s  Wesen  herleitet,  daß  er  gewirkt  habe,  „wie  ein  düsterer  Feuer- 
brand, der  befleckt,  indem  er  zerstört",  so  mischen  sich  wenigstens  für  die  Folge- 
wirkungen mit  diesem  Brande  seines  Innern  die  Flammen  seines  Scheiterhaufens. 

iT.  S'iegl,  Briefe  und  Urkunden  zur  Geschichte  der  Hussitenkriege, 
7i.  d.  deutsch.  V.  f.  d.  Gesch.  Mähr.  u.  Schles.  22,  1918,  vereinigt  zer- 
streut gedruckte  Aktenstücke  mit  unveröffentlichten  zu  einer  nützlichen 
Sammlung.  Die  Hussitennot  war  es,  die  1427  in  Deutschland  den  Ver- 
such zeitigte,  das  ßeichskriegswesen  auf  die  festere  Grundlage  bestimmter 
Geldsteuern  zu  stellen.  Das  ist  im  einzelnen  dargetan  von  A.  Werming- 
hoff,  Die  deutschen  Beichskriegssteuergesetze  von  1422  und  1427  und 
die, deutsche  Kirche,  Beiträge  zur  Geschichte  des  deutschen  Staatskirchen- 
rechts, Z.  f.  R.  36,  k.  A.  5,  1915  (stark  erweiterter  Abdruck  Weim.  1916). 
Für  das  J.  1422  ist  W.  allerdings  dadurch  irregetührt  worden,  daß 
Kerler  und  seine  Nachfolger  später  aufgestellte  Listen  und  Anschläge 
für  ein  ßeichskriegssteuergesetz  von  1422  hielten.  Daß  es  ein  solches 
niemals,  nicht  einmal  im  Entwürfe  gegeben  hat,  dafür  hat  H.  Herre 
(f  1921),  Das  Beichskriegssteuergesetz  von  1422,  Bist.  Viert.  19,  1919 
den  schlagenden  Nachweis  geführt,  dem  auch  Werminghoff,  H.  Z.  121, 
S-  167,  zugestimmt  hat. 

1)  So  deutsche  Darstellungen  von  jV.  Eatcri  und  0.  v.  Schaching;  ich  nenne 
weiter  die  englische  von  W.  N.  Seliwarxe,  Hus  the  martyr  of  Bohemia,  Lond.  1915; 
die  amerikanische  von  D.  S.  Schaff,  Bus,  his  life,  teachwgs  and  death,  Lond.  1915; 
vgl.  auch  ders. ,  A  spurious  aecount  of  Hus'  journey  to  Constance ,  trial  and  death, 
Amer.  Journ.  f.  Theol.  1915;  die  holländische  von  F.  Pijper,  Hus,  Ned.  Arch.  f. 
Kerkgesch.  13,  1915;  die  italienische  von  M.  Rossi,  Giov.  Huss,  Turin  1915. 

2)  Vgl.  das  Urteil  von  J.  Loserth,  M.  I.  ö.  G.  37,  1917. 

123 


Das  große  Kon  Stanzer  Konzil,  von  dem  der  hussitische  Brand 
seinen  Ausgang  genommen  hatte,  ist  auch  während  der  letzten  Jahre 
nach  wie  vor  im  Mittelpunkte  lebhafter  Forschung  gestanden.  H.  Fhiice 
ist  zwar  an  der  Wiederaufnahme  der  Aktenherausgabe  durch  die  Fortfüh- 
rung seiner  Aragoneser  Studien  noch  behindert  gewesen,  hat  aber  über 
den  Stand  des  gesamten  vorhandenen  Quellenmaterials  dafür  in  der  Z.  f. 
Gesch.  d.  Oberrh.,  N.  F.  31,  1916,  einen  wertvollen  Überblick  gegeben 
und  in  dem  Aufsatze:  Das  hadisehe  Land  und  das  Konstanzer  Konzil, 
Festg.  der  bad.  bist.  Komm.  z.  9.  Juli  (60.  Geburtst.  Großh.  Fried.  II.)  1917, 
seine  frühere  Darstellung  vielfach  vertieft.  J.  Riegel  veröffentlichte  eine 
Vorarbeit  für  die  Ausgabe  der  Teilnehmerverzeiclmisse,  7i.  d.  Ges.  f.  Beförd. 
d.  Geschichtsk.  v.  Freib.  usw.  31,  1916.  A.  Lenne,  Der  erste  literarische 
Kampf  azif  dem  Konstanzer  Konzil  im  Nov.  u.  Dez.  1414,  Rom.  Quar- 
talschr.  28,  1914,  untersuchte  die  frühen  Aktenstücke  über  die  Stellung 
zum  Pisaner  Konzil  und  die  Superioritätsfrage  und  konnte  da  die  Tätig- 
keit des  Kardinals  P.  d'Ailly  in  neue»  Beleuchtung  zeigen  ^). 

Die  in  Konstanz  1415  vorgenommene  Belehnung  des  Hohenzollern 
Friedrich  I.  mit  der  Mark  Brandenburg  hat  neben  Erinnerungsfeiern 
auch  zahlreiche  Schriften  hervorgerufen,  die  aber  den  Vorgang  nur  in 
größeren  Zusammenhang  einreihen,  ohne  zu  neuer  Erkenntnis  beizutragen. 
Von  wissenschaftlichem  Werte  ist  nur  die  Arbeit  von  J.  v.  PßugJc- 
Harttung ,  Die  Eriverbung  der  3Iark  Brandenburg  durch  das  Haus 
Hohenzollern,  Forsch,  z.  brand.  u.  pr.  Gesch.  29  u.  31,  1916  u.  1918,  wa 
insbesondere  die  Huldigung  in  der  Mark  quellenkritisch  untersucht  wird. 

Auch  die  östlichen  Verhältnisse  jenseits  der  Oder  spielten  auf  dem 
Konstanzer  Konzil  eine  Rolle.  Der  erste  Thorner  Friede  von  1411 
hatte  nicht  einen  Austrag  in  den  Streitigkeiten  zwischen  dem  Deutsch- 
orden und  Polen  gebracht,  sondern  sie  zum  Dauerzustand  gemacht. 
H.  Bellee,  Polen  und  die  römische  Kurie  in  den  Jahren  1414 — 24, 
Osteurop.  Forsch.  2,  Berl.  J914,  schildert  die  schiedsrichterlichen  Schlich- 
tungsversuche, die  vom  Konzil,  vom  Papst  und  Kaiser  immer  vergeblich 
angestrebt  wurden,  und  die  politischen  Interessen,  die  sich  dabei  kreuzten  ^j 

Für  dea  Orden  war  in  den  entscheidungsvollen  Jahren  1403—19  Peter  von 
"Wonndith  Generalprokurator  beim  päpstlichen  Stuhl  und  führte  als  solcher  auf  dem 
Konstanzer  Konzil  die  preußische  Sache.  P.  Nieborowski,  Peter  von  Wormdith.  Ein  Bei- 
trag %ur  Gesch.  des  Deutschordens,  Bresl.  191.5  (außen  191G)  hat  ungedrucktes  Wiener 
und  Königsberger  Material  verarbeitet,  worunter  die  Königsberger  Frokuratorenbriefe 
auch  für  die  Konzilsgeschichte  wertvoll  sind.  Der  ßegestenaiihang  ist  daher  nützlich. 
Nur  hat  der  Verf.  hier,  in  den  Beilagen  und  der  Darstellung  seinen  reichen  Stoff 
nicht  mit   wissenschaftlicher  Methode   und   Genauigkeit  zu    behandeln  verstanden "). 


1)  Vgl.  P.  B.  Katterbach,  Der  zweite  literarische  Kampf  auf  de?n  Konstanxer 
Konxil  im  .Jan.  u.  Febr.  1415,  Fulda  1919;  ferner  G.  Zonta.  Francesco  Zaburella 
1360-1417,  Päd.  1915. 

2)  Vgl.  A.  Bexxenberger,  Der  Werdegang  des  litauischen  Volkes,  Viert,  f.  Soz.  u. 
Wirtsch.  13,  191(i,  wo  die  Beziehungen  zu  Polen  und  dem  Deutschorden  im  14.  u. 
15.  Jh.  eine  erhebliche  Rolle  spielen. 

3)  Das  Mariaibnrger  Jbnterbuch,  hrsg.  v.  W.  Ziescmcr,  Danz.  1916,  .schließt 
sich  als  dankenswerte  Quellenpublikation  den  ähnlichen  früheren  Veröffentlichungen 
des  Herausgebers   an.     In   die  fiühere  Geschichte   des   Deutschordens   greift  ein  die 

]24 


Eine  auf  dem  Konzil  erledigte  Aufgabe  des  Ostens  war  die  Gründung  eines  Bistums 
in  Samaiten,  das  dem  Orden  1411  verloren  gegangen  war  und  nun  christianisiert 
werden  sollte,  um  den  Deutschherren  jeden  weiteren  Vorwand  zum  Eingreifen  zu 
nehmen.  Die  Gründungsurkunde  v.  24.  Okt.  1417,  die  über  die  in  Konstanz  geführten 
Verhandlungen  Auskunft  gibt,  wurde  von  deutschen  Soldaten  unter  den  verwahrlosten 
Beständen  des  Diözesanarchivs  in  Kowno  aufgefunden.  W.  Holtxmann,  Die  Gründung 
des  Bistums  Sainaiten,  Z.  f.  Gesch.  d.  Oberrh.,  N.  F.  32,  1917,  hat  sie  mit  Erläute- 
rungen veröffentlicht. 

Wie  stark  die  politischen  Interessen  der  westeuropäischen 
Staatenwelt  den  Gang  der  Konzilsverhandlungen  bestimmt  haben,  ist 
hinlänglich  bekannt  ^).  Ganz  unter  dem  Einfluß  jener  großen  Spaltung, 
die  damals  auch  die  französische  Nation  in  zwei  Lager  zerriß,  stand 
der  auf  Antrag  Gersons  vor  der  Gluubenskoramission  sich  abspielende 
Prozeß  über  die  von  Johann  Petit  vertretene  Lehre  vom  Tyrannenmord  2)^ 
die  1413  durch  ein  Pariser  Glaubensgericht  verurteilt  war.  Burgund 
und  Orleans  rangen  hier  miteinander.  Diesen  Prozeß  hat  B.  Beß,  Die 
Lehre  vom  Tyrannenmord  auf  dem  Konstanzer  Konzil,  Z.  f.  Kirchengesch. 
36,  1915/16,  eingehend  und  sorgfältig  verfolgt. 

Wenn  schließlich  das  Pariser  Urteil  aufgehoben  wurde,  die  Appellation  von  der 
Kommission  an  das  Gesamtkonzil  aber  nicht  mehr  zur  Entscheidung  kam,  so  waren 
kirchenpolitische  Gesichtspunkte  dafür  in  erster  Linie  maßgebend.  Insbesondere  aber 
war  die  anfangs  vorherrschende  orleanistische  Partei  ^)  in  eine  Minderheitsopposition 
gedrängt,  seitdem  König  Sigmund  auf  seiner  denkwürdigen  Reise  im  Westen  seine 
Schwenkung  zu  England  und  Burgund  vollzogen  hatte. 

Das  von  C.  L.  Kingsford,  An  historical  collection  of  the  15.  Century, 
Engl.  bist.  Rev.  29,  1914,  mitgeteilte  Stück  einer  bisher  ungedruckten 
englischen  Chronik  bis  1418  aus  der  Bibhothek  des  Marq.  von  SaUsbury 
in  Hatfield  ist  für  uns  besonders  wegen  des  neuen  Berichts  von  Sig- 
munds Besuch  und  Verabschiedung  in  England  beachtenswert.  Nicht 
mehr  an  diese  Vorgänge  heran  reicht  J.  H.  Wylie,  The  reign  of  Henry  V., 


ausführliche  Arbeit  von  W.  Orünberg,  Der  Ausgang  der  pommerellisehen  Selbständig- 
keit, Eberings  Hist.  Stud.  1'28,  Berl.  1915,  wo  die  Geschicke  dieses  Landstrichs  vom 
ersten  Versuche  der  brandenburgischen  Markgrafen,  sich  dort  festzusetzen  (1269)  bis 
zur  Eroberung  durch  den  Deutschorden  und  den  letzten  polnischen  Versuchen  zur 
Rückerlangung  in  dem  großen  Prozesse  von  1320/21  dargestellt  sind.  Im  2n.  Bande 
der  Z.  f.  ermländ.  Gesch.  1919  beginnt  der  Abdruck  der  Köuigsb.  Diss.  v.  H.  Schmauch, 
Die  Besetxmig  der  Bistümer  im  Deutschordensstaate  bis  %.  J.  1410.  Vgl.  auch  A.  Wer- 
minghoff.  Die  Urkunden  lAidicigs  d.  B.  für  den  Hochmeister  des  Deutsehen  Ordens 
«;.  J.  1337,  Arch.  f.  Urk.  5,  1914. 

1 )  Vgl.  K.  Dieterle,  Die  Stellung  Neapels  und  der  großen  italienischen  Kommunen 
xum  Konstanter  Konzil,  Rom.  Quartalschr.  29,  1915.  Hier  notiere  ich  auch:  0.  dalla 
Santa,  Uomini  e  fatti  deW  ultimo  trecento  et  del  primo  quattrocenio ,  da  lettere  a 
Oiovanni  Contarini,  patrizio  venexiano,  studente  a  Oxford  e  Parigi ,  poi  patriarca 
di  Cotistantiitopoli,  Vened.  1916. 

2)  0.  Cartellieri,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Herzoge  von  Burgund  V:  Frag- 
mente aus  der  zweiten  „  lustifieation  du  duc  de  Bourgogne "  des  Magisters  Johann 
Petit,  S.  B.  d.  Heid.  Ak.  1914,  druckt  einen  größeren  Teil  dieser  gegen  den  Abt 
Thomas  von  Cerisi  gerichteten  Entgegnung  Petits,  auf  die  Coville  hingewiesen  hat, 
mit  eingehenden  Erläuterungen  ab. 

3)  Vgl.  A.  Coville,  Valentine  Visconti  et  Charles  d' Orleans,  Joum.  d.  Sav., 
N.  S.  12,  1914.  Zu  den  orleanistisch-burgundischen  Auseinandersetzungen:  L.  Mirot, 
Auiour  de  la  paix  d'An-as  (1414 — 15),  Bibl.  de  TEc.  d.  Ch.  75,  1914  (einige  unge- 
druckte Ergänzungen  zu  der  Arbeit  von  0.  Cartellieri  1913). 

125 


Bd.  1:  1413  — 15,  Cambr.  1914.  Der  durch  sein  vierbändiges  Werk  über 
Heinrich  IV.  rühmlich  bekannte  Verf.  hat  hier  in  gleich  gründlicher 
Weise  die  Regierung  seines  Nachfolgers,  für  dessen  Jugendentwicklung 
es  die  duich  Shakespeare  weltbekannte  Auffassung  im  wesentlichen  be- 
stätigt, zu  behandeln  begonnen,  aber  der  Tod  hat  die  Vollendung  unter- 
bunden. R.  B.  Moivat,  Henry  V.,  Lond.  1919,  andrerseits  hat  eine  lesbare 
und  im  ganzen  brauchbare  Gesamtdarstellung  geliefert,  die  aber  die 
Forschung  nicht  erheblich  weiterführt. 

Verfolgen  wir  von  hier  aus  die  französisch -englische  Geschichte 
durch  das  Jahrhundert  weiter  ^),  so  stoßen  wir  alsbald  auf  die  immer 
üppiger  ins  Kraut  schießende  Literatur  über  Jean ne  d'Arc,  die  Jung- 
frau von  Orleans.  Soweit  sie  durch  die  römische  Kanonisation  der  einst 
als  Hexe  verbrannten  angeregt  wurde,  kommt  sie  wissenschaftlich  wenig 
in  Betracht  2). 

Deutscherseits  hat  11.  Priäx  dem  Gegenstände  die  beiden  Abhandlungen:  Die 
Briefe  Jeanne  d'Arcs,  Müncli.  1914.  und  Neue  Studien  xur  Geschichte  der  Jungfrau 
von  Orleans,  Müncli.  191(5  (S.  B.  d.  Münch.  Ak.)  gewidmet.  Von  französischen  Forschern 
versuchen  etwa  J.  Fahre,  Les  bourrcaux  de  J.  d'A.  et  sa  fete  nationale  (Notizen  über 
die  bei  dem  Prozeß  mitwirkenden  Persönlichkeiten),  Par.  1915,  und  J.  E.  Choussy, 
J.  d'A.  Fai/sse  lettre,  tJraie  mission,  Moulins  1915  (Anzweiflung  des  Briefes  vom 
22.  März  14-29  an  den  englischen  König  und  seine  Truppenführer  als  Fälschung)  ein- 
zelne Punkte  zu  fördern,  —  alles  das  anscheinend  ohne  Erheblichkeit.  Ein  umfang- 
reicheres Werk  ist  E.  J.  B.  Jansen,  Gesehiedsvervalsching  1  Jeanne  d'Arc,  Leiden  1919. 

Die  Oberhand  über  den  englischen  Feind  gewann  Frankreich  recht 
eigentlich  doch  erst,  als  es  gelang,  dessen  mächtigen  burgundischen 
Bundesgenossen  durch  große  Zugeständnisse  zum  Sonderfrieden  zu  be- 
wegen. Darüber  hat  Friedr.  Schneider,  Der  europäische  Friedenskongreß 
von  Ärras  (]435)  und  die  Friedenspolitik  Fapst  Eugens  1 V.  und  des 
Basler  Konzils,  Greiz  1919,  eine  eindringliche,  die  Bedeutung  des  Kon- 
gresses in  das  rechte  Licht  setzende  Monographie  mit  reichen  Akten- 
beigaben veröffentHcht.  Die  furchtbaren  Zustände,  die  nach  all  den 
verheerenden  Feldzügen  gegen  die  Mitte  des  Jahrhunderts  in  Frank- 
reich herrschten,  malt  in  eindrucksvollen  Farben  Jah.  Burckhardfs  Habi- 
litationsvoriesung  von  1844:  Über  die  Lage  Franlireichs  zur  Zeit  des 
Armagnakenzuges  IdM,  die  erst  jetzt  in  seinen  Vorträgen,  Bas.  1918, 
gedruckt  ist.  Aber  auch  England  hatte  den  unglückHchen  Abschluß 
des  französischen  Krieges  mit  schweren  inneren  Wirren  zu  büßen  '^). 
R.  B.  Mowat,   The  Wars  of  the  Roses  1377— 1471,  Lond.  1914,   gibt 

1)  Zur  Regienang  Karls  VI.  vgl.  L.  Mirot,  Lctfres  closes  de  Charles  VI.  (1883 
bis  1422),  Moyen  age  29.  30,  1917/18,  1919. 

2)  Dahin  dürften  gehören  die  Darstellungen  von  E.  M.  Wilmot  -  Biixtoyi ,  Lond. 
1914;  P.  Girattdet,  Lyon,  Par.  1915;  M.  Jepsen,  Kopenh.  1915;  Anna  Linck,  Kopenh. 
1915;  C.  Wallis,  Stockh.  1917;  P.  Esiailleur -  Chanteraine ,  Par.  1919;  D.  Lgnch, 
New  York  1919;  auch  wohl  L.  Bloy,  Jeanne  d'Arc  et  V Allemagne,  Par.  1915.  Nicht 
recht  hinbringen  kann  ich  nach  dem  Titel :  0.  de  Girry,  La  snrvirance  et  le  niariage 
de  J.  d'A.,  Par.  1914.  Eine  Materialzusammenstellung  scheint  J.  Dupont,  J.  d'A. 
d'aprhs  scs  propres  dcelarations.  Les  depositions  juridiques  de  tanoins  de  sa  -ne. 
Les  ecrits  de  ses  contemporains,  Par.  1916. 

3)  Vfil.  für  diese  Zeit  auch  Calendar  of  Entrics  in  the  Papal  Registers  relating 
to  Oreat  Britain  aml  Ireland :  Papal  Letters  X  1117—1455  ed  J.  A.  Twcnilotc. 

12(3 


darüber  eine  verständige,  meist  kompilatorische  Darstellung,  soweit  die 
militärisch-politischen  Aktionen  in  Betracht  kommen  ^).  Die  Begründung 
der  neuen  starken  Monarchie  beginnt  er  schon  mit  Eduard  IV.  Ä.  F.  Pol- 
lard,  The  reiyn  of  Henry  VII.  front  contemporary  sources,  Bd.  3,  Lond. 
1914,  bringt  den  Beschluß  dieses  als  sichere  Grundlegung  aus  den 
Quellen  geschätzten  Werkes  '^),  während  Gl.  Temperley ,  llie  life  of 
Henry  VII,  Boston  1914  (Lond.  1918),  eine  knappere  populäre  Zu- 
sammenfassung desselben  Themas  in  einem  Bande  vorlegt. 

Die  langewährende  innere  Zerklüftung  der  Weststaaten  auf  der 
einen  Seite  und  die  Lähmung  des  deutschen  Reiches  auf  der  anderen 
waren  die  Vorbedingungen  für  den  kurzen,  aber  glänzenden  Aufstieg 
des  neuburgundischen  Reiches.  Eine  knappe  Übersicht  über 
seine  Geschichte  von  der  Begründung  durch  Philipp  den  Kühnen  bis 
zum  Tode  Kaiser  Karls  V.  findet  man  in  dem  Aufsatze  von  0.  CarteUieri, 
Wie  das  Heutsclie  Eeicli  die  Niederlande  verlor,  Grenzboten  74,  .1915  ^). 
Zu  seiner  Hochblüte  gelangte  der  Zwischenstaat  unter  Philipp  d.  Guten. 
J.  I).  Hintuen,  I)e  Kruistochtplannen  van  Fhilips  den  Goede,  Leydener 
These,  Rotterd.  1918,  behandelt  die  für  einen  Augenblick  stark  in  den 
Vordergrund  tretenden  Absichten  einer  großen  Gegenaktion  gegen  die 
Türken'^).  Die  Einnahme  von  Konstautinopel,  die  dazu  den  Anstoß 
gab,  ist  von  G.  Schluniberger,  Le  siege,  la  prise  et  le  sac  de  Constan- 
tinople  par  les  Turcs  en  1453,  Paris  1914,  auf  das  genaueste  nach  den 
Quellen  dargestellt  worden.  Viel  ungedrucktes,  allerdings  nicht  ohne 
zahlreiche  Fehler  wiedergegebenes  Material  über  die  weiteren  antitürki- 
schen Kreuzzugspläne  findet  man  bei  N.  Jorga,  Notes  et  extraits  pour 
servir  ä  Vliistoire  des  croisades  au  XV.  siech,  4.  serie  (1453 — 76)  u. 
5  ser.  (1476 — 150U),  Bukarest  1915.    Schwierigkeiten  von  französischer 

1)  Vgl.  die  kurze  Darstellung  von  M.  E.  James,  Heiiry  the  Sixflt,  Cambr.  1919. 

2)  Vgl.   Calendar  of  patent  rolls  Henry   VII.,  Bd.   1,  1485—94,  Lond.  1914. 

3)  Vgl.  auch  diese  Dinge  in  noch  weiterem  Zusammenhang  betrachtet  bei  K.  Ilampe, 
Belgiens  Vergangenheit  n.   Gegenicart,  2.  Aufl.,  Leipz.-Beil.  1916. 

4)  Über  deren  Emporkommen  und  Vordringen  in  Europa  sei  hier  einige  Literatur 
vermerkt.  H.  A.  Gibbons,  The  foundation  of  the  Ottoman  Empire;  a  history  of  the 
Osmanlis  zip  to  the  death  of  Bayexid  I.  (i;300— 1403),  Lond,  1916  (mit  reicher  Bibüo- 
graphie)  wird,  obwohl  vielfach  ungenau  und  unkritisch,  im  ganzen  als  wertvoll  gelobt. 
Der  1918  verstorbene  C.  Jiricek  konnte  von  seiner  auf  der  Höhe  der  Forschung 
stehenden  Geschichte  der  Serben  noch  die  erste  Hälfte  des  2.  Bandes,  Gotha  1918, 
vollenden,  die  natürlich  auch  zur  Geschichte  des  Osmanenreiches  wesentlich  in  Betracht 
kommt.  Stark  auf  Jiriceks  Studien  beruht  die  knapp  gefaßte,  aber  auch  neue  For- 
schungen verwertende  Geschichte  der  Bulgaren  von  ]V.  X.  Slatarski  und  A.  Staneff, 
2  Bde..  Leipz.  1917/18,  von  denen  der  1.  Bd.  bis  lb96  reicht,  der  2.  Bd.  nur  kurz  die 
folgende  Türkenherrschaft  streift.  Vgl.  auch  L.  Thallöcxy,  Studien  x-.  Geschichte 
Bosniens  und  Serbiens  im  MA.,  deutsche  Übersetz.,  Münch.  1914;  nur  erst  die  frühe 
Zeit  behandelt  F.  i\  Sisic ,  Geschicide  der  Kroaten,  Agram  1917.  Von  den  Acta  et 
diplomata  res  Albaniae  mediae  aetatis  iUustrantia  erschien  Bd.  2,  Wien  1918. 
G.  Schluniberger,  Un  empereur  de  Byxance  ä  Paris  et  ä  Londres,  Par.  1916,  betrifft 
die  Reise  des  Kaisers  Manuel  Paläologus  ins  Abendland  1399—1403.  In  die  Türken- 
kämpfe der  Ungarn  versetzt  uns  II.  Schönbaum,  Das  Zeitalter  der  Ilunyadi  in  poli- 
tischer und  kulturgeschichtlicher  Bedeutung,  Bonn  1919  (von  der  Kritik  als  eine  recht 
mäliige  Leistung  beurteilt).  Vgl.  auch  W.  Miller,  The  Genoese  in  Chios  1346— 15B6, 
Engl.  hist.  ßev.  30,  1915. 

127 


Seite  haben  für  Philipp  den  Guten  die  persönliche  Ausführung  des 
Zuges,  den  er  nach  Hintzen  ursprünglich  ernstlich  beabsichtigte,  ver- 
hindert. 

Unter  seinem  Sohne  Karl  d.  Kühnen  traf  eine  starke  Überspannung 
der  Herrschaftsziele  im  Innern  und  nach  außen  zusammen  mit  dem 
Schwinden  der  bisher  für  Burgund  so  günstigen  Konjunktur  auf  beiden 
Seiten.  Hier  die  Gegenwirkungen  des  erstarkenden  Frankreichs  unter 
Ludwig  XL,  die  von  A.  C.  P.  Haggard,  Louis  XI.  and  Charles  the 
Sold,  New  York  1916,  dargestellt  sind.  Dort  die  werdende  habsburgisch- 
spanische  Weltmacht.  Wohl  nahm  Burgund  an  deren  Entstehen  selbst 
fördernden  Anteil,  und  E.  Dürr  hat  unter  Benützung  namentlich  neuer 
Funde  im  Mailänder  Staatsarchiv  ^)  in  der  Abhandlung:  Ludwig  XL, 
die  aragonesisch-kasl manische  Heirat  und  Karl  d.  Kühne,  M.  1.  ö.  G. 
35,  1914,  gezeigt,  wie  der  französische  König  mit  allen  Mitteln,  aber  ver- 
geblich, gegen  die  Einigung  Spaniens  ankämpfte  und  dann  nicht  einmal 
dessen  Verbindung  mit  Burgund  hindern  konnte  -).  Jedoch  der  Unter- 
gang Burgunds  als  eines  selbständigen  Zwischenstaates  war  durch  seinen 
Anschluß  an  die  Weltmacht,  der  die  nächste  Zukunft  gehörte,  gleich- 
wohl besiegelt. 

Kehren  wir  von  dieser  vorgreifenden  Ausschau  über  den  Westen 
Europas  zu  ihrem  Ausgangspunkte,  dem  Konstanzer  Konzil  zurück  und 
fragen  nach  dem  Schicksal  der  Kirchenreform  an  Haupt  und  Gliedern, 
die  dort  doch  vornehmlich  zur  Erörterung  gestanden  hatte,  so  gewinnen 
wir  tiefe  Einblicke  in  dem  ausgezeichneten  Werke  des  leider  verstorbenen 
W.  V.  Hofmann,  Forschungen  zur  Geschichte  der  hurialen  Behörden  vom 
Schisma  bis  zur  Reformation,  das  aus  einer  von  Tangl  angeregten  Ber- 
liner Dissertation  erwachsen  und  in  d.  Bibl.  d.  preuß.  bist.  Inst.  i.  Rom 
Bd.   12    (Darstellung)  u.   13  (Texte),  Rom  1914,  erschienen  ist. 

Erst  die  Unordnungen  und  Anforderungen  des  Schismas  haben  die  Mißstände 
der  kirchlichen  Verwaltung  teils  neu  geschaffen,  teils  so  gewaltig  gesteigert,  daß  der 
Ruf  nach  Reform  zu  einem  Haupthebel  der  konziliaren  Bewegung  wurde  und  seitdem 
nicht  wieder  verstummte.  In  diesem  auf  gründlichsten  archivalischen  Studien  be- 
ruhenden Buche  wird  nun  der  Versuch  gemacht,  ,.an  der  Geschichte  eines  der  großen 
Behördenzweige,  der  päpstlichen  Kanzlei,  unter  Heranziehung  paralleler  Erscheinungen 
in  den  übrigen  Behörden  ")  die  inneren  Gründe  aufzudecken,  weswegen  es  trotz  aller 
Reformversuche  nicht  gelang  dem  Auflösungsprozeß  Einhalt  zu  tun".  Es  wird  so 
eine  sichere  Grundlage  für  die  Beurteilung  geschaffen,  die  sich  jeder  konfessionellen 
Einseitigkeit  entzieht.  "Wir  erkennen,  dal?  selbst  gutgemeinte  Ansätze,  wie  gleich 
unter  Martin  V.  ■•),  aber  auch  weiterhin,  es  bestenfalls  zu  einer  vorübergehenden  Erholung, 
nicht  zu  einer  Gesundung  des  kranken  Riesenkörpers  bringen  konnten,  weil,  ganz 
abgesehen  von  den  tausend  und  abertausend  wohlerworbenen  Rechten,  die  sich  dawider 
setzten  und  nicht  so  leicht  abgefunden  werden  konnten,  z.  B.  der  Ämterkauf,  die 
Hauptwurzel  des  Übels,  nicht  zu  beseitigen  war,  ohne  das  gesamte  Finanzsystem  zu 


1)  Vgl.    Depeches    des   ambassadeurs    milanais   en   France   sous   Louis   XT.    et 
Fran^ois  Sforza  publ.  p.  B.  de  Mmidrot,  Bd.   1  (1461—63),  Par.  1916. 

2)  Vgl.  ders.,    Karl  d.  Kühne  und  der   Ursprung  des  habsburgisch- spanischen 
Imperiums,  H.  Z.  113,  1914. 

3)  Vgl.  Ego7i  Schneider,  Die  römische  Rata  I:  Die  Verfassung  der  Rata,  Päd.  1914. 

4)  Vgl.   N.  Mengoxxi,   Papa  Martino   V.   ed  il  co?icilio  ecumenico  di  Siena, 
Siena  191Ö. 

128 


erschüttern,  und  weil  der  neu  erwachsende  Absolutismus  des  Papsttums  sich  neben 
den  alten  Behörden ,  in  denen  wenigstens  die  überlieferte  feste  Ordnung  leicht  zu 
überwachen  gewesen  wäre,  neue  Organe  schuf,  in  denen  geflissentlich  der  Willkür 
Raum  gelassen  wurde,  um  dem  päpstlichen  Willen  eine  schrankenlose  Bahn  offen  zu 
halten.  Wieviel  Erkenntnis  innerhalb  dieses  Rahmens  das  Buch  im  einzelnen  ver- 
mittelt, kann  hier  nicht  weiter  dargelegt  werden. 

In  die  Sphäre  des  Baseler  Konzils  führen  uns  einige  Arbeiten, 
die  als  schätzbare  Beiträge  anzusehen  sind,  ohne  gerade  erheblich  Neues 
zu  bieten.  Gertrud  Weber,  Die  selbständige  Vermittlungspolitik  der  Kur- 
fürsten im  Konflikt  zwischen  Papst  und  Konzil  1437 — 38,  Eherings 
Hist.  Stud.  127,  Berl.  1915,  stellt  die  in  den  Grundfragen  unklare  und 
darum  notwendig  ergebnislos  verlaufende  Kurfürstenaktion  jener  Jahre 
dar^);  die  beiden  Nürnberger  Reichstage  des  Jahres  1438  sind  in  den. 
Deutschen  Reichstagsakten  13,  2:  König  Albrecht  IL,  1.  Abt.,  hrsg.  v. 
G.  Beckmann,  Gotha  1916,  behandelt;  R.  Scholz  veröffentlicht  Eine 
humanistische  Schilderung  der  Kurie  aus  dem  Jahre  1438,  Qu.  u.  Forsch, 
aus  it.  Arch.  16,  1914,  die  in  lebendiger  Dialogform  von  dem  Humanisten 
Lapo  verfaßt  ist  ^) ;  P.  Haas,  Das  Salvatorium  Papst  Eugens  IV. 
(1431—47)  vom  5.  Febr.  1447,  Z.  f  R.  37,  k.  A.  6,  1916,  bespricht  die 
Bulle  „Decet  Romani  pontificis",  durch  die  der  mönchisch  gesinnte 
Papst,  von  der  Notwendigkeit  der  päpstlichen  Alleinherrschaft  überzeugt, 
kurz  vor  seinem  Tode  die  damals  abgeschlossenen  deutschen  Fürsten- 
konkordate mit  den  auf  Grund  des  Mainzer  Akzeptationsinstrumentes 
gemachten  Zugeständnissen  insgeheim  wieder  aufhob,  obwohl  auch  jene 
Konkordate  schon  mehrdeutig  formuliert  waren,  und  charakterisiert  diese 
geheimen  Schachzüge  der  dadurch  nicht  zum  wenigsten  siegreichen 
kurialen  Politik.  An  die  vom  Konstanzer  und  Baseler  Konzil  angestrebte 
Ordensreform  knüpft  auch  J.  Zihermayr,  Die  Legation  des  Kardinals 
Nikolaus  Cusanus  und  die  Ordensreform  in  der  Kirchenprovinz  Salz- 
burg, Reformationsgesch.  Stud.  u.  Texte  27,  Münst.  i.  W.  1914,  an.  Be- 
nediktiner, Augustiner  Chorherren  und  Zisterzienser  sind  da  besonders 
berücksichtigt.  Während  der  große  Gelehrte  hier  in  seiner  praktischen 
Wirksamkeit  vor  uns  hintritt,  beschäftigt  sich  E.  Molitor,  Nikolaus  von 
Cues  und  die  Rechtsgeschichte,  Z.  f.  R.,  g.  A.  40,  1919,  mit  dessen  rechts- 
historischen Studien  ^). 

In  der  Geschichte  der  römischen  Kurie  zwischen  den  großen 
Konzilien  und  der  Reformation  ist  wohl  das  bedeutendste  Moment  der 
Kampf  des  neu  erstarkenden  päpstlichen  Absolutismus  mit  der 
ohgarchischen  Kardinalsopposition  (vgl.  oben  S.  97).     Von   einer 

1)  Vgl.  E.  Gerber,  Drei  Jahre  reiehsstädtischer,  hauptsächlich  Frankfurter  Politik 
im  Rahmen  der  Reichsgeschichte  unter  Sigismund  u.  Albrecht  11.  1437-39,  Diss. 
Marb.  1914;  P.  Meyer,  Studien  über  die  teuerungsepoche  von  1433—38,  insbes.  die 
Hungersnot  von  1437—38,  Diss.  Erl.  1914. 

2)  Vgl.  E.  Vacandard,  The  attempt  at  union  between  Greeks  and  Latins  at  the 
Council  of  Ferrara-Florence  1438J39,  Construct.  Quarterly  Jun.  1917. 

8)  Schon  an  der  Grenze  der  Neuzeit  bewegt  sich  der  Aufsatz  von  E.  Gothein, 
Ulrich  Zasius  und  das  badische  Fürstenrecht,  der  an  die  Landesordnung  des  Mark- 
grafen Christoph  von  1495  anknüpft  (Festgabe  der  bad.  hist.  Komm.  z.  9.  Juli  1917, 
60.  Geburtstag  v.  Großh.  Friedr.  II.),  Karlsr.  1917. 

Wissenschaftliche  Forschungsberichte  VIT.  9 

129 


umfassenderen  Arbeit  von  B.  Arie,  Beiträge  zur  Geschichte  des  Kardinal- 
hoUegiums  in  der  Zeit  vom  Konstanzer  bis  zum  Tridentiner  Konzil, 
1.  Hälfte  1417 — 84,  Diss.  Bonn  1914,  sind  leider  nur  geringe  Bruch- 
stücke gedruckt,  die  zunächst  nützliche  tabellarische  Zusammenstellungen 
über  Zahl,  Nationalität,  Rangverteilung  usw.  und  dann  lür  die  Kardinals- 
kreationen von  1419 — 30  brauchbare  Personalnotizen  im  Anschluß  an 
Anlage  und  Reihenfolge  von  K.  Euhels  Uierarchia  catholica  medii  aevi 
bringen.  W.  Schürmeyer,  Das  KardinalsJcollegium  unter  Pius  IL  (1458 
bis  64),  Eherings  bist.  Stud.  122,  Berl.  1914,  schildert  nach  gedruckten 
Quellen,  namentlich  den  Komraentarien  des  Papstes  ^),  ohne  wesentlich 
Neues  zu  bringen,  die  damalige  Tätigkeit,  Stellung,  Lebensweise  und 
Einkünfte  der  Kardinäle  -').  Zu  den  bisher  bekannten  Wahlkapitulationen, 
auf  die  sich  die  damaligen  Päpste  dem  Kollegium  gegenüber  verpflichteten, 
ohne  sich  nachher  daran  gebunden  zu  erachten,  fügt  U.  Mannucci,  Le 
capitolazioni  del  Conclave  di  Sisto  IV.  (1471),  Rom.  Quartalschr.  29,  1915, 
eine  ungedruckte  hinzu  aus  einem  Codex  mit  Konklaveberichten  des 
15.  u.  16.  Jahrb.,  der  sich  im  Archiv  der  unterdrückten  Congregazione 
Lauretana  im  römischen  Palazzo  della  Dataria  fand.  Zur  Geschichte 
der  letzten  Päpste  vor  der  Reformation  sind  nur  kleinere  Beiträge  zu 
verzeichnen  •'). 

Das  andere  Moment  von  höchstem  Interesse  in  der  damahgen  Ent- 
wicklung der  römischen  Kurie  ist  ihre  wachsende  Durchdringung 
mit  dem  Geiste  der  Renaissance.  Hier  mag  uns  der  Brief- 
wechsel des  JEnea  Silvio  Piccolomini,  des  späteren  Papstes  Pius  H.,  von 
dessen  3.  Abteilung  Bd.  1 :  Briefe  als  Bischof  von  Siena  1450 — 54, 
hrsg.  V.  R.  Wolkan  (Font.  rer.  Austr.  68),  Wien  1918  (mit  102  Inedita) 
erschien,  hinüberleiten  zum  italienischen  Humanismus. 

In  einer  Besprechung  über  neuere  Literatur  zu  diesem  Thema  be- 
klagt //.  ÄnJcivicz-Kleehoven,  M.  I.  ö.  G.  38,  1919,  daß  eine  eigentlich  gene- 
tische Geschichte  des  Humanismus  nicht  recht  gefordert  werde,  weil  der 
Forschung  Organisation  und  Methode  mangelten,  ganz  abgesehen  von 
der  vorläufig  noch  unmöglichen  internationalen  Zusammenarbeit.  In  der 
Tat  gehen    die  Leistungen   über  Editionen   und  Monographien  einzelner 


1)  Vgl.  das  Schriftchen  von  G.  B.  Picotti,  Sopra  alcuni  frammenti  inediti  de' 
Commentari  di  Pio  IL  (Miscell.  di  studi  storici  in  onore  di  G.  Sforza),   Lucca  1915. 

2)  Das  Verhältnis  des  folgenden  Papstes  Paul  II.  (1464 — 71)  zu  der  Heimat 
seines  Vorgängers  behandelt  N.  Mcngoxxi,  II  pontefice  Paolo  II.  cd  i  Senesi,  Siena  1918. 

3)  Vgl.  O.  Portigliotti,  Alexander  VI c  mortodi  veleno?  (Extr.de  laRivista  d'Ital., 
Rom  1915.  H.  Van  der  Liyiden,  Alexander  VI.  and  thc  demarcation  of  the  maritime 
and  colonial  domains  of  Spain  and  Portugal  1493/4,  Amer.  hist.  Rev.  22,  1916. 
J.  Schlecht,  Pius  III.  und  die  deutsche  Nation,  Kempt.  1914,  behandelt  den  Neffen 
Pius'  IL,  der  1503  zwar  nur  wenige  Wochen  Papst  war,  aber  als  Kardinal  und  Pro- 
tektor der  deutschen  Nation  vorher  über  40  Jahre  gewirkt  hatte.  Vgl.  auch  liegesfen 
xur  Schtveixergeschichte  aus  den  päpstlichen  Archiven  1447 — 1513,  H.  5:  Innoxenx  VIII. 
1484-02;  H.  6:  Alex.  VI  1402-1503  u.  Pius  III  1503,  bearb.  v.  C.  Wirx,  Bern 
191&  u.  1918;  ferner:  E.  Diamanti,  Intorno  ad  una  vita  di  Alessandro  VI.  e  di 
Ce^are  Borgia,  cmnposta  nel  secolo  XVI,  inedita  e  non  ancora  conosciuta,  Veroli 
1915;  B.  Fcliciangeli,  Le  proposte  ^jcr  la  giterra  contro  i  Turchi  presentatc  da  Stefano 
Taleaxxi  vescovo  di  Torcello  a  papa  Alcss.  VI.  Arch.  stör,  rom,  40,  1917. 

130 


Persönlichkeiten  kaum  hinaus  ^);  hier  aber  sind  für  die  Geschichte  des 
Frühhumanismus,  die  allein  für  uns  noch  in  Betracht  kommt,  einige 
wertvolle  Werke  zu  nennen. 

Zunächst  A.  v.  Martin,  Coluccio  Sahdati  und  das  humanistische 
Lehensideal,  Beitr.  z.  Kult.  23,  Berl.-Leipz.  1916,  wo  aus  früheren  Arbeiten 
des  Verf.  über  diesen  typischen  Vertreter  der  ersten  Humanistengeneration 
(t   1406)  die  Folgerungen  gezogen  werden  -). 

Man  kann  die  Stellung  des  florentinischen  Staatskanzlers  zu  seinen  jüngeren 
Freunden  wohl  etwa  vergleichen  mit  der  Alchwins  am  Hofe  Karls  d.  Gr.;  wie  dieser 
war  er  der  allverehrte  Lehrer,  Anreger  und  Gönner,  in  dem  aber  die  altüberlieferte, 
kirchlich  bestimmte  Lebensauffassung  noch  sehr  stark  mit  den  Idealen  der  Zukunft 
rang,  so  daß  er  noch  nicht  als  der  in  sich  geschlossene,  harmonische  Renaissance- 
mensch erscheint,  sondern  als  der  schwankende  und  ringende  Vertreter  einer  Über- 
gangsepoche, und  gerade  diese  konservativen  Züge  hat  v.  M.  besonders  hervorgehoben. 

Erheblich  anders  stand  der  Welt  gegenüber  bereits  der  von  Salutati 
zuerst  erkannte  und  geförderte  Poggio  Bracciolini  (1380 — 1459);  die 
wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Werte  der  neuen  Bildung  waren 
für  ihn  entscheidend ,  und  ob  daneben  die  religiösen  und  moralischen 
der  Vergangenheit,  an  denen  freilich  seine  materielle  Existenz  als  päpst- 
licher Sekretär  usw.  doch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  hing,  für  ihn 
auch  innerhch  eine  so  erhebliche  Rolle  spielten,  wie  E.  Walser  neuer- 
dings will,  mag  man  bezweifeln.  Im  übrigen  aber  möchte  ich  dessen 
Monographie  Poggitis  Florentinus,  Lehen  und  Werke,  Beitr.  z.  Kult.  14, 
Berl.-Leipz.  1914,  als  eine  bedeutendere  und  sehr  anziehende  Leistung 
hoch  einschätzen. 

Kaum  für  einen  anderen  Privatmann  des  gesamten  MA.  besitzen  wir  so  reiches 
Quellenmaterial  um  sein  Leben  Schritt  füi'  Schritt  zu  verfolgen.  "W.  hat  es  noch 
um  141  Dokumente  und  120  andere  Inedita,  vornehmlich  Briefe,  vermehrt  und  baut 
auf  dem  allen  seine  Darstellung  auf,  die  in  ihrer  eindringlichen  Sachlichkeit  und  bei 
den  vielseitigen  Beziehungen  Poggios  uns  eine  deutliche  Vorstellung  von  dem  da- 
maligen Humanismus  Italiens  erweckt  und  in  guten  wie  in  schlechten  Eigenschaften 
stets  die  scharf  ausgeprägten  Züge  dieser  in  so  mancher  Hinsicht  Voltaire  vergleich- 
baren Persönlichkeit  zeigt. 

Zum  Freundeskreise  Poggios  gehören  auch  die  Humanisten,  deren 
Kenntnis  sonst  in  den  letzten  Jahren  durch  Veröffentlichungen  gefördert 
worden  ist  ^).  Vom  Epistolario  di  Guarino  Veronese  ^) ,  des  Erziehers, 
Übersetzers,  Rhetors,  der  mit  Poggio  gelegentlich  auch  die  literarische 
Waffe  gekreuzt  hatte,  erschien  in  der  Ausgabe  von  B.  Sahhadini  der 
starke   zweite  Band  (Text),   (Mise.  d.  Stör.  Veneta  11),   Vened.    1916; 

1)  Id  Betracht  kommt  etwa  Valeria  Benetti-Brunelli ,  Le  origini  italiane  della 
scuola  umanistica  ovvero  le  fonti  della  „eoltura"  moderna,  Mail.,  Rom.,  Neap.  1919. 
R.  F.  Arnolds  Kultur  der  Renaissance  in  der  Samml.  Göschen  ersclaien  1914  in  2.  Aufl. 

2)  Vgl.  auch  die  Ausgabe  von  Fr.  Ercole,  Tractatus  de  tyranno  voti  Col.  Sal., 
Ein  Beitrag  x.  Gesch.  der  Publ.  u.  des  VerfasswigsrecJites  der  ital.  Renaiss.,  mit 
Geleitwort  v.  J.  Kohler  (Qu.  d.  Rechtsphil.  I),  Berl.-Leipz.  1914. 

3)  Vgl.  R.  Sabhadini,  Le  scoperte  dei  codici  latini  e  greci  nei  secoli  XTF e  XV, 
Bd.  2,  Flor.  1914  (betr.  Frühhumanismus  in  England,  Deutschland,  Frankreich,  Italien). 

4)  In  diese  Zeit  gehört  auch  G.  Soranxo,  Cronaca  di  anonimo  vermiese  (1446 
bis  88)  ed.  la  prima  volta  (in :  Monum.  stör,  dalla  r.  deput.  venet.,  ser.  II :  Cronache  IV), 
Ven.  1915;  ferner:  Matthei  Palmerii,  Liber  de  lemporibus  ( — 1474)  a  cura  di 
G.  Scaramella  (Rer.  it.  script.  26),  Cittä  di  Gast.  1915. 

9* 

131 


L.  Bertabt,  Zwölf  Briefe  des  Ämhrogio  Traversari,  Rom.  Quartalschr.  29, 
1915,  ergänzte  die  reiche  ßriefsamrnlung  des  humanistischen  Camal- 
dulensermönchs  in  der  alten  Ausgabe  Cannetos  von  1759  um  ungedruckte 
Stücke;  R.  Cessi  behandelte  kurz  La  vita  politica  cli  Bartolomeo  Guasco, 
eines  unbedeutenderen  Humanisten  jener  Zeit,  in  Atti  e  Mem.  d.  R.  Accad. 
d.  scienze  etc.  di  Padova  32,  Päd.    1916. 

Wie  verschieden  war  das  Antlitz  des  damaligen  Deutschland 
von  dem  italienischen!  Wenn  auch  der  Humanismus  bereits  über  die 
Alpen  zu  wirken  und  vorgeschrittene  Geister  zu  erlassen  begann,  wenn 
auch  bei  den  Bürgern  der  Städte  Individualismus  und  Selbstbeobachtung 
eine  ganz  andere  Stätte  fanden,  als  auf  dem  Lande,  und  im  Anschluß 
an  die  Notizen  kaufmännischer  Geschäftsbücher  zu  bemerkenswerten 
Ansätzen  der  Selbstbiographie  führten  ^j,  so  lebte  und  webte  man  hier 
doch  viel  ausschließlicher  in  religiösen  Vorstellungen  und  Hoffnungen 
sittlicher  Reformen,  „denn  jedermann  wolt  gen  himl'',  wie  Burkard  Zink 
einmal  sagt.  Das  spiegelt  sich  auch  in  der  heutigen  Forschung  wider. 
Den  frühen  Humanisten  wendet  man  nur  geringe  Neigung  zu,  und 
wo  Studien,  wie  die  von  E.  König  über  Feutinger  (l914:)  vorliegen, 
greifen  sie  doch  schon  in  die  Reformationszeit  hinüber.  Die  Frage  da- 
gegen, wie  es  um  das  religiös-sittliche  Leben  des  deutschen  Volkes, 
damals  bestellt  gewesen  sei,  wie  sich  darin  Leistungen  und  Gebrechen 
zueinander  verhielten,  erregt  weitgehend  Interesse,  schon  weil  man  da 
von  beiden  konfessionellen  Seiten  aus  hoffen  darf,  zur  Beurteilung  der 
Reformation  Luthers  festeren  gemeinsamen  Boden  zu  gewinnen  2). 

Man  sucht  auf  verschiedene  Weise  den  überreichen  Stoff  schrittweise 
EU  bezwingen.  Zunächst  durch  Monographien  über  hervorstechendere 
oder  typische  Persönlichkeiten.  M.  Bäiißler,  Felix  Fahri  ans  Ulm  und 
seine  Stellung  zum  geistigen  Leben  seiner  Zeit,  Beitr.  z.  Kult.  15,  Leipz.- 
Beri.  1914,  sucht  mit  gutem  Erfolg  Wesen  und  Anschauungen  dieses 
liebenswürdigen,  vom  Humanismus  doch  nur  wenig  berührten  Domini- 
kaners (1441  oder  42 — 1502)  zu  schildern,  der  uns  besonders  in  seinen 
lebendigen  Reisebeschreibungen  entgegentritt.  Der  Holländer  M.  van 
Ilhijn  übertrifft  mit  einer  befriedigenden  Biographie  von  Wessel  Gans- 
fort, s'Gravenhage  1917,  die  bisher  vorhandenen  Lebensbeschreibungen 
dieses  Lehrers  eines  tiefer  erfaßten  Christentums  (1419 — 89),  indem  er 
die  Einflüsse  Augustins,  Bernhards  und  der  Windesheimer  Kongregation 
auf  ihn  nachweist  ^).    Den  Brüdern  vom  gemeinsamen  Leben,  von  denen 


1)  Das  schildert  kurz  für  das  15.  Jahrh,  A.  Rein,  über  die  Entwicklung  der 
Selbstbiographie  im  ausgehenden  deutschen  MA..  Arch.  f.  Kult.   14,   1919. 

2)  Auf  Arbeiten,  die  das  15.  Jh.  ganz  unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachten, 
wie  die  gleichnamigen  Schriften  0.  v.  Belows  und  J.  Hallers,  Die  Ursachen  der  Re- 
formation, Freib.  i.  B.  1916  u.  Tüb.  1918,  soll  hier  nicht  eingegangen  werden,  da 
sie  bei  der  Betrachtung  der  neuzeitlichen  Forschung  doch  nicht  zu  entbehren  sind. 

3)  Gleiciizeitig  erschien  das  amerikanische  Werk  von  E.  W.  Miller,  Wessel  Gans- 
fort: Life  and  Writings,  2  Bde ,  New  York,  Lond.  1917.  —  Über  den  Einsiedler  und 
Landesheiligon  der  .schweizerischen  ürkantone  Nikolaus  von  Flüe  (1417  -H7),  sind 
zum  5UÜ.  Jahre  .seiner  Geburt  mehrere  Arbeiten,  so  von  E.  Herxog  und  R.  Durrer 
erschienen,  weitere  in  der  Z.  f.  Schweizer  Kirchengesch,  11  verzeichnet.  —  0.  M.  Häfele, 

132 


jener  ausgingjTwidmet  eine  gründliche  Forschung  E.  Sarnikol  in  seinen 
Studien  zur  Geschichte  der  Brüder  vom  gemeinsamen  Leben.  Die  erste 
Periode  der  deutschen  Brüderhetvegung :  die  Zeit  Heinrichs  von  Älthaus 
(Erg.heft  z.  Z  f.  Theol.  u.  Kirche,  Tüb.  Jahrg.  1917.  Die  niederländische 
Bewegung  vor  14  00,  das  Hinüberwirken  nach  Deutschland  seit  1401 
durch  den  Westfalen  H.  v.  A.  (f  1439),  die  Ausbreitung  und  zweite 
Blüte  in  der  Hildesheimer  Richtung  usw.  werden  hier  geschildert.  Andere 
Reform bestrebungen  gingen  von  den  Augustiner  Chorherren  aus.  Wie 
sie  sich  von  dem  westfj,lischen  Kloster  Böddeken  aus  über  große  Teile 
Deutschlands  von  Hoktein  bis  zur  Schweiz  erstreckt  haben,  schildert 
E,  Schatten,  Kloster  Böddeken  und  seine  Beformtätigkeit  im  15.  Jahrh. 
(Gesch.  Darst.  u.  Quell.,  hrsg.  v.  Schmitz  Kallenberg  4),  Münst.  i.  W.  1918. 
Wieviel  geistige  Anregungen  den  Augustinern  insgesamt  verdankt  werden, 
untersucht  auf  Anregung  A.  Meisters  Hedivig  Vonschott,  Geistiges  Lehen 
im  Augustinerorden  am  Ende  des  31  A.  und  zu  Beginn  der  JSeuzeit, 
Eherings  Hist.  Stud.  129,  Berl.  1915.  Nach  Stichproben  für  mittel- 
europäische Augustinerklöster  wird  festgestellt,  daß  die  Hinneigung  zu 
humanistischen  Idealen  und  Bestätigungen  hier  verhältnismäßig  früh 
einsetzte,  mehr  natürlich  bei  den  aristokratischeren  Chorherren  als  bei 
den  mehr  auf  religiöse  Wirkungen  bedachten  Augustinereremiten.  Bei 
der  Fülle  des  Stoffes  handelt  es  sich  nur  um  einen  vorläufigen  Aus- 
schnitt. Das  religiöse  Leben  der  verschiedensten  Kreise  an  ein  und  dem- 
selben Platze  sucht  zu  erfassen  und  in  seinen  mannigfaltigen  Äußerungen 
widerzuspiegeln  L.  Schairer,  Das  religiöse  Volkslehen  am  Ausgang  des 
MA.  nach  Augshurger  Quellen,  Beitr.  z.  Kult.  13,  Leipz.-Berl.  1914; 
gerade  die  Buntheit  des  Bildes  in  allen  Tönen,  von  der  zartesten  Inner- 
lichkeit bis  zum  ödesten  Aberglauben,  ist  wohl  geeignet,  die  richtige 
Vorstellung  von  den  wahren  Zuständen  zu  erwecken. 

Waren  nun  die  kirchlichen  Schäden  wirklich  derartig,  um  von 
selbst  starke  Gegenströmungen  auszulösen  oder  haben  bei  deren  Leitung 
und  Ausnützung  Politik  und  Eigensucht  der  Landesherren  etwa  die 
Hauptrolle  gespielt?  Das  ist  die  Frage,  die  für  das  Gebiet  der  geist- 
lichen Gerichtsbarkeit  J.  Hashagen  zugunsten  der  ersteren  Meinung  be- 
antwortet in  der  reichbegründeten  und  eindrucksvollen  Arbeit:  Zur 
Charakteristik  der  geistlichen  Gerichtsharkeit,  vornehmlich  im  späteren 
MA.,  Z.  f.  R.  37,  k.  A.  6,  1916. 

Während  die  geistlichen  Gerichte  im  13.  Jh.  vor  den  weltlichen  wegen  mancher 
Vorzüge  im  Prozeßgang,  der  Beweisaufnahme,  der  rascheren  Arbeit,  dem  geordneten 
Instanzenzuge  mit  Recht  bevorzugt  waren,  begannen  spätestens  seit  dem  Anfang  des 
15.  Jh.  durch  fiskalische  Ausbeutung,  übermäßige  Anwendung  kirchlicher  Strafen  usw. 
die  Gebrechen  derart  zu  überwiegen,  daß  Gegenwirkungen,  wie  z.  B.  Boykott  geist- 
licher Offizialen,  ganz  eigenständig  einsetzten,  und  Landesherren  wie  Stadträte  schon 
aus  Gründen  der  allgemeinen  Wohlfahrt  zum  Vorgehen  angetrieben,  dabei  auch  von 
der  öffentlichen  Meinung  getragen  wurden. 

Eine  Zusammenfassung  aller  die  Städte  angehenden  Vorwürfe  gegen 

Franx  v.  Retx.  Ein  Beitrag  %ur  Gelehrteyigesch.  des  Dominikanerordens  und  der 
Wiener  Universität,  Innsbr.  1918,  hat  diesen  seelsorgerisch  wirkenden  Gelehrten  sehr 
ausführlich  geschüdert. 

133 


Ansprüche  und  Treiben  der  Geistlichkeit  findet  man  in  der  von  H.  Schrörs 
angeregten,  im  Teildruck  als  Bonner  Diss.  schon  1912  erschienenen 
gründlichen  Arbeit  von  A.  Störmann,  Die  städtischen  Gravaniina  gegen 
den  Klerus  am  Ausgange  des  MA.  und  in  der  Reformationszeit  (Re- 
formationsgesch.  Stud.  u.  Texte,  hrsg.  v.  Greving  24 — 26),  Münst.  i.  W. 
1916.  Das  hier  zusammengestellte  Gesamtbild  wird  durch  lokalgeschicht- 
iiche  Forschungen  noch  Ergänzungen,  aber  keine  wesentliche  Ände- 
rung erfahren.  Doch  wir  wollen  hier  in  die  Vorgeschichte  der  Refor- 
mation nicht  weiter  eintreten. 

Wenn  auf  Deutschland  die  kirchlichen  Schäden  soviel  drückender  als 
auf  den  meisten  anderen  Ländern  lasteten,  so  lag  das  vornehmlich  an 
der  politischen  Auflösung  des  Reichs körpers,  die  wohl  in  ein- 
zelnen kräftigen  Territorien,  nicht  aber  im  ganzen  eine  Abhilfe  ermög- 
lichte, wie  sie  sich  die  Staatenwelt  Westeuropas  längst  verschafft  hatte 
und  noch  weiter  sicherte  ^)  In  die  Zerklüftung  der  damaligen  Zustände 
Mitteldeutschlands,  den  Widerstreit  enger  dynastischer  Interessen  tut 
man  jetzt  vielleicht  den  tiefsten  Einblick  in  dem  Buche  von  A.  Wer- 
minghoff,  Ludwig  von  Eyh  der  Altere  (1417 — 1502).  Ein  Beitrag  zur 
fränkischen  und  deutschen  Geschichte  im  15.  Jh.,  Halle  a.  S.  1919. 

Es  ist  ein  Staatsmann  dritten  Eanges,  dem  dies  umfängliche  und  gründliche, 
aus  Darstellung  und  Quellenbelegen  ungefähr  zu  gleichen  Teilen  zusammengesetzte 
"Werk  gewidmet  ist,  und  es  drängen  sich  wohl  zunächst  Zweifel  auf,  ob  da  an  Aus- 
führlichkeit, zumal  in  unserer  Zeit,  nicht  etwas  zu  viel  geschehen  ist.  Aber  dieser 
in  Finanzen,  Gerichtswesen  und  Diplomatie  wohlbewanderte  Diener  Albrecht  Achills 
und  seiner  Nachfolger,  in  seiner  nüchterneren  Art  verschieden  von  seinem  huma- 
nistischen Bruder  Albrecht,  hat  eben  inhaltreiche  Aufzeichnungen  zu  seiner  Familien- 
liistorie,  Denkwürdigkeiten  zur  Geschichte  der  hohenzoilernschen  Markgrafen,  Schriften 
zur  Verfassung.s-,  Verwaltungs-  und  Rechtsgeschichte  hinterlassen ,  die ,  vereint  mit 
urkundlichen  Nachrichten,  die  Herstellung  einer  eingehenden  Lebensgeschichte  dieses 
Mannes  und  damit  ein  Bild  jener  Tage  ermöglichten,  das  sicher  lebendiger  in  sie  ein- 
führt, als  die  meisten  durch  die  Zerrissenheit  des  Stoffes  verwirrenden  Gesamtdar- 
stellungen. So  gehört  das  Buch  fraglos  zu  den  wertvollsten  Neuerscheinungen  der 
spätmittelalterlichen  Geschichte. 

Nur  eine  starke  staatliche  Zusammenfassung  der  noch  immer  im 
Überfluß  vorhandenen,  aber  durch  die  Zersplitterung  gelähmten  oder 
gegeneinander  arbeitenden  deutschen  Kräfte  hätte  aus  den  unheil- 
vollen Zuständen  herausführen  können.  Aber  wo  war  der  Schöpfer 
eines  neuen  Deutschlands,  der  sich  an  zielbewußter,  geschlossener  Kraft 
einem  Ludwig  XL,  Heinrich  VII.  oder  einer  Isabella  hätte  vergleichen 
können?  Das  habsburgische  Haus,  von  dem  man  am  ersten  diese 
Leistung  hätte  erwarten  sollen,  schlug  in  seinen  Vertretern  von  dem 
einen  unbrauchbaren  Extrem  in  das  andere. 


1)  Vgl.  für  Spanien  die  populär  gehaltenen  Darstellungen  von  J.  B.  Klßling, 
Kardinal  Francisco  Ximenex  de  Cisneros  1436—1517,  Münst.  i.  W.  1917,  von  J.  P. 
R.  Lyell,  Cardinal  Ximenes,  statesman,  ecclcsiastic,  saldier  and  man  of  etlers,  ivith 
an  account  of  the  Complutensia  Polijglot  Bible,  Lond.  1918  (illustriert)  und  Jcrne 
L.  Plunket.  Isabel  of  Casiile  and  the  making  of  the  Spanish  nation  1451 — 1504  in 
„Heroes  of  the  nations",  New  York,  Lond.  1919.  ohne  neue  Ergebnisse,  aber  in  leben- 
diger Darstellung. 

134 


Mit  der  knauserigen  Zurückhaltung  Friedrichs  III.  ^)  war  der  Bau 
ebensowenig  zu  errichten,  wie  mit  der  zwar  schwungvollen,  aber  gerade 
der  notwendigen  Sammlung  und  Schöpferkraft  entbehrenden,  dynasti- 
schen Universalpolitik  und  Projektenmacherei  Maximilians  I.  -).  Die 
gutgemeinten  und  richtig  gedachten  Reichsreformen  ^)  aber,  wie  sie 
die  Stände  mit  dem  Mainzer  Erzbischof  Berthold  von  Henneberg  ^)  an 
der  Spitze  anstrebten  und  zum  Teil  durchführten,  mußten  letzten  Endes 
doch  scheitern,  weniger  noch  an  den  in  der  Sache  selbst  liegenden 
Schwierigkeiten,  als  weil  mittlerweile  das  Haus  Habsburg  zu  einer 
Weltmacht  emporwuchs,  deren  Interessenkreis  sich  mit  dem  des  deut- 
schen Reiches  keineswegs  mehr  deckte. 

8.   Historische  Hilfswissenschaften 

An  der  Hand  einiger  Zeitschriften,  wie  des  Neuen  Archivs  oder 
der  Bibliotheque  de  FEcole  des  Chartes  und  einzelner  neuer  Zusammen- 
fassuno:en  sich  einen  Überblick  über  die  hilfswissenschaftlichen  Neu- 
erscheinungen  zu  verschaffen,  ist  verhältnismäßig  leichter  als  für  die  vor- 
hergehenden Abschnitte.  Ich  kann  mich  daher  hier  noch  mehr  als  dort 
auf  die  Heraushebung  des  Wesentlichsten,  dessen,  was  über  das  Interesse 
der  Spezialisten  hinausgeht,  beschränken. 

Zunächst  einige  bibliographischen  Hilfsmittel!  Seitdem 
die  „Jahresberichte  der  Geschichtswissenschaft  mit  Bd.  36,  1913,  ihr 
Ende  gefunden  haben,  sind  wir  über  außerdeutsche  Geschichtsliteratur 
in  Deutschland  höchst  mangelhaft  unterrichtet  Die  Folgen  der  langen 
Absperrung  werden  sehr  langsam  überwunden.  Es  fehlt  auch  zunächst 
für  die  Zukunft  an  jeglicher  Organisation.  Unsre  Zeitschriften  bringen 
meist  nur  das  gelegentlich  ihnen  bekannt  Gewordene;  am  reichhaltigsten 
ist  noch  immer    die  BibÜographie    des  Historischen  Jahrbuchs.     Gerade 

1)  Von  den  Dsutscken  Reichstag sakten  unter  Kaiser  Friedrieh  III  erschiea 
Bd.  15,  2:  1440—41,  Gotha  1914.  Iti  die  Verhältuisse  des  dam;iligen  Österreich  wird 
man  gründlichst  eingeführt  durch  die  Forschungen  des  f  K.  Schalk,  Aus  der  Zeit  des 
'österreichischen  Faustrechts  1440  —  63  in  Abh.  z.  Gesch.  u.  Quellenk.  d.  Stadt  Wien,  1919. 

2)  Über  die  Beurteilung  der  Politik  Maximilians,  sowie  über  die  Ursprünge  der 
unter  ihm  bestehenden  Behördenorganisation,  sind  vor  dem  "Weltkriege  in  Deutschland 
beianntlich  fördernde  Auseinandersetzungen  erfolgt  (vgl.  zur  Einführung  in  die  Kon- 
troversen A.  Walther,  Die  neuere  Beurteilung  Kaiser  Maximilians  L,  M.  I.  ö.  G.  33, 
1912.  Seitdem  ist  kaum  Neues  zu  verzeichnen.  Chr.  Hare,  Maximilian  the  Dreamer, 
Holy  Roman  Emperor  1459 — 1519,  Lond.  1918,  dürfte  uns  schwerlich  den  persön- 
lichen Entwicklungsgang  M.s  bieten,  dessen  Dar,stellung  man  noch  immer  vermißt, 
wahrend  die  Politik  seiner  Zeit  oft  genug  behandelt  ist.  Vgl.  auch  G.  Mehring,  Kar- 
dinal Peraudi  als  Ablaßkonimissar  in  Deutschland  1500 — 1504  und  sein  Verhältnis 
XU  Maximilian  L,  in  Forsch,  u.  Vers.  f.  D.  Schäfer,  Jena  1915;  M.  Wutte,  Die  Er- 
werbung der  Görxer  Besitzungen  durch  das  Haus  Habsburg,  M.  I.  ö.  G.  38,  1918, 
wo  die  sich  über  anderthalb  Jahrhunderte  erstreckende  Vorgeschichte  der  Erwerbung 
sehr  ins  einzelne  gehend  dargelegt  wird. 

3)  Vgl.  Joh.  Müller,  Die  Entstehung  der  Kreisverfassung  Deutschlands  von  1383 
bis  1512,  Deutsche  Gesch.-Bl.  15,  1914. 

4)  K.  Bauermeister  hat  seiner  Arbeit  über  B.  als  Laudesfürst  die  Abhandlung: 
B.  V.  H.  und  der  Türkenxehnte  von  1487,  Eist.  Jahrb.  36,  1915,  mit  Abdruck  einiger 
Inedita  folgen  lassen. 

135 


für  die  mittelalterliche  Geschichte  ist  ja  aber  jede  nationale  Beschränkung^ 
ein  Unding.  Es  wäre  doch  sehr  zu  wünschen,  daß  die  „Jahresberichte" 
in  der  Weise  wiedererständen,  daß  sie  sich  auf  Sammlung  und  über- 
sichtliche Anordnung  der  Titel  allein  beschränkten  und  von  dem  Voll- 
ständigkeitsprinzip im  Kleinen  und  Lokalen  Abstand  nähmen.  Auf  solche 
Weise  könnte  jeder  Band  verhältnismäßig  rasch  auf  das  oder  die  zu- 
sammengefaßten Berichtsjahre  folgen  und  würde  an  Umfang  gewiß  auf 
ein  Viertel  der  früheren  Stärke  gemindert  werden,  an  Brauchbarkeit 
dadurch  nur  gewinnen.  Für  eine  solche  Aufgabe  müßten  natürlich 
Stiftungskapital  und  Staatszuschüsse  gewonnen  werden.  Wenn  wir  aber 
schon  einmal  nicht  mehr  in  der  Lage  sind,  jedes  wissenschaftlich  not- 
wendige Buch  des  Auslandes  in  Deutschland  anzuschaffen,  so  sollte  man 
den  Forschern  wenigstens  die  Möglichkeit  bieten,  zu  überschauen,  was 
in  Wirklichkeit  erschienen  ist,  und  wo  es  in  unseren  Bibliotheken  hapert^ 
damit  sie  von  gewissen  Stoffen  dann  lieber  die  Finger  lassen! 

Für  die  deutsche  Geschichte  sind  wir  besser  versorgt  durch  die 
der  Historischen  Vierteljahrschrift  beigegebene  Bibliographie  des  leider 
kürzlich  verstorbenen  0.  Mnßloiv ,  die  nach  einem  kurzen  Übergangs- 
stadium von  F.  Löwe  fortgeführt  werden  soll.  Dieser  selbst  hat  mit 
M.  Stimming  zusammen  in  sehr  dankenswerter  Weise  Jahresberichte  der 
deutschen  Geschichte  mit  einem  ersten  Jahrgang  1918,  Breslau  19  20, 
eröffnet.  Als  ein  Ersatz  der  alten  Jahresberichte  können  sie  freilich 
nicht  gelten,  solange  sie  sich  national  beschränken.  Was  uns  not  tut, 
ist  neben  der  Maßlowschen  Bibliographie  ja  gerade  gründlichste  Orien- 
tierung über  das,  was  daheim  und  auswärts  über  ausländische  Geschichte 
geschrieben  wird !  W^ir  müssen  uns  diesen  Weltblick  trotz  aller  Schwierig- 
keiten um  jeden  Preis  erhalten. 

Von  kürzlieh  erschienenen  bibliographischen  Hilfsmittel/i,  die  uns  das 
erleichtern,  notiere  ich  das  Folgende:  Ch.  Groß,  Sources  and  literature 
of  English  history  from  the  earliest  timcs  to  about  1485,  2.  Aufl.,  Lond., 
New  York  1915.  Der  Verf  ist  leider  schon  1909  gestorben,  die  von 
ihm  selbst  gesammelten  Nachträge,  von  1910  ab  aber  nur  gelegentliche 
Hinzufügungen  und  ältere  Ergänzungen ,  haben  die  Zahl  der  Titel  um 
etwa  1300  anschwellen  lassen  ^).  L.  J.  Paetotv,  Guide  to  the  study  of 
mediaeval  history,  for  students,  teachers  and  libraries,  Berkeley  California 
1917,  ist  der  erste  Versuch  zu  einer  allgemeinen  malichen  Bibliographie 
in  englischer  Sprache,  natürlich  ohne  jedes  Streben  nach  Vollständigkeit, 
immerhin  mit  manchen  Ergänzungen  zu  der  deutschen  Quellenkunde  zur 
Weltgeschichte  von  P.  Herre. 

Über  Frankreich  wird  man  in  den  Hauptzeitschriften  des  Landes 
vorbildlich  unterrichtet.  Auf  die  auch  in  den  letzten  Jahren  fortlaufende 
Vej-öffentlichung  von  Comte  11.  de  Lasteyrie  und  A.  Vidier,  Bibliographie 
generale  des  travaux  hisforiques  et  archeologiqiies  pid>l.  p.  lessocictes  savantes 
de  la  France  sei  hier  hingewiesen,  und  den  Überblick  von  L.  Halphen, 


1)  Vgl.   T.  F.   Tollt,    The  ■prcscnt  state  of  viediaeval  studies   in  Oreat  Brüain, 
Lond.  1914. 

13G 


Lliistoire  en  France  depuls  cent  ans,  Par.  1914  (mit  kurzem  bibliogr. 
Anhang),  wird  gewiß  auch  der  ma.liche  Forscher  zur  Hand  nehmen 
wollen  ^). 

Für  Italien  bietet  in  beschränkterem  Umfang  Ahnliches  Ä.  Panella, 
Gli  siucU  storici  in  Toscana  nel  secolo  XIX  (aus  Arch.  stör.  ital.  e 
l'opera  cinquantenaria  della  r.  deput.  tose.  d.  stör,  patr.),  Bol.  1916.  Ester 
Pastorello,  Indici  jier  nome  cTautore  e  per  materie  delle  pubblicazmii 
sulla  storia  mediaevale  üaliana  (1899  — 1910)  raccoUe  e  recensite  da 
C.  Cipolla,  Ven.  1916,  gewährt  in  einem  umfangreichen  Bande  innerhalb 
der  gegebenen  Grenzen  wohl  auch  eine  gewisse  Übersicht. 

Von  H.  Barths  Bibliographie  der  Schweizer  Geschichte,  welche  die 
bis  Ende  1913  selbständig  erschienenen  Druckwerke  zur  Geschichte  der 
Schweiz  enthält,  erschien  Bd.  3 :  Quellen  und  Bearbeitungen,  nach  sach- 
lichen und  formalen  Gesichtspunkten  geordnet,  Bas.  1915.  Für  Däne- 
mark notierte  ich  B.  Erichsen  u.  A.  Krarup,  DansJc  historisJc  Bibliograß, 
1.  Bd.  H.  1.  2,  Kopenh.  (1918?). 

Wenden  wir  uns  zur  Handschriftenkunde  und  Paläographie, 
so  findet  man  in  W.  Weinbergers  Bericht  für  die  Jahre  1911 — 15  in 
den  Jahresberichten  über  Fortschritte  der  klassischen  Altertumswissen- 
schaft 43,  1915  (erschienen  1917),  Abt.  3,  auch  das  MA.  betreffende 
Erscheinungen  verzeichnet.  Die  Herausgabe  neuer  Handschriftenkata- 
loge kann  hier  als  keineswegs  allein  die  ma.liche  Geschichte  betreffend  nicht 
berücksichtigt  werden;  doch  mag  als  umfassenderes  Werk  die  Fort- 
setzung der  Bände  Mazzatintis  von  Ä.  SorbelU,  Inventarl  dei  mano- 
scritti  delle  biblioteche  d'ItaUa  genannt  sein,  von  denen  Bd.  22/23  Flor. 
1915  erschien. 

P.  Raphael  Kögel  O.  S.  B.,  Die  Photographie  historischer  Dohimente 
nebst  den  Grundzügen  des  Reproduhtionsverfahrens  (Beihefte  z.  Zentralbl. 
f.  Bibliothekswesen  44),  Leipz.  1914,  mag  als  Einführung  dienen  in  die 
neuen  Verfahrungsweisen  zur  photographischen  Aufnahme  erloschener 
Schriften,  Palimpseste  usw.  Die  großen  Verdienste,  die  sich  hier  die 
Beuroner  Benediktiner  erworben  haben,  und  die  Versuche,  denen  sie 
sich  unermüdlich  widmen,  beginnen  nun  auch  für  die  ma.üche  Geschichte 
Frucht  zu  tragen,  wie  der  dadurch  wiedergewonnene  Brief  Karls  d.  Gr. 
an  Papst  Hadrian  I.  über  den  Abt-Bischof  Waldo  von  Reichenau-Pavia 
beweist,  den  P.  E.  Munding  in  „Texte  u.  Arbeiten,  hrsg.  durch  die 
Erzabtei  Beuron"  H.  6,  Beur.  1920,  vorlegte. 

Die  Veröffentlichung  großer  paläographischer  Tafelwerke  hat  auch 
während  der  Krieg?jahre  ihren  Fortgang   genommen,    so  z.  B.  die    von 

A.  Chrousts  Monuinenta  palaeographica ,  I.  Abt.,  Serie  2,  die  mit  der 
24.  Lieferung  ihren  Abschluß  erreichte,  so  die  von  J.  v.  Karabacelc  und 

B.  Beer  hrsg.  Monumenta  palaeographica  Vindobonensia,  Bd.  2,  Leipz. 
1914,  so  in  England  die  Lieferungen  der  New  Pcdaeographical  Society. 
Einen  Überblick  über  die  Entwicklung  des  Studiums  der  Paläographie 
in  England  seit  1873  gab  A.  Hidshof  im  Zentralbl.  f.  Bibliothekswesen 


1)  Vgl.  auch  Gh.  V.  Langlois,  Les  etudes  historiques,  Par.  1915. 

137 


1916.  Ders.  bereicherte  in  J.  TActzmanns  Tahtdae  in  us.  scliol.  0  unter 
dem  Titel:  Deutsche  und  lateinische  Schrift  in  den  Niederlanden  (1350 
bis  1050),  Bonn  1918,  mit  50  gutgeratenen  Tafeln,  von  denen  ein  Teil 
dem  ausgehenden  MA.  angehört,  unsre  Unterrichtsmittel. 

Unter  den  Werken,  welche  die  Schrift  einer  bestimmten  Epoche 
ergründen  und  zur  Darstellung  bringen,  steht  obenan  dasjenige  des 
Traubeschülers  E.  A.  Loeiv,  The  Beneventan  Script,  Oxf.  1914,  wo  diese 
unteritalische  Schriftart,  die  von  779  bis  1295,  in  Urkunden  vielleicht 
noch  etwas  länger  nachweisbar  ist,  unter  umfassender  Heranziehung  der 
PIss.,  deren  Abbildungen  einem  besonderen  Atlas  vorbehalten  bleibt, 
erstmals  gründlichst  behandelt  ist.  Eine  ähnliche  Darstellung  der  west- 
gotischen Schrift  durch  einen  anderen  Traubeschüler  A.  C.  Clark  steht 
in  Aussicht.  Ein  Hilfsmittel  zum  Studium  der  Urkundenschrift  Englands 
seit  der  normannischen  Eroberung  bietet  zuerst  das  Werk  von  Ch.  Johnson 
und  U.  Jenhinson,  English  Court  Hand  a.  D.  1066  — 1500,  illustrated 
chiefly  from  the  PuUic  Eccords,  2  Teile  (Text  u.  Tafeln),  Oxf.   1915  ^). 

Nach  dem  Vorbilde  von  Traubes  „Nomina  sacra"  versuchen  einige 
Arbeiten  im  In-  und  Ausland  die  lateinischen  Abkürzungen  bestimmter 
Zeiträume  und  Schulen  zu  umgrenzen,  so  H.  Foerster,  Die  Ahhilrzungen 
in  den  Kölner  llss.  der  Karolinger  zeit,  Diss.  Bonn  1916;  W.  M.  Lind- 
say ,  Notae  Latinae,  an  account  of  dbhreviations  in  latin  Mss.  of  the 
early  minuscule  period  (c.  700 — 850),  Cambr.  1915  (mit  Hss.- Verzeichnis 
am  Schluß)  und  L.  SchiaparelU ,  Notae  ■paleograßche ,  Arch.  stör.  ital. 
73  I,  1915  (betr.  tachygraphischer  Zeichen  in  Notae  iuris)  u.  74  H,  1916 
(betr.  irischer  Abkürzungen).  —  J.  E  Sandrys,  Latin  Epigraphy ,  an 
introduction  to  the  study  of  latin  inscriptions,  Cambr.  1919,  dürfte  doch 
wohl  auch  für  das  MA.  in  Betracht  kommen.  Die  Ausbreitung  der 
arabischen  Ziffern  in  Europa  hat  G.  F.  Hill,  The  development  of  ardbic 
numerals  in  Europe,  exhibited  in  64  tables,  Oxf.   1915,  dargestellt  2). 

Auf  dem  für  die  ma.liche  Geschichte  so  besonders  wichtigen  Gebiete 
der  Urkundenforschung,  für  das  die  sehr  reichen  Einzelstudien 
hier  nicht  verzeichnet  werden  können,  wird  jeder  seinen  Ausgangspunkt 
von  H.  Brcßlaus  Handbuch  der  UrJcundenlehre  nehmen,  von  dem  Bd.  2, 
1.  Hälfte,  Leipzig  1915,  in  zweiter,  alles  wieder  auf  den  gegenwärtigen 
Forschungsstand  erhebender,  auch  viel  eigenes  Neue  einarbeitender  Auf- 
lage erschienen  ist. 

Es  erübrigt  sich,  etwas  zum  Lobe  des  Werkes  zu  sagen,  das  die  deutsche  Wissen- 
schaft auf  diesem  von  ihr  einst  neu  befruchteten  Sondergebiete  noch  immer  auf  einer 
Hölle  zeigt,  an  welche  die  anderen  Länder  in  umfassender  Durchdringung  des  Gesamt- 
stoffes trotz  gediegener  Leistungen  noch  nicht  heranreichen.  Man  kann  nur»-  auf  das 
lebhafteste  wünschen,  daß  der  Verf.  bald  neb-^n  anderen  Arbeiten  die  Muße  zum 
Ab.schluß  der  zweiten  Auflage  finden  möge.  Weite  Überschau,  wie  sie  nur  in  langer 
Forschertätigkeit  erworben  wird ,  vom  angelsächsischen  zum  ungarischen  Urkunden- 
wesen und  weiter,  zeigt  auch  desselben  Abhandlung:  Internationale  Bexiehungcn  im 
Ur/cundenuesen  des  MÄ.,  Arch.  f.  Urk. forsch.  VI ,  1917.  Eine  ähnliche  Art,  die  ur- 
kundlichen Symptome  über  das  technisch-hilfswissen.schaftliche  hinaus  für  die  politische 


1)  Vgl.  ders.,  Palaengrapliic  and  the  study  of  Court  iiand,  New  York  1915. 

2)  Vgl.  dazu  auch  M.   Tangl,  X.  A.  41,  1919,  ebda,  zur  Kryptographie  E.  Sec/ccl. 


188 


Geschichte,  hier  freilich  mehr  der  inneren  des  deutschen  Reiches  im  12.  Jahrh.,  un- 
mittelbar nutzbar  zu  machen,  zeigte  ja  schon  der  auf  dem  Wiener  Historikertag  ge- 
haltene Vortrag  von  H.  Hirsch,  Kaiserurkunde  und  Kaisergeschichte,  der  in  den 
M.  I.  ö.  G.  35,  1914,  erschien. 

Die  Einwirkung  der  kaiserlichen  Urkunden  auf  die  päpstlichen  hat, 
wie  etwa  früher  schon  Mühlbacher  R.  L.  Poole,  Imperial  influences  on 
the  fornis  of  papal  documents  (aus :  Proceedings  of  the  Brit.  Acad.) 
(1917  ?)  kurz  behandelt.  Derselbe  auch  durch  die  Leitung  der  Engl, 
hist.  Rev.  und  so  manchen  Beitrag  darin  ^)  bestens  bekannte  Gelehrte 
hat  in  seinen  Lectures  on  the  liistory  of  the  papal  Chancery  down  to  the 
Urne  of  Innoceni  III.,  Cambr.  1915,  eine  knappe,  sehr  saubere  und  ge- 
fällige Zusammenfassung  der  neben  den  älteren  französischen  zumeist  auf 
den  neueren,  von  P.  hoch  anerkannten  deutschen  Forschungen  beruhenden 
Ergebnisse  mit  glücklicher  Auswahl  des  Wesentlichen  vorgelegt;  man 
wird  sie  auch  in  Deutschland  gern  und  gelegentlich,  wie  z.  B.  das  Kapitel 
über  den  Cursus,  mit  Förderung  lesen-).  P.  31.  Baumgarten,  Mis- 
cellanea  diplomatica  II:  Aus  der  Kanzlei  Innocenz'  IV.,  Rom.  Quartal- 
schr.  28,  1917,  bietet  einen  wichtigen  Beitrag  zu  den  Kanzleiverhält- 
nissen dieses  Papstes,  lehrreich  auch  über  die  Diplomatik  hinaus  durch 
die  für  dies  Pontifikat  sehr  vollständigen  Beamtenlisten. 

Unsere  Auffassung  von  dem  älteren  päpstlichen  Registerwesen  hat 
bekanntlich  dadurch  schon  vor  dem  Kriege  eine  Abwandlung  erfahren, 
daß  durch  die  Untersuchungen  von  Peitz,  Caspar  und  Blaul  die  Register- 
bruchstücke von  Johann  VlII.  und  Gregor  VII.  entgegen  den  früheren 
Annahmen  als  Originalabschrift  und  Original  erwiesen  sind.  W.  Peitz 
S.J.,  Das  Register  Gregors  L,  Beiträge  zur  Kenntnis  des  päpstlichen 
Kanzlei-  ii.  Registerwesens  bis  auf  Gregor  VII.  (Erg.-h.  zu  Stimmen  der 
Zeit,  2.  Reihe,  H.  2),  Freib.  i.  B.  1917,  hat  mit  großer  Gelehrsamkeit 
und  viel  Scharfsinn  den  Nachweis  versucht,  daß  die  uns  überlieferte 
Hs.  auch  dieses  Gregorregisters  nicht,  wie  man  bisher  annahm,  ein  zur 
Zeit  Hadrians  I.  gefertigter  Auszug  aus  dem  Originalregister  sei,  sondern 
sich  mit  jenem  deckte.  Dann  hätte  die  Monumentenausgabe  sich  auf 
den  unveränderten  Abdruck  beschränken  sollen,  statt  Ergänzungen  zur 
Wiederherstellung  des  vollständigen  Registers  anzustreben.  Diesen  Ver- 
such aber  hat  M.  Tangl,  Gregorregister  und  Liber  Diurnus,  N.  A.  41, 
1919,  m.  E.  völlig  widerlegt^).  Auch  die  Behauptung,  daß  in  der  päpst- 
lichen Kanzlei  des  ganzen  früheren  MA.  nach  den  Konzepten  registriert 
sei,   lehnt  er   ab '^).     Anerkennender    steht    er   Peitz'  Forschung:    Liber 

1)  Die  Untersuchung:  The  sea  of  Maurienne  and  the  Valley  of  Sicsa,  Engl.  hist. 
Eev.  31,  1916,  ist  bemerkenswert  wegen  der  in  den  Streitigkeiten  über  die  Zugehörig- 
keit von  Maurienne  zu  Turin,  Tarantaise  oder  Vienne  zugunsten  des  letzteren  (vgl. 
Gundlach  N.  A.  14)  vorgenommenen  Urkundenfälschungen  und  andrer  Fälschungen  in 
der  Frage  der  Zugehörigkeit  von  Susa  zu  Maurienne  oder  Turin. 

2)  Vgl.  M.  Tosi,  Biillaria  e  Bullatores  della  cancelleria  po7itificia  (aus:  Gli 
Archivi  ital.),  Siena,  1917.  Ä.  Eitel,  Rata  und  Rueda,  Arch.  f.  Urk.  5,  1914,  verfolgt 
die  Einwirkung  der  seit  Mitte  d.  11.  Jahrh.  aufgekommenen  päpstlichen  Rota  auf  das 
spanische  Urkundenwesen. 

3J  Ausführlicher  jetzt  E.  Posner,  N.  A.  43,  1921. 

4)  Dagegen  ist  neuerdings  R.  v.  Heckel,  Untersuchungen  >-m  den  Registern  Inno- 

.  13Ö 


Diurnus,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  ältei^ten  päpstlichen  Kanzlei  vor 
Gregor  d.  G.,  I:  Überlieferung  des  Kanzleihuches  und  sein  vorgregoria- 
nischer  Ursprung,  SB.  d.  Wien.  Ak.  185,  1918,  gegenüber. 

Über  Sickels  Ausgabe  kommt  P.  hier  unzweifelhaft  in  mehrfacher  Hinsicht  hinaus. 
Der  Hauptthese,  der  ursprüngliche  Diurnus,  sei  in  viel  frühere  Zeit  zuruckzuverlegen, 
die  Briefe  Gregors  I.  seien  bereits  aus  Diurnusformeln  zusammengesetzt,  statt  für  sie 
verwendet  zu  sein,  ja  einzelne  Formeln  seien  sogar  bis  in  frühchristliche  Zeit  zu 
verfolgen,  so  daß  die  Anfänge  der  Papstkanzlei  schon  in  die  Mitte  des  2.  Jahrh. 
fielen  ') ,  steht  Tangl  bis  zum  vollständigen  Erscheinen  der  Diurnusforschungen  mit 
starken  Zweifeln  gegenüber'). 

In  die  früheste  Zeit  ma.lichen  TJrkundenwesens  weist  die  Unter- 
suchung von  K.  Brandt,  Ein  lateinischer  Papyrus  aus  dem  Anfang  des 
6.  Jahrh.  und  die  E^itwicldnng  der  Schrift  in  den  älteren  ürhunden^ 
Arch.  f.  Urk.  5,  1914.  Die  Schrift  einer  im  Faksimile  beigegebenen  Ur- 
kunde von  505  wird  in  die  Entwicklung  eingereiht;  die  damaligen  Be- 
urkundungsformen haben  auf  das  merowingische  Urkundenwesen  ein- 
gewii  kt  ^). 

Von  den  Arbeiten,  die  sich  mit  Fälschungsfragen  befassen,  seien 
außer  den  schon  an  andrer  Stelle  genannten  noch  einzelne  hervor- 
gehoben. E.  V.  Ottenthai,  Die  gefälschten  Magdeburger  Diplome  und 
Melchior  Goldast,  S.ß.  d.  Wiener  Ak.  1919,  erkennt  bei  einer  Prüfung 
der  älteren  deutschen  Königsurkunden  für  die  Stadt  Magdeburg  nur 
drei  als  echt,  alle  andern  als  Fälschungen,  die  z.  T.  wahrscheinlich  von 
Goldast  angefertigt  sind'*).  Über  die  Fälschungen  von  Bobbio,  über 
welche  die  Meinungen  von  Forschern  wie  Sickel  und  Scheffer- Boichorst 
auseinandergingen,  findet  man  jetzt  ausgiebige  Aufklärung  in  dem  drei- 
bändigen,  von  C.  Cipolla  begonnenen,  von  G.  Biizzi  bearbeiteten  und 
zu  Ende  geführten  Werke:  Codice  diplomatico  del  monasiero  di  S.  Colom- 
bar.o  di  Bobbio  fino  alV  anno  1208,  in:  Fonti  p.  1.  stör.  d'It.,  Diplomi, 
Rom  1918. 

Im  dritten   Bande   finden   sich   die   Untersuchungen   über  die   beiden  Gnippen 


xenx'  in.,  Hist.  Jahrb.  40,  1920,  für  die  Ansicht  von  Peitz,  die  Registerbände  lun.  III. 
seien  nicht  Prachtabschriften,  sondern  Originale,  gegen  Tangl  und  Bresslau  in  ein- 
gehender Untersuchung  eingetreten.  Von  sonstigen  Registerforschungen  seien  hier 
nur  genannt:  die  an  11.  Nieses  Aufstellungen  anknüpfenden  Studien  über  die  sixili- 
lischen  licgister  Friedrichs  II.  von  E.  Stimmer.  S. B.  d.  Berl.  Ak.  1920;  ferner: 
A.  Sedlacek,  Die  Beste  der  ehemal.  Reichs-  und  K.  böhmischen  Register,  8.B.  d.  kgl. 
böhm.  Ges.  d.  "Wiss.  19 KJ,  wo  neben  Umschreibung  des  Bestandes,  Auszügen  usw.  auch 
die  Frage  erörtert  wird,  wie  weit  böhmische  Sonderregister  neben  den  Reichsregistern 
unter  Karl  IV.  und  Wenzel  anzunehmen  sind. 

1)  Vgl.  auch  die  für  breitere  Kreise  bestimmten  Ausführungen  vou  W.  Peitx 
in  mehreren  Artikeln  der  Bde.  93  u.  94  (1917  u.  18)  der  „Stimmen  der  Zeit". 

2)  Von  Einzel for.schungen  zu  Formelbüchern  seien  notiert:  K  Widke,  Über 
schlcsische  Formelbücher  des  MA.  in  Darst.  u.  Qu.  z.  schles.  Gesch.  26,  Bresl.  1919; 
//.  Omonf,  Noiiveau  document  sur  Berard  de  Naples,  Bibl.  de  l'Ec.  d.  Ch.  76,  1915, 
wo  Bcrardus  schon  für  Mai  und  Juli  12r)4,  ein  Jahrzehnt  früher  als  bi.sher  nachweis- 
bar, als  Notar  der  päpstlichen  Kanzlei  belegt  wird. 

3)  Vgl.  Les  Diplomes  Merovingiens  des  Archives  Nationales,  ed.  P.  Lauer  u. 
C.  Samarnn,  Paris  1915. 

4)  Vgl.  E.  Stengel,  Fuldensia  I:  Die  Urktmdcnfälschungen  des  Rudolf  von  Fulda, 
Arch.  f.  Urk.  5,  1914;  weitere  Fuldensia  ebda.  Bd.  7. 

140 


von  Fälschangen:  die  erste  von  19  Urkunden,  davon  17  zwischen  903  und  914  mit 
dem  Zwecke,  das  Kloster  Bobbio  der  Gerichtsbarkeit  des  Bischofs  von  Piacenza  zu 
entziehen;  die  zweite,  erst  von  Buzzi  klar  erkannte  Gruppe  von  14  kaiserlichen 
Diplomen  unter  der  Abtschaft  Folco's  (1160—70)  aus  der  Absicht  hervorgegangen,  die 
Unabhängigkeit  des  Klosters  gegenüber  den  Aufsichtsrechten  des  nahen  Bischofs  voq 
Bobbio  zu  erhärten,  —  ein  Streit,  der  erst  1208  durch  einen  Sprach  Papst  Innozenz' III. 
zugunsten  des  Bischofs  entschieden  wurde. 

Über  einen  wichtigen  Urkundenfund  in  Lyon  berichtet  G.  Guigue, 
Documents  des  archives  de  la  cathedrcde  de  Lyon  recemment  decouverts, 
Bibl.  de  l'Ec.  d.  Ch.  76,  1915. 

Unter  den  ausgegrabenen  Manuskripten  des  alten  Metropolitanarchivs  befinden 
sich  u.  a.  eine  hier  abgedruckte  Urkunde  Karls  von  Provence  für  das  Kloster  de 
nie- Barbe  von  861,  das  Vidimus  einer  Bulle  Papst  Sergius'  III.  von  910  für  das 
Kapitel  von  Lyon,  2  Urkk.  Kaiser  Friedrichs  I.  vom  18.  Nov.  1157  u.  30.  Okt.  1184 
betr.  der  Regalrechte  der  Kirche  S.  Johann  über  die  Stadt  L.yoni)  usw. 

Von  den  in  ersprießlichem  Zusammenwirken  des  Istituto  storico 
italiano  mit  dem  preußisch-historischen  Institut  in  Rom  herausgegebenen 
JRegesta  Chnrtarum  Italiae  sind  noch  einige  Bände  erschienen,  bis  der 
Eintritt  Italiens  in  den  Krieg  die  Fortführung  der  gemeinsamen  Arbeit 
unmöglich  machte.  Bei  der  Bedeutung  von  Montecassino  für  die  ma.- 
liche  Geschiclite  mag  hier  auch  die  Ausgabe  des  Hegesto  di  Tommaso 
decano,  o  cartolario  del  convento  Cassinese  (1178 — 1280)  a  cura  dei 
monaci  di  Montecassino,  Rom   1915,  genannt  sein  -). 

Für  den  Universitätsunterricht  haben  die  von  G.  Seeliger  heraus- 
gegebenen Urkunden  und  Siegel  in  Nachbildungen  für  den  akademischen 
Gebrauch,  Leipz.-Berl.  1914,  sich  als  nützliche  Bereicherung  unserer 
Hilfsmittel  erwiesen,  wenn  auch  Heft  I  (Kaiserurkunden  v.  G.  Seeliger) 
noch  aussteht  und  H.  II  Papsturkunden  mit  dem  begleitenden  Text 
von  A.  Brackmann  im  einzelnen  von  L.  Schmitz  -  Kallenberg ,  Hist. 
Jahrb.  36,  1915,  übertrieben  heftig  angegriffen  worden  ist.  H.  III  Privat- 
urkunden von  0.  Redlich  und  L.  Groß  ergänzt  manche  Abbildungs- 
lücke  ^),   ebenso   wie  H.  IV  Siegel   von  F.  Philippi   willkommene    Er- 


1)  Vgl.  ders.,  Les  bulles  de  Vor  de  Fred.  Barb.  pour  les  archeveques  de  Lyon, 
Bull.  phil.  et  hist.  du  comite  des  trav.  hist.  1917. 

2)  Vgl.  L  Auvray,  Le  „vetiis  codex  Longohardicus"  de  Baluxe,  Moyen  äge  28, 
1915,  wo  die  im  Bd.  17  der  Sammlung  Baluze  iu  der  Bibl.  nat.  kopierten  Urkunden 
auf  ihre  Herkunft  genauer  untersucht  und  der  zugrunde  liegende  langobardische  Codex 
durch  Vereinigung  aller  Auszüge  daraus  möglichst  wiederhergestellt  wird;  im  Anhang 
sind  Papstbullen  von  Gregor  IX.,  Innozenz  IV.,  Alexander  IV.  und  Johann  XXII, 
gedruckt. 

3)  Von  diplomatischen  Einzelstudien  notiere  ich  noch  ohne  die  Absicht  irgend- 
welcher Vollständigkeit  die  sich  auf  dem  Grenzgebiet  zwischen  Urkundenforschung 
und  Rechtsgeischichte  bewegende  Arbeit  des  im  Kriege  gefallenen  F.  Boye,  Über  die 
Fönformeln  in  den  Urkunden  des  früheren  MA.,  Arch.  f.  Urk.  6,  1917;  K.  Demeters 
Studien  zur  Kurmainxer  Kanzleisprache,  Diss.  Berl.  1916,  wo  die  Sprachentwickiung 
in  der  Kanzlei  vom  Ende  des  14.  bis  zum  Ende  des  16.  Jahrh.  verfolgt  und  der  Ein- 
fluß auf  die  neuhochdeutsche  Schriftsprache  betont  wird.  Endlich  einige  Arbeiten 
zum  habsburgisch- österreichischen  Urkundenwesen:  0.  Stotcasser,  Die  öst.  Kanxlei- 
biieher,  vornehmlich  des  14.  Jahrh.  und  das  Aufkommen  der  Kanxleiver merke,  M.  I.  ö.  G. 
35,  1915  (angefochten  von  Fr.  Wilhelm  M.  I.  ö.  G.  38,  1918);  ders.,  Beiträge  xu  den 
Habsburger  Regesten,   M.  I.  ö.  G.  Erg.  10,  1916  (auf  das  14.  u.  15.  Jahrh.  bezüglich); 

141 


gänzungen  bringt  zu  der  ersten  wirklich  befriedigenden  Bearbeitung 
einer  Siegelkunde  von  W.  Eivald,  die  vereinigt  mit  einer  Wappen- 
kunde von  F.  Hauptmann  \)  im  Handb.  d.  ma.  u.  neu.  Gesch.,  Abt.  4, 
Münch.  1914,  erschien.  —  Zur  Münzkunde  sei  auf  die  2.  Auflage 
von  Ä.  Luschin  v.  Ehengreuths  Grundriß  der  Milnshunde  I.  Die 
Münze  (Aus  Nat.  u.  Geistesw.),  Leipz.-Berl.  1918,  verwiesen,  dem  sich 
als  II.  Teil  //.  Buchenau,  Die  Münze  in  ihrer  geschichtlichen  Entwich' 
lung  vom  Altertum  his  zur  Gegenivart  ebda,  anschließt.  Vgl.  auch  von 
dems.  Luschin,  Das  Münzivesen  in  Österreich  oh  und  unter  der  Enns 
im  ausgehenden  MA.  im  Jahrb.  f.  Landesk.  v.  Niederöst.  N.  F,  13  — 17, 
1915  — 17;  für  Frankreich:  A.  Blanchet  und  A.  Dieudonne,  Manuel 
de  numismntique  franfjaise,  Bd.  1.  2,  Par.  1912  u.  1916.  Als  Einführung 
in  innerdeutsche  Probleme  der  historischen  Geographie  kann 
dienen:  Fr.  Curschmann,  Die  Entwicklung  der  historisch-geographischen 
Forschung  in  Deutschland  durch  zwei  Jahrhunderte,  Arch.  f.  Kult.  12, 
1914/16  (über  die  ältere  Forschung,  die  von  der  Identität  der  Gau-  und 
Diözc^angrenzen  ausgehende  Gaugeographie,  die  an  die  Gemeindegrenzen 
anknüpfenden  Grundkarten  und  die  neueste,  verschiedene  Ausgangs- 
punkte verwendende  Provinzialforschung.  Zur  Chronologie  endlich  ist 
zu  nennen:  die  4.  Auflage  von  H.  Grotefends  unentbehrlichem  Taschen- 
buch der  Zeitrechnung  des  deutschen  MA.  und  der  Neuzeit,  Hann.  1915; 
eine  Greifsw.  Diss.  von  P.  Molkenteller,  Die  Datierung  in  der  Geschicht- 
schreibung der  Karolingerzeit,  Anklara  1916,  die  für  Tages-  und  Jahres- 
datierung, Tages-  und  Jahresanfang,  Wochentagsbezeichnung,  Zähl- 
weise usw.  die  Ergebnisse  für  jene  Epoche  zusammenstellt;  zu  guter 
letzt  für  die  kirchliche  Chronologie  die  zweite,  durch  zahlreiche  Nach- 
träge und  Berichtigungen  verbesserte  Auflage  von  K.  Euhels,  Hierarchia 
catholica  medii  aevi,  Bd.  1  u.  2  (1198—1503),  Münster  i.  W.  1913/14. 


J.  Limtx  (gefall.  1914)  und  L.  Groß,  Urkunden  und  Kan>:lei  der  Grafen  v.  Habs- 
burg u.  Herxoge  v.  Österreich  von  1273—1298,  M.  I.  ö.  G.  37,  1917,  mit  Betonung  des 
Einflusses  der  habsburgischen  Stamnilande  auf  ihr  Urkundenwesen. 

1)  Dazu  vgl.  auch  die  gegen  den  Dilettantismus  auf   diesem  Gebiete   gerichtete 
Schrift  von  0.  Hupp,   Wider  die  Schwarmgeister,  Münch.  1918. 


142 


Verfassernamen 


Äbegg,  E.  91 
Adams.  G.  B.  83 
Aigrain,  E.  24 
Alengry,  C.  106 
Amato,  A.  99 
Ämelineau.  E.  26 
V.  Aniira,  K.  40 
d'Ancona,  A.  99 
Andrae.  0.  27 
Anitchkof,  E.  13 
Ankwicz-Kleehoven,  H.  130 
Antonelli,  M.  117 
Antony,  C.  M.  121 
Apfelbaum.  J.  106 
Arie,  B.  130 
Arndt,  E.  73 
Arne,  T.  J.  12 
Arnold,  R.  F.  131 
Asche,  E.  121 
Aubin,  H.  41 
Auvray,  L.  141 

Babelon,  E.  22 
Baseler,  G.  57 
Baethgen,  F.  82 
Bäumker,  Cl.  6.  94.  96 
Baist,  G.  28 
Baladhuri,  A.  27 
Ballschmiede,  H.  85 
Balzani,  ü.  63 
Barnikol,  E.  133 
Barth,  H.  137 
Bast,  J.  47 
Bastgen,  H.  34 
Bauer,  H.  117 
Bauermeister,  K.  135 
Baumearten,  M.  139 
Becker,  J.  58 
Beckmann.  G.  129 
Beer,  R.  137 
Beilee,  H.  124 
V.  Below,  G.  1.  4:!.  51—53. 

74.  86.  103.  105.  132 
Bemont,  Ch.  10  i 
Bendel,  F.  J.  31 
Benetti-Brunelli,  V.  131 
Benz.  A.  R.  113 
— ,  R.  10 


Benzerath,  M.  25 

Beretta,  R.  74 

Berger,  E.  61 

Berkut,  L.  N.  69 

Bernheim,  E.  4.  5 

Bernt,  A.  17 

Bertalot,  L.  112.  132 

Beß,  ß.  125 

Beverle,  K.  48 

V.  ßezold,  F.  2 

Bezzenberger,  A.  124 

Bianchi-Cagliese,  V.  68 

Bicilli,  M.  90 

Bierbaum,  M.  96 

Biereye,  W.  60.  63.  75 

Birckman,  B.  96 

Birth,  Th.  21 

Bistort,  G.  103 
I  Bizzarri,  D.  103 
!  Blanchet,  A.  142 

Bliemetzrieder,  F.  65 

Bloch  s.  Reincke-Bloch 

Blochet,  E.  95 

Bloy,  L.  128 

Böhmer,  H.  30 

Bönhoff,  L.  24 

Bolland,  W.  C.  118 

Bonwetsch,  G.  88 

Borchers.  C  101 

Borino,  G.  B.  64 

Borinski,  K.  18 

van  den  Borne,  F.  14 

Bossi  63 

Botteghi,  L.  A.  93 

de  Boüard,  A.  58 

Boutros  Ghali  9 

Boye,  F.  141 

Brackmann,  A.  32.  34 

Bradley,  H.  9 

Bradshaw  52 

Braudi,  K.  52.  140 

Brandileone,  F.  33 

Brohier.  L    26.  35.  64 

Brentano,  L.  25 

Bresslau,   H.   62.    71.    117. 
120.  138 

Bretholz,  B.  109 

Breul,  K.  62 


Brinkmann.  C.  41 
Brodnitz,  G.  52 
Brown,  G.  B.  20 
Brüning,  G.  22 
Brugnoli,  B.  99 
Brunner,  H.  40 
Bniun,  D.  (j3 
Bryce,  J.  83 
Buchenau,  H.  142 
Buchkremer,  J.  35 
Büchner,  M.  36.  38.  88 
Bücher,  K.  104 
Bugge,  A.  106 
Burckhard,  J.  27.  62.  126 
Burdach,  K.  9.  10.  11.  16- 

17.  112    117 
Burr,  G.  L.  18 
Bussel,  F.  W.  6 
Butler,  N.  M.  83 
Buzzi,  G.  33.  140 
Byrne,  E.  H.  72 

V.  Caeminerer,  H.  117 

Caetani,  L.  27 

Canon,  H.  L.  92 

Carlyle,  A.  J.  4 

Cartellieri,  A.  19.  80.  83 

— ,  0.  125.  127 

Casini,  T.  118 

Caspar,  E.  32.  67 

Cavelti,  L.  111 

de  Cenival,  P.  94 

Cerlini,  A.  98 

Cerone,  F.  95 

Cerri,  C.  15 

Cessi,  R.  20.  27.  132 

Chabot,  J.  B.  72 

Chevalier,  U.  25 

Choussv,  J.  E.  126 

Chroust,  A.  137 

Cipolla,  C.  20.  93.  99.  137. 

140 
Clark,  A.  C.  138 
Classen,  W.  109 
Clemen,  P.   12 
Clephan,  R.  C.  9 
Cochin,  H.  119 
Cognasso,  F.  84 


143 


Cohn,  G.  85 
— ,  W.  70.  87.  89 
Colomaa,  Chr.  B.  33 
Concaonon,  H.  22 
Cosack.  H.  72 
Cotteriil,  H.  B.  19 
Coulton,  G.  G.  19 
Coville,  A.  12.'! 
Cram,  R.  A.  lü 
Cripps-Day,  F.  H.  9 
Crivellucci,  A.  27 
Croce,  B.  112 
Cunningham,  S.  74 
Curechmaun,  Fr.  142 
Curtiss,  E.  70 
Cuthbert  15 

Daumet,  G.  61 
Davenport,  E.  H.  36 
Davidsobn,  R.  53.  94.  113 
Davies,  J.  C.  118 
Dehio,  G.  11.  HO 
— ,  L.  92 
Deiser,  G.  F.  119 
Delaborde,  H.  Fr.  61 
Delachenal,  R.  119 
Delisle,  L.  94 
Demeter,  K,  141 
Deussea,  P.  6 
Diamanti,  E.  130 
Diebolder,  P.  69 
Diehl,  Ch.  26.  103 
Diepgen,  P.  6 
Dieterle,  K.  125 
Dieudonne  142 
van  Dillen,  J.  G.  104 
V.  Dirlve,  A.  105 
Dobenecker,  0.  93 
Domenici,  G.  83 
Dopsch,    A.    2.   3.   20.    27. 
28.  29.  44,  51.  53.  90.  95 
Doren,  A.  90 
Dorn,  J.  24 
Dove,  A.  17.  21 
Draycott,  G.  M.  27 
Drinkwcider,  0.  73 
Duchesne,  L.  25.  26 
Dürr,  E.  128 
Dubem,  P.  6 
V.  Dungern,  0.  45.  46 
Dupont,  J.  126 
Durrer,  R.   113.  132 
Duvernoy,  E.  74 
Dvofäk,  M.  12.  13 

Eberle,  H.  IJ.  103 
Ebers,  G.  J.  41 
Ebersolt,  J.  26 


Eberstadt,  R.  105 
Egidi,  P.  89 
Ehrismann,  G.  94 
Ehwald,  R.  30 
Eichholzor,  E.  47 
Eichmann,    E.    32.   41.    42. 

57.  82.  86.  100 
V.  Eicken,  H.  7 
Eitel,  A.  1^9 
Emerton,  E.  19.  90 
Endres,  R.  37 
Enlart.  C.  13 
Epfielsheimer,  H.  "W.  14 
Erben,  W.  47.  56.  113 
Ercole,  F.  112.   131 
Erichsen,  B.  137 
Ernst,  V.  47 
Esposito,  M.  9 
Estailleur  -  Chanteraine  ,    P. 

126 
Eubel,  K.  130.  142 
Ewald,  W.  142 
Ewing,  J.  19 

Fahre,  J.  126 

Fabricius,  Kn.  77 

Facchinetti,  V.  14 

Falco,  G.  62 

Falk,  E.  112 

Farrer,   W.  70 

Fawtier,  R.  121 

Federn,  K.  112 

Fehr,  H.    40.    41.    43.    49. 

85.  105 
Feliciangeli,  B.  130 
Ferre,  Th.  24 
Ferretti,  L.  120 
Fiebiger,  0.  22 
Fierens,  A.  116 
Fiuke,  H.  55.  98.  100.  124 
Fischer,  L.  74 
Flach,  .T.  61 
Fleischmann.  W.  28 
Fletcher,  C.  R.  L.  19 
—    J.  B.  112 
Fliehe,  A.  64 
Foerster,  H.  138 
Foord,  E    26 
Forbes,  N.  108 
Forst- ßattaglia,  0.  46 
Fotheringham,  F.  K.  84 
Fournier,  P.  65.  68 
Franci-s,  R.  70 
Fregni,  G.  68 
Frensdorff,  F.  103 
Friedrich,  F.  18 
Frölich,  K.  103 
Fumi,  L,  98 


Gabotto,  F.  103 

Gaffroy,  B.  68 

Gagliardi,  E.  113 

GanzenmüUor,   W.  8.  47 

Gareis,  K.  28 

Garrod,  II.  W.  34 

Gaudenzi,  A.  33 

Gauthiez,  P.  121 

Gay,  J.  83 

Geffcken,  J.  20 

Gerber,  H.  129 

Gerdes,  H.  49 

Gerlach,  W.  101 

Gerland,  E.  25 

Gerosa,  P.  4 

Gertz,  M.  Cl.  77 

Gesler,  W.  66 

Geyer,  .1.  81 

de  Ghellinck,  J.  65 

Gibbon,  E.  20 

Gibbons,  H.  A.  127 

V.  Gierke,  J.  107 

-,  0.  40 

Gillet,  L.  16 

Giordano,  N.  71 

Giorgi,  J.  38.  63 

Giraudet.  P.  126 

de  Givry,  G.  126 

Gjer.set.  Kn.  77 

V.  Gleichen-Rußwurm,  A.  9 

Glitsch,  H.  29.  47.  50 

Gloning,  M.  71 

Göller,  E.  18.  116.  120 

Goetz,  J.  67 

— ,  W.  2 

Götz,  L.  K.  108 

Gold  mann,  E.  23 

Goldschmidt,  A.  12 

Goll,  K.  94 

Gorham,  E.  91 

Goß  mann,  F.  75 

Gothein,  E.  129 

Gottlieb,  Th.  7 

Grabmann,  M.  96 

Gradmann,  R.  101 

Graf,  Th.  120 

Gray,  H.  L.  20 

de  (jrazia,  A.  72 

Greven,  J.  87.  115 

Grillet,  P.  9 

Groeteken,  F.  A.  15 

Gronen,  E.  77 

Groß,  Ch.  136 

— ,  L.  142 

Grotefeud,  H.  142 

Grünberg,  "W.  125 

Grupp,  G.  2 

Günter,  H.  56 


144 


Günther,  0.  122 
Guerrini,  P.  73 
Güterbock,  F.  75.  76 
Guggenberger,  K.  64 
Guglia,  E.  57 
Guigue,  G.  141 
de  Guldencrone,  D.  62 
Guthrie,  W.  D.  83 

Haas,  A   104 

p    ^29 

Hä'fele,  G.  M.  132 

Hänlein,  Th.  31 

Häußler,  M.  132 

Haff,  K.  50 

Haggard,  A.  C  P.  128 

Halbedel,  A.  22 

Haller,  J.  78-80.  108,  132 

Halphen,  L.  34.  35.  61.  136 

Hampe,  K.   52.  53.  56.  58. 

74.  91.  109.  127 
Hansen.  A.  119 
Hare,  Chr.  135 
Harstedt,  K.  94 
Hartig,  0.  82 
Hartmann,  L.  M.  19.  25.  53. 

54   62 
Härtung,  F.  40 
Haseloff,  A.  12 
Hashagen,  J.  86.  133 
Haskins,  Ch.  H.  70 
Hauck,  A.  121.  123 
Haupt,  A.  11 
Hauptmann,  F.  142 

L   25 

Hauri^  N.  123 
Haverlach,  A.  104 
Hazlitt,  W.  C.  103 
Heck,  Ph.  48.  49 
V.  Heckel,  R.  139 
Heinrichs,  R.  38 
Held,  0.  107 
Heldmann,  K.  32 
Hellmanu,  S.  19 
Heimelt,  H.  19 
Henderson,  E.  F.  52 
Hennecke,  E.  24 
Hennig,  R.  107 
Hentze,  C.  100 
Hene,  H.  123 
Herwegen,  J.  22 
Herzog,  E.  132 
Heuberger,  R.  95 
Heusler,  A.  30 
Heymann,  E.  23.  40 
Hicketier.  Fr.  19 
Hill,  G.  F.  138 
Hillemand-Joyau,  A.  112 


de  Hinojosa,  E.  41 

Hintze,  0.  110 

Hintzen,  J.  D.  127 

Hirsch,  H.  65.  139 

Hirschfeld,  Th.  89.  97 

Hodgkin,  R.  H.  27 

-  ,  Th.  27 

Hörnicke,  H.  111 

Hofer,  J.  114 

Hoff  mann,  G.  117 

— ,  Heinr.  35 

Hofmann,  K.  102 

-,  M.  70 

V.  Hofraann,  A.  52 

— ,  W.  128 

Hofmeister,  A.   29.  31.  57. 

59.  60.  62.  73.  77.  85 
Holder-Egger,  0.  85 
Holland,   W.   :18 
Holtzmanu,  R.  37.  54.  60.  72 
— ,  W.  125 
Holzapfel,  H.  14 
Hoops,  J.  7 
Hoppe,  W.  72 
Horten,  M.  6 
Hosp,  P.  56 
Howorth,  H.  30 
Huart,  Cl.  27 
Hübner,  R.  40.  43 
Huemer,  Bl,  71 
Hugelmann,  K.  G.  86.  88 
Hughes,  D.  119 
Hulshof,  A.  59.  137 
Hund,  A.  22 
Hupp,  0.  142 
Husih,  J.  6 
Hussl,  H.  69 

Imperiale  di  S.  Angelo,  C.  89 
Inglese  d'Amico,  V.  99 
Isoldi,  Fr.  122 

Jacob,  K.  52 
Jagow,  K.  108 
Jahn,  M.  7 

James,  M.  R.  8.  9.  127 
Jamison,  E.  71 
Jansen,  E.  J.  B.  126 
Jenal,  A.  71 
Jenkinson,  H.  138 
Jepsen,  M.  126 
Jiricek,  C.  127 
Joachimsen,  P.  52 
Joergensen,  E.  7 
— ,  J.  121 
Joetze,  F.  47 
Johnson,  Ch.  138 
Jordan,  E.  90.  99 


Wissenschaftliche  Forschnngsherichte  VII. 


Jud,  J.  28 
Junghanns,  H.  122 

Kaindl,  R.  F.  109 
Kaiser,  A.  105 
Kamiiers,  F.  35.  56.  58 
V.  Karabacek  137 
Karsavin,  L.  P.  96 
Käser,  K.  19 
Kath,  P.  75 
Katterbach,  B.  124 
Kentenich,  G.  105 
Kern,  F.  42.  52.  56.  94.  112 
Keußen,  H.  105 
Keutgen,  F.  44.  45 
Kingsford,  C.  L.  125 
Kirkfleet,  C.  J.  71 
Kisk-y,  W.  113 
Kißlmg,  J.  B.  134 
Kleist,  W.  87 
Kluckhuhn,  P.  121 
Klüpfel,  L.  98 
Kluge,  F.  21 
Knapp,  H.  86 
Knop,  F.  34 
Koebner,  E.  24 
Kögel,  R.  137 
König,  E.  132 
Koeniger,  A.  M.  31 
Könnecke,  M.  24 
Kötzschke,  R.  51 
Kohler,  J.  131 
Koulakovsky,  J.  26 
Krabbel,  G.  58 
Krammer,  M.  23.  117 
Kramp,  A.  137 
Kretschmayr,  H.  103 
Krohn,  R.  69 
Krusch,  B.  22.  23.  24 
Kuczynski,  J.  91 
Küch,  F.  104 
Kuemmel,  A.  28 
V.  Künßberg,  E.  39 
Kurth,  G.  23 
Kuske,  B.  107 
Kybal,  V.  15 

Lahaine,  L.  107 
La  Mantia,  G.  98 
Lampen,  W.  30 
Langlois,  Ch.  V.  137 
Lappe,  J.  51 
Lapsley,  G.  119 
La  Eocca,  S.  20 
de  Lasteyrie,  R.  136 
Lauenstein,  W.  51 
Lauer,  Ph.  61.  140 
Laurent,  J.  27 

10 

145 


Laux,  J.  22 

Lazzaresclii,  E.  121 

Leach,  A.  F.  G 

Lechner,  J.  51 

Leeming,  J.  K.  83 

Lees,  B.  A.  30 

Le  Fort,  R.  37 

Lehmann,  P.  7.  18.  36.  58 

Leicht,  P.  S.  G2 

Leidinger,  G.  88.  112 

Lenne,  A.  124 

Lesquier,  J.  70 

Leutz-Spitta,  J.  F.  108 

Levillain,  L.  61 

Levison,  W.  22.  36.  38 

Liebennann,  ¥.  30 

V.  Liliencron,  A.  60 

Linck,  A.  126 

von  der  Linden,  H.  37.  130 

Lindlar,  J.  105 

Lindsay,  W.  M.  138 

Lipson,  E.  52 

Little.  A.  G.  16.  96 

Löffler,  Kl.  31.  108 

Loew,  E.  A.  138 

Löwe,  V.  136 

Loparev,  36 

Loserth,  J.  113.  122.  123 

Lot,  F.  20.  24.  37.  61 

Lotz,  W.  51 

de  Loye,  J.  94 

Luchaire,  J.  103 

Lugano,  P.  22 

Lulves,  J.  97 

del  Lungo,  J.  112 

Lunt,  W.  E.  92.  93 

Luntz,  J.  142 

Luschin   v.  Ebengreuth,   A. 

110.  142 
Lyell,  J.  P.  R.  134 
Lynch,  D.  126 

Mack,  E.  90 
ilackechnie,  W.  P.  83 
ilac  Killiam,  A.  E.  30 
Maconi,  St.  121 
Maggini,  F.  112 
Maiden,  H.  E.  83 
Male.  E.  9 
Manacorda,  G.  6 
Manaresi,  C.  96 
de  Mandrot,  B.  128 
Manfroni,  C.  20 
Manitius,  M.  7 
Mann,  H.  K.  19.  73 
Manning,  B.  L.  122 
Mannucci,  U.  130 
Mansion,  J.  20 


Marchetti-Longhi,  G.  91 
V.  Martin,  A.  131 
Martiu-Chabot  61 
Marx,  J.  70 
Mathis,  A.  64 
Matthaesius,  F.  123 
Maugis,  E.  119 
Mayer,  Ernst  21.  23.  28.41. 

50.  88 
Meda,  C.  34.  83 
Mehring,  G.  135 
Meier,  P.  J.,  75.  101 
Meininghaus,  A.  49 
Meister,  A.  18.  40.  48 
de  Meiy,  F.  35 
Mengozzi,  G.  103 
-,  N.  128 
Mercati,  A.  68 
Messeri,  V.  121 
Metlake,  G.  22 
Meurer,  F.   IUI 
Meyer,  Aug.  61 
— ,  Erich  W.  82 
— ,  Herrn.  115 
— ,  Karl  87.  113 
— ,  P.  129 
— ,  Werner  93 

—  V.  Knonau,  G.  35 

—  aus  Speyer,  W.  9.  38 
Michael,  E.  84.  85 
Michell,  R.  108 

Miller,  E.  W.  132 
— ,  W.  127 
V.  Minnigerode,  H.  48 
Miret  y  Sans,  J.  98.  119 
Mirot,  L.  119.  125.  126 
Mittag,  H.  104 
MöUenberg.  W.  85 
Moeller,   R.  46.  57.  76.  85. 

luO.  114 
Mohler,  L.  99 
Molitor,  E.  129 
Molkenteller,  P.  142 
Mollat,  G.  116 
Moore,  E.  112 
Morghen,  R.  27 
Moufazzal  Ibn  Abil-Fazail  95 
Mourret  F.  6 
Mowat,  R.  B.  19.  34.  126 
Mülilhäuser,  A    8 
Müller,  Conr.  1U6 
— ,  .loh.   135 
— ,  K.  0.  30.  101 
— ,  W.  96 
— ,  Wilh.  41 
Much,  R.  21 
M  Unding,  E.  137 
Musatti,  E.  103 


Naegle,  A.  37.  60 
Nagel,  F.  109 
Napolitano,  R.  89 
Naumann,  L.  110 
Neckel,  G.  7.  21. 
Neumann,  C.  11.  14 
— ,  Rieh.  99 
— ,  Rieh.  99 
Nickel,  W.  36 
Nieborowski,  P.  124 
Niebuhr,  C.  108 
Niese,  H.  75 
Norden,  E.  21 

Oczipka,  P.  122 
Oeconomos,  L.  84 
Offergelt,  F.  4 
Omont,  H.  140 
Oppermann,  0.  79 
Orsier,  J.  93 
Orton,  C.  W.  20 
Ostwald,  P.  103 
V.  Ottenthai,  E.  140 
Otto,  H.  67.  84 
Overbeck,  F.  6 

Pacheu,  J.  99 

Paetow,  L.  J.  136 

Panella,  A.  137 

Paquet,  A.  56 

Pardi.  G.  103 

Parisot,  R    60 

Pastorello,  E.  137 

Peitz,  W.  M.  26.  139 

Pelikan.  B.  121 

Pelster,  F,  96 

Pereis,  E.  37 

Petit-Dutaillis,  M.  29 

Pfalz,  A.  86 

V.  Pflugk-Harttung,  J.  124 

Philippi,   F.   4.   46.  48.  58. 

102.  105 
Philippson,  M.  77 
Pick,  R.  35 
Picotti,  G.  B.  130 
Pijper,  F.  122.  123 
Pirie-Gordon,  C.  H.  E.  83 
Planitz,  H.  50 
V.  Plotho,  W.  47 
Plunkot,  J.  L.  134 
Pöschl,  A.  31.  41 
Pollard,  A.  F.  127 
Poole,  R.  L.  30.  59.  62.  63. 

64.  139 
Porter,  A.  K.  13 
Portigliotti,  G.  130 
Posner,  E.  139 
Puuitney  Bigelow  20 
Poupardin,  R.  61 


146 


Prentout,  H.  70 

Preuß,  H.  55 

Previte  Orton,  C.  W.  59 

Prochnow,  F.  81 

Proehl,  H.  32 

Prou,  M.  29.  61.  116 

Prutz,  H.  55.  126 

Pudor,  W.  26 

Rachfahl,  F.  111 

Eassow,  P.  32 

Eathgen,  B.  118 

Eauch,  K.  81 

Eeade,  W.  112 

Eehme,  P    104 

Eein,  A.  132 

Beinach,  S.  20 

Eeincke-Bloch,  H.  102 

Eeisch,  Chr.  16 

V.  Eeitzenstein,  F.  81 

Eeutter,  H.  109 

Eeynaud,  L.  9 

van  Ehijn,  M.  132 

Eid,  L.  36 

Eiegel,  J.  36.  124 

Eiesch,  H.  72.  121 

Eieß,  L.  19 

Eisi,  N.  69 

Eitter,  M.  1.  4 

Eodenberg.  C.  92 

Eörig,  F.  103 

Eoessingh  4 

Eötting,  F.  83 

Eogge,  H.  60 

Eose,  H.  71 

Eoseustock,  E.  42.  45.  85.  88 

Eossi,  M.  123 

— ,  T.  103 

Eotli,  F,  72 

— ,  K.  25 

Eound,  J.  H.  74.  83.  93 

Eoussel  83 

Eoviglio,  A.  27 

Eudolph.  F.  105 

Eübel,  K.  105 

Euini,  M.  68 

Sabatier,  P.  15 
Sabbadini,  E.  131 
Saitschick,  E.  15 
Salatiello,  G.  121 
Salomon,  E.  117 
Salvioli,  G.  54 
Salzmann,  L.  F.  74 
Samaran,  C.  140 
Sandn-s.  J.  E.  138 
dalla  Santa,  G.  125 
Savio,  F.  59 


Saxl,  F.  12 
V.  Scala,  E.  25 
Scaramella,  G.  131 
V,  Schaching.  0.  123 
Schäfer,  A.  15 
— ,  D.  52.  109 
— ,  K.  H.  22.  47.  116.  118 
Schaff,  D.  S.  123 
Schairer,  L.  1M3 
Schalk,  K.  135 
Schambach,  K.  9.  74.  75 
Schatten,  E.  133 
Scheffel,  P.  H.  7 
Scheffler,  K.  10 
Scheiwiler,  0.  31 
Schelenz,  E.  97 
Scheler,  S.  83 
Schiaparelli,  L.  59.  138 
Schiff  mann,  K.  28 
Schillmann,  F.  67 
Schlecht,  J.  130 
Schleese,  K.  106 
Schlüter,  0.  101 
— ,  W.  108 
Schlumberger,  G.  26.  85.  95. 

127 
Schmauch,  H.  125 
Schmeidler,  B.  8.  9.  63.  77. 

106 
Schmidt,  Gust.  68 
— ,  Ludw.  22.  29 
— ,  Eich.  50.  70 
Schmidt-Ewald,  W.  110 
Schraidt-Eimpler,  W.  106 
Schmitz,  E.  15 
Schmoller,  G.  103 
Schneider,  A.  6 
— ,  E.  128 

— ,  Fed.  32.  54.78.83.91.94 
— ,  Friedr.  126 
— ,  W.  67 
Schober,  G.  64 
Schönbaum,  H.  127 
Schönherr,  F.  45 
Schoenian,  E.  58 
Schöpp,  N.  97 
Schöppler,  H.  59 
Scholz,  E.  56.  115.  129 
Schrader,  J.  113 
Schranil,  E.  103 
Schreiber,  G.  71 
Schreuer,  H.  22 
Schröder,  E.  21.  63 
— ,  E.  39 

V.  Schroeder,  H.  G.  108 
Schrörs,  H.  60.  73 
V.  Schubert,  H.  5.  37 
Schüpferling,  M.  98 


Schürmeyer,  "W.  130 
Schulte,  A.  46.  102 
Schulte,  J.  48 
Schultze,  Alfr.  104 
Schwalm,  J.  112 
Schwark,  B.  61 
Schwartz,  E.  26 
— ,  G.  67 
Schwarz,  K.  98 
Schwarze,  W.  N.  123 
V.  Schwerin,  Cl.  21.  22.  29. 

40.  48 
Schwertmanu,  H.  58 
V.  Schwind,  E.  40 
Seckel,  E.  36.  138 
V.  Seckendorff,  E.  121 
Sedlacek,  A.  140 
Sedlcäk,  J.  123 
Seeberg,  E.  6 
Seeck,  0.  20 
Seeliger,  G.  1.  23.  101 
Sehring,  W.  121 
Seidenschnur,  "W,  46 
Seilin,  G.  69 
Sepp,  B.  31 
Serafini,  A.  83 
Sever,  J.  16 
Sicardi,  E.  95 
Siegl,  K.   123 
Siivestri,  D.  15 
V.  Simson,  B.  36.  85 
Singer,  H.  91 
— ,  S.  9 

Singermann,  F.  48 
V.  Sisic,  F.  127 
Slatarski,  W.  N.  127 
Smith,  E.  15 
Solari,  A.  20 
Soldevila,  F.  95 
Solmi,  A.  103 
Sombart,  W.  51 
Sommer,  Cl.  99 
Soranzo,  G.  93.  131 
Sorbelli,  A.  121.  137 
Spearing,  E.  27 
Spengler,  0.  10 
Sperling,  E.  57 
Spieß,  W.  101 
Spitzer,  L.  28 
Stäbler,  H.  3 
Staneff,  A.  127 
Stead,  M.  T.  65 
Steele,  F.  M.  72 
de  Stefano,  A.  91 
Stein,  E.  25.  26 
— ,  H.  61 
-,  W.  107 
Steinhausen,  G.  2 
10* 

147 


Stengel,  E.  140 
Stenton,  F.  M.  30 
Sternfeld.  R.  95 
Sthamer,  E.  89.  140 
Stieglitz,  D.  115 
Stievc,  F.  56 

Stimmin!?,   M.  88.  110.  136 
Stindt,  II.  80 
Stöckerl  D.  115 
Störmann,  A.  98.  134 
Stoeveu,  M.  105 
Stolz,  0.  118 
Stowasser,  0.  141 
Strecker,  K.  38.  61 
Strieder,  J.  106 
Ströbele,  H.  117 
Strzygowski,  J.  11 
Stutz,  ü.  40.  41.  71.  79.  86. 

106.  113 
Sudhoff,  K.  90 
Süßmilch,  H.  8 
Sundwall,  J.  20 
Swoboda,  K.  M.  12 

Tait,  J.  119 

Tallone,  A.  93 

Tangl,  G.  25 

— ,  M.  30.  31.  34.  80.  138. 

139.  140 
Tarducci,  F.  27 
Techen,  F.  104 
Teichmann.  E.  35 
Temperley,  Gl.  127 
Ter-Grigorian    Iskanderian, 

G.  72 
Terlizzi,  S.  94 
Terry,  S.  B.  119 
Thallöczy,  L.  127 
Thaner,  F.  65 
Theile,  F.  117 
Thimme,  H.  29 
Thompson,  J.  W.  110 
Thordeman,  B.  97 
Thorndike,  L.  96 
Tilemann,  H.  15 
ToUi,  F.  68 


Tondelli,  L.  68 

Tosi,  M.  139 

Tout,  J.  F.  101.  118.  136 

Troeltsch,  E.  4 

Twemlow,  J.  A.  126 

Uhlirz,  M.  54.  122 
Unwiu,  G.  119 

Vacandard,  E.  129 

Valois,  N.   116 

Vancsa,  M.  95 

Vattano,  M.  HS 

Verdun  di  Cantoguo,  P.  62 

Verger,  A.  15 

Vetter,  F.  31 

Viard,  J.  119 

Vidal,  J.  M.  116 

— ,  P.  117 

Vidier,  A.  136 

Vigener,  F.  52 

Villemagne,  A.  83 

Vinogradoff,  P.  20.  83 

Visconti,  A.  33 

Vogel,  W.  106 

Vogt,  E.  46 

Voigt,  K.  37 

V.  Voltelini,  H.  49.  51 

Vonschott,  H.  133 

Waas,  A.  50.  65 
Wagner,  G.  105 
Wahrheit,  H.  47 
Wallace,  R.  S.  119 
Wallis,  C.  126 
Walser,  E.  131 
Walther,  A.  135 
Warp,  F.  D.  72 
Weber,  Gertr.  129 
Wehling,  B.  98 
Weibull,  C.  77 
— ,  L.  73.  77 
Weinberger,  W.  137 
Weisbach,  W.  18 
Weise,  G.  12.  22 
Weller,  K.  87 
Wenck,  K.  15.  96.  98.  118 


Werminghoff,  A.  40.  43,  55. 

57.  117.  123.  125.  134 
Werner,  P.  107 
Wever,  L.  51 
Whitney,  J.  P.  67 
Wibel,  H.  102 
Wieczorek,  G.  71 
Wiedemann,  E.  89 
Wilhelm,  Fr.  141 
Will,  E.  111 

Wilmot-Buxton,  E.  M.  126 
Wilmotte,  M.  61 
Wilpert,  J.  12 
Wilser,  L.  7 
Wilson,  H.  A.  30 
Winkler,  E.  28 
Winter,  G.  41 
Wirz,  C.  130 
Witte,  H.  108 
j    97 

Wolkan,  R.  16.  130 
Wolzendorff,  K.  43 
Woodbine,  G.  E.  93 
Wopfuer,  H.  3.  4 
Worringer,  W.  10 
Wozasek,  B.  71 
Wunderlich,  B.  87 
— ,  E.  62 
Wutte,  M.  135 
Wutke,  K.  140 
Wyüe,  J.  H.  125 

Young,  G.  F.  19 

Zedier,  G.  17 
Zeglin,  D.  47 
Zeumer,  K.  86.  117 
Zeydel,  E.  H.  56 
Zibermayr,  J.  129 
Ziesemer,  W.  124 
Zimmermann,  H.  121 
Zoegger,  J.  22 
Zoepf,  L.  31.  62.  116 
Zonta,  G.  124 
Zucchelli,  N.  68.  121 
Zwierzina,  K.  117 
Zycha,  A.  43.  51.  109 


148 


Sachverzeichnis 


Adel  21.  46  f. 

Agrarwesen  3.  52 

Alterhimsausgang  20 

Altertumskunde ,    germa- 
nische 7 

Angelsachsen  30 

Aragonesische  Forschungen 
98 

Augustin,  Augustiner  4f.  42. 
133 

Avignoneser  Kurie  116 

Bannleihe  49.  66.  86 

Bauernstand  49 

Beginen  115 

Benedikt,   Benediktiner  22. 

129 
Bernhard  v.  Clairvaui  72 
Berthold  v.  Henneberg  135 
Berufsteilung,  städtische  104 
Bibliographie  135  ff. 
Bibliothekswesen  7.  36 
Biergelden  48 
Böhmen,  Mähren  37.  60. 109 
Bonifaz,  Apostel  30  f. 
—  VIII.  98  ff. 
Briefe  73.91.117,  120.  123. 

130  ff. 
Brüder  v.gemeinsaraenLeben 

133 
Bulgaren  127 
Burgenverwaitung  89 
Burgund    59 ;    Neuburgund 

125  ff. 
Bvzanz   25  ff.   54.    62.    64. 
'84.  127 

Canossa  67 
Chronologie  142 
Colonna  99 

Dänemark  60.  63.  77 

Dante  Ulf. 

Deutsche  Geschichte  (Ge- 
samtdarstellungen) 52 

Deutschherrenorden  107. 
124  f. 

Dichtung  8  f.  30.  38.  61  f. 
99.  106 

Dominikaner  96.  115.  132  f. 


Eigenkirchenwesen  24.  37. 
46.  65  ff. 

Eike  V.  Repgow  s.  Sachsen- 
spiegel 

Einhard  34  f.  36.  38 

Englische  Geschichte  19f.30. 
52.  70.  74.  83.  92.  97. 
100.  1181  122.  125  ff. 

Epigraphik  138 

Ezzelin  93 

Fehde  49 

Finanzgeschichte  51  f.  121 

Finanzpolitik,  päpstliche  92ff. 
116.  128 

Flämische  Kolonisation    110 

Formelbücher  140 

Forst  29 

Franziskusforschung,  Fran- 
ziskaner Uff.  90.  96 

Französ.  Geschichte  37.  61. 
83.  93.  100.  103.  119. 
1251  128 

Französ.  Kultureinfluß  9 

Freie  48 

Freigrafschaften  (Feme)  49  f. 

Friedensidee  55 

Friedrich!.,  Kaiser  72fl  141 

—  IL,  Kaiser  17.  71.84ff.  140 

Geißler  94 
Geldkurs  116 
Genua  89.  97.  127 
Geographie,  historische  142 
Gerichtsbarkeit,  geistliche  90. 

13:i 
Gerichtswesen  29.  48  ff. 
Germanen,  Name  21 
Geschichtsschreibung    1.    8. 

52.    58.    63.   70.    73.   77. 

79.   85.  871   90.  93.  95. 

98.  112.  116.  137 
Geschichtsstudium  18 
Geschworenengericht  50.  70 
Goldene  Bulle  117 
Gothik  10.  13 
Gregor  1.  27.  1391 
-  VII.  64 ff. 


Habsburger    95.    99  f.    113. 

129.  135.  1411 
Hamburg-Bremer  Erzb.  31. 

63 
Handelsgeschichte    28.    72. 

105  ff. 
Handschriftenkunde  131.137. 
Hanse  106fl 
Heeresfolge  49 
Heinrich  VI.,  Kaiser  78 ff. 

—  d.  Löwe  74  fl  1021 
Hildegart  v.  Bingen  72 
Humanismus  8.  14.  17.  119. 

129fl 
Hundertschaft  21 
Huß,  Hussiten  1221 

Immunität  651  102 
Imperiaüsmus  s.Kaiserpolitik 
Innozenz  III.  82  fl  1401 
Innozenz  IV.  91  fl  141 
Inquisition,  kirchl.  90 
Inquisitionsprozeß  50 
Investiturstreit  64  ff. 
Islam  261 

Italienische  Geschichte  19. 
531  .09.  62.  741  78  fl 
82.  881  113;  italienische 
Städte  103 

Jeanne  d'Arc,  Jungfr.  v.  Or- 
leans 126 
Johann  XXIL  98.  1161  141 
Juden  48.  87 

Kaiserkrönung  56  ff.  86 
Kaiserpolitik  53.  66 
Kaisersage  56 
Kaiserwahl  79.  88.  114 
Kanonistische  Studien  36.  65. 

68.  71.  86.  91.  114 
Kapitalismus  51.  106 
Kardinalskollegium    68.    82. 

91.  97.  117.  1291 
Karl  d.  Gr.  34  fl  137 

—  IV.,  Kaiser  1171  140 

—  V.  Anjoii  94 
Karolingerzeit  27  ff.  142 
Katharina  v.  Siena  120  f. 


149 


Ketzerei  6.  56.  83.  90.  99 

Kirchengeschichte,  allg.  5 f. 
121 

Kirchenreform  128  f.  132  ff. 

Kirchenstaat  31  ff.  117 

Königsgut  50.  87 

Königswahl  87  f. 

Konstautinische  Schenkung 
33.  57 

Konzilien :  Konstant.  (553) 
26;  Lyon  (1245)  92;  Pisa 
(1409)  122;  Konstanz 
(1414)  1241  12H;  Basel 
(1431)  126.  129;  Siena 
(1423)  128;  Ferrara-FIo- 
renz  (1438)  lvi9 

Kreuzzüge  72.  84  f.  93.  95. 
127 

Kulturgeschichte  1  ff. 

Kunst,  bildende  11  ff.  22. 
38.  71 

Kunstphilosophie  9f 

Kurfürstentum  871 117.  129 

Landfrieden  121 
Landstände  44.  111 
Langobarden  27.  54 
Lehenswesen  281  43  f. 
Lombardei  911 
Ludwig  d.  Fr.  36 
—  d.  ß.  112fl  125' 

Manfred  94 
Markgenossenschaft  3 
Marktprivilegien  101  f. 
Maß-  und  Gewichtswesen  38. 

107 
Mathilde  v.  Tuszien  68 
Maximilian  L,  Kaiser  135 
Medizingeschichte  6 
Merowingerzeit  22  ff.   140 
Ministerialien  47 
Minnesang  9 
Münzweseu  23.  87.  142 
Muntherrschaft  66.  81 
Mystik  1151 

Naturgefühl  8 
Normannen  37.  70 
Norwegen  77 

Orienteinflüsse  9.   111 

Osmanen  s.  Türken 

Osten ,     Gerinanisation    des 

deutschen  98.  108  fl 
Ottonen  531  58  fl  66 

Paläographie  33.  137  f.  140 
Palimpseste  137 


Papstgeschichte  19.  27. 31  fl 
371  58.  62  fl  73.  78  fl 
82 fl  96 fl  114fl  128 fl 
141 

Papstwahl  91.  97.  130 

Pataria  67 

Patrozinieuforschung  24 

Periodisierung  8.  17  f.  42.  82 

Petrarca  14.   119 

Pfleghafte  48 

Philosophiegeschichte   6.  96 

Pippin  31  fl 

Polen  60.  109.  124 

Polo,  Marco  97 

Prämonstratenser  71 

Pseudoi.sidor  36 

Publizistik  64. 112.  115.122. 
1241   131 

Rechtsanschauung  42 
Rechtsgang  .'iO 
Rechtsgeschichte  39  ff.   129 
Rechtsquellen   221   29.  41. 

851 
Regalienrecht  81 
Registerwesen  139 
Reichsacht  51 
Reichsfürstenstand  45 1 
Renaissance  14  ff.   130fl 
Rienzo  161  117 
Ritterstand  9.  47 
Römische   Volkssouveränität 

58 
Rudolf  V.  Habsburg  95 
Ruprecht  v.  d.  Pfalz   1211 

Sachsenspiegel  49.  851 

Salier  62  fl 

Salinen  51 

Schisma  119fl 

Schöffenbarfreie  48 

Scholastik  s.  PhilosoiAie- 
geschichte 

Schulwesen  6 

Schweden  63.   73 

Schweiz  50.  69.  87. 113. 130 

Schwurgericht  s.  Geschwore- 
nengericht 

Seewesen ,    Seeschiffahrt, 
Flotte  89.  106 

Serben  127 

Siegelkunde  141  f. 

Sittengeschichte  83.  87.  113 

Sizilien  70 fl  78.  821  89. 
941  98 

Slowenen  25 

Spanische  Geschichte  41. 
128.  134 


Spolienrecht  81 

Staat  43  fl  851  96 

Staat  und  Kirche  5.  25f.  30fl 

63 fl  71.    731   78  fl   82. 

90 fl  93.  lllfl  122 
Städtewesen  lUOfl 
Stadtprivilegien  102 
Stadtratsverfassung  102  ff. 
Stadtverwaltung  104 
Stadtwirtschaft  1041 
Staufer  72  fl  84  ff. 
Steuern  1221 
Steuerfreiheit  der  Geistlichen 

90 

Templerorden  98 
Territorien  (Landeshoheit)44. 

88.  90.  1101  184 
Toskana ,    Reichsverwaltung 

54.  94.  121 
Türken  (Osmanen)  127.  130 

Unfreie  43 

Ungarn  91.  127 

Urbare  51 

Urkundenfälschungen  31. 33. 
63.  66.  14ul 

Urkundenforschung  611  69. 
731  751  83.  89.  92.  971 
104.  107.  118.123.  138  fl 

Vagantenpoesie  81 
Vandalen  20 
Venedig  20.  84.  103 
Verkehrsgeschichte     7.    87. 

108;  vgl.  Handel 
Vogtei  651 

Wachszinsige  48 
AVappenkunde  142 
Weinsberg  59.  72 
Weistümer  41 
Weltanschauung ,     Weltbild 

61  96 
Weltgeschichte  19 
Wenzel  121.   140 
Westgoten  20 
Wiciif  122 

Widerstandsrecht  421  86 
Wirtschaftsges<hichte   2.   3. 

25.271511  54.94.  1041 
Wormser  Konkordat  69 
Wüstungen  51 

Zi.sterzienser71.97.113. 129 
Zünfte  103.  105 
Zweikampf  49.  76.  95 


150 


Druck  von  Friedrich  Andreas  Perthes  A.-Q.  Gotha 


Wissensch  ältliche 
Forschungsberichte 

Herausgegeben  von  Professor  Dr.  Karl  Hönn 

Geisteswissenschaftliche  Reihe 
1914—1920 


Neuere  deutsche  Literaturgeschichte 


Verlag  Friedrich  Andreas  Perthes  A.-G.  Stuttgart-Gotha  1922 


Neuere  deutsche 
Literaturgeschichte 


bearbeitet 


von 


Paul  Merker 

Professor  an  der  Universität  Greifswald 


Verlag  Friedrich  Andreas  Perthes  A.-G.  Stuttgart-Gotha  1922 


Alle  Rechte,  einschließlich  des  Übersetzungsrechtes,  vorbehalten 


Vorwort 

Als  der  Verlag  mit  dem  Anerbieten  an  mich  herantrat,  für  seine 
„Wissenschaftlichen  Forschungsberichte"  als  Ergänzung  zu  der  von 
Baesecke  bearbeiteten  „Deutschen  Philologie"  i.  e.  S.  das  Referat  über 
die  „Neuere  deutsche  Literaturgeschichte"  zu  übernehmen,  ging  ich  nicht 
ungern  darauf  ein,  schien  es  mir  doch  ebenso  für  die  fachwissenschaft- 
liche Entwicklung  erwünscht  wie  im  eigenen  Interesse  heilsam,  die  durch 
die  äußeren  Verhältnisse  der  Kriegszeit  und  die  inneren  Stimmungen 
der  ersten  Nachkriegsjahre  mehr  oder  weniger  gelockerten  Beziehungen 
zu  den  neueren  Erscheinungen  der  literarhistorischen  Wissenschaft  durch 
einen  summarischen  Überblick  wieder  fester  zu  begründen.  Im  Laufe 
der  beiden  letzten  Jahre  hat  mich  freilich  diese  eingegangene  Verbind- 
lichkeit oft  genug  bedrückt.  Äußere  und  persönliche  Gründe,  besonders 
meine  unterdessen  erfolgte  Berufung  nach  Greifswald,  die  damit  erwach- 
senen neuen  beruflichen  Verpflichtungen  und  die  Entfernung  von  groß- 
städtischen Verlags-  und  Bibliotheksverhältnissen  traten  vielfach  hem- 
mend in  den  Weg.  Vor  allem  aber  kam  mir  die  Schwierigkeit  der 
Arbeit  erst  im  Laufe  der  Zeit  zu  vollem  Bewußtsein.  Bei  dem  Mangel 
jeglicher  bibliographischer  Vorarbeiten,  wie  sie  durch  das  Stocken  der 
großen  referierenden  Organe  bedingt  war,  stellte  schon  die  rein  sam- 
melnde und  ordnende  Tätigkeit  keine  leichte  Aufgabe  dar.  Nach  Aus- 
scheiden einer  großen  Anzahl  völlig  wertloser  oder  doch  die  Wissen- 
schaft wenig  fördernder  Erscheinungen  blieben,  ohne  die  170  nur  biblio- 
graphisch verzeichneten  Nachträge  vorwiegend  aus  den  Jahren  1920  bis 
1922,  fast  600  Bücher  und  größere  Aufsätze  zur  Bearbeitung  übrig.  Es 
liegt  auf  der  Hand,  daß  eine  solche  so  große  Zeiträume  und  eine  Fülle 
von  Erscheinungen  umfassende  Berichterstattung  gewisse  unvermeidliche 
und  mir  sehr  wohlbewußte  Ungleichheiten  und  Mängel  enthält.  Da  der 
deutsche  Buchhandel  bei  der  Schwierigkeit  seiner  gegenwärtigen  Lage 
mich  leider  nur  ganz  wenig  durch  Zusendung  von  Besprechungsexem- 
plaren  unterstützte,   und    eine   auf   der   Höhe    stehende   germanistische 


Spezialbibliothek  mir  nicht  zur  Verfügung  stand,  konnte  ich  das  eine 
oder  andere  der  in  den  allerletzten  Jahren  erschienenen  Bücher  an  meinem 
gegenwärtigen  Wirkungsorte  nicht  in  die  Hände  bekommen.  Auch  sonst 
brachte  es  der  immer  weitergehende  Fluß  der  Neuerscheinungen  und 
die  Schwierigkeit,  an  entlegener  Stelle  herausgekommene  Forschungen 
zur  Benutzung  zu  erhalten,  mit  sich,  daß  das  Grundprinzip,  in  den 
Bericht  alle  Werke  der  Jahre  1914  — 1920  aufzunehmen  und  nur  die 
Erscheinungen  der  beiden  letzten  anderthalb  Jahre  dem  bibliographischen 
Anhang  zu  überweisen,  nicht  ganz  streng  durchgeführt  werden  konnte, 
und  besonders  das  Jahr  1920,  das  infolge  der  verzögerten  Erscheinung 
dieses  Referates  erst  nachträglich  in  die  Berichterstattung  einbezogen 
wurde,  mit  einer  teils  darstellenden,  teils  nur  bibliographisch  verzeich- 
nenden Berücksichtigung  eine  ungleichmäßige  Behandlung  erfuhr.  Auch 
in  der  Ausführlichkeit  der  Berichterstattung  wird  man  vielleicht  der 
einen  oder  anderen  Dissertation  etwas  zuviel  Raum  eingeräumt  finden, 
während  in  anderen  FäUen  dem  Leser  unter  Umständen  eine  eingehendere 
Behandlung  erwünscht  gewesen  wäre.  Hier  war  der  Umstand,  daß 
die  in  den  letzten  Jahren  besonders  oft  genannten  Bücher  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  dem  Benutzer,  sei  es  in  Originalform,  sei  es  durch 
eingehende  Sonderanzeigen,  bereits  bekannt  waren,  für  einen  nur  kürzeren 
Hinweis  entscheidend,  der  an  sich  nicht  der  Bedeutung  des  betreffenden 
Buches  angemessen  sein  konnte.  Dem  Grundgedanken  dieser  Forschungs- 
berichte entsprechend  durfte  es  sich  im  ganzen  nur  um  eine  referierende 
Übersicht  handeln,  die  dem  kritischen  Moment  nur  in  allgemeinen  Ur- 
teilen über  den  Wert  oder  Unwert  der  einzelnen  literarhistorischen 
Arbeiten  und  dem  Hinweis  auf  ihre  Hauptresultate  Rechnung  trug  und 
sich  auf  Einzelausstellungen  nicht  einließ. 

Meiner  Frau   und   treuen  Mitarbeiterin    sei    auch   an   dieser  Stelle 
für  unermüdliches  Mitschaffen  mit  herzlichem  Danke  gedacht. 

Merker 


Inhaltsübersicht 

Seite 

§  1.    Prinzipien  und  Methoden 1 

§  2.    Allgemeine  Literaturgeschichte 9 

§  3.    Bibliographien  und  Zeitschriften 17 

§  4.    Reformation  und  Humanismus 21 

§  5.    Das  Zeitalter  des  Barock 46 

§  6.    Aufklärung 57 

§  7.    Empfindsamkeit  und  Sturm  und  Drang 67 

§  8.    Klassizismus 74 

§  9.    Eomantik 89 

§  10.    Die  führenden  Dramatiker  des  19.  Jahrhunderts 106 

§11.    Das  junge  Deutschland  und  der  Zeitroman 116 

§  12.    Realismus 121 

§  13.    Neuklassizismus 128 

Bibliographie    der   in    den   Jahren    1920/22    erschienenen   Werke   und 

Nachträge 132 

Verfasser  namen 137 

Sachverzeichnis    141 


vu 


§  1.   Prinzipien  und  Methoden 

Es  ist  immer  ein  Zeichen  innerer  Kraft  und  verheißungsvoller  Ent- 
wickhing, wenn  eine  Wissenschaft  neben  der  praktischen  Alltagsarbeit 
und  Einzelforschung  sich  prinzipiellen  Fragen  und  methodischen  Er- 
wägungen zuwendet.  Liegt  in  solchem  Selbstbesinnen  mit  seiner  theo- 
retischen Anbahnung  neuer  Wege  und  Zukunftsmöglichkeiten  doch  ein 
jugendfrisches  Vorwärtsdrängen,  während  in  Zeiten  gesunkenen  Selbst- 
vertrauens und  wissenschaftlicher  Erlahmung  nur  ein  müdes  Fortspinnen 
des  einmal  aufgelegten  Fadens  zu  beobachten  ist.  Schon  geraume  Zeit 
vor  dem  Weltkrieg  war  die  deutsche  Literaturgeschichte,  nachdem  sie 
über  ein  Menschenalter  lang  fleißiger  und  ertragreicher,  aber  im  ganzen 
etwas  engumgrenzten  Forscherarbeit  obgelegen  hatte,  in  ein  solches  neues 
Entwicklungsstadium  eingetreten,  das  in  vieler  Hinsicht  eine  Verschiebung 
und  Bereicherung  der  Fachinteressen  brachte,  neue  Probleme  aufstellte 
und  die  alten  nicht  selten  in  andere  Beleuchtung  rückte.  Der  Tod  einer 
Anzahl  hochverdienter  Vertreter  der  literarhistorischen  Wissenschaft  —  ich 
nenne  nur  A.  Schönbach  (f  1911),  B.  Suphan  (f  191l),  J.  Minor  (f  1912), 
E.  Martin  (f  1912),  E.  Schmidt  (f  1913),  R.  M.  Werner  (f  1913), 
0.  Harnack  (f  1914),  R.  M.  Meyer  (f  1914),  W.  Creizenach  (f  1918)  — 
schien  auch  äußerlich  zu  dokumentieren,  daß  die  ältere  Forschergeneration 
langsam  zurückzutreten  begann  und  jüngere  Kräfte  mit  neuen  Idealen 
mehr  und  mehr  den  Kurs  bestimmten.  Die  eigentlichen  Wurzeln  für 
diese  immer  deutlicher  zur  Erscheinung  kommende  Umbildung  und  Aus- 
dehnung der  hterarhistorischen  Disziplin  aber  lagen  tiefer  und  waren  in 
den  schon  in  der  letzten  Zeit  des  kaiserlichen  Deutschland  leise  zu 
spürenden  Umwandlungen  der  allgemeinen  Welt-  und  Lebensanschauung 
begründet,  die  vom  Speziellen,  Stofflichen,  Persönlichen  einen  wachsen- 
den Zug  zum  Allgemeinen,  Geistigen,  Überpersönlichen  erhielt.  Spiegelt 
doch  die  einzelne  Wissenschaft  als  Teilerscheinung  des  Kulturganzen, 
solange  sie  nicht  einem  lebensfremden  Alexandrinertum  anheimfällt,  in 
der  Wahl  ihrer  Probleme  und  der  Art  ihrer  Durchführung  getreuHch 
die  Gesamtstimmung  einer  Zeit  wider.  —  Zwei  Fragen  sind  es,  um 
die  es  sich  bei  diesen  Erörterungen  besonders  handelte:  einmal  die  Be- 
deutung und  Stellung  der  deutschen  Literaturgeschichte  überhaupt  und 
andererseits  die  Methoden,  mit  denen  sie  ihre  wissenschaftlichen  Ziele 
verfolgt. 

In   ihrer   älteren    Entwicklungsphase,    die   etwa   die    beiden    ersten 
Drittel   des    19.  Jahrhunderts    umfaßt,   hatte   sich    die  Erforschung  und 
Wissenschaftliche  Forschun^sberichte  VIII.  1 

1 


Darstellung  literarischer  Denkmäler  der  nationalen  Vergangenheit  noch 
nicht  recht  zum  Range  einer  selbständigen  Wissenschaft  durchgerungen. 
Sie  wurde  entvveder  von  Vertretern  anderer  Disziplinen  gewissermaßen 
nebenberuflich  mit  erledigt  und  entbehrte  in  den  Händen  von  Historikern, 
Philosophen,  Theologen,  Kunstgelehrten  und  Journalisten,  so  vortrefflich 
einzelne  ihrer  Leistungen  waren,  des  festen  wissenschaftlichen  Unter- 
grundes und  einer  tieferen  methodischen  Schulung.  Oder  aber  sie  wurde 
von  der  neubegründeten  Wissenschaft  von  der  deutschen  Philologie, 
deren  Hauptinteressen  durchaus  auf  sprachlichem,  mythologischem,  sagen- 
geschichtlichem  und  volkskundlichem  Gebiete  lagen  und  in  der  Haupt- 
sache nur  die  Welt  des  deutschen  Mittelalters  umspannten,  im  allgemeinen 
bloß  mit  einer  Nebenrolle  bedacht,  so  grundlegende  Erkenntnisse  auch 
von  dieser  Seite  ausgingen.  Die  fachfremde  Behandlung  jener  früheren 
Entwicklungsstufe  hat  die  Literaturgeschichte,  wenn  wir  von  der  mehr 
oder  weniger  zufälligen  dilettantischen  Mitarbeit  einzelner  absehen,  heute 
im  ganzen  überwunden,  indem  ein  eigener  Stand  von  Literarhistorikern 
mit  besonderen  Lehrkanzeln  sich  ausgebildet  hat.  Um  ihre  volle  An- 
erkennung von  Seiten  der  altdeutschen  Philologie  dagegen  kämpft  sie  noch 
heute.  So  wird  es  begreiflich,  daß  auch  einige  jüngst  erschienene,  sonst 
ihren  Zweck  vortrefflich  erfüllende  Studienratschläge  und  Gebietsum- 
grenzungen altdeutscher  Philologen  (v.  d.  Leyen,  Das  Studium  der 
deutschen  Philologie,  München  1913;  G.  Bäsecke,  Wie  studiert  man 
Deutsch?  München  1917;  V.  Michel,  Über  Begriff  und  Aufgabe  der 
deutschen  Philologie,  Jena  1917)  mehr  oder  weniger  die  Literaturgeschichte 
nur  stiefmütterlich  behandeln.  Und  doch  kann  es  nicht  mehr  zweifelhaft 
sein,  daß  die  literarhistorische  Forschung,  so  dankbar  sie  auf  die  jahr- 
zehntelange Verkoppelung  mit  der  reinen  Philologie  zurückblickt  und 
so  notwendig  auch  für  die  Zukunft  nahe  Berührungen  und  wechsel- 
seitige Befruchtungen  sind,  sich  nachgerade  zu  einer  selbständigen  Wissen- 
schaft ausgewachsen  hat,  deren  eigenwertige  Bedeutung  über  kurz  oder 
lang  in  speziellen  Ordinariaten  an  allen  deutschen  Universitäten  zum 
Ausdruck  kommen  muß.  Notwendig  dafür  freilich  ist,  daß  das  gegen- 
wärtig vielfach  fast  verlorengegangene  Gefühl  von  der  inneren  und 
äußeren  Einheit  dieser  über  tausendjährigen  literarischen  Kultur  Deutsch- 
lands wieder  voll  zum  Bewußtsein  kommt  und  die  Sezessionsansprüche 
einer  besonderen  neueren  deutschen  Literaturgeschichte  zurückgedrängt 
werden.  Rein  entwicklungstechnisch  betrachtet  hat  diese  seit  dem  letzten 
Drittel  des  19.  Jahrhunderts  sich  ausbildende  und  in  den  jüngst- 
vergangenen Jahrzehnten  zu  überragender  Bedeutung  gelangte  neuzeit- 
liche Literaturwissenschaft,  ganz  abgesehen  natürlich  von  der  Fülle  ihrer 
Resultate,  ihre  zweifellosen  Verdienste  darin,  daß  sie  die  literargeschiclit- 
liche  Forschung  von  der  Vorstellung  einer  nur  philologischen  U'eil- 
disziplin  oder  eines  mehr  oder  weniger  dilettantischen  Studiengebietes 
befreite  und  zu  voUwissenschafthchem  Range  erhob.  Dringend  wünschens- 
wert aber  ist  nun,  dal.5  diese  als  selbständiges  Gebiet  anerkannte  literar- 
historische Wissenschaft  nunmehr  ihre  so  erfolgreichen  Emanzipations- 
bestrebungen auch    auf   die   mittelalterliche  Hälfte   ausdehnt  und  durch 

2 


Ablösung  der  literargeschichtlichen  Probleme  jener  früheren  Jahrhunderte 
aus  dem  Verband  der  vorwiegend  sprachlich  -  antiquarisch  gerichteten 
altdeutschen  Philologie  ihren  Herrschaftsbereich  auch  voll  ausfüllt.  So 
war  es  zu  begrüßen,  daß  J.  Petersen  in  seiner  Schrift  „Literatur- 
geschichte als  Wissenschaft"  (1914);  die  einige  zuvor  in  der  Germanisch- 
Romanischen  Monatsschrift  erschienene  Aufsätze  etwas  verändert  und 
erweitert  zusammenfaßt,  das  hterar historische  Gesamtgebiet  einer  syste- 
matischen Betrachtung  und  kritischen  Prüfung  unterzog,  indem  er  die 
Stellung  der  älteren  und  neueren  Literaturgeschichte  zu  den  benach- 
barten Wissenschaften,  besonders  innerhalb  des  Rahmens  der  deutschen 
Philologie,  beleuchtete  und  vom  Standpunkt  historischer  Beurteilung  aus 
eine  Reihe  methodischer  Fragen  und  allgemeinerer  Gesichtspunkte  klar 
und  anregend  untersuchte. 

Handelte  es  sich  Mer  darum ,  die  im  letzten  Menschenalter  immer  mehr  zum 
Ausdruck  gekommene  wissenschaftliche  Vollwertigkeit  der  literargeschichtlichen  Dis- 
ziplin durch  eine  prinzipielle  Erwägung  und  kritisierende  Rückschau  auch  theoretisch 
zu  erweisen,  so  gingen  mehrfach  pädagogische  Bestrebungen  der  letzten  Jahre  darauf 
hinaus,  die  schulische  Behandlung  deutscher  Literaturdenkmäler  mit  der  Belehrung 
über  andere  Zweige  des  nationalen  Kulturlebens  und  der  heimatlichen  Naturkunde  zu 
ver(|uicken  und  zu  einem  höheren  Begriff  der  Deutschkunde  zusammenzufügen.  Der 
starke  vaterländische  Impuls,  der  namentlich  in  den  ersten  Kriegsjahren  durch  das 
deutsche  Volk  hindurchging,  und  das  bittere  Gefühl,  sich  auch  im  neutralen  Ausland 
dauernd  ungerecht  beurteilt  zu  sehen,  ließen  begreif Uch erweise  in  den  reformpäda- 
gogischen Erörterungen  diese  nationaldeutsche  Note  besonders  stark  anklingen.  In 
diesem  Sinne  legte  z.  B.  "W.  M.  Becker  in  einem  „Deutschkunde  oder  Germanistik?" 
betitelten  Aufsatz  der  „Grenzboten''  (1917;  Jahrg.  76,  S.  137—146)  den  Plan  eines 
einheitlichen  Faches  vor,  das  in  seinen  weiten  Grenzen  deutsches  Leben,  deutsche 
Natur  und  deutsche  Vergangenheit  in  allen  ihren  verschiedenen  Erscheinungsformen 
umfassen  sollte.  Schoß  eine  solche  rein  volkstümlich  orientierte  Pädagogik  entschieden 
über  das  Ziel  hinaus,  indem  die  von  derselben  Lehrpersönlichkeit  danach  verlangte 
Beherrschung  ganz  heterogener  Stoffgebiete  unter  dem  nur  äußerlich  einenden  natio- 
nalen Gesichtspunkt  die  Gefahr  oberflächlicher  Behandlung  nur  zu  nahe  legte,  so  hatte 
diese  Strömung  doch  auch  ihr  Gutes,  soweit  sie  sich  in  annehmbaren  Grenzen  hielt. 
Das  Pflanzen-  und  Tierleben,  Staat  und  Recht,  Handel  und  Wirtschaft  u.  a.  m.  konnten 
unmöglich  in  diese  germanistische  Wissenschaft  einbezogen  werden.  Wohl  aber  war 
es  vielfach  förderlich,  daß  man  in  dieser  deutschkundlichen  Disziplin  neben  der 
Literatur-  und  Sprachgeschichte  auch  der  übrigen  geistigen  Kultur,  besonders  der 
Religion,  bildenden  Kunst  und  Musik,  mit  ihren  parallelen  Entwicklungstendenzen 
mehr  Beachtung  als  bisher  schenkte.  In  dieser  Hinsicht  war  die  wähi'end  des  Krieges 
erfolgte  Erweiterung  der  „Zeitschrift  füi'  den  deutschen  Unterricht",  deren  wissen- 
scbaftliches  Niveau  sich  schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren  erfreulich  gehoben  hatte, 
zu  einer  ,, Zeitschrift  für  Deutschkunde"  mit  allgemeineren  Interessen  wohl  begründet. 
Die  1917  unter  Beihilfe  einer  Reihe  von  Mitarbeitern  von  AV.  Hofstätter,  dem 
einen  Herausgeber  dieser  Zeitschrift,  bearbeitete  „Deutschkunde"  legte  in  populärer, 
aber  gediegener  Form  dar,  was  alles  an  deutscher  Art  und  Kunst  unter  diesen  Ge- 
sichtspunkt fällt  und  geeignet  ist,  in  Leben  und  Schule  das  Selbstbewußtsein  des 
•Jeutschen  Menschen  zu  heben.  Von  dieser  pädagogischen  Neueinstellung  bleibt  natür- 
lich der  durchaus  selbständige  Charakter  der  rein  wissenschaftlichen  Literaturgeschichte 
unbeeinträchtigt,  wenn  auch  hier  eine  engere  Berührung  mit  der  allgemeinen  kulturellen 
Vergangenheit  vielfach  anregend  wirken  könnte. 

Auffallend  lebhaft  wurden  daneben  im  Zeitraum  der  Berichtsjahre 
methodische  Fragen  erörtert,  die  schon  vorher  in  der  Diskussion 
wachsende  Bedeutung  gefunden  hatten  und  deren  Gegensätzlichkeit  be- 
sonders bei   der  Erörterung   über    die  Wiederbesetzung   des  durch  den 

1* 

3 


Tod  Erich  Schmidts  erledigten  Berliner  Lehrstuhls  offen  zutage  trat. 
Fast  ein  Jahrhundert  lang  hatte  die  zunächst  in  der  altdeutschen  Philo- 
logie glänzend  bewährte,  dann  besonders  von  der  Öchererschule  mit 
reichstem  Erfolg  auf  Probleme  der  neueren  deutschen  Literaturgeschichte 
übertragene  philologisch-historische  Methode  fast  unbeschränkt  geherrscht, 
indem  sie  die  Textkritik,  Entstehungsgeschichte,  Quellenanalyse  und 
biographische  Einzelforschung  in  den  Vordergrund  ihres  Interessenkreises 
stellte.  Seit  dem  Ende  des  19.  Jahrhunderts  aber  machten  sich  gegen 
diese  nicht  selten  zu  handwerksmäßig  und  einseitig  betriebene  Methode 
in  steigendem  Maße  Widersprüche  geltend,  die  dann  besonders  in  jüngster 
Zeit  zu  einer  fruchtbaren,  wenn  auch  gelegentlich  ziemlich  scharfen  Aus- 
einandersetzung der  gegnerischen  Ansichten  führten.  Teils  war  es  das 
dichterische  Individuum,  teils  war  es  das  geschaffene  Kunstwerk,  das 
man  durch  eine  neue  Beleuchtung  tiefer  zu  erfassen  suchte.  Nachdem 
schon  1907  A.  Sauer  in  seiner  bekannten  Prager  Rektoratsrede  nach- 
drücklich auf  die  engen  Beziehungen  von  „Literaturgeschichte  und 
Volkskunde"  hingewiesen  und  die  Wichtigkeit  des  stammesgeschicht- 
lichen Zusammenhanges  bei  der  Beurteilung  literarischer  Denkmäler  be- 
tont hatte,  baute  sein  Schüler  J.  Na  dl  er  diese  Anschauungen,  die  in 
der  Tat  ein  bisher  zu  wenig  beachtetes  Element  bei  der  historischen 
Betrachtung  deutscher  Dichtung  zu  Ehren  brachten,  theoretisch  und 
praktisch  weiter  aus.  Von  seiner,  auf  solchen  Voraussetzungen  fußenden 
Literaturgeschichte  wird  noch  des  näheren  zu  reden  sein.  Hier  kommt 
der  Versuch  einer  „W^issenschaftslehre"  in  Frage,  den  N.  im  21.  Bande 
des  Euphorion  (S.  1 — 63)  veröffentlichte.  Augenscheinlich  stark  von 
Rickert  beeinflußt  sucht  er  in  eingehender,  freilich  vielfach  scholastisch- 
spitzfindiger  Weise  unter  starker  Betonung  der  begrifflichen  Ordnungs- 
elemente die  logisch-erkenntnistheoretischen  Grundlagen  literargeschicht- 
licher  Forschung  herauszuarbeiten  und  kommt  mit  einer  Ablehnung  rein 
zeitlicher  Gruppierung  zu  dem  Schluß,  daß  nur  eine  familiengeschichtlich 
und  stammeskundlich  orientierte  Erfassung  des  Schrifttums  innerlich  be- 
gründet sei  und  zum  Wesen  der  Sache  vordringe.  So  fruchtbar  diese 
ganze  Methode  im  einzelnen  zweifellos  sein  kann  und  so  überraschende 
Erkenntnisse  ihr  N.  in  der  praktischen  Durchführung  seiner  Literatur- 
geschichte abzugewinnen  wußte,  so  sicher  ist,  daß  damit  eben  nur  eine 
Seite  der  literargeschichtlichen  Probleme  getroffen  wird  und  man  mit 
ihr  allein  niemals  den  ganzen  Fragenkomplex  löst.  Vor  allem  kommt 
dabei  das  ästhetisch-künstlerische  Moment  zu  wenig  zur  Beachtung.  Mit 
ihrer  Einstellung  auf  die  physiologische  Bedingtheit  des  Untersuchungs- 
objekts ist  diese  das  Schwergewicht  auf  die  Stammesherkunft  des  Dichters 
und  den  Entstehungsort  der  Dichtung  legende  Betrachtung  im  Grunde 
verwandt  mit  der  naturwissenschaftlichen  Geistesrichtung  der  siebziger 
und  achtziger  Jahre.  Man  wundert  sich  fast,  daß  diese  Methode  nicht 
zwei  bis  drei  Jahrzehnte  früher  zur  prinzipiellen  Erwägung  kam. 

Blieb  diese  stammeskundliche  Literaturgeschichte  auf  die  Prager 
Schule  beschränkt,  so  zogen  zwei  andere  miteinander  in  engeren  Be- 
ziehungen stehende  Forschungsrichtungen,  die  man  als  die  psychologische 


und  philosophische  bezeichnen  kann,  weitere  Kreise.  Beide  gingen  von 
Wilhelm  Dilthey  aus  oder  erhielten  doch  von  diesem  Philosophen,  dessen 
Wirkung  erst  jetzt  recht  spürbar  wurde,  starke  Anregungen.  Das  Spiel 
der  Lebenskräfte,  wie  es  in  der  beständigen  Wechselwirkung  zwischen 
der  individuellen  Psyche  und  den  allgemeinen  Zeitideen  zum  Ausdruck 
kommt,  bildet  ja  die  Spule,  um  die  sich  die  im  einzelnen  so  vielseitigen 
Gedankenfaden  Diltheys  spinnen.  Während  die  individualpsychologische 
Richtung,  die  besonders  den  Erlebnisvorgang  im  Inneren  der  schaffen- 
den Persönlichkeit  ins  Auge  faßt,  in  jüngster  Zeit  besondere  theoretische 
Erörterungen  nicht  anstellte,  wurde  die  philosophische  Methode,  die  den 
Niederschlag  der  allgemeinen  Weltanschauungskomplexe  und  bestimmter 
Denksysteme  weniger  im  schöpferischen  Individuum  als  im  geschaffenen 
Kunstwerk  untersucht,  mehrfach  behandelt.  Es  ist  wohl  kein  Zufall, 
daß  besonders  Forscher,  denen  das  Problem  der  Romantik  am  Herzen 
liegt,  sich  nach  dieser  Seite  hin  betätigt  haben,  spielt  doch  das  philo- 
sophische Element  im  Denken  und  Dichten  dieser  Epoche  eine  hervor- 
ragende Rolle.  Nachdem  früher  vor  allem  O.  Walzel  in  diesem  Sinne 
gearbeitet  hatte,  ist  es  neuerdings  in  erster  Linie  R.  Unger,  der  sein 
Augenmerk  vor  allem  auf  den  Ideengehalt  in  den  Werken  unserer  her- 
vorragenden Dichter  lenkt  und  den  philosophischen  Einschlag  und 
geistigen  Grundcharakter  zum  Gegenstand  eindringender  Studien  macht. 
Schon  1908  hatte  er  auf  die  Wichtigkeit  der  „Philosophischen  Probleme 
in  der  neueren  Literaturwissenschaft"  in  einem  Münchener  Vortrag  hin- 
gewiesen und  damit  diese  Forschungstendenzen,  die  sich  um  dieselbe 
Zeit  auch  in  der  Kunstgeschichte  und  Musikwissenschaft  zu  regen  be- 
gannen, in  der  literargeschichtlichen  Behandlung  zu  prinzipieller  Be- 
deutung erhoben.  Auf  sein  großes  Hamannbuch  (19 11),  das  eine  solche 
Verschiebung  der  allgemeinen  geistigen  Struktur  zum  Grundmotiv  der 
Darstellung  machte,  ließ  er  1917  die  aus  einem  Basler  Vortrag  hervor- 
gegangene Schrift  „Weltanschauung  und  Dichtung"  folgen,  die  nur  leider 
an  etwas  entlegener  Stelle  zur  Veröffentlichung  kam.  Freilich  handelt 
es  sich  hier  nicht,  wie  der  Haupttitel  vermuten  lassen  könnte,  um  eine 
direkte  Erörterung  der  inneren  Beziehungen  dieser  beiden  Kulturfaktoren 
zueinander.  Vielmehr  wird  das  Problem,  wie  übrigens  der  Untertitel 
auch  angibt,  gewissermaßen  indirekt  angefaßt,  indem  die  Denkarbeit 
Diltheys,  des  größten  Vertreters  dieser  Wissenschaftsrichtung,  in  nach- 
schöpferischer Analyse  und  ergänzender  Ausdeutung  zu  eindringhcher 
Darstellung  kommt.  Nachdem  einleitend  auf  den  engen  Zusammen- 
hang von  Dichtung  und  Weltanschauung  und  in  einem  raschen  Uber- 
bhck  über  die  wichtigsten  geschichtlichen  Erscheinungsformen  auf  die 
Bedeutung  dieser  Verbindung  gerade  für  die  Höhenpunkte  der  geistigen 
Entwicklung  hingewiesen  woi'den  ist,  werden  die  Erkenntnisse,  die 
Dilthey  der  historischen  Struktur  der  letzten  Entwicklungsphasen  dieses 
Problems  angedeihen  ließ,  nachgezogen  und  im  zweiten  Teil  die 
systematischen  Anschauungen  des  großen  Philosophen  über  diese  Fra- 
gen, besonders  seine  Dreitypentheorie,  zusammenfassend  und  kritisch  be- 
leuchtet. 


fcl  Unj^leich  mehr  noch  aber  wurde  während  der  letzten  Jahre  eine 
dritte  Richtung:  erörtert,  die  den  iSchwerpunkt  nicht  auf  den  ideen- 
geschichtlichen Gehalt,  sondern  auf  die  ästhetisch-künstlerische  Seite  der 
Dichtung  und  auf  das  ihr  innewohnende  Formproblera  legt.  Zwar 
waren  auch  früher,  selbst  in  der  rein  philologisch -historischen  Schule, 
die  formalen  Gesichtspunkte  nicht  ganz  vernachlässigt  worden,  und  fein- 
fühhge  Literarhistoriker  und  Pädagogen  hatten  es  von  jeher  für  ihre 
Pflicht  gehalten,  auch  diesen  Fragen  ihre  Aufmerksamkeit  zuzuwenden. 
Vielfach  aber  war  man  dabei  nicht  viel  über  eine  schönrednerische 
Prädikatserteilung  hinausgekommen.  Wo  aber  ernstere  technische  und 
formanalytische  Untersuchungen  angestellt  wurden,  standen  sie  zumeist 
unter  dem  Eindruck  einer  rein  rationalistischen  Auffassung,  die  das 
einzelne  Formelement  registrierend  herausgriff  und  von  einer  Einfühlung 
in  das  Gesamtkunstwerk  sich  fernhielt.  Jetzt  sollte  diese  Ergründung 
des  Formproblems  durch  eine  intuitive  Versenkung  in  das  künstlerische 
Werk  angebahnt  und  zum  Kernpunkt  der  literarwissenschaftlichen 
Forschung  gemacht  werden,  die  damit  im  Grunde  sich  nur  als  eine  Art 
angewandter  Ästhetik  darstellen  würde.  In  zahlreichen  Aufsätzen  lite- 
rarischer und  kunstwissenschaftlicher  Zeitschriften  sind  die  Grundlagen 
und  Ziele  dieser  ästhetischen  Methode  in  den  Berichtsjahren  erörtert 
worden. 

Auf  germanistischer  Seite  hat  mit  theoretischen  Darlegungen  besonders  A.  Kober 
dafür  eine  Lanze  zu  brechen  gesucht  (vgl.  Germ. -Rom.  Monatsschrift  VII,  109 ff. : 
„"Wesen  und  Methoden  der  Literaturwissenschaft";  Zeitschr.  f.  Ästhet,  u.  alig.  Kunstw.  X, 
191  ff. :  „Der  Begriff  der  Literaturgeschichte'';  Logos  VI,  1 :  „Zur  philosophischen 
Voraussetzung  der  Literaturwissenschaft"). 

Zweifellos  hat  diese  in  erster  Linie  die  künstlerischen  Qualitäten 
des  Dichtwerks  betonende  Methode  ihre  hohe  Bedeutung  und  die  Ent- 
wicklung unserer  Wissenschaft  hat  den  geschärften  Blick  für  diese 
spezifisch  ästhetischen  Werte  und  die  formanalytischen  Erkenntnisse  als 
wertvollen  Zuwachs  zu  buchen.  Der  öfters  zu  beobachtenden  Über- 
heblichkeit und  Unduldsamkeit  dieser  Richtung  anderen  Betrachtungs- 
arten gegenüber  aber  ist  mit  Nachdruck  darauf  hinzuweisen,  daß  auch 
diese  Methode  allein  niemals  die  literarhistorischen  Probleme  ganz  lösen 
wird,  sondern  nur  durch  die  sich  ergänzende  Zusammenarbeit  der  ver- 
schiedenen Behandlungsweisen  eine  erschöpfende  Erkenntnis  gewonnen 
werden  kann.  Wie  übrigens  die  verwandten  Bestrebungen  in  der  Ro- 
manistik und  Anglistik,  in  der  Kunstgeschichte  und  ebenso  in  manchen 
literargeschichtlichen  Arbeiten  ausländischer  Literarhistoriker  zeigen, 
handelt  es  sich  dabei  utn  eine  allgemeinere  Strömung  unserer  Tage, 
die  letzten  Endes  aus  dem  erhöhten  Erlebnisdrang  und  dem  anti- 
intellektualistischen  Zuge  der  modernen  Weltanschauung  geboren  ist. 

Drei  Forderungen  sind  es,  soviel  ich  sehe,  die  in  den  theoretischen 
und  praktischen  Äußerungen  dieser  methodischen  Richtung  namentlich 
zutage  treten  und  für  sie  charakteristisch  sind  :  1.  Das  wissenschaftliche 
Interesse  hat  sich  in  erster  Linie  mit  der  Erklärung  des  einzelnen  Kunst- 
werkes zu  befassen,  das  als  eine  überindividuelle  Erscheinung  durchaus 

6 


eigenwertige  Bedeutung  hat  und  losgelöst  von  seinem  individuellen 
Schöpfer  vor  allem  nach  seinen  Formelementen  zu  betrachten  ist.  Dio 
Literaturgeschichte  ohne  Verfassernamen  wurde  so  zu  einem  viel  nacb- 
gesprochenen  Schlagwort.  Mit  ihrer  Beiseiteschiebung  der  Entstehungs- 
geschichte ,  der  zeitgeschichtlichen  Bedingtheit  und  ähnlicher  Fragen 
richtet  sich  diese  rein  ästhetische  Betrachtung  somit  gegen  die  philo- 
logische Methode,  mit  ihrer  bewußten  Verleugnung  der  schöpferischen 
Persönlichkeit  und  der  von  diesem  Ausgangspunkt  in  das  Kunstwerk 
überfließenden  stotflichen  und  formalen  Züge  wendet  sie  sich  gegen  die 
biographisch  -  psychologische  Methode,  mit  ihrer  nahezu  ausschließlichen 
Beachtung  der  Formqualitäten  steht  sie  schließlich  auch  der  vorwiegend 
ideenanalytisch  interessierten  philosophischen  Methode  fern.  2.  Da  diese 
literarwissenschaftliche  Forschung  es  nur  mit  den  sprachlichen  Kunstwerken 
von  unleugbar  ästhetischem  Wert  zu  tun  haben  will,  hat  nach  ihrer  Meinung 
alles  Unkünstlerische,  Ephemere  als  historischer  Ballast  und  bloßes  Zeit- 
dokument aus  dem  Interessenkreis  dieser  Wissenschaftsrichtung  auszu- 
scheiden. Daß  damit  ganze  Epochen,  die  für  unser  Empfinden  wenig 
künstlerische  Werte  hervorgebracht  haben,  unter  den  Tisch  fallen,  läßt 
die  Vertreter  dieser  ästhetischen  Methode  kühl,  die  denn  auch  nirgends 
sich  etwa  mit  dem  16.  und  17.  Jahrhundert  befassen  und  auch  in  den 
folgenden  Epochen  nur  eine  Spitzenauslese  betreiben.  Und  doch  scheint 
bei  aller  Anerkennung  dieser  methodischen  Richtung  um  die  bisher  ent- 
schieden vernachlässigten  Formprinzipien  die  Frage  begründet:  Haben 
wir  mit  unserem  doch  auch  nur  historisch  bedingten  Formempfinden  ein 
Recht,  über  Werke,  literarische  Gruppen  und  ganze  Stilrichtungen  das 
völlige  Verdammungsurteil  auszusprechen,  ja  sie  von  jeder  Beurteilung 
auszuschließen,  nur  weil  unserem  ästhetischen  Gefühl  diese  Dinge  als 
künstlerisch  wertlos  erscheinen?  3.  Da  das  heutige  Formgefühl  und 
ästhetische  Empfinden  als  absoluter  Maßstab  angelegt  wird,  stehen  be- 
greiflicherweise diejenigen  Werke  und  Kunstschulen,  die  bereits  von 
den  gleichen  oder  doch  ähnlichen  Formgesichtspunkten  getragen  sind, 
dieser  literarwissenschaftlichen  Methode  innerlich  am  nächsten.  Sie  be- 
schäftigt sich  deshalb  mit  besonderer  Vorliebe  nur  mit  der  Dichtung 
der  letzten  Generationen  oder  mit  moderner  Literatur.  Der  heutzutage 
in  allen  literargeschichtlichen  DiszipHnen  zu  beobachtende  Zug  zur  neueren 
und  neuesten  Zeit  ist  somit  auch  durch  diese  gegenwärtig  starken  An- 
klang findende  methodische  Richtung  mit  begründet. 

Mehr  oder  weniger  deutlich  lassen  sich  dabei  innerhalb  dieser  form- 
analytischen Betrachtungsweise  des  letzten  Jahrzehnts  zwei  Stufen  scheiden. 
Für  beide  gab  besonders  O.  Walz el  nachhaltige  Anregungen.  In  seiner 
früheren  Entwicklungsphase  hat  dieser  Zug  zur  Formerkenntnis  einen 
ausgesprochen  kunstpädagogischen  Charakter,  indem  die  Erweckung  und 
Stärkung  des  formalen  Sinnes  und  damit  eine  Anleitung  zu  vertieftem 
Kunstgenuß  als  Ziel  vorschwebte.  Während  der  Kriegsjahre  hat  sich 
neben  diesen  natürlich  noch  fortwirkenden  kunsterzieherischen  Be- 
strebungen wieder  ein  rein  wissenschaftliches  Problem  vorgedrängt,  näm- 
lich   die  Frage    nach    den   inneren  Gesetzen    der  Form    und  ihren  Ent- 


^vicklungsp^inzipien.  Epochemachend  wirkte  hier  H.  Wölfflins  auch 
llir  den  Literarhistoriker  wichtiges  Buch  „KunstgeschichtHche  Grund- 
begriffe, das  Problem  der  Stilentwickkmg  in  der  neueren  Kunst"  (1915). 
Es  ist  auf  der  Überzeugung  aufgebaut,  daß  neben  den  äußeren  Kultur- 
einflüssen  die  historische  Abfolge  der  Kunststile  abhängig  ist  von  ge- 
wissen immanenten  Kunstvoraussetzungen,  wie  sie  im  menschlichen  Sehen 
und  im  künstlerischen  Formen  selbst  gegeben  sind.  Indem  es  eine 
lieihe  sich  gesetzmäßig  ablösender  technischer  Begriffspaare  aufstellt, 
sucht  es  eine  Entwicklung  der  neueren  Kunst  gewissermaßen  von  innen 
beleuchtet  und  rein  aus  ihrem  subjektiven  und  objektiven  Material  er- 
klärt zu  geben.  Der  Versuch  lag  nahe,  diesen  Grundsatz  der  inneren 
Formgesetzmäßigkeit  nun  auch  auf  die  Literatur  zu  übertragen,  wenn 
auch  die  Gefahr  vorschneller  Übernahme  der  in  der  Kunstgeschichte 
gewonnenen  Erkenntnisse  bestand  und  in  der  Tat  nicht  immer  ver- 
mieden worden  ist.  Die  Aufgabe  jedenfalls  war,  zunächst  einmal  sich 
über  das  Wesen  und  die  Formeigenheiten  der  einzelnen  Gattungen  Klar- 
heit zu  schaffen  und  die  darüber  etwa  schon  geäußerten  Ansichten 
kritisch  zu  beleuchten. 

Hier  wirkte,  wie  erwähnt,  besonders  eine  größere  Anzahl  von  Aufsätzen 
0.  Walzols  aufhellend,  der  in  einem  an  den  „Deutschen  Abenden"  des  Berliner 
Zentralinstituts  für  Erziehung  und  Unterricht  gehaltenen  und  1916  gedruckten  Vor- 
trag auf  die  Notwendigkeit  einer  wissenschaftlichen  Erforschung  der  „künstlerischen 
Form  des  Dichtwerkes''  allgemein  hingewiesen  und  durch  formanalytische  Beobach- 
tungen besonders  zu  Lessings  „Emilia  Galotti",  Ibsens  ,,Rosmersholm",  Jean  Pauls 
Romanen,  Fontanes  „Jenny  Treibel",  Zolas  „Une  page  d'amour",  Ricarda  Huchs 
Garibaldiroman  praktische  Winke  gegeben  hatte.  Von  seinen  in  erster  Linie  der 
f'pischen  Kunstform  gewidmeten  Untersuchungen  sollen  hier  nur  folgende  Aufsätze 
Erwähnung  finden:  „Formeigenheiten  des  Romans'-  (Intern.  Monatsschr.  1914,  VIII, 
1329ff.),  „Formen  des  Tragischen"  (ebenda  1914,  VllI,  463 ff.  581  ff.),  „Die  Kunst 
der  Prosa"  (Zeitschr.  f.  d.  d.  Unterr.  1914,  XXVIII,  Iff.  81  ff.),  „Die  Kunstform 
der  NoveUe"  (ebenda  1915,  XXIX,  161  ff.),  „Roman  und  Epos"  (Das  liter.  Echo  1915, 
XVII,  581  ff.  657  ff.),  „Objektive  Erzählung"  (Germ.  -  Rom.  Monatsschr.  1915,  VII, 
161  ff.).  Der  diesem  Formanalytiker  vorschwebende  AVeg,  dui'ch  eine  „Wechselseitige 
Erhellung  der  Künste"  Klarheit  über  das  Wesen  der  einzelnen  Kunstzweige  und 
Formgattungen  zu  schaffen,  war  schließlich  Gegenstand  einer  besonderen  Darstellung, 
die  in  den  philosophischen  Vorträgen  der  Kantgesellschaft  veröffentlicht  wurde  (1917). 

Überblickt  man  in  diesen  und  so  manchen  verwandten  Unter- 
suchungen, die  hier  nicht  im  einzelnen  zu  Worte  kommen  können,  diese 
ganze  formalistische  Richtung  der  letzten  Jahre,  so  scheint  heute  schon 
deutlich  daraus  hervorzugehen,  daß  Wölfflins  genanntes  Buch  auch  hier 
epochemachend  wirkte,  insofern  nach  einer  Periode  rein  systematischer, 
gewissermaßen  zeitliche  und  räumliche  Verschiedenheiten  als  nur  schein- 
bar vorhanden  betrachtender  Formforschung  das  historische  Moment 
wieder  mehr  zu  seinem  Rechte  kommt,  nur  daß  neben  den  äußeren 
Entwicklungsimpulsen  die  inneren,  in  der  eigenen  Struktur  der  literari- 
schen Gebilde  liegenden  Entwicklungstendenzen  die  gebührende  Beach- 
tung finden. 

Von  anderer  Seite  ausgehend,  aber  letzten  Endes  demselben  Ziele 
der  Erklärung  der  historischen  Stilformen  zustrebend,  stellt  sich  ganz 
neuerdings   eine    weitere   Methode   dar,    für   die   P.  Merk  er   mehrfach 

8 


eingetreten  ist  und  die  er  als  „sozialüterarisehe''  Richtung  bezeichnet.  Sie 
sucht  aus  der  Erforschung  auch  der  Breiten  und  Tiefen  des  dichterischen 
Lebens  den  literarischen  Grundtypus  der  einzelnen  Epochen  näher  zu 
bestimmen  und  an  diesem  Maßstab  die  individuellen  Höhenleistungen 
zu  messen.  Indem  sie  besonders  den  Abwandel  und  die  Kreuzung  der 
literarischen  Stilformen  ins  Auge  faßt  und  im  Zusammenhang  mit  den 
umgebenden  Kulturverhältnissen  studiert,  will  sie  mit  der  Betonung  der 
allgemeinen  grundbildenden  Strömungen  und  Kräfte  in  das  innere  Ge- 
füge der  literargeschichtlichen  Entwicklung  eindringen.  Die  Haupttrieb- 
leder der  historischen  Stil  Wandlungen  und  ihi-er  Gesetzmäßigkeit  wird 
hier  nicht  im  gewissermaßen  mechanischen  Ablauf  technisch -formaler 
Voraussetzungen,  sondern  in  der  Einbettung  des  literarischen  Lebens  in 
die  Abfolge  kulturpsychologischer  Gesaratstimmungen  gesehen.  Da  in- 
dessen diese  Fragestellung  zumeist  erst  jenseits  des  Berichtszeitraums 
auftauchte,  hat  hier  nicht  näher  davon  die  Rede  zu  sein  (vgl.  biblio- 
graphischer Anhang  über  die  Erscheinungen  der  Jahre  1920  und  1921). 

§  2.   Allgemeine  Literaturgeschichte 

Die  in  den  jüngstvergangenen  Jahrzehnten  vorherrschende  Richtung 
zu  analytischer  Weltbetrachtung  ließ  wie  in  den  übrigen  Wissenschafts- 
gebieten so  auch  innerhalb  der  deutschen  Literaturgeschichte  den  Sinn 
und  die  Kraft  zu  einer  großzügigen,  die  Stoffmassen  geistig  durch- 
dringenden Synthese  vermissen.  Es  gab  wohl  eine  vielfach  ausgezeichnete 
Einzelforschung.  Aber  die  Neigung,  die  zahllosen  Sondererkenntnisse 
höheren  begrifflichen  Kategorien  einzuordnen  und  in  historischen  Ge- 
samtbetrachtungen zusammenzufassen,  war  nur  schwach  entwickelt.  So 
war  es  wiederum  bloß  der  Ausdruck  einer  allgemeinen  Zeitstimmung, 
daß  langehin  nur  eine  populäre  oder  doch  nur  halbwissenschaftliche 
Literaturgeschichtsdarstellung  das  Feld  beherrschte  und  daneben  die 
eigentlich  gelehrte,  das  Tatsachenmaterial  unter  neue  Gesichtspunkte 
stellende  Literaturgeschichtschreibung  fast  ganz  fehlte.  Der  neue,  die 
tieferen  Zusammenhänge  und  inneren  Beziehungen  betonende  Zeitgeist 
hat  auch  da  eine  Wendung  gebracht  und  das  Interesse  an  zusammen- 
fassenden Gesamtbetrachtungen  gefördert. 

Jahrzehntelang  war  es  von  den  Darstellungen,  die  den  ganzen  oder 
wenigstens  nahezu  vollständigen  Ablauf  der  literarischen  Entwicklung 
Deutchslands  vorführten,  im  Grunde  nur  Wilhelm  Scherers  „  Geschichte 
der  deutschen  Literatur"  gewesen,  die  trotz  ihrer  eleganten  äußeren 
Form  Anspruch  auf  wissenschaftliche  Vollwertigkeit  erheben  konnte  und 
auch  für  den  stoffkundigen  Fachmann  eine  Quelle  immer  neuer  Be- 
lehrung blieb.  Aber  Scherers  Werk,  das  1883  zuerst  hervorgetreten 
war  und  es  im  Laufe  eines  Menschenalters  auf  dreizehn  Originalauf- 
iagen  (die  13.  im  Jahre  1915)  gebracht  hatte,  brach  bekanntlich  mit 
dem  „Faust"  als  einem  „würdigen  Schluß"  ab,  und  der  vom  Verfasser 
beabsichtigte  Anhang,  der  eine  Zusammenstellung  der  Tatsachen  und 
eine  kurze  Charakteristik  der  nachgoetheschen  Zeit  bringen  sollte,  kam 


infolge  Scherers  frühem  Tode  (f  1886)  nicht  mehr  zur  Ausführung.  So 
war  es  entschieden  zu  begrüßen,  daß  die  nach  Ablauf  der  dreißigjährigen 
Schutztrist  zuerst  3  917  herausgokommene  „Volksausgabe"  des  berühmten 
Werkes,  die  auf  den  bibliographischen  Schlußteil  Verzicht  leistet,  in 
einem  aus  der  Feder  Oskar  M'alzels  stammenden  Anhang  die  Aus- 
tührungen  Scherers  bis  zur  Gegenwart  fortsetzt.  In  vier  knapp  ge- 
haltenen, gleichwohl  aber  ein  übersichtliches  Bild  gebenden  Abschnitten, 
die  die  Epoche  von  der  Julirevolution  bis  3  84  8,  die  Blütezeit  des  Realis- 
mus, die  Frühzeit  des  neuen  Reiches  und  die  Entwicklung  vom  Ein- 
druck zum  Ausdruck  schildern,  werden  die  Grundströmungen  gut  heraus- 
gearbeitet. Die  fast  epische  Ruhe  und  Plastik  der  Schererschen  Schil- 
derung hat  freilich  diese  Fortsetzung  ebensowenig  erreicht  wie  die  ältere 
Literaturgeschichte  des  19.  Jahrhunderts  von  R.  M.  Meyer,  neben  deren 
fast  ausschließlich  individualistischer  Beurteilung  die  Darstellung  Walzels 
mehr  stilgeschichtlichen  Erkenntnissen  zustrebt.  Die  knapp  gehaltene 
Skizze  aus  dem  Anhang  zu  der  Literaturgeschichte  Scherers  hat  Walzel 
dann  bedeutend  erweitert  zu  seinem  selbständig  erschienenen  Buche  „Die 
deutsche  Dichtung  seit  Goethes  Tod'^  (Berhn  1919).  In  den  Grund- 
linien mit  der  zwei  Jahre  vorher  Erschienenen  Arbeit  übereinstimmend 
sucht  diese  neue  Darstellung  in  Ergänzung  zu  A.  Sörgels  bekanntem 
Werke  besonders  die  jüngsten  Dezennien  deutscher  Dichtung  ausführ- 
licher darzustellen.  In  Einzelheiten  wird  man  natürlich  nicht  selten 
anderer  Meinung  sein  können  (die  Bedeutung  Hasenclevers  z.  B.  scheint 
mir  ebenso  überschätzt  wie  diejenige  Karl  Hauptmanns  unterschätzt) ; 
im  ganzen  betrachtet  aber  bietet  diese  Schilderung  mit  ihrem  bewußten 
Verzicht  auf  äußerliche^  Datenmaterial  und  ihrer  Betonung  der  Form 
und  des  Weltanschauungsgehaltes  der  neueren  Literatur  ein  feinsinniges 
imd  kenntnisreiches  Bild  der  jüngsten  Literaturströraungen,  das  freilich 
vom  Leser  schon  eine  gewisse  Vertrautheit  mit  dem  Stoff  fordert. 

Wie  hier  Scherers  Literaturgeschichte  eine  Fortsetzung  bis  auf  die 
Gegenwart  erhielt,  so  stellte  das  aus  dem  Nachlaß  Richard  M.  Meyers 
herausgegebene  umfangreiche  Werk  „Die  deutsche  Literatur  bis  zum 
Beginn  des  19.  Jahrhunderts"  (Berlin  1916)  gewissermaßen  eine  Er- 
gänzung nach  vorn  dar  zu  des  Verfassers  früher  erschienener  und  schon 
mehrfach  aufgelegter  Literaturgeschichte  des  19.  Jahrhunderts.  Auch 
diese  letzte  Gabe  des  ebenso  kenntnisreichen  wie  überraschend  frucht- 
baren Berliner  Philologen  zeigt  alle  die  Vorzüge,  freiHch  auch  alle 
Schattenseiten  seiner  Produktion.  Bewunderungswürdige  Weite  des 
Bhckes,  Eigenart  des  Urteils  und  geistvolle  Beleuchtung  des  Einzelnen 
verbinden  sich  mit  einer  impressionistisch-sprunghaften  Darstellung,  einer 
kaum  jemals  wirklich  fälschen,  oft  genug  aber  schiefen  Bewertung  der 
Dinge  und  einer  übertriebenen  Neigung  zur  Parallele.  Immerhin  aber  zeigt 
dieses  Werk,  das  besonders  bei  seiner  Behandlung  des  Minnesangs  einen 
beachtenswerten  Höhepunkt  literargeschichtlicher  Darstellung  erreicht, 
eine  neue  Note  in  der  so  vielseitigen  Persönhchkeit  Meyers,  die  den 
frühen  Tod  dieses  verdienstvollen  Gelehrten  schmerzlich  empfinden  läßt. 
Waren    alle   seine    bisherigen    literargeschichtlichen   Arbeiten    besonders 

10 


auf  die  Erfassung  der  Persönlichkeiten  und  der  einzelnen  Werke  ein- 
gestellt, so  werden  hier  ungleich  mehr  wie  früher  die  formalen  Grund- 
strömungen und  stilgeschichtlichen  Zusammenhänge  betont  und  damit 
im  Sinne  der  neuen  Wissenschaftsrichtung  höhere  synthetische  Gesichts- 
punkte  gewonnen.  FreiHch  setzt  auch  dieses  vielfach  nur  andeutende 
und  blitzartig  beleuchtende  Werk  für  eine  ersprießliche  Lektüre  gewisse 
Vorkenntnisse  voraus. 

Nur  nebenbei  sei  darauf  hingewiesen ,  dall  in  dem  Berichtszeitraum  auch  die 
älteren  Gesamtliteraturgeschichten  von  Lindem  ann-Ettlinger  (1 915  «  n-  lo ,  katho- 
lischer Standpunkt,  aber  reichhaltig),  A.  Biese  (1917",  1918*-,  ästhetisch-individua- 
listische Beurteilung),  Vogt  und  Koch  (seit  der  4.  Auflage  in  drei  Bänden,  von  denen 
bisher  die  ersten  beiden  von  der  Urzeit  bis  zum  Ende  der  Sturm-  und  Drangzeit 
führenden  Bände  vorliegen,  als  Überblick  besonders  geeignet,  sorgfältig  au'<gewählte 
bibliographische  Anhänge),  E.  Engel  (1917  ^^  rationalistischer  Standpunkt,  federflinke, 
mitunter  freilich  nicht  ungeschickte  Mache),  sowie  die  kleineren  Darstellungen  von 
K.  Heinemann,  M.  Koch  und  H.  Röhl  neu  aufgelegt  wurden.  Wenig  befi'iedigt 
das  als  Neujahrsgruß  für  im  Felde  stehende  Bonner  Studenten  gedachte  Büchlein 
von  J.  M.  Verweyen,  dessen  schöner  Titel  „Vom  Geist  der  deutschen  Dichtung" 
(Bonn  1917)  so  viel  verspricht,  das  aber  mit  seinem  willkürlichen  und  fehlerhaften 
Überblick  über  die  Hterarische  GesamtentwicMuug  und  seiner  sprunghaften,  nur  die 
klassische  Periode  eingehender  behandelnden  Darstellung  kaum  jemals  in  die  geistigen 
Tiefen  dringt.  Wissenschaftlich  wertlos  ist  auch  der  verwegene  und  vielfach  recht 
windige  Versuch  von  Klabu  nd,  die  „Deutsche  Literaturgeschichte  in  einer  Stunde" 
(Leipzig  1920)  vorzutragen.  In  den  älteren  Partien  völlig  unzureichend  und  von  Fehlern 
wimmelnd,  im  einzelnen  vielfach  von  einer  unsachgemäßen  politischen  Tendenz  beherrscht, 
im  Stil  mitunter  überraschend  plastisch,  öfters  freilich  auch  salopp  und  geschmacklos 
entschädigt  das  Ganze  höchstens  gegen  die  Moderne  hin  durch  einige  guterfaßte 
Charakteristiken,  Ebensowenig  kann  natürlich  für  ein  ernsteres  Studium  der  Literatur- 
geschichte das  als  erster  Teil  einer  Übersicht  über  die  Weltliteratur  gedachte  Bändchen 
von  A.  Bartels,  „Die  deutsche  Dichtung''  (Leipzig  1917)  in  Frage  kommen,  das 
an  der  Hand  der  deutschliterarischen  Nummern  der  ßeclamschen  Universalbibliothek 
kaum  viel  mehr  als  eine  trockene  Aneinanderreihung  von  Namen  und  Werken  bietet 
und  gegen  den  Schluß  hin  immer  mehr  zu  einem  öden  Sehriftstellerkatalog  herabsinkt. 

Ließen  sich  alle  diese  längeren  und  kürzeren  Darstellungen  nur  von 
dem  rein  historischen  Gesichtspunkt  der  bloßen  Abfolge  des  literarischen 
Geschehens  leiten,  so  trug  eine  zweite  Gruppe  literargeschichtlicher  Werke 
auch  jenem  lokalen  Gesichtspunkt  Rechnung,  von  dem  schon  in  den 
theoretischen  Erörterungen  des  vorigen  Paragraphen  die  Rede  war.  Hier 
ist  vor  allem  eingebender  von  Joseph  Nadlers  „Literaturgeschichte 
der  deutschen  Stämme  und  Landschaften"  zu  sprechen,  zu  deren  ersten 
beiden  1912  und  1915  erschienenen  Bänden  nunmehr  (Regensburg  1918) 
als  vorletzter  des  Gesamtwerkes  ein  dritter  Band  hervorgetreten  ist. 
So  viel  an  dem  Unternehmen  des  jungen  österreichischen  Literarhistorikers 
auszusetzen  ist  und  so  schief,  ja  gefährlich  manche  seiner  Grundanschau- 
ungen sind,  so  ist  das  Ganze  doch  als  eine  kühne,  wenn  auch  verfrühte 
Tat  aller  Achtung  wert.  Nach  einer  Zeit  stoffhäufender  Detailforschung 
und  gelehrter,  aber  ideenarmer  Behandlung  literargeschichtlicher  Probleme 
wirkt  eine  kraftvolle,  eigenwillige  Bändigung  der  Stoffmassen  immer 
imponierend.  Freilich  ist  diesem  Urteil  sofort  die  einschränkende  Be- 
merkung hinzuzuiügen,  daß  dem  Verfasser  sein  Versuch,  die  literarische 
Entwicklang    aus   der  geistigen  Verschiedenheit   und  den  Sonderschick- 

11 


salen  der  einzelnen  Stämme  zu  erklären,  vorläufig  nur  teilweise  gelungen 
ißt  und  oft  genug  neben  dem  mehr  oder  weniger  zufälligen  lokalen 
Nebeneinander  dieses  psychophysische  Band  innerer  Zusammenhänge 
nicht  deutlich  wird.  Radier  teilt  bekanntlich,  wie  er  auch  in  einem 
„Die  Entwicklungsgeschichte  des  deutschen  Schriftturas"  betitelten  und 
für  die  Leipziger  Internationale  Ausstellung  für  Buchgewerbe  und  Graphik 
geschriebenen  Heftchen  (Jena  1914)  knapp  zusammenfassend  skizziert, 
die  Gesamtheit  deutschsprachlicher  Literaturerzeugnisse  in  drei  regional 
geschiedene  Gruppen :  a)  Die  Rheingegenden,  wo  Franken  und  Alemannen 
auf  altem  Kulturboden  in  der  Zeit  von  Karl  d.  Gr.  bis  zu  den  Klassi- 
zisten  des  19.  Jahrhunderts  eine  Literatur  schaffen,  die  im  wesentlichen 
von  stofflichen  und  formalen  Elementen  des  antiken  Kulturerbes  zehrt, 
b)  Die  Douaugegenden,  wo  das  bayerisch- österreichische  Volk  aus  der 
Verschmelzung  antiken  und  volkstümhch- deutschen  Geistes  eine  Literatur 
besonderen  Gepräges  schafft,  die  besonders  gern  zuin  Dramatisch -Voll- 
saftigen drängt,  c)  Das  Kolonistenland  zwischen  Elbe  und  Weichsel, 
wo  auf  altem  slawischem  Siedlungsboden  die  „Neustämme"  früh  unter 
oströmisch-hellenistischen  Einfluß  traten  und  wo  aus  der  Kreuzung  deut- 
schen und  slawischen  Blutes  und  der  Mischung  östlichen  und  westlichen 
Wesens  der  Geist  der  Romantik  geboren  wurde.  Diese  stammes- 
geschichtlichen Erkenntnisse,  die  dem  Verfasser  erst  im  Laufe  seiner 
Arbeit  zu  vollem  Bewußtsein  gekommen  sind,  enthalten  in  ihren  ersten 
beiden  Regionscharakteristiken  zweifellos  viel  Beachtenswertes,  ohne  daß 
man  sich  nun  gerade  auf  diese  Formel  festzulegen  braucht.  Die  dritte, 
dem  ostelbischen  Schrifttum  geltende  Überzeugung  halte  ich  für  ver- 
kehrt und  die  Ableitung  einer  mehrhundertjährigen  Romantik  aus  diesem 
Kolonisationsgebiet  für  eine  fixe  Idee,  die  kaum  irgendjemand  billigen 
wird  und  nur  Verwirrung  in  die  entwicklungsgeschichtliche  Struktur 
des  literarischen  Geschehens  bringen  kann.  So  energisch  aber  solche 
Geschichtskonstruktionen  abzulehnen  sind,  so  gebührt  Nadler  doch  für 
diesen  im  Berichtszeitraum  erschienenen  dritten  Band  unser  aufrichtiger 
Dank,  enthält  er  doch  in  seiner  ersten  Hälfte  sozusagen  eine  literar- 
geschichtliche  Entdeckung.  Die  reichsdeutsche  Einstellung  unserer  bis- 
herigen Literaturgeschichtschreibung  ließ  schon  das  bayerische  Schrift- 
tum, noch  mehr  aber  das  österreichische  Literaturleben  mehr  denn  stief- 
mütterlich behandeln.  Es  ist  ein  unbestreitbares  Verdienst  dieses  Bandes, 
daß  hier  aus  entlegenen  Quellen  und  der  Spezialforschung  abseits  stehen- 
der Provinzialzeitschriften  die  vielfach  nahezu  unbekannte  Barock-  und 
Aufklärungsliteratur  des  bayerischen  Stammes,  die  das  Gesamtbild  des 
17.  und  18.  Jahrhunderts  wesentlich  verschiebt,  unverdienter  Vergessen- 
heit entrissen  worden  ist,  wenn  man  dabei  auch  gelegentliche  antipreußische 
Schärfen  gern  entbehrt  hätte.  Gerade  in  unserer  Zeit,  wo  diese  süd- 
ößtHchen  Gebiete  des  Deutschtums  besondere  politische  Bedeutung  ge- 
wonnen haben,  sollte  dieser  Hinweis  wissenschaftlich  fruchtbar  werden 
und  die  Forschung  mehr  auf  diese  stark  vernachlässigten  Gebiete  lenken. 
Während  hier  das  literarische  Leben  des  deutsch- österreichischen 
Volkes  innerhalb  eines  größeren  Rahmens   zu  erhöhter  Beachtung  kam, 

12 


verfolgte  die  deutsch-österreichische  Literaturgeschichte  von  J.  W.  Na  gl 
und  J.  Z  ei  dl  er  seit  längerem  dasselbe  Ziel  durch  die  besondere  pro- 
vinzialgeschichtliche  Abgrenzung  ihres  Darstellungsstoffes.  Seit  1897  in 
Lieferungen  erscheinend,  hatte  der  seit  Jahren  abgeschlossene  erste  Band, 
die  literarische  Entwicklung  dieser  Länder  von  der  Kolonisation  der 
Ostmark  bis  auf  die  Zeiten  Maria  Theresias  um  die  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts verfolgt.  Nachdem  das  durch  den  Tod  Zeidlers  etwas  ins 
Stocken  geratene  Unternehmen  mit  dem  Eintritt  E.  Castles  in  die  redak- 
tionelle Mitarbeit  eine  frische  Kraft  erhalten  hatte,  erschien  nunmehr 
der  erste  Teil  des  zweiten  Bandes,  der  die  klassische  und  romantische 
Zeit  umfassend  die  stoffliche  Behandlung  bis  zum  Revolutionsjahr  1848 
und  in  der  Dialektliteratur  z.  T.  weit  darüber  hinaus  vorschiebt,  während 
die  sonstige  Darstellung  der  letzten  beiden  Menschenalter  einem  geplanten 
weiteren  Halbband  vorbehalten  bleibt.  Infolge  der  abschnittweisen  Be- 
teihgung  zahlreicher  Spezialforscher  ist  die  Güte  der  einzelnen  Teile 
natürlich  ungleich;  die  umfassende,  vielfach  auf  primärer  Forschung  be- 
ruhende Sachkenntnis,  die  Berücksichtigung  auch  der  breiten  Literatur- 
strömungen und  der  allgemeineren  kulturgeschichtlichen  Grundlagen, 
sowie  das  reiche  Illustrationsmaterial  hat  dieser  umfangreiche  neue  Band 
mit  den  früher  erschienenen  Teilen  gemein. 

"Während  das  außerhalb  der  deutschen  Reichsgrenzen  liegende  Gebiet  des  bajuwa- 
rischen  Stammes  für  den  Literarhistoriker  bisher  zumeist  nur  in  einzelnen  traditionell 
herausgegriffenen  Erscheinungen  in  Frage  kam,  hat  man  der  deutschen  Dichtung  der 
Schweiz  von  jeher  die  gebührende  Aufmerksamkeit  zugewendet,  ja  Bächtolds  ,, Ge- 
schichte der  deutschen  Literatur  in  der  Schweiz  (1887  ff.)  gilt  mit  Fug  und  Recht  als 
eine  der  Glanzleistungen  deutscher  Literaturgeschichtschreibung  überhaupt.  Auch  neuer- 
dings hat  man  diese  hochalemannischeu  Gegenden  in  den  literarhisturischen  Interessen- 
kreis einbezogen,  und  es  bedurfte  eigentlich  kaum  des  besonderen  von  J.  M.  Bach  toi  d 
in  seiner  Züricher  Dissertation  (1917)  fast  zu  eingehend  begründeten  Nachweises,  daß 
eine  lediglich  das  deutsche  Schrifttum  der  Ostschweiz  umfassende  „schweizerische 
Literaturgeschichte"  innere  Berechtigung  habe.  Die  Bedeutung  dieser  westober- 
deutschen Bezirke  für  das  altdeutsche  Geistesleben  kommt  erneut  in  S.  Singers  die 
Hauptpunkte  der  Entwicklung  vortrefflich  heraushebendem  Vortrag  „  Literaturgeschichte 
der  deutschen  Schweiz  im  Mittelalter"  (Bern  1916)  zum  Bewußtsein.  Unter  Ver- 
wertung der  neueren  über  J.  Bächtolds  monumentales  Werk  hiuausgekommenen 
Spezialforschung ,  zu  der  in  den  gehaltvollen  Anmerkungen  des  Anhangs  bedeutsame 
Hinweise  und  Ergänzungen  gegeben  werden,  wird  die  literarische  Entwicklung  von 
der  klösterlich  -  gelehrten  Epoche  in  den  Tagen  Notkers  und  Tutilos  über  die  aristo- 
kratische Periode  der  höfischen  Zeit,  wo  Hartmann  von  Aue  (der  auch  hier  als 
Schweizer  in  Anspruch  genommen  wird),  Ulrich  von  Zäzikon,  Kourad  Fleck,  Rudolf 
von  Ems,  Konrad  von  Würzburg  und  Gottfried  von  Braunschweig  dort  episch  tätig 
waren  und  neben  ihnen  Steiumar  und  Hadloub  den  lyrischen  Chorus  anführten,  bis 
zu  der  demokratischen  Dichtung  des  ausgehenden  Mittelalters  verfolgt,  wo  Witten- 
weilers  mit  Eecht  hochgeschätzter  .,Ring"  einen  bearhtenswerten  Höhepunkt  darstellt, 
daneben  die  Lehrdichtung  in  Konrad  von  Ammenhusen,  Heinrich  von  Laufenberg 
und  Konrad  von  Helmsdorf  gewichtig  vertreten  ist  und  wenig  später  das  Fastnachts- 
spiel, die  Reimchronik  und  das  Volkslied  sich  zu  besonderer  Blüte  entwickeln. 

Ein  bisher  von  der  provinzialliterarischen  Forschung  nicht  aUzu  reichlich  be- 
dachtes Feld  betrat  P.  A.  Merbach,  der  (1916)  im  vierten  Bande  von  Friedel  und 
Mielkes  Laudeskunde  der  Provinz  Brandenburg  (S.  193—367)  die  „Literaturgeschicht- 
liche Entwicklung  der  Provinz  Brandenburg"  zusammenfassend  seit  den  Tagen,  wo 
der  märkische  Minnesinger  Otto  IV.  süddeutsche  Sangeskunst  in  seinem  Lande  ein- 
führt, bis  zum  Berliner  Roman  der  Gegenwart  darstellt,  wobei  besonders  das  16.  Jahr- 

13 


hundert  mit  tleu  lateinischen  Poesien  der  klerikalen  und  akademisclien  "Welt  (Georg 
Sabinus!),  mit  seiner  reichhaltigen  Dramenliteratur  (Knaust,  Stummel,  Pondo,  Kollen- 
hagen,  Ringwald,  Krüger)  und  den  märkischen  Kircheulieddichtern  eingehend  behandelt 
werden,  während  die  Barockzeit  so  gut  wie  ganz  übersprungen  wird  und  auch  das 
18.  und  19.  Jahrhundert  sich  vielfach  mit  einer  mehr  andeutenden  als  ausführenden 
Beurteilung  begnügen  müssen.  Immerhin  sind  damit  die  Grundlagen  für  eine  brandeu- 
burgischo  Literaturgeschichte  gelegt,  die  freilich  zu  tieferem  Verständnis  die  literarische 
Sonderentwicklung  in  die  geistige  Gesamtgeschichte  des  deutscheu  Volkes  und  die  Stil- 
abfolge seines  literarischen  Schaffens  einbetten  müßte.  Erst  dann  würde  die  Fülle 
der  Einzelheiten  zu  voller  wissenschaftlicher  Bedeutung  gelangen.  Ähnlich  verfolgte 
B.  Pompeck  i  in  seiner  „Literaturgeschichte  der  Provinz  Westpreußen •'  (Danzig 
1915)  die  literarischen  Bestrebungen  dieser  ostdeutschen  Gegend  von  der  Ordenszeit 
bis  auf  die  Gegenwart,  wobei  innerhalb  der  reichhaltigen,  zumeist  nach  städtischen 
Geisteszentreu  eingeteilten  Darstellung  nicht  nur  gebürtige  Westpreußen,  sondern 
auch  dort  lebende  Angehörige  anderer  deutscher  Stämme  mit  behandelt  werden.  Die 
grolle  Belesenheit  des  Verfassers,  die  freilich  mitunter  an  die  falsche  Adresse  geraten 
ist  (vgl.  z.  B.  S.  4  die  ganz  unhaltbare  Kolandliedhypothese),  hat  namentlich  für  die 
neuere  Zeit  eine  Fülle  von  Namen  und  Werken  zusammengebracht,  neben  denen 
man  die  bestimmenden  geistigen  Entwicklungslinien  gern  schärfer  herausgearbeitet 
sehen  möchte.  —  Einen  emzelnen  lokalen  Mittelpunkt  griff  Ph.  Witkop  heraus,  der 
in  seinem  Büchlein  ,,  Heidelberg  und  die  deutsche  Dichtung"  (Leipzig  1915)  die  Be- 
deutung dieser  süddeutschen  Residenz  für  das  literarische  Leben  in  raschen  Zügen 
verfolgt. 

Auch  die  gattungsgescbichtliche  Darstellung  hat  einige  beachtens- 
werte Beiträge  zu  verzeichnen.  Vor  allem  ist  hier  der  großen  „Ge- 
schichte des  neueren  Dramas"  von  Wilhelm  Creizenach  zu  ge- 
denken, zu  deren  vor  dem  Kriege  erschienenen  vier  Bänden  (1893,  1901, 
1903,  1909)  nunmehr  (l916)  ein  fünfter,  ausschließlich  der  Dramen- 
kunst Shakespeares  gewidmeter  Band  getreten  ist,  während  der  seit 
Jahren  vergriffene  zweite  Band  seit  1918  in  einer  vermehrten  und  die 
neuesten  Forschungsergebnisse  gewissenhaft  verwertenden  Neuauflage 
erschien.  Da  das  Unternehmen  mit  dem  1918  erfolgten  Tode  des 
verdienstvollen  Verfassers  leider  wohl  dauernd  zum  Stocken  gekommen 
sein  wird,  mag  ein  kurzes  rückschauendes  Gesamturteil  hier  eingefügt 
sein.  Von  dem  Fortleben  des  antiken  Dramas  im  früheren  Mittel- 
alter und  den  Anfängen  des  geistlichen  Schauspiels  an  führt  dieses 
die  gesamte  süd-  und  westeuropäische  Dramenliteratur  berücksichtigende 
monumentale  Werk  die  Entwicklung  dieser  literarischen  Gattung  über 
die  theatralische  Kunst  der  Humanisten  und  die  nationalsprachliche 
Kenaissancetragödie  in  Itahen,  Frankreich,  Spanien,  Portugal,  Deutsch- 
land ,  den  Niederlanden  bis  zu  jenem  Höhepunkt,  den  die  dramatische 
Dichtung  im  England  der  Elisabethanischen  Zeit  erhält.  Hier,  genauer 
gesagt  bei  dem  Jahre  1613,  bricht  die  auf  breitester  internationaler 
Basis  aufgebaute  Darstellung  nunmehr  mit  dem  jüngsterschienenen  fünf- 
ten Bande  ab.  Daß  das  Ganze  Fragment  bleiben  würde,  war  bei  der 
Fülle  des  noch  zu  bewältigenden  Stoffes  freilich  seit  Jahren  voraus- 
zusehen ,  zumal  da  die  letzten  Bände  gegenüber  der  energischeren  Zu- 
sammenschnürung in  den  früheren  Teilen  immer  mehr  sich  zu  breit  aus- 
ladenden, vor  detaillierten  Sonderuntersuchungen  nicht  zurückschrecken- 
den Monographien  ausgewachsen  hatten.  Staunenswert  aber  ist  überall 
der  Fleiß  und  die  GründHchkeit,  mit  der  immer  auf  Grund  eindringender 

14 


mühevoller  Quellenstudien  die  im  ganzen  noch  vielfach  von  der  Einzel- 
ibrschung  vernachlässigten  Stoffmassen  zu  einheitlichen  Komplexen  zu- 
sammengeballt werden.  Dabei  beschränkt  sich  die  Darstellung  nicht 
etwa  auf  einfach  aneinandergereihte  Analysen  und  Dichterbiographien, 
wie  sie  seinerzeit  Bobertags  verunglücktes  Roman  werk  zeigte,  sondern 
nach  Möglichkeit  wird  die  Gesamtheit  des  dramatischen  Lebens  vor- 
geführt, wie  sie  sieh  in  Inhalt  und  Form,  Charakteristik  und  Kompo- 
sition, Stil  und  Metrik,  Theorie  und  Praxis,  Ausstattung  und  Wirkung 
der  Stücke,  sowie  in  Bühnentechnik  und  Schauspielerdasein  kundgibt. 
Freilich  ist  das  Werk  in  seiner  Gesamtheit  keine  leichte  Lektüre.  Etwas 
Sprunghaftes  ist  vielen  Partien  eigen  und  das  Detailinteresse  verliert 
sich  mitunter  zu  sehr  ins  Einzelne.  Die  große  Linie  und  epische  Ruhe 
des  wissenschattlichen  Kunstwerkes  fehlt.  Vor  allem  möchte  man  gern 
innerhalb  dieser  immer  gewaltiger  andrängenden  Stoffmengen  die  leiten- 
den Grundströmungen  und  herrschenden  Ideen,  das  Typische  im  Indi- 
viduellen stärker  betont  und  die  Zusammenhänge  mit  dem  kulturellen 
Gesamtleben  der  einzelnen  Nationen  mehr  beachtet  sehen.  All  das  aber 
kann  die  überragende  Bedeutung  dieses  Werkes  nicht  mindern,  das 
noch  für  Generationen  zur  Grundlage  weiteier  Studien  dienen  wird. 
Dem  Verfasser  aber,  der  ein  Menschenalter  lang  in  polnischer  Umgebung 
zu  Ehren  deutscher  Wissenschaft  forschte  und  schrieb,  soll  es  unver- 
gessen bleiben,  daß  er  in  jenen  verflossenen  Jahrzehnten,  deren  emsige 
Vielgeschäftigkeit  zumeist  in  Einzeluntersuchungen  stecken  blieb,  den 
Mut  und  die  Kraft  zu  einem  groß  angelegten  zusammenfassenden  Unter- 
nehmen fand.  —  Creizenachs  „Geschichte  des  neueren  Dramas"  ist  ein 
schwergelehrtes  Werk,  dessen  unendhche  Fülle  sich  nur  in  einer  ab- 
schnittweisen, den  Sonderinteressen  der  Leser  dienenden  Lektüre  ent- 
hüllen kann.  Eine  treffliche  Ergänzung  dazu,  die  von  vornherein  auf 
den  Gesamtüberblick  eingestellt  ist,  bietet  die  Geschichte  der  dramati- 
schen Entwicklung  von  der  Antike  bis  zur  Gegenwart,  die  B.  Busse 
unter  dem  Titel  „Das  Drama"  erscheinen  ließ  und  zu  deren  beiden 
früher  (1910  und  1911)  herausgekommenen  Bändchen  nunmehr  (Leipzig 
u.  Berlin  1914,  Aus  Katur  und  Geisteswelt  Nr.  289)  ein  dritter,  das 
19.  und  20.  Jahrhundert  behandelnder  Teil  getreten  ist.  Ebenfalls  in- 
ternational orientiert  wird  hier  das  dramatische  Schaffen  der  einzelnen 
europäischen  Nationen  kraftvoll  nach  stilgeschichtlichen  Epochen  (Ro- 
mantik, Epigonen,  ReaHsmus,  Naturalismus,  Symbohsmus  und  Neu- 
romantik) unter  einheitlichen  Gesichtspunkten  zusammengefaßt.  Im 
einzelnen  wird  man  auch  da  manches  aussetzen  können  (Otto  Ludwig 
z.  ß.  kommt  ebenso  wie  Büchner  recht  schiecht  weg).  Im  ganzen  aber 
kann  man  dem  treffsicheren  Blick  und  der  großzügigen  Linienführung 
des  im  Felde  gefallenen  Verfassers  seine  Anerkennung  nicht  versagen. 
Für  die  lyrische  Gattung  füllte  die  kleine,  aber  beachtenswerte 
„Geschichte  der  deutschen  Lyrik"  von  Richard  Findeis  (Berlin 
und  Leipzig  1914)  in  zwei  Bändchen  eine  längst  empfundene  Lücke 
aus.  Während  die  früher  erschienene  „Neuere  deutsche  Lyrik''  von 
Ph.  Witkop  (Leipzig  1910  und  1913)   sich   zu  Unrecht  so  nannte  und 

15 


an  Stelle  einer  fortlaufenden  Geschichte  nur  etwa  dreißig  lyrische  Porträt- 
bilder des  18.  und  19.  Jahrhunderts  brachte,  die  trotz  des  aufgewendeten 
Wortschwalls  oft  recht  wenig  anschaulich  wirkten  (auch  die  zweite,  den 
etwas  veränderten  Titel  „Die  deutschen  Lyriker  von  Luther  bis  Nietzsche" 
führende  Auflage  hält  in  ihrem  1921  erschienenen  1.  Bande  trotz  mancher 
Besserungen  an  dieser  Anlage  fest),  ist  hier  mit  Glück  der  Versuch 
gemacht,  die  typischen  lyrischen  Entwicklungsstufen  von  der  indo- 
germanischen Urzeit  bis  etwa  zum  Ende  der  impressionistischen  Dicli- 
tung  zu  verfolgen.  Der  beschränkte  Raum  verbietet  dem  Verfasser, 
der  leider  auch  zu  den  Opfern  des  Weltkriegs  gehört,  sich  irgendwie 
in  Einzelheiten  einzulassen.  Aber  die  Darstellung,  die  ebenfalls  nach 
geistes-  und  stilgeschichtlichen  Gesichtspunkten  eingeteilt  ist,  weiß  das 
Wichtige  gut  herauszugreifen  und  gibt  einen  recht  brauchbaren  Über- 
blick. —  Nicht  ganz  auf  der  Höhe  der  beiden  zuletzt  genannten  Über- 
blicke steht  H.  Rausses  kleine  „Geschichte  des  deutschen  Romans" 
(Kempten  und  München  1914,  Sammlung  Kösel).  Namentlich  das  An- 
fangskapitel, in  dem  die  Versromane  der  höfischen  Zeit  behandelt  werden, 
steht  auf  schwachen  Füßen.  Auch  späterhin  sind  einzelne  Vertreter  des 
Romans  (besonders  Jean  Paul)  doch  gar  zu  flüchtig  gestreift.  Andere 
Kapitel  dagegen,  bei  denen  der  Verfasser  aus  dem  weiten  Gesichtskreis 
seiner  eigenen  früheren  Spezialforschungen  urteilt  (Schelmen-  und  Aben- 
teuerroman), verraten  den  Kenner.  Bei  dem  bisherigen  Mangel  einer 
kurzgefaßten,  übersichtlichen  Geschichte  des  älteren  deutschen  Romans 
—  denn  die  Werke  von  Mielke  und  Schian  gelten  ja  ganz  oder  doch 
überwiegend  nur  dem  19.  Jahrhundert  —  muß  auch  dieser  Abriß  will- 
kommen geheißen  werden,  zumal  er  die  Höhenpunkte  und  entscheiden- 
den Persönlichkeiten  richtig  heraushebt  und  im  ganzen  einen  leidlich 
guten  Überblick  über    die  Entwicklung  darbietet. 

Bei  Gelegenheit  dieser  gattungsgeschiclitlichen  Revue  sei  schließlich  auch  kurz 
darauf  hingewiesen,  daß  1915  0.  Walzel  iu  deu  „Neuen  Jahrbüchern"  (35.  Bd., 
8.  99—129  und  172—200)  die  Entwicklung  cles  bürgerlichen  Dramas  und  K.  Hell 
ebenda  (36.  Bd.,  S.  453 — 473)  die  Entwicklung  des  deutschen  Lustspiels  skizzierte, 
während  R.  P  et  seh  im  28.  Bd.  der  Z.  f.  d.  U.  durch  drei  Aufsatzfolgen  hin  „Die 
Hauptströmungon  im  Drama  der  Gegenwart"  in  ihrer  naturalistischen,  nsuromantischen. 
neuklassizistischen  und  jüngsten  Ausprägung  vorführte,  um  zugleich  den  waclisenden 
inneren  Zusammenhang  zwischen  der  allgemeinen  Kultur  und  der  dramatischen  Kunst 
dieser  Jahrzehnte  aufzuzeigen. 

Zwar  nicht  einer  einzelnen  formalen  Gattung,  wohl  aber  einer  be- 
stimmten Stoffgruppe  ist  das  fleißige  und  kenntnisreiche  Buch  von 
A.  H.  Kober  über  die  „Geschichte  der  religiösen  Dichtung"  (Essen 
1919)  gewidmet,  das  mit  einer  wohltuenden  überkonfessionellen  Blick- 
weite geschrieben  ist.  Freilich  das  Ziel,  das  der  Verfasser  sich  setzte, 
nämlich  einen  Beitrag  zur  Entwicklungsgeschichte  der  deutschen  Seele 
zu  liefern,  ist  nur  zu  einem  kleinen  Teile  erreicht.  Das  Werk,  das 
sonst  als  guter  Wegweiser  durch  das  Labyrinth  der  reichen  religiösen 
Dichtung  dienen  kann,  erhebt  sich  eben  nicht  auf  das  kulturpsycholo- 
gische Niveau,  sondern  bleibt  zumeist  im  rein  Tatsächlichen  des  literar- 
historischen Nacheinander.     Das  Auf-  und  Abwogen  vom  innerlich  Re- 

16 


ligiösen  zum  äußerlich  Kirchlichen  und  wieder  zu  erneuter  Subjektivität 
und  Mystik  und  die  Einbettung  dieser  besonderen  Strukturverschiebungen 
der  religiösen  Dichtung  in  die  allgemeineren  geistigen  Strömungen  und 
seelischen  Metamorphosen  in  der  Geschichte  des  deutschen  Volkes  ist 
nur  in  einzelnen  Partien  gelungen.  In  den  Einzelcharakteristiken  aber 
steckt  viel  feines  und  richtiges  Urteil. 

Schließlich  gehört  in  dies  Kapitel,  in  dem  die  allgemeinere  literar- 
historische Literatur  nach  ihren  wichtigeren  Neuerscheinungen  gesichtet 
werden  soll,  auch  J.  Petersens  Schrift  über  „Das  deutsche  National- 
theater" (Leipzig  und  Berlin  1916  =  14.  Ergänzungsheft  der  Z.  f.  d.  U.). 
Aus  Vorträgen  hervorgegangen,  die  im  Freien  deutschen  Hochstift  zu 
Frankfurt  a.  M.  gehalten  wurden,  führt  die  klar  geschriebene  und  mit 
gutgewähltem  Bildmaterial  versehene  Darstellung  in  fünf  Kapiteln  die 
Hauptphasen  der  theatergeschichtiichen  Entwicklung  Deutschlands  vor. 
In  knappen,  aus  dem  Zusammenklingen  von  Zeitcharakter,  Bühne,  Drama, 
bildender  Kunst,  Schauspielertum  und  Publikum  zu  anschaulicher  Wir- 
kung gelangenden  Bildern  werden  wir  von  den  geistlichen  Spielen  des 
späteren  Mittelalters  und  dem  Volks-  und  Schultheater  des  15.  und 
16.  Jahrhunderts  über  die  vorwiegend  auf  opernhafte  Effekte  berechneten 
Bühnenformen  der  Renaissance-  und  Barockzeit  hingeführt  zu  den  Be- 
strebungen der  Aufklärung  und  des  Neuhumanismus,  die  neuauftauchende 
Idee  eines  Nationaltheaters  zu  verwirklichen ,  die  indessen  trotz  bester 
Absichten  und  guter  Ansätze  nicht  eigentlich  zu  ihrem  hohen  Ziele 
kam  und  auch  in  dem  Festspielgedanken  des  19.  Jahrhunderts  nicht 
seine  Verlebendigung  erhalten  hat,  zumal  die  Betonung  der  tief  inner- 
lichen und  wahrhaft  kulturellen  Bedeutung  aller  theatralischen  Kunst 
vielfach  zugunsten  veräußerlichter  und  stofi betonter  Wirkung  zurück- 
stehen mußte. 

§  3.   BibHographien  und  Zeitschriften 

Das  grundlegende  bibliographische  Werk  für  jeden  wissenschaftlich  arbeitenden 
Literarhistoriker  ist  nach  wie  vor  K.  Goedekes  „Grundriß  zur  Geschichte  der 
deutschen  Dichtung",  jenes  gewaltige  Unternehmen,  das  die  Gesamtheit  der  auf  deutsch- 
sprachlichem Boden  dichterisch  tätigen,  zu  künstlerischer  oder  wenigstens  ephemerer 
BedeutuDg  gelangten  Personen,  zumeist  nach  Gattungen  oder  Landschaften  in  Gruppen 
geordnet,  in  zeitgeschichtlicher  Folge  vorführt  und  neben  meist  kurzen  biographischen 
Hinweisen  nicht  nur  sämtliche  Werke  der  angezogenen  Schriftsteller,  sondern  auch 
die  darüber  geschriebenen  literarhistorischen  Aufsätze  und  Bücher  verzeichnet.  Erst- 
malig in  drei  Bänden,  als  Denkmal  deutschen  Gelehrtenfleißes  jener  frühgermani- 
stischeu  Zeiten,  in  den  Jahren  1859—1881  erschienen,  kommt  es  bekanntlich  heute 
nur  in  seiner  stark  erweiterten  und  umgearbeiteten  zweiten  Auflage  in  Frage ,  die 
seit  1884  hervorzutreten  begann  und  heute  noch  nicht  abgeschlossen  ist,  obwohl  große 
Partien  des  vorklassischen  und  klassischen  Zeitalters  bereits  in  abermals  wesentlich 
bereicherter  dritter  Auflage  vorliegen.  Bis  1913  hatte  es  die  in  erster  Linie  heute 
gültige  zweite  Auflage  bis  auf  10  Bände  gebracht,  von  denen  die  beiden  letzten  Bände 
mit  ihrer  Behandlung  der  belletristischen,  romanhaften  und  epischen  Literatur  des 
Zeitraums  von  1815 — 1830  auf  ihrem  Gattungsgebiete  bereits  bis  zu  dem  von  diesem 
Unternehmen  seit  seiner  Begründung  ins  Auge  gefaßten  zeitlichen  Endpunkt  (ca.  1830) 
vorgedrungen  waren.  Unterdessen  ist  der  hochverdiente  Herausgeber  des  Grundrisses, 
Edmund  Götze,  der  diese  maßgebende  Bibliographie  seit  Goedekes  Tode  leitete,  hoch- 

Wissenschaftlicbe  Forechiini^sberichte  VIII.  2 

17 


tetagt  verstorben.  Für  ihn  haben  die  Hauptredaktion  übernommen:  A.  Kosen- 
bauin.  der  seit  Jahren  für  die  Herausgabe  der  Schlußbände  hingebende  Arbeit  leistet, 
und  F.  Muncker,  der  seit  langem  eine  Fortsetzung  und  Ergänzung  des  „Goedeke'- 
bis  zur  neuesten  Zeit  vorbereitet  hat.  Auf  diese  Weise  ist  die  Fortführung  des  für 
jeden  literarhistorischen  Forscher  unentbehrlich  gewordenen  Werkes  bis  nahe  an  die 
Gegenwart  heran  gewährleistet,  während  wir  vorläufig  bei  den  vom  „Goedeke"  nicht 
behandelten  neueren  und  neuesten  Zeiträumen  vor  allem  auf  R.  M.  Meyers  knapperen 
,, Grundriß  der  neueren  deutschen  Literaturgeschichte"  (1907 -)  angewiesen  sind,  der 
mit  irreführendem  Titel  die  Bibliograjjhie  der  Dichtung  des  19.  Jahrhunderts  enthält. 
Da  die  Gesamtleitung  den  zunächst  fällig  gewesenen  11.  Band  des  Goedekeschen 
Grundriß ,  der  mit  seinem  stoffüberschütteten  §  334  eine  Neubearbeitung  der  über- 
reichen dramatischen  Literatur  der  Epoche  von  1815 — 1830  bringen  sollte,  infolge 
des  Heldentodes  seines  Bearbeiters  K.  Kipka  vorerst  zurückstellen  mußte,  sind  von 
der  zweiten  Auflage  dieses  W^eikes  im  Berichtszeitraum  nur  die  ersten  Bogen  des 
12.  Bandes  erschienen  (1919),  in  denen  H.  Schollen  berger  mit  Unterstützung  von 
anderen  Kräften  die  schweizerische  Literatur  aus  den  ersten  drei  Jahrzehnten  des 
19.  Jahrhunderts  bearbeitete.  Von  dem  bisher  allein  in  dritter  Auflage  vorliegenden 
und  in  eine  Reihe  von  Unterteilen  zerfallenden  4.  Band  waren  vor  dem  Kriege  die 
Abteilungen  2-4  erschienen  (1910—1913),  die  eine  monumentale  Bearbeitung  der 
Goetheliteratur  mit  eingehendem  Sonderregister  (=  IV,  4  ^)  gebracht  hatten.  Seitdem 
ist  1916  auch  die  in  größeren  Partien  freilich  schon  früher  zutage  getretene  und 
wiederum  in  zwei  Halbbände  zerfallende  erste  Abteilung  dieses  4.  Bandes  zum  Ab- 
schluß gekommen,  die  aus  dem  Zeitraum  der  Aufklärung,  Empfindsamkeit  und  Vor- 
klassik die  Schweizer,  Bremer  Beiträger,  Anakreontiker,  Klopstock,  die  Barden,  Lessing, 
die  Popularphilosophen,  Wieland,  die  Roman-  und  Schauspieldichtung  dieser  Epoche, 
die  Stürmer  und  Dränger  und  schließlich  den  Göttinger  Hain  in  neuer  bibliographischer 
Bearbeitung  vorführt,  so  daß  man  für  diese  literarhistoiischen  Kapitel  sich  jetzt 
bibliographisch  nahezu  ausreichend  allein  aus  dem  „Goedeke''  orientieren  kann. 

Auch  das  ursprünglich  aus  Grenzbotenaufsätzen  erwachsene  Buch  von  A.  Bartels, 
„Die  deutsche  Dichtung  der  Gegenwart",  das  mit  einer  geschickten  Mischung  von 
literarhistorischer  Darstellung  und  bibliographischer  Übersicht  das  literarische  Leben 
von  Hebbel  und  Otto  Ludwig  bis  zur  Gegenwart  behandelt  und  letztmalig  1910  in 
achter  Auflage  erschienen  war,  konnte  1918  in  einer  stark  vermehrten  und  ver- 
besserten 9.  Auflage  hervortreten,  die  freilich  unterdessen  bereits  wieder  vergriffen  ist 
und  nur  für  die  aJlerneuesten  Entwicklungsphasen  des  literarischen  Lebens  eine  aber- 
malige Neubearbeitung  und  Fortführung  in  dem  Buche  desselben  Verfassers  ,,  Die 
Jüngsten.  Deutsche  Dichtung  der  Gegenwart"  (Leipzig  1921)  gefunden  hat.  —  Er- 
freulicherweise konnte  auch  die  ausgezeichnete  und  eine  empfindliche  Lücke  des 
wissenschaftlichen  Handbuchmaterials  ausfüllende  „Allgemeine  Bücherkunde  zur  neueren 
deutschen  Literaturgeschichte"  von  R.  F.  Arnold,  die  gegenüber  dem  individualisti- 
schen Anlageprinzip  Goedekes  vor  allem  eine  sachgruppengemäße  bibliographische 
Bearbeitung  der  für  den  Literarhistoriker  direkt  oder  indirekt  in  Frage  kommenden 
wissenschaftlichen  Bücherwelt  gibt,  in  vermehrter  und  verbesseiter  Auflage  (1919) 
sich  vorstellen.  —  Als  Neuerscheinung  aber  darf  das  ,, Deutsche  Literatur-Lexikon"  von 
H.  A.  Krüger  gelten  (München  15)14),  obwohl  es  letzten  Endes  von  der  Grundlage 
jenes  1882  von  A.  Stern  herausgegebenen  ,. Lexikons  der  deutschen  Nationalliteratur'- 
ausgegangen  ist.  In  lexikalischer  Anordnung  verzeichnet  es  die  hauptsächlichsten 
deutschen  Dichter  von  den  Anfängen  bis  zur  Gegenwart,  gibt  kurze  biographische 
Abrisse  und  berichtet  über  die  dichterischen  Werke,  sowie  über  die  wichtigere  dazu 
selbständig  veröffentlichte  wissenschaftliche  Literatur.  Das  zweifellos  einem  prakti- 
schen Bedürfnis  entgegenkommende  Werk  ist  vielfach  von  der  Kritik  unfreundlich 
aufgenommen  worden,  und  in  der  Tat  bieten  die  zahlreichen  Lücken  und  Unrichtig- 
keiten leicht  erkennbare  Angriffspunkte.  Trotzdem  stehe  ich  nicht  an,  das  Buch  für 
ein  zur  schnullen  Orientierung  recht  brauchbares  Hilfsmittel  zu  erklären,  dem  eine 
zweite  Auflage  und  damit  die  Möglichkeit  zu  einer  gründlichen  bessernden  Bearbeitung 
zu  wünschen  ist,  die  dann  auch  die  jetzt  nur  in  ziemlich  willkürlicher  Auswahl  auf- 
genommenen stoffgeschichtlichen  Stichworte  ausbauen  sollte. 

Von  den  beiden  für  die  Arlieit  des  germanistischen  Literarhistorikers  unentbehr- 
lichen   periodischen  Bibliographien    sind    die   „Jahresberichte  über  die  Erscheinungen 

18 


auf  dem  Gebiete  der  germanischen  Philologie'' ,  die  mit  ihren  literargeschichtlichen 
Referaten  und  Titelhinweisen  von  der  altdeutschen  Zeit  bis  in  das  erste  Viertel  des 
17.  Jahrhunderts  reichen,  in  den  Jahren  1916—1921  mit  fünf  neuen  Bänden  (36. 
"uis  41.  Bd.)  hervorgetreten,  die  über  die  literarhistorischen  Neuerscheinungen  der  J^re 
1914 — 1919  Auskunft  geben,  während  die  den  Zeitraum  von  etwa  1450—1850  umfassen- 
den „Jahresberichte  für  neuere  deutsche  Literaturgeschichte''  1915  und  1916  (bzw. 
1918)  in  ihrem  24.  und  25.  Band  die  Bibliographie  und  textliche  Berichterstattung 
über  die  Jahre  1913  und  1914  brachten  und  über  das  Erscheinungsjahr  1915  wenigstens 
den  bibliographischen  Teil  vorlegen  konnten  (1919).  Die  gewaltigen  redaktionellen 
Schwierigkeiten,  mit  denen  referierende  Unternehmen  dieser  Art  schon  immer  und 
besonders  während  des  Krieges  infolge  der  militärischen  Dien.stleistungen  zahlreicher 
Mitarbeiter  zu  rechnen  hatten,  und  daneben  die  immer  fühlbarer  werdenden  druck- 
technischen Hemmnisse  haben  somit  zu  dem  unvermeidlichen  Mißstand  geführt,  daß 
zwischen  Erscheinungs-  und  Berichtsjahr  gegenwärtig  ein  Zeitraum  von  fünf  Jahren 
und  mehr  klafft.  Damit  aber  ist  natürlich  der  eigentliche  Zweck  und  Nutzen 
einer  solchen  zusammenstellenden  und  zusammenfassenden  Berichterstattung  stark 
vermindert.  Es  sei  deshalb  auch  an  dieser  Stelle  nachdrücklich  der  Leitung  der 
..Jahresberichte''  empfohlen,  nicht  zum  wenigsten  auch,  um  im  Interesse  der  wün- 
schenswerten Verbreitung  dieses  höchst  verdienstvollen  periodischen  Organs  den  un- 
bedingt notwendigen  Abbau  des  zur  Zeit  für  die  Mehrzahl  der  Fachgenossen  uner- 
schwinglich hohen  Preises  zu  ermöglichen,  eine  tiefgreifende  Neugestaltung  in  Er- 
wägung zu  ziehen.  So  angenehm  und  nützlich  Reichhaltigkeit  und  Fülle  des  Inhalts 
ist,  so  wird  in  diesem  Falle,  wie  mir  scheint,  des  Guten  zuviel  getan  und  damit  die 
erstrebenswerte  Übersicht  erschwert.  Die  „Geschichte  des  Erziehungs-  und  Unter- 
richtswesens", die  „Kulturgeschichte",  die  „Ästhetik  und  Poetik",  ja  selbst  die 
..Publizistik"  und  die  sprachgeschichtlichen  Abschnitte,  so  wichtig  sie  vielfach  für 
den  Literarhistoriker  sind,  gehören  im  Grunde  nicht  hierher  und  wären  vielleicht  besser 
in  pädagogische,  historische,  philosophische  und  grammatische  Sonderberichterstattungen 
zu  verweisen.  Etwas  mehr  ideelles  Zusammenwirken  und  bewußte  Arbeitsteilung  der 
parallelen  Unternehmen  wäre  auch  da  ratsam.  Schließlich  ist  auch  darauf  hinzu- 
weisen, daß  in  den  textlichen  Berichterstattungen  noch  immer  zuviel  wertloses  Material 
ausgebreitet  ist,  dem  mit  der  bloßen  Erwähnung  im  bibliographischen  Teil  fast  schon 
zuviel  Ehre  angetan  ist.  Ob  neben  dem  natürlich  weiterzuführenden  Gesamtbande 
eine  Zerlegung  der  Jahresbände  in  eine  Reihe  dünnerer  und  damit  wesentlich  billigerer 
Einzelhefte  und  die  dadurch  bedingte  Anpassung  an  die  zeitgeschichtlichen  und 
gattungsgeschichtlichen  Sonderinterinteressen  der  verschiedenen  Forscher-  und  Leser- 
kreise technisch  und  redaktionell  möglich  ist,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden.  Wün- 
schenswert wäre  sie  auf  jeden  Fall.  [Ergänzend  sei  zu  diesen  schon  vor  längerer  Zeit 
geschriebenen  Ausfühnmgen  darauf  hingewiesen ,  daß  auf  der  Jenaer  Philologenver- 
sammlung  (1921)  die  Zusammenlegung  der  beiden  oben  erwähnten  Jahresberichte  be- 
schlossen und  eine  Kommission  zur  Festlegung  der  Anlage  dieser  nunmehr  einheit- 
lichen periodischen  Bibliographie  eingesetzt  wurde.]  — 

Wie  in  allen  anderen  Wissenschaftsgebieten  hatten  auch  in  unserem  Fach  die 
Zeitschriften  durch  Behinderung  ihrer  Mitarbeiter  und  die  steigenden  druck- 
technischen Nöte  in  diesen  Jahren  einen  schweren  Stand.  Von  den  maßgebenden 
Organen  der  „älteren"  deutschen  PhUologie  sind  nur  die  seit  1874  bestehenden  „Bei- 
träge zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache  und  Literatur",  nach  den  Herausgebern 
meist  „Paul  und  Braunes  Beiträge"  (PBB)  genannt,  ungestört  weiter  erschienen,  indem 
sie  von  1914 — 1920  ihre  Jahresbandserie  um  die  Nummern  39. — 44.  Band  erweitern 
konnten.  Die  einst  von  M.  Haupt  1841  begründete  und  nun  schon  ein  ehrwürdiges 
Seniorendasein  von  über  achtzig  Jahren  führende  „Zeitschrift  für  deutsches  Alter- 
tum" (Z.td.  A.),  die  seit  ihrem  19.  Bd.  (1«76)  den  erweiterten  Titel  „Zeitschrift  für 
deutsches  Altertum  und  deutsche  Literatur"  trägt,  hatte  es  bis  1913  auf  54  Bände 
gebracht.  Durch  die  Kriegsverhältnisse  trat  dann  ein  mehi-jähriges  Stocket)  ein.  Erst 
1917  konnte  ein  55.  Band,  dann  nach  erneuter  Pause  1918/19  ein  56.  Band  hervor- 
treten, dem  nun  schon  em  57.  Band  (1920)  und  ein  58.  Band  (1921)  gefolgt  sind. 
Der  mit  dieser  darstellenden  Zeitschrift  seit  1876  verbvmdene,  aber  eine  eigene  Band- 
zähluug  und  Pagiuierung  führende  kritisch  besprechende  „Anzeiger  für  deutsclies  Alter- 
tum u?id  deutsche  Literatur"  {A.  f.d.  A.)  lag  bis  1913  in  36  Bänden  vor.    Den  Stockungen 

2* 

19 


der  „Zeitschrift"  folgend  erschien  während  der  Kriegsjahre  nur  der  37.  Band  (1917), 
während  seitdem  in  fast  friedensgemäßer  Folge  der  38.  (1919),  39.  (19'20)  und  40. 
(1921)  Band  hervortreten  konnten.  Am  schwersten  hatte  offenbar  das  dritte  unserer 
altgermanistischen  Organe,  die  „Zeitschrift  für  deutsche  Philologie''  (Z.f. d. Ph.)  zu 
kämpfen,  die  1868  von  Höpfner  und  Zacher  begründet  (daher  in  älteren  Zitaten  auch 
gelegentlich  als  Zachers  Zeitschrift  =  Z.  Z.  bezeichnet)  nun  auch  schon  ihren  halbhundert- 
jährigen Geburtstag  feiern  durfte.  Sie  konnte  in  allen  diesen  Jahren  nur  zweimal  sich 
neu  vorstellen,  indem  sie  1915  ihren  46.  Band,  1918  ihren  47.  Band  herausbrachte. 

Nicht  minder  schwierig  lagen  die  Verhältnisse  für  die  der  ,, neueren"  Literatur- 
geschichte gewidmeten  Zeitschriften.  Fast  ganz  stockte  die  früher  lange  Zeit  wichtigste 
periodische  Veröffentlichung  dieser  Art,  der  österreichische  ,, Etqyhorion"  (seit  1894 
bestehend).  Nach  dem  Erscheinen  seines  21.  Bandes  im  Jahre  1914  schien  er  für 
die  literarhistorische  Welt  verloren  zu  sein,  bis  er  sich  erfreulicherweise  1919  wieder 
mit  neuen  Erscheinungsheften  melden  konnte,  sodaß  gegenwärtig  bereits  ein  21.  (1920) 
und  22.  Band  (1921)  zum  Abschluß  gekommen  ist.  Besonders  aber  sei  darauf  hin- 
gewiesen, daß  von  den  dieser  Fachzeitschrift  angegliederten  und  in  neuerer  Zeit  mehr- 
fachin besonderen  „Ergänzungsheften"  zum  Abdruck  gebrachten  bibliographischen  Über- 
sichten über  Neuerscheinungen  der  neueren  Literaturgeschichte  und  der  benachbarten 
Disziplinen  1914  das  wiederum  von  A.  Eosenbaum  vortrefflich  bearbeitete  11.  Er- 
gänzungsheft erschienen  ist,  das  in  Zeitabschnitten  und  Sachgruppen  geordnet  eine 
Bibliographie  (z.  T.  auch  mit  knapp  referierenden)  Text)  der  in  den  Jahren  1912  und 
1913  erschienenen  Zeitschriftenaufsätze  (!)  und  Bücher  zur  deutschen  Literaturge- 
schichte mit  ausführlichem  Register  bringt.  [Dazu  ganz  neuerdings  bereits  vier  Ab- 
teilungen eines  12.  Ergänzungsheftes  mit  teilweiser  Bibliographie  über  die  Jahre  1914 
bis  1918,  sowie  ein  13.  und  14.  Ergäuzungsheft  darstellender  Art,  die  Briefe  zur 
deutschen  Literaturgeschichte  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  (1921)  und  eine  Sammelkritik 
von  Gundolfs  Goethebuch  (1921)  bringen.]  —  Auch  die  seit  1909  bestehenden  sprach- 
lichen und  literargeschichtlichen  Interessen  zugleich  dienende  ,,  Germanisch-Romanische 
Monatsschrift''  (GRM)  mußte  im  Sommer  1915,  da  die  geistige  wie  technische  Mit- 
arbeiterschaft zumeist  einberufen  war,  ihr  Erscheinen  mitten  im  7.  Band  vorläufig 
einstellen,  der  erst  1919  in  zwei  Doppelheften  vom  September  (8.-9.  Heft)  und  Ok- 
tober/Dezember (10.— 12.  Heft)  zu  Ende  gefülirt  werden  konnte.  Seit  Anfang  1920 
erscheint  diese  Zeitschrift  wieder  mit  erfreulicher  Regelmäßigkeit  [der  8.  und  9.  Band 
ist  abgeschlossen,  vom  10.  Jahrgang  sind  bisher  zwei  Doppelhefte  erschienen],  freilich 
wie  so  viele  „Monats "Schriften  aus  äußeren  Gründen  in  zweimonatlich  ausgegebenen 
Doppelheften.  —  Von  der  redaktionellen  und  technischen  Not  der  zentralen  öammel- 
stätten  literarhistorischer  Aufsätze,  die  besonders  für  den  im  wesentlichen  darauf  ange- 
wiesenen wissenschaftlichen  Nachwuchs  sich  schmerzlich  bemerkbar  machte,  zogen  die 
dem  strengen  zünftigen  Gesichtskreis  etwas  abseits  gelegenen  Publikationsorgane  Nutzen, 
wie  die  „Zeitschrift  für  Bücherf re;inde "  und  die  „ Neuen  Jahrbücher  für  das  klas.sische 
Altertum,  Geschichte  und  deutsche  Literatur",  die  in  steigendem  Maße  den  deutschen 
Literarhistorikern  ihre  Tore  öffneten.  Gelegentlich  fand  deutsche  Wissenschaftsarbeit 
auch  in  dem  während  der  Kriegszeit  gegründeten  holländischen  „Neophilologus"  oder 
in  der  norwegischen  Philologenzeitschrift  „Edda"  ein  Unterkommen.  Besonders 
aber  gewann  dadurch  die  „Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht",  die,  wie  er- 
wähnt, der  wachsenden  Neigung  unserer  Tage  zu  allgemein  kultureller  Erfassung  der 
nationalen  Vergangenheit  durch  ihre  Umtaufe  in  „Zeitschrift  für  Deutschkunde" 
Rechnung  trug,  erhöhte  Bedeutung,  zumal  sie  als  einziges  der  neueren  literarhistori- 
schen Publikationsorgane  regelmäßig  weiter  erschien  und  unterdessen  es  vom  28.  Jahres- 
band im  Jahre  1914  bis  Ende  1921  auf  35  abgeschlossene  Bände  brachte.  Besonders 
zu  bemerken  ist,  daß  1915  eine  „Gesamtübersicht  über  die  Jahrgänge  1— 27  '  aus- 
gegeben vnirde,  deren  erster  „die  Literatur  und  Kunstgeschichte  im  allgemeinen"  bo- 
handelnder  Teil  den  Benutzer  schnell  über  die  von  dieser  Zeitschrift  im  Laufe  eines 
reichlichen  Viertel  Jahrhunderts  geleistete  Arbeit  in  Sachgruppen  unterrichtet.  Zu  be- 
grüßen sind  auch  die  in  dieser  Zeitschrift  üblich  gewordenen  Sammelreferate,  die  auch 
in  anderen  Publikationsorganen  mehr  gepflegt  werden  sollten.  Bei  dem  beständigen  Fort- 
schritt der  Wissenschaft  wird  es  immer  schwieriger,  die  Ideenentwicklung  und  den  Er- 
kenntnisfortschritt einzelner  Problemkreise  deutlich  im  Auge  zu  behalten.  Die  größeren 
referierenden  Unternehmen   können   auf  Einzelheiten  und  innere  methodische  Wand- 

20 


langen  nicht  eingehen,  und  doch  wäre  es  von  größtem  Wert,  in  mehrjährigen  Ab- 
ständen von  besonderen  Kennern  zusammenfassend  etwa  über  die  Fortschritte  der 
(jralsforschung,  der  Mystikforschung,  der  Faustforschung  oder  über  die  einzehien 
Dichtern  (Walther  von  der  Vogelweide,  Murner,  Fischart,  Lessing,  Ludwig  usw.)  ge- 
widmete Arbeit  nicht  nur  in  objektiven  Referaten,  sondern  gewissermaßen  von  höherer 
Warte  aus  orientiert  zu  werden,  etwa  so  wie  die  leider  schon  so  bald  wieder  einge- 
gangenen „Geisteswissenschaften"  (1913 f.)  es  in  vorbildlicher  Weise  für  die  verschieden- 
sten Wissenschaftsgebiete  taten.  Schließlich  sei  bei  dieser  Gelegenheit  auch  die  Frage 
aufgeworfen,  ob  nicht  die  eine  oder  andere  unserer  Zeitschriften  auch  in  bestimmten 
Abständen  wiederkehrende  Referate  über  die  germanistische  Arbeit  des  Auslandes  bringen 
könnte,  etwa  ähnlich  wie  das  „Literarische  Echo"  in  regelmäßigen  „Briefen"  über 
das  fremde  Literaturleben  berichtet.  Es  ist  zwar  richtig,  daß  für  die  germanistische 
Forschung  und  die  wissenschaftliche  Behandlung  der  deutschen  Literaturgeschichte 
die  ausländische  Mitarbeit  eine  ungleich  geringere  Rolle  spielt  als  beim  Anglisten, 
Romanisten,  klassischen  Philologen  usw.  Immerhin  aber  zeigte  es  sich  wiederholt, 
daß  die  z.  T.  sehr  fördernden  Forschungserkenntnisse  holländischer,  skandinavischer, 
russischer  Germanisten  zum  Schaden  des  wissenschaftlichen  Foi-tschritts  bei  uns  zu 
wenig  oder  gar  nicht  bekannt  waren. 

§  4.   Reformation  und  Humanismus 

Das  literarische  Leben  Deutschlands  rollt  im  Zusammenhang  mit 
der  übrigen  kulturellen  Vergangenheit  und  eingebettet  in  die  allgemeine 
sozialpsychische  Entwicklung  der  Nation  in  einer  geschlossenen  Einheit 
ab,  die  wohl  eine  Verschiebung  der  Grundstimmungea  und  einen  Wechsel 
der  literarischen  Stilformen ,  aber  keine  eigentlichen  Absatzstellen  und 
Trennungsstriche  kennt.  Wenn  ich  hier  im  Gegensatz  zu  diesen  von 
mir  Otters  vertretenen  Überzeugungen  den  Überblick  über  die  wichtigeren 
Neuerscheinungen  der  literargeschichtlichen  Forschung  erst  mit  der 
Periode  einsetzen  lasse,  wo  nach  der  landläufigen  Auffassung  die  Neu- 
zeit und  damit  die  „neuere"  deutsche  Literatur  beginnt,  so  tue  ich  dies 
aus  äußeren  und  praktischen  Gründen,  vor  allem  auch,  weil  bereits 
G.  Baesecke  in  dem  die  „Deutsche  Philologie"  i.  e.  S.  behandelnden 
Parallelheite  dieser  wissenschaftlichen  Forschungsbericbte  (Gotha  1919) 
auf  den  Seiten  59  —  77  kenntnisreich  über  die  Ergebnisse  der  dem 
früheren  und  späteren  Mittelalter  zugewandten  literargeschichtlichen 
Studien  der  jüngsten  Zeit  sich  ausgelassen  hat  und  die  an  sich  starke 
Stoffbelastung  des  vorliegenden  Heftes  eine  wiederholende  und  ergänzende 
B  erichterstattung  über  jene  Forschungsresultate  unratsam  erscheinen  ließ. 

Der  Literarhistoriker,  der  sich  jetzt  forschend  oder  lehrend  den  Literaturdenk- 
mälern des  Reformationszeitalters  zuwendet,  darf  es  dankbar  begrüßen,  daß 
ihm  neuerdings  ein  paar  Hilfsmittel  allgemeinerer  Alt  seine  Studien  erleichtern.  Um 
den  Inhalt  und  Geist  der  literarischen  Werke  dieser  Epoche  recht  zu  verstehen,  hat 
man  sich  von  Fall  zu  Fall  auch  die  historischen  und  kirchengeschichtlichen  Voraus- 
setzungen sowie  die  allgemeinen  geistigen  Grundlagen  durch  Quellenstudien  und 
Sonderuntersuchungen  zu  vertieftem  Bewußtsein  zu  bringen.  In  dem  Labyrinth  des 
dafür  in  Frage  kommenden  urtexÜichen  und  wissenschaftlichen  Studienmaterials  mit 
seiner  verwirrenden  imd  bisher  niemals  deutlich  gesichteten  Fülle  leistet  jetzt  die 
neuerschienene,  zwei  starke  Bände  umfassende  „Quellenkunde  der  deutschen  Refor- 
mationsgeschichte"  von  G.  Wolf  (Gotha,  l.Bd.  1915,  2.  Bd.  1916  u  1922)  vortreffliche 
Dienste.  Der  auf  diesem  Zeitgebiete  aus  früheren  Arbeiten  vorteilhaft  bekannte  Ver- 
fasser gibt  eine  Art  Fortsetzung  der  mittelalterlichen  Quellenkunde  von  Wattenbach 
und  Lorenz   bis   etwa  zur  Mitte   des  16.  Jahrhunderts,  greift  dabei  aber  tief  in  die 

21 


mittelaUerliche  "Welt  zurück,  so  daß  die  literarhistorische  Forschung  für  die  spät- 
mittelalterliche wie  frühneuzeitliche  Dichtung  hier  ein  wichtiges  und  ungemein  brauch- 
bares Hilfsmittel  erhalten  hat,  dessen  unvermeidbare  Lücken  und  kleine  Unebenheiten 
neben  der  Größe  des  Geleisteten  kaum  in  Frage  kommen.  Nachdem  die  Einleitung 
einen  aufschlußreichen  Überblick  über  die  Wandlungen  der  reformatiousgeschichtlichen 
Historiographie  geboten  hat,  enthält  der  erste  Band  zunächst  unter  dem  Oberbegriff 
„Vorreformation''  eine  quellenkundiiche  Behandlung  der  Mystik,  der  separatistischen 
Bestrebungen,  der  innerkirchlicheu  Keformversuchc  wie  des  Humanisnms,  um  dann 
(den  Schlußteil  von  Band  I  und  den  Anfang  von  Band  11  füllend)  die  allgemeinen 
und  weltlichen  Grundlagen  des  reformationsgeschichtlichen  Prozesses  (Reichsgeschichte, 
Landesgeschichte,  ßeichsstände,  Reichsritterschaft)  darzustellen  und  schließlich  zu  den 
Einzelheiten  der  eigentlichen  kirchlichen  Roformationsgeschichte  überzugehen. 

Wie  hier  im  Hinblick  auf  den  Inhalt  ist  auch  hinsichtlich  der  sprach- 
lichen Form  der  frühneuhochdeutschen  Dichtwerke  manches  für  das  er- 
leichterte Verständnis  dargeboten  worden.  Eine  erschöpfende  und  wissen- 
schaftlich vollwertige  Darstellung  der  frühneudeutschen  Grammatik  fehlt 
freilich  noch  und  wird  erst  nach  längerer  Zeit  spezialisierter  Detailforschung 
möglich  sein.  Einen  vorläufigen  Ersatz,  der  zwar  nicht  immer  einwandfrei 
ist,  im  ganzen  aber  recht  gute  Dienste  leistet,  bietet  V.  Mosers  „Histo- 
risch-grammatische Einführung  in  die  frühneuhochdeutschen  Schriftdialekte 
(Halle  1909),  an  die  nur  kurz  erinnert  sei.  Vor  allem  ist  in  diesem 
Zusammenhang  auch  auf  A.  Götzes  ungemein  brauchbares  und  als  Er- 
gänzung zu  den  größeren  Wörterbüchern  von  Grimm,  Fischer,  Martin, 
Schmeller,  Schmidt  u.  a.  längst  entbehrtes  „Frühneuhochdeutsches  Glossar" 
zu  verweisen,  das  den  hochdeutschen  Wortschatz  vom  Ende  des  15.  bis 
etwa  zur  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  aus  den  Quellen  bearbeitet  dar- 
bietet und  nach  seinem  ersten  Erscheinen  (1912)  nun  bereits  in  zweiter 
stark  vermehrter  Auflage  hervortreten  konnte  (Bonn  1920).  —  Der  vor 
dem  Kriege  mehrfach  gerügte  Mangel  einer  philologisch  zureichenden 
Zusammenstellung  von  spätmittelalterlichen  und  frühneuzeitlichen  Texten, 
die  dem  Anfänger  zu  privaten  Studien  oder  als  Grundlage  von  Uni- 
versitätsübungen dienen  könne,  ist  jetzt  ebenfalls  abgestellt  worden. 
H.  Naumanns  sorgfältig  ausgewähltes  „Altdeutsches  Prosalesebuch" 
(Straßburg  1916),  das  der  lange  ungebührlich  vernachlässigten  älteren 
deutschen  Prosa  zu  ihrem  Rechte  verhelfen  möchte,  liegt  zwar  mit  seiner 
Auswahl  von  Texten  des  12. — 14.  Jahrhunderts  vor  unserem  Berichts- 
raum, bietet  aber  mit  seinen  die  Vorstadien  des  späteren  Prosastils  vor 
Augen  führenden  Textproben  gute  Gelegenheit  zu  entwicklungsgeschicht- 
lichen Stilstudien.  Anschließend  kommt  vor  allem  das  jüngsterschienene 
„PVüh-Neuhochdeutsche  Lesebuch"  in  Frage,  mit  dem  A.  Götze  eine 
längst  empfundene  Lücke  im  Bestände  unserer  Lehr-  und  Übungsbücher 
ausfüllte  (Göttingen  1920).  In  29  besonders  den  südwestlichen  und 
ostmitteldeutschen  Sprachgebieten  entnommenen  Textproben  aus  der  Zeit 
von  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  bis  etwa  zur  Wende  des 
16.  und  17.  Jahrhunderts  rollt  der  ganze  mundartliche  Reichtum  und 
die  sprachlich-literarische  Entwicklung  dieser  interessanten  und  vielfach 
noch  immer  unterschätzten  Übergangsepoche  vorüber.  Die  ausgewählten 
Stücke  sind  nur  zum  kleineren  Teil  der  poetischen  Welt  entnommen 
und   legen   den    Schwerpunkt  «uf  die   frühneuhochdeutsche  Prosa,   die 

22 


nicht  nur  in  ihrer  dichterischen  Ausprägung  als  Dialog,  Fabel  und 
Anekdote  Berücksichtigung  findet,  sondern  vor  allem  auch  in  briefHchen, 
wissenschaftlichen,  amtlichen  und  geschäftlichen  Dokumenten  vorgeführt 
wird.  Indem  die  Texte  mit  Vorbedacht  in  verschiedenem  Zustand  dar- 
geboten werden  und  neben  wohlgeglätteten  und  sauberen  Schriftstücken 
auch  mehr  oder  weniger  in  Schrift  und  Druck  verwahrlostes,  ja  im 
Rohstoff  steckengebliebenes  Textmaterial  steht,  bekommen  wir  nicht  nur 
ein  Bild  von  der  sprachhchen,  stiUstischen  und  drucktechnischen  Willkür 
der  Zeit,  sondern  es  ist  auch  Gelegenheit  zur  Einführung  in  die  text- 
philologische und  textkritische  Arbeitsweise  gegeben. 

Die  Anfänge  des  Prosaromans  im  15.  Jahrhundert  erwachsen  im 
wesentlichen  aus  den  Auflösungen  mittelalterlicher  Epen.  Während  aber 
Frankreich  diesen  Umschmelzungsprozeß  an  einer  größeren  Anzahl  von 
versifizierten  Werken  sich  vollziehen  läßt,  sind  in  Deutschland  nur  ein 
paar  Beispiele  dieser  Art  nachweisbar.  Diese  nimmt  F.  Schneider 
in  seiner  Greifswalder  Dissertation  (1915):  „Die  höfische  Epik  im  früh- 
neuhochdeutschen Prosaroman ''  aufs  Korn,  indem  er  die  nur  handschrift- 
lich überlieferte  und  seinerzeit  von  Bachmann  und  Singer  heraus- 
gegebene Geschichte  vom  heiligen  Wilhelm  nach  Wolfram  von  Eschen- 
bach und  seinen  beiden  Fortsetzern,  die  ebenfalls  nur  in  Züricher 
Handschriften  auf  uns  gekommene  Erzählung  vom  Leben  Karls  des 
Großen  nach  Konrad  von  Fleck  und  dem  Stricker,  die  Prosalegende 
vom  heihgen  Georg  nach  Reinbot  von  Durne,  weiterhin  den  149:>  erst- 
malig gedruckten  Wigaloisroman  nach  dem  epischen  Gedicht  Wirnts 
von  Grafenberg,  den  aus  dem  Epos  Eilharts  von  Oberge  geflossenen 
und  1484  gedruckten  Tristanroman  und  schließlich  den  aus  dem  Epigonen- 
epos des  Johann  von  Würzburg  hervorgegangenen  Prosaroman  „Wil- 
helm von  Österreich"  in  bezug  auf  Darstellungsart,  Abänderungen, 
Syntax,  Stil,  Wortschatz  usw.  mit  den  Vorlagen  vergleicht.  Gegenüber 
den  höfischen  Quellen  läßt  sich  ein  deutliches  Zurücktreten  des  Inter- 
esses an  höfisch  -  ritterlichen  Dingen  wie  vor  allem  Kampf-  und  Minne- 
szenen und  dafür  ein  Hervordrängen  theologisch  -  lehrhafter  Elemente 
beobachten.  Für  die  in  denselben  Handschriften  überlieferten  Prosa- 
stücke vom  hl.  Wilhelm,  hl.  Karl  und  hl.  Georg  wird  die  Identität  des 
Bearbeiters  angenommen.  [Ungleich  heller  als  diese  nicht  gerade  tief 
eindringende  Anfängerarbeit  beleuchtet  neuerdings  diesen  ganzen  Problem- 
kreis des  frühneuzeithchen  Romans  W.  Liepes  philologisch  festfundiertes 
Buch  „Elisabeth  von  Nassau- Saarbrücken,  Entstehung  und  Anfänge  des 
Prosaromans  in  Deutschland"  (Halle  1920),  auf  das  hier  nur  nachdrück- 
lich hingewiesen  sei.]  —  Mehrfach  sind  die  Volksbücher  des  16.  Jahr- 
hunderts Gegenstand  von  Untersuchungen  gewesen,  nachdem  sie  kurz  vor 
dem  Kriege  ihren  warmherzigen  Vei"fechter  in  R.  Benz  gefunden  hatten, 
der  in  seiner  Schrift  „Die  deutschen  Volksbücher"  (Jena  1913)  begeistert 
für  diese  angeblich  verkannte  Literaturgattung  sich  einsetzte  und  ihr  Auf- 
treten im  ausgehenden  Mittelalter  und  zur  beginnenden  Neuzeit  für  eine 
besondere  Blüte  des  gotischen  Kunstgeistes  erklären  wollte.  Wenn  er 
damit   auch  über   das  Ziel  hinausschoß,  so  war  das  Bemühen  um  eine 

23 


gerechtere  Würdigung  dieser  lange  verachteten  Literaturdenkmäler 
neben  anderem  ein  Zeichen  für  die  gegenwärtig  erfreulicherweise  immer 
mehr  zunehmende  Neigung,  diese  Übergangsepochen  des  15. — 17.  Jahr- 
hunderts höher  zu  bewerten  und  mehr  zu  beachten,  als  es  früher  zumeist 
geschah.  —  Das  seit  seinem  Erscheinen  im  Jahre  1509  oft  aufgelegte 
und  in  zahlreiche  europäische  Sprachen  übersetzte  Volksbuch  von 
Fortunatus  und  seinen  Sühnen,  dem  seinerzeit  Zacher  in  Ersch  und 
Grubers  Realenzyklopädie  einen  gelehrten  Artikel  gewidmet  hatte,  unter- 
suchte von  neuem  H.  Günther  in  seiner  tüchtigen  Freiburger  Disser- 
tation (1916)  vor  allem  auf  das  Herkunftsproblem  hin.  Indem  er  die 
24  Grundmotive,  in  die  er  den  Roman  zerlegt,  auf  ihre  ältere  Tradition 
hin  prüft,  weist  er  überzeugend  die  mehrfach  behauptete  fremdländische 
Abkunft  der  Erzählung  ab  und  vermutet  ihre  Entstehung  in  den  bürger- 
lichen Kreisen  Augsburgs.  Alte  Märchenmotive  aus  Orient  und  Okzident 
sind  hier  um  1450  mit  Reiseberichten  und  Zeitgeschichten  zu  einem 
erzählungstechnisch  nicht  sonderlich  hochstehenden,  aber  die  Phantasie 
vielfach  anregenden  Roman  zusammengesponnen  worden.  Nachdem 
R.  Benz  dieses  Volksbuch  schon  1912  in  einer  sprachlich  leise  über- 
arbeiteten Fassung  weiteren  Kreisen  von  neuem  zugänglich  gemacht 
hat,  gab  jetzt  derselbe  H.  Günther  nach  dem  Augsburger  Ürdruck 
von  1509  einen  philologisch  genauen  Abdruck  (Halle  1915). 

Eine  wertvolle  Gabe  bot  K.  von  Bah  der  in  seinem  kritischen  Neu- 
druck (1914)  des  „Laiebuches"  vom  Jahre  1597,  dem  die  Abweichungen 
und  Erweiterungen  der  „Schiltbürger"  (1598)  und  des  „ Grillen vertreibers" 
(1603)  beigefügt  sind.  In  einer  langen,  ungemein  aufschlußreichen  Ein- 
leitung wendet  sich  der  Herausgeber  zunächst  gegen  jene  seinerzeit  von 
E.  Jeep  auigestellte  Hypothese,  derzufolge  alle  drei  Schwankbücher  von 
demselben  Autor,  und  zwar  von  dem  Wittenberger  Hauptmann  Hans 
Friedrich  von  Schönberg  stammen  sollten,  während  die  dialektische  Ver- 
schiedenheit der  Werke  unbedingt  gegen  diese  Verfassergleichheit  spricht. 
Indem  v.  Bahder  das  Verhältnis  der  drei  Texte  sorgfältig  gegen- 
einander abwägt,  kommt  er,  eine  frühere  Ansicht  E.  Schröders  im 
wesentlichen  bestätigend,  zu  dem  Resultat,  daß  nach  Wortschatz  und 
Wortform  der  Verfasser  des  „Laiebuches"  ein  Elsässer  war  und  wahr- 
scheinlich in  den  akademischen  Kreisen  Straßburgs  zu  suchen  sei,  wohin 
ihn  auch  drucktechnische  Gründe  weisen.  Für  den  Frankfurter  Buch- 
drucker Paul  Brachfeld  hat  dann  ein  aus  sprachlichen  Gründen  aus  dem 
Westerwald  oder  Oberhessen  stammender  Mann  zunächst  das  Laiebuch 
nur  leicht  verändert,  indem  er  bei  der  Unverständlichkeit  des  alemanni- 
schen Wortes  Laie  im  westmitteldeutschen  Gebiet  die  Bewohner  des 
meißnischen  Schiida  zu  den  Helden  der  Erzählung  machte.  In  einer 
zweiten,  tiefer  greifenden  Umarbeitung  desselben  Bearbeiters,  die  vor 
allem  neben  Einlagen  in  den  originalen  Bestand  das  ursprüngliche  Werk 
mit  einem  weitschweifigen  und  im  Stil  stark  abfallenden  2.  und  3.  Teil 
versah,  wurde  dann  das  Laiebuch  zum  „  Grillen vertreiber".  Der  Schluß 
der  Einleitung  bietet  eine  genaue  Bibliographie,  die  eine  Übersicht  über  die 
Druckgeschichte  dieses  Werkes  bis  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  gibt. 

24 


In  den  Kreis  der  Faustsage  führt  uns  die  Ausgabe  des  „Volks- 
buches vom  Doktor  Faust",  die  J.  Fritz  nach  der  um  die  Erfurter 
Geschichten  vermehrten  Fassung  vorlegte  (Halle  1914).  Bei  der  Be- 
deutung, die  man  dieser  um  die  berühmten  Erfurter  Kapitel  vermehrten 
Gruppe  C  längst  beimißt,  darf  dieser  vollständige  Abdruck  der  Fassung  C 
willkommen  geheißen  werden,  deren  Archetypus  in  einem  verloren  ge- 
gangenen und  nur  noch  im  Titelholzschnitt  erhaltenen  Straßburger 
Erstdruck  bestimmt  wird.  Eine  sorgfältige  bibliographische  Zusammen- 
stellung weiß  die  seinerzeit  von  Zarncke  verzeichneten  Drucke  der 
Sippen  C  und  D  des  Faustbuches  nahezu  auf  den  doppelten  Bestand 
zu  bringen. 

In  einer  „Doktor  Faust  und  Speyer"  (Kaiserslautern  1914)  betitelten  Studie 
sammelt  A.  Becker  zunächst  die  Fäden,  die  Faust  mit  Speyer  verbinden,  und  weist 
dann  auf  einige  neue  Möglichkeiten  bei  der  Entstehung  des  Speyerschen  Fau.stbuches 
von  1587  hin,  unter  denen  namentlich  die  zu  dem  Kreis  des  Johann  Nas  in  Ingol- 
stadt führenden  Beziehungen  zu  denken  geben.  —  Leider  nur  sehr  beschränkten 
Kreisen  zugänglich  ist  die  ausgezeichnete  Ikonographie  der  Faustsage,  die  R.  Payer 
von  Thurn  unter  dem  nicht  recht  zutreffenden  Titel  ., Der  historische  Faust  im  Bilde'' 
als  Privatdruck  der  Wiener  Bibliophilen- Gesellschaft  vorlegte  (Wien  1917).  In  den 
begleitenden  textlichen  Ausführungen  wird  als  Ausgangspunkt  der  bildlichen  Faust- 
tradition der  Josephkopf  aus  Rembraudts  Bild  „Ruhe  auf  der  Flucht  nach  Ägypten'' 
iTwiesen,  der  in  dem  Stich  des  Rembrandtschülers  Joris  van  Vliet  die  lange  Reihe 
der  Versuche  eröffnete,  den  sagenhaften  Faust  sich  im  Bilde  vorzustellen. 

Das  von  der  Forschung  lange  vernachlässigte  Wagnervolksbuch, 
das  die  Schicksale  und  Abenteuer  des  Famulus  Wagner  erzählt  und 
als  eine  Art  Fortsetzung  des  ältesten  Faustbuches  bereits  1593  als  be- 
sondere Historie  hervortrat,  ist  neuerdings  mehrfach  von  J.  Fritz 
behandelt  worden;  1914  ließ  dieser  Forscher  in  den  deutschen  Lite- 
raturdenkraalen  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  einen  Neudruck  des 
„Wagnervolksbuches  im  18.  Jahrhundert"  erscheinen.  In  der  Ein- 
leitung gibt  F.  in  Ergänzung  zu  seinen  früheren  bibliographischen  Nach- 
weisen eme  genaue  Beschreibung  des  neuentdeckten  Upsalaer  Druckes 
und  der  Ausgaben  des  Volksbuches  aus  den  Jahren  1712,  1714,  1798, 
1799,  untersucht  das  Verhältnis  der  einzelnen  Texte  zueinander  und 
gibt  Aufklärung  zur  Frage  der  Verfasserschalt  der  verschiedenen  Drucke 
und  Bearbeitungen. 

..Zur  Geschichte  und  Bibliographie  des  Volksbuches  von  Ahasverus"  weiß 
L.  Neubaur  in  einem  Aufsatz  der  Zeitschr.  f.  Bücherfreunde  (N.  F.  5,  211 — 223) 
vom  Jahre  1914  manches  Neue  vorzubriogen.  Nach  einer  kurzen  Zusammenfassung 
der  literarischen  Tradition  der  Legende  im  Orient  und  in  romanischen  Aufzeichnungen 
des  13.— 17.  Jahrhunderts  tritt  er  auch  an  dieser  Stelle  für  seine  schon  früher  ge- 
äußerte Überzeugung  von  der  Entstehung  dieses  Volksbuches  aus  der  mittelalterlichen 
Überlieferung  ein,  indem  er  gegen  E.  König  polemisiert,  der  die  Selbständigkeit  der 
Ahasvergestalt  als  einer  Allegorie  des  jüdischen  Volkes  behauptet  hatte.  In  Deutsch- 
land tritt  das  Volksbuch  bekanntlich  erst  1602  auf  den  Plan,  wo  ein  unbekannter 
Verfasser  den  kurzen  Bericht  des  schleswigscheu  Bischofs  von  Eitzen  von  einem  Er- 
lebnis aus  seiner  Studentenzeit  zum  Abdruck  brachte.  In  Ergänzung  hierzu  kann  N. 
nachweisen,  daß  der  Schleswiger  Verleger  jenes  ersten  deutschen  Ahasvervolksbuches 
durch  persönliche  Bekanntschaft  mit  Paul  von  Eitzen  und  geschäftliche  Gründe  zur 
Hei-ausgabe  veranlaßt  wurde.  Die  angefügte  Bibliographie  vervollständigt  die  fiüher 
von  N.  im  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen  (1893  und  1911)  gegebenen  Drucklisten. 

25 


Neben  den  Volksbüchern  ist  die  prosaische  ünterhaltungsliteratur 
der  Reformationsepoche  im  Berichtszeitraum  wenig  behandelt  worden. 
Zu  nennen  ist  nur  die  tüchtige  Arbeit  von  Gertrud  Fauth  über 
„Jörg  Wickram s  Romane"  (Straßburg  1916),  die  aus  einer  Straßburger 
Dissertation  über  „Jörg  Wickrams  Romantechuik^'  (1915)  erwuchs  und 
in  ihrer  vervollständigten  und  vertieften  Buchtoi-m  als  zweiter  Band  der 
von  der  Gesellschaft  für  elsässische  Literatur  herausgegebenen  „Einzel- 
schriften zur  Elsässischen  Geistes-  und  Kulturgeschichte"  erschien.  Ob- 
wohl die  textphilologischen  Grundlagen  in  der  ausgezeichneten  vier- 
bändigen Wickramausgabe  von  J.  Bolte  und  W.  Scheel  bereits  seit 
zwanzig  Jahren  gegeben  waren,  hat  sich  die  eigentlich  literarhistorische 
Forschung  mit  Wickrams  Leben  und  Schaffen  noch  immer  unzureichend 
beschäftigt.  So  ist  es  zu  begrüßen,  daß  hier  mit  Glück  der  Anfang 
zu  einem  tieferen  Eindringen  in  die  künstlerische  Eigenart  Wickrams 
und  seiner  Erzählungsweise  gemacht  wird,  indem  die  fünf  Romane  des 
elsäsisischen  Meistersingers  und  Stadtschreibers  eingehend  nach  Aufbau, 
Stilmitteln  und  Charakterzeichnung  analysiert  werden  und  daran  an- 
schließend Wickrams  Bedeutung  als  kulturgeschichtliche  Quelle  unter- 
sucht wird. 

Dagegen  ist  die  satirische  Literatur  ihrer  Bedeutung  innerhalb 
dieses  Zeitraums  entsprechend  mehrfach  durch  Ausgaben  und  Unter- 
suchungen wissenschafthch  gefördert  worden.  Zunächst  ist  auf  zwei 
Arbeiten  allgemeinerer  Art  aufmerksam  zu  machen.  Nachdem  F.  Lepp 
1908  in  seiner  Leipziger  Dissertation  die  „Schlagwörter  des  Reformations- 
zeitalters" behandelt  und  A.  Blatter  1911  mit  engerer  Einkreisung  in 
einem  Schulprogramm  die  Schmähungen,  Scheltreden  und  Drohungen 
der  schweizerischen  Reformationsliteratur  im  besonderen  gesammelt  hatte, 
untersuchte  jetzt  G.  Meier  in  mehreren  Aufsätzen  der  Zeitschrift  für 
Schweizerische  Kirchengeschichte  (1917)  nochmals  eingehend  auf  Grund 
ausgedehnten  Quellenmaterials  die  „Phrasen,  Schlag-  und  Scheltwörter 
der  Schweizerischen  Reformationszeit",  indem  er  die  gegen  kirchliche 
Personen  wie  gegen  die  kirchliche  Lehre  gewendeten  satirischen  Worte 
sammelt,  ferner  die  als  Parteibezeichnungen  dienenden  Ausdrücke 
zusammenstellt  und  schließlich  den  gleichgerichteten  spi'ichwörtlichen 
Redensarten  und  Wortspielen  seine  Aufmerksamkeit  zuwendet.  —  Auch 
R.  Schmidts  Straßburger  Dissertation  (1917)  über  „Die  Frau  in  der 
deutschen  Literatur  des  16.  Jahrhunderts"  schlug  neuerdings  schon 
mehrfach  begangene  Pfade  ein.  H.  Gattermann  hatte  1911  in  einer 
Greifswalder  Dissertation  die  Rolle  der  Frau  im  Fastnachtsspiel  behandelt 
und  F.  Brietzmann  in  einer  in  der  Berliner  Palaestra  erschienenen  Arbeit 
1912  die  Verwertung  des  übel- wip- Motivs  vom  Mittelalter  bis  zum 
1 6.  Jahrhundert  verfolgt.  In  Ergänzung  und  weiterer  Ausführung  dieser 
Vorstudien  sucht  jetzt  Schmidt  ein  Gesaratbild  der  Frau,  wie  es  sich 
in  der  Literatur  des  16.  Jahrhunderts  spiegelt,  zu  entwerfen,  indem  er 
das  weibliche  Dasein  in  seinen  verschiedenen  privaten  und  öfFenthchen 
Erscheinungsformen  aus  literarischen  Zeugnissen  rekonstruiert  und  mit 
den  historisch  wirklichen  Zuständen  vergleicht.     Es  zeigt  sich,  daß  die 


26 


\ 


vielerwähnte  Frauenfeindlichkeit  zwar  in  dieser  Epoche  in  der  Tat  eine 
groISe  Rolle  spielt,  neben  den  Zerrbildern  aber  auch  oft  genug  in  der 
literarischen  Zeichnung  Idealbilder  von  einer  tieferen  Frauenauffassung 
Zeugnis  ablegen. 

Mehrfach  haben  die  drei  großen  vorreformatorischen  Satiriker,  die 
lange  von  der  Wissenschaft  stiefmütterlich  behandelt  worden  waren,  die 
Forschung  beschäftigt.  Nachdem  uns  das  Jahr  1913  in  den  Jahresgaben 
der  Gesellschaft  für  elsässische  Literatur  und  in  den  Publikationen  der 
deutschen  Bibhophilengesellschaft  gleich  zwei  Faksimiledrucke  von 
Sebastian  Brants  „Narrenschiff"  gebracht  hatte,  von  denen  namentUch 
der  erstere  mit  seinem  gehaltvollen  Nachwort  von  F.  Schultz  die  Brant- 
forschung  auf  neue  Bahnen  wies,  hegt  jetzt  auch  eine  vorzügliche  Aus- 
gabe des  niederdeutschen  Narrenschiffs  vor  (Halle  1914).  Wie  schon 
der  Titel  „H.  van  Ghetelen:  Dat  Narrenschipp"  andeutet,  weist  der 
Herausgeber  H.  Brandes  die  erstmalig  1497  in  Lübeck  heraus- 
gekommene niederdeutsche  Umdichtung,  die  er  mit  Recht  sehr  hoch 
einschätzt,  dem  aus  setner  westfälisch  -  braunschweigischen  Heimat  nach 
Lübeck  übergesiedelten  Hans  von  Ghetelen  zu,  der  auch  als  Verfasser 
einer  ganzen  Reihe  von  niederdeutschen,  in  der  Mohnkopfschen  Offizin 
der  Hansestadt  erschienenen  Werke  anzusprechen  sei.  Der  überzeugend 
geführte  Nachweis  wie  die  damit  verbundene  Quellenuntersuchung  geben 
mitsamt  dem  Anmerkungsapparat  und  dem  sorgfältig  gearbeiteten  Glossar 
dieser  Ausgabe  dauernde  Bedeutung. 

Einer  freundlichen  Aufnahme  begegnete  auch  die  von  P.  Heitz  veranstaltete 
und  von  einem  Nachwort  von  F.  Schultz  begleitete  Ausgabe  von  Brants  ,,  Flug- 
blättern"- (Straßburg  1915),  die  auf  ü2  faksimilierten  Blättern  aus  den  Jahren 
1492  — 1504  allerhand  lateinische  und  deutsche  Gedichte  Brants  auf  seltsame  Natur- 
erscheinungen ,  historische  Ereignisse ,  geistliche  Themen  u.  a.  biiugt  und  damit  die 
Aufmerksamkeit  auf  eine  zu  wenig  beachtete  Seite  seiner  schriftstellerischen  Tätigkeit 
lenkt.  —  Die  theologische  Dissertation  von  F.  X.  Zacher  über  „Geiler  von  Kaisers- 
berg als  Pädagoge  (Diss.  Freiburg  i.  Br.,  1916)  war  mir,  da  nicht  dem  Austausch- 
verkehr unterlegen,  nicht  zugänglich. 

Zu  dem  dritten  vorreformatorischen  Satiriker  leitet  die  Marburger 
Dissertation  (1914)  von  Th.  Maus  über,  die  den  Titel  „Brant,  Geiler 
und  Murner:  Studien  zum  Narrenschiff,  zur  Navicula  und  zur  Narren- 
beschwörung" führt  und  vervollständigt  auch  in  den  Schriften  der  Ge- 
sellschaft für  elsässische  Literatur  erschien.  Der  sorgfältige  Vergleich 
von  Geilers  14^98/9  im  Straßburger  Münster  gehaltenen  und  dann  1511 
in  lateinischer  Übersetzung  herausgekommenen  Predigten  über  das  Narren- 
schiff mit  Brants  satirischer  Dichtung  zeigt,  daß  Geiler  zwar  im  ganzen 
sich  an  die  Kapitel-  und  Gedankenfolge  hält  und  die  Vorlage  ihm  allent- 
halben die  Grundlage  bietet,  daß  er  aber  im  einzelnen  vollständig  frei 
verfährt  und  die  nach  Belieben  herausgegriffenen  Verse  selbständig  aus- 
deutet sowie  mit  neuen  Beispielen,  Sprichwörtern  und  Gleichnissen  ver- 
sieht. Dagegen  leugnet  M.,  darin  vielleicht  etwas  zu  weit  gehend,  jegliche 
literarische  Beziehungen  zwischen  Murner  und  Geiler,  ganz  im  Gegen- 
satz zu  K.  Otts  Dissertation,  der  seinerzeit  (Heidelberg  1895)  „Murners 
Verhältnis   zu    Geiler"   entschieden   überschätzt   hatte.     Während   somit 

27 


die  Predigten  des  großen  Münsterredners  für  Murner  als  literarische 
Anregung  nicht  in  Frage  kommen,  bestätigt  auch  die  Untersuchung  von 
M.  den  starken  Einfluß  Brants  auf  Murner,  der  zwar  die  Anordnung 
seines  Vorgängers  aufgibt,  dafür  aber  im  einzelnen  zahlreiche  Verse  und 
Reimbindungen  übernimmt  und  vor  allem  von  den  größtenteils  (67)  dem 
älteren  Werke  entlehnten  Holzschnitten  starke  Anregungen  zu  selb- 
ständiger Ausdeutung  empfangen  hat.  —  Diese  letztberührte  Frage,  die 
das  Verhältnis  von  Dichtung  und  bildender  Kunst  zueinander  unter- 
sucht, ist  neuerdings  erfreulicherweise  mehr  in  den  Vordergrund  des 
Interesses  gerückt.  Von  der  Leyen  (Abhandlungen  für  F.  Muncker,  1915) 
und  Simon  (Z.  f.  d.  U. ,  32.  Bd.)  gaben  Anregungen  für  das  Hochmittel- 
alter, F.  Schultz  betonte  die  Wichtigkeit  des  Problems  für  das  be- 
sonders illustrationsfreudige  Keformationszeitalter,  und  in  der  jungen 
theatergeschichtlichen  Disziplin  hat  diese  wechselseitige  Beziehung  be- 
sonders im  Kapitel  der  Mysterienbühne,  aber  auch  sonst  steigende  Be- 
deutung gewonnen.  Eine  aus  dem  Straßburger  Seminar  erwachsene 
Untersuchung  von  Maria  Wolters  (1917)  geht  der  Frage  nach  den 
„Beziehungen  zwischen  Holzschnitt  und  Text  bei  Sebastian  Brant  und 
Thomas  Murner"  im  einzelnen  nach.  Sie  bestätigt  die  Tatsache,  daß  die 
Bilder  des  N.  Seh.  zu  gemütvoll  und  lebendig  sind,  als  daß  der  trockene 
Brant  dafür  als  Zeichner  in  Frage  kommen  könne.  Wohl  aber  scheint 
bei  dem  zumeist  engen  Verhältnis  zwischen  Motto  und  Bild  Brant  doch 
insoweit  persönlich  beteiligt  zu  sein,  daß  er  die  Hauptmomente  für  die 
Illustration  angab,  die  z.  T.  nur  bestimmte  Textzeilen  veranschaulicht, 
vielfach  aber  auch  über  den  Kapitelinhalt  hinausgreift  und  in  eigen- 
schöpferischer  Arbeit  dem  oft  steifleinenen  Text  Farbe  und  Gehalt  zu- 
führt. Anders  dagegen  bei  Murner,  wo  Text  und  Illustration  eine  so 
enge  Einheit  bilden,  daß  der  franziskanische  Satiriker  nur  selbst  die 
Illustration  besorgt  haben  kann.  Die  Ansicht,  die  Merker  gleichzeitig 
in  seiner  sofort  zu  nennenden  Murnerausgabe  über  diese  Bilderfrage 
vortrug  (S.  69 — 78),  erhält  so  eine  willkommene  Bestätigung. 

Nachdem  die  ältere  Forschung,  selbst  Scherer  nicht  ausgenommen, 
gegen  Murner  zumeist  eine  gewisse  Voreingenommenheit  an  den  Tag 
gelegt  hatte,  bahnt  sich  seit  geraumer  Zeit  eine  gerechtere  Beurteilung 
an.  Indem  mau  einerseits  manche  seiner  Schwächen  auf  Rechnung  des 
Zeitstiles  setzt  und  andererseits  ihn  nicht  bloß  als  streitlustigen  Krakeeler, 
sondern  als  temperamentvollen  Verfechter  seiner  Überzeugungen  und 
klarblickenden  Kopf  wertet,  verschiebt  sich  das  Bild  zu  seinen  Gunsten. 
Die  vortreffliche,  schon  1913  erschienene  Göttinger  Dissertation  von 
G.  Bebermeyer,  die  unter  dem  etwas  gezwungenen  Titel  „Murnerus 
pseudepigraphus"  die  Hypothese  von  zwei  neuen,  angeblich  dem  Straß- 
hurger Franziskaner  zukommenden  satirischen  Schriften  mit  solidestem 
philologischen  Rüstzeug  zurückwies,  leitete  diese  neue  Richtung  ein.  Eine 
gute  Grundlage  für  die  weitere  Beurteilung  bot  dann  die  kenntnisreiche 
und  in  der  Hauptsache  zuverlässige  Biographie  von  Th.  von  Liebenau 
(Freiburg  1913),  die  freilich  neben  der  kirchenpolitischen  und  wissen- 
schaftlichen Bewertung  des  Straßburger  Franziskaners  die  literarhistorische 

28 


Seite  zu  kurz  wegkommen  ließ.  —  War  dieses  Werk  zunächst  für  die 
Fachkreise  bestimmt,  so  wendet  sich  das  Buch  von  G.  Schumann 
„Th.  Murner  und  seine  Dichtungen"  (Regensburg  1915)  an  das  weitere 
Pubhkum,  indem  es  in  einer  breiten,  überreich  mit  Zitaten  arbeitenden 
und  vielfach  polemisch  gerichteten  Einleitung  ein  populäres  Bild  von 
Murners  Leben  und  Schaffen  zu  geben  und  in  einer  Blütenlese  aus 
seinen  satirischen  Schriften  eine  Vorstellung  von  seiner  literarischen 
Eigenart  zu  bieten  sucht,  die  freilich  durch  das  geglättete  Metrum  und 
die  modernisierte  Sprache  verwischt  wird.  Bei  der  Textauswahl  wird 
nach  alter  Tradition  fälschlich  noch  immer  auch  der  hochdeutsche  Eulen- 
spiegel berücksichtigt,  obwohl  nach  der  überzeugenden  Freiburger  Disser- 
tation von  H.  Lemcke  (1908)  längst  die  Irrtümlichkeit  dieser  Zuweisung 
feststeht.  —  Der  auffallendste  Stileindruck,  den  die  Lektüre  von  Murners 
Werken  hinterläßt,  ist  die  starke  Volkstümlichkeit  seiner  Sprache.  Zwei 
Arbeiten  der  Berichtszeit  bringen  dies  noch  deutlicher  zum  Bewußtsein. 
Anna  Riese  sammelt  in  ihrer  Aufsatzfolge :  „ Sprichwörter  und  Redens- 
arten bei  Thomas  Murner'^  (Z.  f.  d.  U.,  31.  Bd.,  S.  215  ff.  289  ff.  359  ff. 
450  ff.)  das  durch  alle  seine  Werke  reich  verstreute  sprichwörtliche  Sprach- 
gut und  ordnet  es  nach  einheitlichen  Gesichtspunkten.  Besonders  fördernd 
aber  ist  die  tüchtige,  auf  fleißigster  Materialsamralung  beruhende  Arbeit 
von  Joseph  Lefftz  über  „Die  volkstümlichen  Stilelemente  in  Murners 
Schriften"  (Straßburg  1915),  die  besonders  die  Formelhaftigkeit  und 
Fülle,  die  dramatische  Lebendigkeit  und  GegenständHchkeit,  die  An- 
schaulichkeit und  Bildhaftigkeit  und  schließlich  den  Stimmungsgehalt 
der  Sprache  Murners  herauszuarbeiten  sucht  und  dabei  überall  die  enge 
Verbindung  mit  dem  elsässischen  Volkstum  und  der  Kultur  der  Zeit 
nachweist.  Nur  bleibt  zu  wünschen,  daß  der  Verfasser  sich  öfters  vom 
Boden  rein  philologischer  Behandlung  zu  größeren  geistesgeschichtlichen 
Weiten  erhoben  hätte,  wodurch  neben  dem  individuellen  Moment  das  Zeit- 
stilgebundene  der  Murnerischen  Diktion  noch  deutlicher  geworden  wäre. 
Wer  bisher  sprachliche  oder  metrische  Studien  über  Murner  machen 
wollte,  mußte  notwendigerweise  auf  die  zumeist  recht  selten  gewordenen 
Originaldrucke  zurückgehen,  da  die  meisten  Werke  Murners  noch  nicht 
in  zuverlässigen  kritischen  Neudrucken  vorlagen.  So  ist  es  lebhaft  zu 
begrüßen,  daß  die  Gesellschaft  für  elsässische  Literatur,  die  erfreulicher- 
weise auch  nach  dem  Verlust  unserer  bisherigen  Westmark  fortbestehen 
bleibt,  u.  a.  auch  eine  kritische  Ausgabe  der  gesamten  deutschen  Schriften 
Thomas  Murners  auf  ihrem  Programm  stehen  hat.  Den  Anfang  macht 
jetzt  mit  Band  9  ein  kritischer  Neudruck  von  Murners  Reformations- 
satire „Von  dem  großen  Lutherischen  Narren"  (Straß bürg  1918),  den 
P.  Merk  er  vorlegt.  Die  Einleitung  stellt  in  eingehender  Erörterung 
(84  S.)  die  Entstehungsgeschichte  dieses  in  architektonischer  Hinsicht 
recht  uneinheitlichen  Werkes  dar,  indem  sie  aus  dem  Wandel  der  zeit- 
geschichtlichen Voraussetzungen  und  Antriebe  drei  verschiedene  Ent- 
stehungsphasen mit  verändertem  Leitmotiv  aufdeckt.  Neben  einer  knappen 
Zusammenfassung  der  sprachlichen  und  metrischen  Eigenart  dieser  größten 
antireformatorischen  Satire  und  einem  kunstgeschichtlichen  Exkurs  über 

29 


die  im  Neudruck  wiederauflebenden  Holzschnitte  des  Werkes,  die  als 
Murners  eigene  Leistung  erwiesen  werden,  kommt  der  Herausgeber  noch 
auf  seine  Editionsprinzipien  zu  sprechen.  Er  tritt  bei  dem  flüssigen 
Charakter  der  Sprache  und  der  zumeist  laxen  Behandlung  der  sprach- 
lichen und  metrischen  Außenseite  der  Texte  durch  die  Autoren  des 
16.  Jahrhunderts  im  allgemeinen  und  Murners  im  besonderen  für  eine 
möglichst  konservative  Wiedergabe  des  Grundtextes  ein  und  lehnt  alle 
schulmeisterlich -uniformierende  Textbehandlung,  wie  sie  für  andere 
Epochen  wohlbegründet  ist,  für  jene  Zeit  ab.  In  diesem  Sinne  gibt  der 
Neudruck  die  480Ü  Verse  des  Originaldruckes  von  1522  im  wesent- 
lichen wörtlich  wieder  und  ändert  nur,  wo  offenkundige  Druckfehler 
vorliegen.  Der  eingehende  Kommentar  am  Schluß  bringt  zu  zahlreichen 
Stellen  die  sprachlichen,  sachlichen  und  zeitgeschichtlichen  Erklärungen 
und  rückt  damit  viele  Verse  erstmalig  in  die  rechte  Beleuchtung. 

Besonders  reichhaltig  stellt  sich  begreiflicherweise  aus  Anlaß  der 
vierhundertjährigen  Wiederkehr  der  kirchlichen  Reformtat  Luthers  in 
der  Berichtsepoche  die  reformations-  und  luthergeschichtliche  Forschung 
dar,  die  natürlich  hier  nur  soweit  Berücksichtigung  finden  kann,  als  sie 
für  den  Literarhistoriker  mit  in  Frage  kommt,  während  die  zahl- 
reichen rein  theologischen  und  dogmengeschichtlichen  Publikationen  aus- 
scheiden. 

Doch  sei  für  einen  weitergerichteten  Interessenkreis  wenigstens  auf  die  beiden 
vorwiegend  auch  die  theologische  Literatur  berücksichtigenden  Sammelreferate  von 
"W.  Köhler:  „  Der  gegenwärtige  Stand  der  Lutherforschungen "  (Zeitschr.  f.  Kirchen- 
geschichte, Vi.  Bd.)  und  A.  Baur  (D.  Litzeit.  1917,  S.  1347 ff.  u.  lo79ff.)  aufmerksam 
gemacht. 

An  der  Spitze  der  engeren  Berichtsgruppe  mögen  zwei  Werke 
stehen,  die  ein  allgemeines  Kulturbild  der  Reformationszeit  geben  wollen 
und  von  denen  jedes  in  seiner  Art  seinen  Zweck  vortrefflich  erfüllt. 
Das  „Buch  der  Reformation,  geschrieben  von  Mitlebenden"  nennt 
K.  Kaulfuß-Diesch  sein  Werk,  das  aus  genauer  Kenntnis  des  ge- 
samten Zeitalters  heraus  die  führenden  Persönlichkeiten  des  Geistes  und 
der  Tat  aus  allen  Lagern  und  Richtungen,  aus  den  verschiedensten  Be- 
rufen und  Ständen  in  authentischer,  jedoch  insgesamt  in  allgemein- 
verständlicher deutscher  Sprache  zu  Worte  kommen  läßt  und  so  in 
einer  reichen  Bilderlülle  besonders  kulturgeschichtlicher  Art  eine  Vor- 
stellung von  der  Vollsaftigkeit  und  Vielseitigkeit  dieser  noch  immer  zu 
wenig  und  zu  einseitig  erfaßten  Epoche  deutscher  Volksgeschichte  gibt.' 
Eine  Ergänzung  dazu  bietet  das  große  Prachtwerk,  das  P.  Schrecken - 
bach  und  F.  Neubert  unter  dem  Titel  „Martin  Luther.  Ein  Bild 
seines  Lebens  und  Wirkens"  erscheinen  ließen.  Mit  seinen  384  Ab- 
bildungen weit  über  das  von  Könnecke  u.  a.  gebrachte  Anschauungs- 
material hinausgehend  stellt  es  das  zur  Zeit  reichhaltigste  Bilderwerk 
zur  Geschichte  dieser  Reformationsepoche  dar.  Der  mehr  kulturgeschicht- 
lichen Einstellung  von  Kaulfuß-Diesch  gegenüber  kommt  hier  vorwiegend 
das  kuMstgeschichtliche  Schaffen  der  Zeit  zum  Ausdruck,  indem  die 
besten  Maler,  Zeichner,  Kupferstecher  und  Vertreter  der  Holzschneide-  \ 

30 


und  Medaillenkunst  aufmarschieren,  um  in  Portraitköpfen,  Stadtbildern, 
Lokalwiedergaben,  Schriftproben,  Büchertiteln,  Medaillen  usw.  das  Zeit- 
alter neu  vor  uns  erstehen  zu  lassen.  Eine  eingehende,  anschaulich  ge- 
schriebene Lebensbeschreibung  Luthers,  die  aus  der  Feder  Schrecken- 
bachs stammend  das  Ganze  einleitet,  und  erklärende  Einzelausführungen 
am    Schluß    erhöhen    die   Bedeutung    des    Werkes. 

Die  Grundlage  aller  wissenschaftUchen  Lutherforschung  bildet  die 
Weimarische  Lutherausgabe,  die  mit  ihrer  Reichhaltigkeit  und 
sicheren  textlichen  Fundierung  die  Wittenberger  und  Jenaer  Ausgabe 
des  16.  Jahrhunderts,  die  Altenburger  Ausgabe  des  17.  Jahrhunderts, 
die  Leipziger  und  HalHsche  Ausgabe  des  18.  Jahrhunderts  und  auch 
die  Erlauger  Ausgabe  des  19.  Jahrhunderts  im  wesentlichen  zu  einer 
nur  noch  historischen  Bedeutung  verurteilt  hat.  Unter  dem  Eindruck 
der  400jährigen  Feier  von  Luthers  Geburtstag  ins  Leben  gerufen  und 
unter  theologischer  wie  philologischer  Ägide  mit  mannigfachen  inneren 
Schwierigkeiten  kämpfend,  hatte  sie  es  in  dem  Menschenalter  bis  zum 
Ausbruch  des  Weltkrieges  gerade  auf  ein  halbes  Hundert  Bände  ge- 
bracht. Das  Jahr  1914  sah  dann  noch  den  .tO.  (Schriften  der  Jahre 
1536 — 1539)  und  51.  Band  (Schluß  der  Predigten  aus  den  Jahren  1545 
und  1546,  letzte  Psalmauslegungen  der  Jahre  1534 — 1536,  Schriften 
der  Jahre  1540 — 1541)  erscheinen,  während  1915  mit  dem  52.  Bande 
noch  die  Hauspostille  von  1544/45  neu  hervortreten  konnte.  Darauf 
aber  trat  wie  überall  auch  in  dieser  Ausgabe  ein  vorübergehender  Still- 
stand ein,  bis  erst  1920  der  die  Schriften  von  1542  und  1543  enthal- 
tende 53.  Band  das  Unternehmen  fortführen  und  nahe  an  sein  Ende 
bringen  sollte.  Erfreulicherweise  konnte  aber  trotz  der  widrigen  Zeit- 
umstände auch  die  der  Ausgabe  der  Werke  parallel  gehende  Neuedition 
der  Tischreden  weiter  gefördert  werden,  indem  zu  den  beiden  1912  und 
1913  erschienenen  ersten  Bänden  in  den  Jahren  1914,  1916  und  1919 
drei  weitere  hinzutraten,  so  daß  nur  der  Schlußband  hier  noch  aussteht.  — 
Die  gewaltige  Bedeutung  des  Lutherischen  Schrifttums  für  die  gesamte 
Kultur-  und  Geistesgeschichte  des  16.  Jahrhunderts  wie  der  folgenden 
Zeit  hat  es  mit  sich  gebracht,  daß  man  in  neuerer  Zeit  diese  geistige 
Welt  auch  über  den  engen  Kreis  fachwissenschaftlicher  Erforschung  und 
schuhscher  Ausschöpfung  hinaus  einem  größeren  Publikum  in  Auswahl 
darzubieten  suchte.  Die  Braunschweiger  Ausgabe  (1889  ff.)  mit  ihren 
vortreffhchen  Einleitungen  und  guten  Verdeutschungen  der  lateinischen 
Originaltexte  hatte  diese  Bahnen  erstmalig  eingeschlagen,  die  dann 
Clemens'  geschickte  Auswahl  in  vier  Bänden  (Bonn  1912)  mit  besonderer 
Einstellung  auf  die  akademische  Jugend  weiterverfolgt  hatte.  In  dem 
Berichtszeitraum  sind  dazu  noch  zwei  weitere  Ausgaben  populärer  Art 
getreten.  In  dem  Münchener  Verlag  Georg  Müller,  der  sich  durch 
eine  ganze  Reihe  gediegener  Neueditionen  deutscher  Klassiker  verdient  ge- 
macht hat,  begann  H.  H.  Bor  eher  dt  eine  etwa  auf  15  Bände  berechnete 
Auswahl  von  Luthers  Werken  erscheinen  zu  lassen,  die  weniger  die 
religionsgeschichtliche  als  die  geistes-  und  kulturgeschichtliche  Bedeutung 
des  Lutherischen  Lebenswerkes   zum   Ausdruck   bringen   soll   und   eine 

31 


Vorstellung  von  der  Vielseitigkeit  dieser  für  alle  Seiten  des  nationalen 
Lebens  bahnbrechenden  Persönlichkeit  wecken  will.  Für  die  breiten 
Schichten  der  Gebildeten  berechnet  wird  die  Ausgabe  die  ausgewählten 
Werke  in  einer  leise  und  vorsichtig  modernisierten  Sprachtorm  wieder- 
geben und  die  lateinischen  Texte  in  einer  der  Sprache  Luthers  mög- 
lichst nahestehenden  Übersetzung  darbieten.  Bisher  ist  von  dieser  Aus- 
gabe nur  der  von  P.  Kalkoff  und  PL  H.  Borcherdt  gemeinsam  bearbeitete 
'i.  Band  erschienen  (1914),  der  die  großen  Reformationsschriften  des 
Jahres  1520  zum  Abdruck  bringt  und  seinen  besonderen  Wert  durch 
eine  ausführliche,  die  entstehungsgeschichtlichen  Grundlagen  dieser  Werke 
großzügig  zusammenfassende  Einleitung  erhält.  [Dazu  1922  zwei  weitere 
Bände,  vgl.  die  bibliographische  Übersicht  am  Schluß  dieses  Berichtes.] 

Für  den  noeli  ausstehenden  1.  Band  schrieb  H.  Thode  (f)  eine  einleitende  und 
als  Gesamteinführung  zur  Ausgabe  gedachte  Skizze,  die  die  gewaltige  Nachwirkung 
des  Reformators  auf  Wissenschaft  und  Kunst  durch  die  neuzeitlichen  Jahrhunderte 
verfolgt  und  1915  unter  dem  Titel  „Luther  und  die  deutsche  Kultur"  vorläufig  selb- 
ständig hervortrat.  —  Ähnlichen  von  der  kulturgeschichtlichen  "Weltstellung  Luthers  aus- 
gehenden Zielen  strebt  die  dreibändige  Ausgabe  von  Luthers  Werken  zu,  die  A.  E.  Berger 
im  Bibliographischen  Institut  erscheinen  ließ  (1917),  nur  daß  hier  der  Text  nach  den 
besten  ursprünglichen  Ausgaben  in  authentischer  Form  dargeboten  wird  und  auch 
sonst  die  Erläuterungen  und  textkritischen  Erörterungen  offenbar  ein  Publikum  ge- 
schulterer Art  im  Auge  haben.  Anschließend  sei  noch  auf  die  ansprechende  „Aus- 
wahl deutscher  Lutherbriefe"  von  J.  Fritz  aufmerksam  gemacht,  die  von  den  rund 
850  auf  uns  gekommeneu  deutschen  Briefen  64  vorwiegend  die  menschliche  Seite  des 
Reformators  spiegelnde  Schriftstücke  auswählt  und  damit  einen  Einblick  in  sein  Ver- 
hältnis zu  Eltern,  Familie,  Freunden,  Kollegen  und  Anhängern  bietet. 

Allgemeinverständlich,  jedoch  von  wissenschaftlicher  Grundlage  aus 
geschrieben,  stellen  sich  die  aus  Anlaß  des  Jubiläums  erschienenen  Luther- 
bücher von  Th.  Brieger:  „Martin  Luther  und  wir"  (Gotha  1916), 
W.  Walther:  „Luthers  Charakter"  (Leipzig  1917),  W.  Köhler: 
„M.  Luther  und  die  deutsche  Reformation"  (Leipzig  1916,  N.  u.  G.  515) 
und  A.  von  Harnack:  „M.  Luther  und  die  Grundlagen  der  Refor- 
mation" (Berlin  1917)  dar,  haben  aber,  aus  theologischer  Feder  stammend, 
begreiflicherweise  mehr  den  Gottessti'eiter  und  Kirchenheros  als  den 
geistigen  Wegebereiter  im  Auge.  Dagegen  nehmen  zwei  weitere  aus 
Vorträgen  hervorgegangene  Jubiläurasschriften  germanistischer  Verfasser 
vorwiegend  Luthers  Verhältnis  zu  deutscher  Sprache  und  Dichtung  aufs 
Korn.  In  packender  Darstellung  und  mit  sprachlicher  Meisterschaft 
beleuchtet  d.  Roethe,  „D.  Martin  Luthers  Bedeutung  für  die  deutsche 
Literatur"  (Berlin  1918),  besonders  das  Deutschtum  und  die  Volkstüm- 
lichkeit des  Reformators  betonend  und  seine  großen  Verdienste  um  das 
Kirchenlied  und  die  neue  Kunst  der  Prosaschrift,  seine  überragende 
Stellung  als  Bibelübcrsetzer,  sowie  seine  entwicklungsgeschichtliche  Rolle 
in  der  deutschen  Sprachgeschichte  herausarbeitend,  wobei  im  Gegensatz 
zu  der  vielfach  üblich  gewordenen  Überschätzung  seiner  künstlerischen 
und  historischen  Bedeutung  auf  diesen  Gebieten  auch  die  Grenzen  seiner 
Kraft  und  Wirksamkeit  aufgezeigt  werden,  dafür  aber  die  hohe  ethische 
und  pädagogische  Mission  dieser  einzigartigen  Persönlichkeit  in  um  so 
hellerem   Lichte   erstrahlt.    —    Die   hier   durchbUckende    kritische    Ein- 

32 


schränkung  der  „künstlerischen"  Bedeutung  Luthers  dehnt  P.  Merk  er 
im  ersten  Teil  seiner  Schrift  „Reformation  und  Literatur"  (Weimar 
1918)  mit  stilgeschichtlicher  Einstellung  auf  das  ganze  Zeitalter  aus, 
indem  er  sich  im  HinbHck  auf  das  im  wesentHchen  gleiche  oder  doch 
nur  wenig  gewandelte  Geschmacksempfinden  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 
energisch  gegen  die  übliche  Ansetzung  einer  neuen  literarischen  Epoche 
mit  Beginn  der  Reformation  wendet,  da  das  dichterische  Schaffen  zwar 
zweifellos  besonders  durch  die  bibhsche  und  tendenziöse  Dichtung  dieser 
Jahrzehnte  eine  starke  stoffliche  Bereicherung  erfahren  habe,  jedoch 
Stil-  und  geistesgeschichtlich  betrachtet  nicht  auf  ein  anderes  Niveau 
gebracht  worden  sei.  Nach  einer  Würdigung  der  außerlutherischen 
Leistungen  der  Reforraationsdezennien ,  wie  sie  besonders  in  der  volks- 
tümhchen  Propagandalyrik,  in  den  satirischen  Reformationsdialogen  und 
im  reformatorischen  Tendenz-  und  Schuldrama  zutage  treten,  wird  auch 
hier  Luthers  Stellung  zur  Literatur  überhaupt,  seine  Bedeutung  als 
Kirchenlieddichter  und  Bibelübersetzer  sowie  seine  Stellung  in  der  deut- 
schen Sprachgeschichte  behandelt  und  zum  Schluß  der  überwiegend 
protestantische  Charakter  der  neueren  deutschen  Literatur  betont. 

Als  die  beiden  wissenschafthch  vollwertigen,  freilich  etwas  einseitig 
auf  das  theologische  Moment  eingestellten  Lutherbiographien  konnten 
jahrzehntelang  die  beiden  Werke  von  Köstlin  (zuerst  1875)  und  Kolde 
(1883  ff.)  gelten,  während  die  Bedürfnisse  weiterer  Kreise  neben  der  treff- 
lichen, besonders  vom  historischen  Standpunkt  aus  geschriebenen  Jubi- 
iäumsschrift  von  Lenz  (1883)  vorwiegend  durch  die  beiden  populären  Werke 
von  A.  Hausrath  (zuerst  1904,  in  3.  Auflage  1914  von  H.  von  Schubert  neu 
herausgegeben)  und  G,  Buchwald  (zuerst  1901,  dann  1914-,  zuletzt 
in  stark  umgearbeiteter  Form  1917^)  befriedigt  wurden.  Von  epoche- 
machender Bedeutung  war  dann  die  große,  auf  breitester  kulturgeschicht- 
licher Grundlage  aufgebaute  Luthermonographie  von  Arnold  E.  Berger, 
die  seit  1895  erscheinend  zunächst  in  einem  einleitenden  Teil  die  all- 
gemeinen Kulturaufgaben  der  Reformation  großzügig  umriß,  um  dann 
in  zwei  rasch  aufeinanderfolgenden  Hauptteilen  (1895  und  1898)  die 
Schilderung  vom  Leben,  Schaffen  und  Wirken  des  Reformators  bis  zum 
.Jahre  1532  fortzuführen.  Nach  zwei  jahrzehntelanger,  teils  in  persön- 
lichen Verhältnissen  des  Verfassers,  teils  in  der  allgemeinen  Zeitlage 
begründeten  Stockung  ist  jetzt  endhch  in  zwei  umfangreichen  Schluß- 
bänden (II,  2:  1919  und  III:  1921)  das  Gesamt  werk  zu  Ende  gebracht 
worden.  Die  hier  allein  in  Frage  kommende  zweite  Hälfte  des  zweiten 
Teils  (1919)  sucht,  wie  schon  der  Untertitel  „Luther  und  die  deutsche 
Kultur"  angibt,  Luthers  führende  Stellung  im  geistigen  Leben  seiner 
wie  der  folgenden  Zeit  herauszuarbeiten  und  seine  Bedeutung  als  Kirchen- 
stifter und  Theologe,  als  Ethiker  und  Sozialist,  sowie  seine  bahnbrechende 
Einwirkung  auf  Wissenschaft,  Erziehung,  Kunst,  Sprache  und  Literatur 
zu  plastischer  Anschauung  zu  bringen.  Man  muß  die  vielseitigen  Kennt- 
nisse des  Verfassers  bewundern,  der  mit  hingebender  Liebe  seinen  Heros 
in  den  Mittelpunkt  der  ganzen  Zeit  stellt  und  in  dessen  Persönüchkeit 
wie  in  einem  Brennpunkt  die  Strahlen  der  Gesaratkultur  auffängt ;  und 

Wissenschaftliche  Forschungsberichte  VIU.  3 

33 


doch  kann  man  sich  bei  aller  reichen  Belehrung  des  Eindrucks  nicht 
erwehren,  daß  Luthers  eigenschöpferische  Bedeutung  hier  denn  doch 
stark  überschätzt  wird.  Es  schmälert  Luthers  gewaltige  kirchenpolitische 
und  geistesgeschichtliche  Tat  durchaus  nicht,  wenn  man  seine  Ideenwelt 
im  Sinne  der  neueren  evangelischen  Theologie  eines  Tröltsch  u.  a.  (die 
Berger  konsequenterweise  auch  ablehnt)  mehr  mit  der  spätmittelalter- 
lichen, besonders  mystischen  Atmosphäre  verbindet  und  andrerseits  auch 
die  Grenzen  seiner  W'irksamkeit  auf  die  Folgezeit  aufdeckt.  Hier  da- 
gegen erscheint  Luther  als  die  allüberstrahlende  Sonne,  der  die  vorauf- 
gehende mittelalterliche  Nacht  kaum  ein  schwaches  Frührot  als  Vor- 
zeichen sandte  und  die  mit  ihrem  geistigen  Licht  all  die  folgenden  Jahr- 
hunderte mit  Tageshelle  umgibt. 

Einen  Markstein  in  der  Geschichte  der  Lutherforschung  dürfte  die 
neue  Darstellung  der  Jugendentwicklung  Luthers  bilden,  die  nach  seinen 
früheren  eindringlichen  Studien  über  den  Keformator  O.  Scheel  unter 
dem  Titel  „Martin  Luther.  Vom  Katholizismus  zur  Reformation",  1.  Band: 
Auf  der  Schule  und  Universität  (Tübingen  1916),  2.  Band:  Im  Kloster 
(ebd.  1917)  erscheinen  ließ.  Indem  das  Werk,  das  sich  nicht  immer 
leicht  liest,  aber  reichste  Belehrung  spendet,  überall  auf  die  Quellen  zu- 
rückgreift und  diese  mit  kritischen  Blicken  bewertet,  räumt  es  mit  einer 
ganzen  Reihe  biographischer  Legenden  und  traditionell  gewordener  Irr- 
tümer auf.  Wertvoll  wird  es  besonders  auch  durch  seine  eingehende 
Berücksichtigung  der  Milieu  Verhältnisse,  die  den  Werdegang  und  das 
Weltanschauungsbild  des  jungen  Studenten  und  Mönches  auf  der  Grund- 
lage der  umgebenden  lokalen,  akademischen  und  personalen  Verhältnisse 
betrachtet. 

In  die  Geschichte  der  ältesten  Lutherforschung  führt  die  Münsterische  Disser- 
tation von  A.  Herte  mit  ihrer  quellenkritischen  Untersuchung  über  „Die  Luther- 
biographie des  Johannes  Cochläus"  (1915)  ein.  Sie  zeigt,  wie  der  aus  einem 
ursprünglichen  Verehrer  Luthers  zu  einem  glühenden  Verfechter  der  päpstlichen 
Sache  sich  wandelnde  katholische  Theologe  und  Dresdner  Hofkaplan  schon  Anfang 
der  dreißiger  Jahre  des  16.  Jahrhunderts  als  sein  Hauptwerk  eine  Geschichte  des 
Lebens  Luthers  in  Angriff  nahm,  wie  aber  diese  Commentarii  de  actis  et  scriptis 
M.  Lutheri  dann  ins  Stocken  kamen  und  erst  unmittelbar  nach  dem  Tode  des  Refor- 
mators wieder  kräftiger  aufgenommen  wurden,  und  1549  in  einem  über  600  Seiten 
starken  Bande  erschienen,  der  1565  und  ,1568  neu  aufgelegt  wurde  und  einige 
Dezennien  später  auch  in  einer  deutschen  Übertragung  von  J.  Chr.  Hueber  hervor- 
trat. Nach  einer  genauen  Bibliographie  beschäftigt  sich  die  tüchtige  Arbeit  besonders 
mit  der  Quellenfrage  und  prüft  das  Verhältnis  zu  den  von  Cochläus  als  Grundlage 
seiner  Darstellung  angegebenen  protestantischen  und  katholischen  Schriftstellern  wie 
nicht  minder  zu  den  nicht  ausdrücklich  namhaft  gemachten  Quellenschriften.  — 
Poi)uIär  geschrieben ,  aber  auf  gründlichster  Sachkenntnis  beruhend  und  mit  ihrem 
warmen  Unterton  den  vorgesetzten  Zweck  vortrefflich  erfüllend  ist  die  volkstümliche 
biographische  Darstellung  von  H.  von  Schubert  unter  dem  Titel  „Luther  und  seine 
lieben  Deutschen'^  (Stuttgart  u.  Berlin  1917). 

Eine  ebenfalls  vom  Reformationsjubiläum  hervorgerufene  Festschrift 
wie  dieses  Werk  des  Heidelberger  Kirchenhistorikers  stellt  auch  das  im 
Auftrag  des  deutschen  evangelischen  Kirchenausschusses  verfaßte  Jubi- 
läumsbuch des  Rostocker  Bibelforschers  W.  Walther:  „Luthers  deutsche 
Bibel"  (Berlin  1917)  dar,  in  dem  der  bekannte  Verfasser  der  Geschichte 


der  mittelalterlichen  Bibelübersetzungen  für  weitere  Kreise  der  Gebildeten 
eine  Art  Einführung  in  das  Bibelstudium  dadurch  bietet,  daß  er  in  sechs 
anschaulich  geschriebenen  Kapiteln  die  deutschsprachlichen  Bibelüber- 
setzungen des  Mittelalters,  Luthers  Beweggründe  und  geistige  Ausrüstung, 
seine  Arbeit  an  der  deutschen  Bibel,  die  zeitgenössischen  Rivalen,  die 
Eigenart  und  den  Wert  der  Lutherbibel  und  schließlich  ihre  Bedeutung 
iür  das  deutsche  Volk  schildert.  —  Die  hier  im  4.  Kapitel  in  volks- 
tümlicher Darstellung  erscheinende  Bewertung  der  parallelen  Bibelüber- 
tragungen hatte  Walt  her  zuvor  schon  in  einer  zunächst  als  Aufsatz- 
folge in  der  Neuen  kirchlichen  Zeitschrift  (27.  Bd.  [1916],  Ö.  662 ff. 
742  ff.  u.  771  ff.)  erschienenen,  dann  auch  in  Buchform  hervorgetretenen 
Untersuchung  über  „Die  ersten  Konkurrenten  der  Bibelübersetzung 
Luthers"  in  wissenschaftHcher  Form  behandelt.  Bisher  war  man  zwar 
verschiedentlich  den  nach  1525  herausgegebenen  Bibelübersetzungen  mit 
gebührender  Aufmerksamkeit  nachgegangen,  hatte  aber  die  vor  diesem 
Jahre  erschienenen  Übertragungen  fast  nicht  beachtet.  Indem  Walther 
diese  Lücke  ausfüllt,  unterzieht  er  die  Werke  von  Johannes  Böschen- 
stein, Caspar  Ammann,  Othmar  Nachtigall,  Johann  Lang,  Nicolaus 
Krumpach  sowie  die  anonymen  Übersetzer  des  Markus-  und  Lukas- 
evangeliums und  des  Galatherbriefs  einer  eingehenden  Untersuchung,  die 
in  übersetzungstechnischer  und  stilistischer  Hinsicht  den  Abstand  von 
der  Großtat  Luthers  erweist. 

F.  Spitta  setzt  in  einer  zunächst  in  der  ., Monatsschrift  für  Gottesdienst  und 
kirchliche  Xunst'^  veröffentlichten,  dann  auch  als  Sonderdruck  erschienenen  Abhand- 
lung über  ,,Die  Lieder  Luthers"  (Göttingen  1917)  seine  früheren  Studien  über  dieses 
Thema  fort.  Nach  dem  Hinweis  darauf,  wie  schon  vor  Luther  in  den  Jahren  1520 
bis  23  das  evangelische  Kirchenlied,  in  den  verschiedensten  Formen  und  von  zahl- 
reichen Dichtern  (Spitta  kann  nicht  weniger  als  sechzehn  Persönlichkeiten  namhaft 
machen)  gepflegt,  eine  gewisse  Entwicklung  erreicht  hatte,  tritt  er,  mit  Polemik  gegen 
W.  Köhler  u.  a. ,  abermals  für  seine  alte  These  von  der  früheren  und  aus  persön- 
lichen Stimmungen  hervorgegangenen  Abfassung  der  lutherischen  Lieder  ein,  die  dann 
erst  1524  zur  Veröffentlichung  gekommen  seien,  ohne  daß  man  immer  seiner  spitz- 
findigen Auslegung  der  brieflichen  Quellen  mit  genügender  Überzeugung  folgen  könnte — 
Unter  dem  Titel  „Enchiiidion  geistlicher  gesenge  und  psalmen^'  veröffentlicht  H.  Hof- 
mann  in  einem  Osterprogramm  (Leipzig  1914)  einen  Faksimiledruck  des  ersten 
Leipziger  Gesangbuches  von  "W".  Blume  vom  Jahre  1530,  dessen  hymnologische  Ein- 
führung sich  freilich  in  der  Gesangbuchliteratur  der  frühreformatorischen  Zeit  zu 
wenig  bewandert  zeigt.  —  Mehr  von  theologischem  als  literarhistorischem  Interesse 
ist  die  Breslauer  Dissertation  (1917)  von  M.  Frey  er,  die  „Luthers  Bußpsalmen  und 
Psalter"  nach  ihren  jüdischen  und  lateinischen  Quellen  untersucht.  Ausgehend  von 
der  Tatsache,  daß  die  Ausgaben  der  Bußpsalmen  von  1517  und  1525  und  des  Psalters 
von  1528  und  1531  je  starke  sprachliche  und  stilistische  Fortschritte  aufweisen,  kann 
der  "Verfasser  an  der  Hand  der  jetzt  in  der  Weimarischen  Ausgabe  veröffentlichten 
ßensionsprotokolle  nachweisen,  daß  die  bisherige  Ansicht  einer  alleinigen  Abhängig- 
keit der  Psalmenübersetzung  Luthers  von  Nicolaus  von  Lyra  nicht  haltbar  ist,  sondern 
die  Verbesserung  auch  mit  auf  Rechnung  jüdischer  Kommentatoren  zu  setzen  sind. 

Erfreuhcherweise  ist  im  Berichtszeitraum  mehrfach  die  Sprache 
Luthers  zum  Gegenstande  eindringender  Untersuchung  gemacht  worden. 
Zu  nennen  ist  hier  besonders  die  grundlegende  Umarbeitung,  die 
C.  Frankes  1888  erstmalig  erschienene  „Grundzüge  der  Schrift- 
sprache Luthers"   erfahren    haben  und  die  das  schon  damals  verdienst- 

3* 

35 


volle  Werk  von  dreihundert  Seiten  auf  drei  starke  Bände  erweiterte. 
Dem  1913  neu  erschienenen  ersten  Band,  der  die  Lautlehre  behandelte, 
ist  jetzt  (Halle  1914)  die  Wortlehre  gefolgt,  während  ein  dritter  noch 
ausstehender  Band  die  Syntax  bringen  wird.  Überall  tritt  die  auf  jahr- 
zehntelanger Forschung  beruhende  genaue  Kenntnis  des  Verfassers  zu- 
tage, so  daß  man  sich  trotz  mancher  Vorbehalte  im  einzelnen  mit 
Vertrauen  der  philologisch  fest  fundierten  und  klar  geschriebenen  Dar- 
stellung hingeben  kann.  Der  Gesamteindruck  der  aufgezeigten  sprach- 
lichen Entwicklung  ist  wiederum  der  (was  endlich  in  das  Bewußtsein 
aller  deutschsprachlichen  Lehrer  übergehen  sollte),  daß  wir  mit  der  alten 
Dreiteilung  in  Ahd.,  Mhd.  und  Nhd.  nicht  auskommen,  sondern  eine 
besondere  frühneuhochdeutsche  Mittelstufe  von  zirka  1350  bis  zirka  1650 
annehmen  müssen,  innerhalb  deren  Luther  den  Höhepunkt  darstellt. 
Damit  würde  auch  der  immer  noch  spukenden  Lehre  von  Luther  als 
dem  Begründer  der  nhd.  Schriftsprache  der  Boden  entzogen.  —  Dem 
Verhältnis  der  Witteuberger  Lutherdrucke  zu  den  handschriftlichen 
Originalen  sind  zwei  konkurrierende  Dissertationen  gewidmet  worden. 
F.  Haubold s  Jenaer  Dissertation  (1914)  mit  dem  Titel  „ Untersuchung 
über  das  Verhältnis  der  Originaldrucke  der  Wittenberger  Hauptdrucker 
lutherscher  Schriften:  Grunenberg,  Lother,  Döring-Cranach  und  LufFt 
zu  Luthers  Druckmanuskripten"  sucht  dem  Problem  fleißig,  aber  etwas 
äußerlich  an  der  Hand  eingehender  Listen  über  die  Abweichungen  der 
Rechtschreibung,  Interpunktion,  Lautlehre,  Deklination,  Wortbildung, 
Textveränderung  und  Druckfehler  beizukommen.  Tiefer  greift  die 
Hallesche  Dissertation  (1915)  von  E.  Giese,  die  sich  auf  ihrem  Titel- 
blatt als  „Untersuchungen  über  das  Verhältnis  von  Luthers  Sprache 
zur  Wittenberger  Druckersprache"  ankündigt  und  die  die  Originaldrucke 
Melchior  Lothers  (1520  —  25)  und  Michael  Lothers,  Hans  Luffts  und 
Nickel  Schirlentz'  in  den  Jahren  1527  —  31  eingehend  in  ihrem  Ver- 
hältnis zu  den  in  der  Weimarischen  Ausgabe  bis  1533  vorgelegten 
Druckmanuskripten  und  den  indirekten  Quellen  der  Tischreden  und 
Predigten  besonders  auf  dem  Gebiete  der  Laut-  und  Formenlehre,  aber 
auch  einiger  Kapitel  der  Syntax  prüft.  Das  trotz  der  verschiedenen 
Behandlungsweise  übereinstimmende  und  eine  Bereicherung  unserer  bis- 
herigen Kenntnisse  bringende  Resultat  beider  Arbeiten  ist  der  Nachweis, 
daß  die  Abweichungen  zwischen  Plandschriften  und  Drucken  infolge 
gegenseitiger  Annäherung  immer  geringer  werden,  daß  Luther  besonders 
seit  dem  Jahre  1525  immer  bewußter  sich  dem  fortschrittlichen  Sprach- 
typus der  Drucktexte  anschließt  und  daß  somit  die  Wittenberger  Drucker 
in  der  sprachgeschichtlichen  Entwicklung  eine  immerhin  bedeutsame 
Rolle  spielen,  indem  sie  auf  Luther  anregend  und  zur  Konsequenz 
mahnend  einwirkten. 

Mehrfache  Bereicherung  kann  auch  die  Hans  Sachs- Literatur  auf- 
weisen. Das  Programm  von  F.  Hintner  (Wels  1915),  das  sich  „Bau- 
steine zu  einer  Hans  Sachs- Bibliographie  1"  nennt,  war  mir  bei  den 
mangelnden  Austauschverhältnissen  der  Gegenwart  nicht  zugänglich.  — 
Recht  wertvoll  erweisen  sich  die  „Kritischen  Studien    zu  Hans  Sachs", 

3(i 


die  P.Kaufmann  als  Breslauer  Dissertation  (1915)  Lerausbrachte.  In 
ihrem  ersten  wesentlichen  Teil  beschäftigen  sie  sich  mit  Hans  Sachsens 
Verhältnis  zum  vierten  und  fünften  Band  der  Nürnberger  Folioausgabe. 
Diese  beiden  1578  und  79  hervorgetretenen  Bände  faßte  man  bisher 
textkritisch  anders  auf  als  die  drei  früheren,  noch  bei  Lebzeiten  des 
Hans  Sachs  erschienenen  Bände  der  Jahre  1558,  1560  und  1561,  so  daß 
sie  Götzes  Ausgabe  denn  auch  von  ihrem  fünfzehnten  Bande  ab  nur  noch 
in  den  Anmerkungen  verwertete.  Kaufmann  kann  überzeugend  dartun, 
daß  auch  diese  beiden  Schlußbände  noch  von  Hans  Sachs  selbst  für 
die  Folioausgabe  hergestellt  wurden  und  ihre  Veröffentlichung  sich  nur 
deshalb  so  herauszog,  weil  der  dichterische  Vorrat  des  Nürnberger 
Meisters  ziemlich  erschöpft  war  und  die  besonders  in  den  Jahren 
1562  —  66  fruchtbare  Neudichtung  einen  gleichzeitigen  Eintrag  in  die 
Spruchgedichtbände  und  in  die  Druckgrundlagen  der  Folioausgabe  not- 
wendig machte.  Von  fremder  Herausgebertätigkeit  kann  jedenfalls  bei 
diesem  vierten  und  fünften  Bande  nicht  die  Rede  sein,  was  für  ihre 
kritische  Bewertung  natürhch  sehr  wesentlich  ist.  Der  zweite  Teil  der 
Studien  des  Verfassers  gibt  „Beiträge  zur  Metrik  des  Hans  Sachs",  in 
denen  er  sich,  zum  Teil  mit  Polemik  gegen  Götze  und  Kleinstück,  in 
dem  bekannten  Streite  der  beiden  metrischen  Prinzipien  für  die  Gültig- 
keit des  alternierenden  Verses  mit  regelmäßigem  Wechsel  von  Hebung 
und  Senkung  ausspricht,  indem  er  zugleich  den  Hans  Sachsvers  in 
die  historische  Versentwicklung  einordnet. 

Auch  der  zu  früh  der  Wissenschaft  entrissene  Plenio  kam  in  einem  Aufsatz 
in  Paul  und  Braunes  Beiträgen  (42,  415)  innerhalb  seiner  altdeutschen  Strophikstudien 
auf  den  Hans  Sachs- Vers  zu  sprechen  mit  gleicher  Entscheidung  für  die  alternierende 
Skansion.  Für  diese  Theorie,  die  neuerdings  gegenüber  dem  Prinzip  von  der  natür- 
lichen Yersbetonung  sichtlich  immer  mehr  Boden  gewinnt,  sprach  sich  auch  L.  Pf  ann- 
müller  (-J-)  in  einem  Aufsatz  der  Beiträge  (43.  Bd.)  „Zur  Auffassung  des  Hans 
Sachs-Verses"  aus,  freilich  mehr  mit  aprioristischen  Gründen  als  auf  Grund  empirischer 
Darlegung,  was  mit  Recht  "W.  Richter  in  seinen  Erörterungen  über  „Die  Grundlage 
des  Hans  Sachs -Verses "  (ebd.  43.  Bd.)  bemängelt,  der  zugleich  die  Notwendigkeit 
„einer  materialbeherrschenden  kritischen  Entwicklungsgeschichte  des  Hans  Sachs- 
Verses''  betont.  —  Nachdrücklich  sei  auch  nochmals  auf  die  überaus  tüchtige  Berliner 
Dissei-tation  (1913)  von  S.  Wernike  über  „Die  Prosadialoge  des  Hans  Sachs"  hin- 
gewiesen, die  die  vier  Dialoge  von  1524  und  diejenigen  von  1546  und  1554  in  einer 
grundlegenden  Untersuchung  nach  ihrer  inhaltlichen  und  formalen  Seite  hin  und  in 
ihren  Zusammenhängen  mit  der  politischen,  religiösen  und  kulturellen  Umwelt  be- 
leuchtet. 

Mit  einem  anderen  Vertreter  meistersingerischer  Volkskunst  be- 
schäftigt sich  eine,  auch  selbständig  in  Buchform  erschienene  Münchener 
Dissertation  (1914)  von  R.  Pfeiffer,  die  den  Titel  führt  „Der  Augs^ 
burger  Meistersinger  und  Homerübersetzer  Johannes  Spreng".  Nach 
der  Schilderung  von  Sprengs  Leben  (1524 — 1601)  werden  die  deutschen 
Meisterlieder  und  lateinischen  Gedichte  besprochen  und  darauf  seine 
Übersetzungen  des  Ovid,  der  jüdischen  Geschichten  des  Josephus  und 
des  Vergil  behandelt,  während  das  Schlußkapitel  eingehend  die  deutsche 
Iliasübersetzung  in  kurzen  Reimpaaren  vom  Jahre  1610  würdigt,  als 
deren  Grundlage  eine  Baseler  gräcolateinische  Ausgabe  von  1561  er- 
wiesen werden  kann. 

37 


Während  die  Lyrik  dieser  Epoche  und  die  nachreformatorische 
satirische  Dichtung  von  der  Forschung  dieser  Jahre  unberücksichtigt 
bheben,  hat  sich  die  Aufmerksamkeit  wiederholt  der  dramatischen  Pro- 
duktion zugewendet.  An  der  Spitze  steht  hier  Max  Herrmanns 
großes  und  vielfach  anregendes  Werk  „Forschungen  zur  deutschen 
Theatergeschichte  des  Mittelalters  und  der  Renaissance"  (Berlin  1914), 
das  in  seinem  einleitenden  prinzipiellen  Teil  zwar  einen  scharfen  Strich 
zwischen  Dramen-  und  Theatergeschichte  ziehen  möchte,  gleichwohl  aber 
auch  auf  die  Geschichte  der  dramatischen  Kunst  neues  Licht  wirft.  Mit 
seiner  auf  weiten  Umwegen  vorrückenden  und  jeden  lockenden  Seiten- 
pfad gern  benutzenden  Darstellung  berührt  es  zahlreiche  kultur-,  kunst- 
und  geistesgeschichtliche  Probleme,  die  aufklärend  beleuchtet  werden 
und  das  Buch  zu  einer  bedeutsamen  Erscheinung  machen,  auch  wenn 
die  positiven  Resultate  für  die  theatergeschichtliche  Forschung  nicht  allzu 
ergiebig  sind.  In  seinem  ersten  Teil  beschäftigt  es  sich,  besonders  an 
der  Hand  der  in  den  Drucken  wie  in  den  alten  Handschriften  vor- 
liegenden Bühnenanweisungen  eingehend  mit  dem  Theater  der  Nürn- 
berger Meistersinger.  Indem  der  Verfasser  vor  unseren  Augen  eine 
Aufführung  des  „Hürnen  Sewfried"  v.  J.  1557  erstehen  läßt,  versucht  er 
—  freilich  mit  zu  starkem  Vertrauen  auf  diesen  nicht  genügend  breiten 
Unterbau  —  eine  Rekonstruktion  der  Meistersingerbühne  in  der  Nürn- 
berger Marthakirche  mit  dem  Hauptergebnis,  daß  die  Vorstellung  im 
Altarraum  und  einem  unmittelbar  davorliegenden  Teil  des  Schiffes  vor 
sich  gegangen  sei,  während  das  Publikum  selbst  im  Schiffsraum  Platz 
genommen  habe.  Nachdem  dann  weiterhin  über  die  bei  der  Aufführung 
verwendeten  Dekorationen,  Requisiten  und  Kostüme  eingehend  und  viel- 
fach klärend  gehandelt  worden  ist,  beschäftigt  sich  ein  besonders  an- 
regender und  interessanter  Abschnitt  mit  dem  Problem  der  Schauspiel- 
kunst, besonders  des  Gebärdenspiels.  Weitausholend  untersucht  H. 
Mimik  und  Gestik  in  der  weltHchen  wie  geistlichen  epischen  Literatur 
des  Mittelalters  und  kann  eine  reiche  Entwicklung  der  epischen  Aus- 
druckskunst erweisen,  während  für  das  geistliche  Schauspiel  des  Mittel- 
alters eine  gewisse  Starrheit  des  überlieferten  Stils  sich  kundgibt  und 
nur  aut  selten  des  Fastnachtsspieles  mit  seinem  realistischen  Bühnenstü 
eine  stärkere  Bewegtheit  erkennbar  ist.  Der  zweite  Teil  der  Herrmann- 
schen  Untersuchungen  ist  den  Dramenillustrationen  des  15.  und  16.  Jahr- 
hunderts gewidmet  und  kommt  so  einer  neuerdings  stärker  hervortretenden 
Neigung  zur  Ausnutzung  der  historischen  Parallelentwicklung  dichterischer 
und  bildender  Kunst  entgegen.  Auch  diese  bildkritischen  Forschungen 
fallen  freilich  in  der  Hauptsache  negativ  aus,  da  der  Mangel  eines 
engeren  Konnexes  zwischen  Text  und  Illustration  bei  den  vorwiegend 
zur  Untersuchung  stehenden  Terenzdrucken  keine  Rückschlüsse  für  die 
Art  der  Aufführung  erlaubt  und  nur  der  Lyoner  Terenz  von  1493  für 
die  theatralische  Praxis  aufhellend  ausgebeutet  werden  kann.  —  Obwohl 
der  vorliegende  Forschungsbericht  im  allgemeinen  sich  nicht  mehr  auf  das 
Jahr  1920  erstrecken  kann,  sei  hier  gleich  auf  eine  kritische  Ergänzung  zu 
dem  Werk  Herrmanns  aus  neuester  Zeit  hingewiesen.    Es  ist  A.  Kösters 


kleine,  aber  in  ihrer  scharfsinnigen  Darlegung  ungemein  ergebnisreiche 
Schrift:    „Die  Meistersingerbühne    des    16.  Jahrhunderts.     Ein  Versuch 
des  Wiederaufbaus"  (Halle  1920).    Sie  weist  einleitend  darauf  hin,  daß 
die  Herrmannsche  Rekonstruktion,  selbst  wenn  sie  richtig  wäre,  keines- 
wegs typische  Geltung  beanspruchen  könnte,  da  aus  dem  aktenmäßigen 
Material    eine    Verschiedenheit    der    Aufführungslokalität    wie    der    dar- 
stellenden   meistersingerischen  Truppen    zu    belegen    ist    und   gerade  die 
Spezialtruppe    des    Hans    Sachs    gewöhnlich   im   Remter   des    Prediger- 
klosters und  nicht  in  der  Marthakirche  spielte.    Der  Hauptteil  der  Schrift 
aber   kann   unter    vorsichtigster   Verwertung   und    Ausdeutung   aller   in 
den  alten  Texten  liegenden  Anweisungen  überzeugend  dartun,  daß  die 
von  Herrmann  angenommenen  Platzverhältnisse  gerade  umzukehren  sind 
und   die  Vorstellung   im    Schiff  vor   sich  ging,    während  die  Zuschauer 
vom  Chorraum  aus  zusahen.     Vor   den  Augen  des  Lesers    ersteht  lang- 
sam   von    neaem    in    diesen    Ausführungen    die    Meistersingerbühne    mit 
Nebenraum,  Aus-  und  Eingängen,  Treppen,  Requisiten,  Vorhang  usw., 
bis  zum  Schluß  gewissermaßen  zur  Probe  die  Inszenierung  zweier  Hans 
Sachsischer  Dramen  auf  dieser  neuerschlossenen  Bühne  vorgeführt  wird. 
Gehen  wir  zum  Drama  selbst  über,  so  sei  zunächst  auf  die  tüchtige 
Hallesche   Dissertation    (1914)    von   K.  Mechel   hingewiesen,    die    sich 
mit  der  „Historie   von    vier  Kaufmännern  und  deren  dramatischen  Be- 
arbeitungen   in  der  deutschen  Literatur  des  16.  und   17.  Jahrhunderts" 
befaßt.     Die  auch  bei  Boccaccio  sich  findende,   aber  nach  Deutschland 
aus  französischer  Quelle   gekommene  Erzählung  von  der  Wette  um  die 
Ehrbarkeit  einer  Frau  wird  in  den  deutschen  und  ausländischen  Drucken 
sowie    in    den    dramatischen    Bearbeitungen    von    Hans    Sachs   (1548), 
Zacharias  Liebholdt  (1596),  Michael  Kongehl  (1663),  Jacob  Ayrer  und 
Shakespeare  eingehend  untersucht. 

AVährend  Forschungen,  die  sich  mit  dem  Stil  und  der  Eigenart  ganzer  drama- 
tischer Gnippen  und  Richtungen  befassen,  im  Berichtszeitraum  gänzlich  fehlen,  ist 
eine  Reihe  von  Sonderuntersuchungen  üher  einzelne  Dramatiker  dieser  Epoche  zu 
nennen.  Eine  Münchener  Dissertation  (1914)  von  "W".  Brand!  (=  Forschungen  z.  u. 
dtsch.  Litg.,  48.  Bd.)  beschäftigt  sich  mit  der  dramatischen  Tätigkeit  des  Augsburger 
Meistersingers  Sebastian  Wild.  In  seinem  besonders  eingehend  behandelten  Weih- 
uachtsspiel,  das  auch  dem  legendarischen  Element  sich  nicht  verschließt,  und  in  seineu 
übrigen  geistlichen  Dramen  sowie  in  den  nach  Volksbüchern  gearbeiteten  Stücken 
zeigt  er  sich  im  allgemeinen  als  eine  geringe  dramatische  Begabung,  wenn  auch  B. 
in  den  Fällen,  wo  "Wild  mit  Hans  Sachs  konkurriert,  dem  Augsburger  den  Preis  vor 
dem  Nürnberger  Meistersinger  zuerkennen  möchte,  —  Dem  Leben  und  Schaffen  von 
Valentin  Boltz,  der  als  geborener  Elsässer  nach  württembergischen  Pfarrjahren  von 
1542  bis  zu  seinem  1560  erfolgten  Tode  in  der  Schweiz  lebte  und  einen  Höhe- 
punkt der  Baseler  Dramatik  darstellt,  ist  eine  Baseler  Dissertation  (1916)  von  F.Mohr 
gewidmet,  die  den  Gang  seines  äußeren  Lebens,  sowie  die  Stoffe,  den  Zeitgehalt,  den 
iStil  und  die  dramatische  Form  seiner  Volksschauspiele  ansprechend  behandelt.  — 
„Untersuchungen  zu  den  Dramen  Wolfhart  Spangenbergs"  betitelt  J.  Schw^aller 
seine  von  guter  Schulung  und  Belesenheit  zeugende  Straßbuiger  Dissertation  (1914). 
Nach  dem  ersten  biographischen  Kapitel  mit  seinen  Aufklärungen  über  Spangenbergs 
Leben  (1597—1611  in  Straßburg  als  Korrektor,  t  1636  als  Pfarrer  in  Buchenbach) 
beschäftigt  sich  das  zweite  Kapitel  mit  seinen  elf  Übersetzungen  lateinischer  Dramen, 
die  als  Textbücher  für  die  Aufführungen  der  Straßburger  Schulbühne  gedacht  waren, 
und  deren  Abweichungen  vom  Original,  wie  als  Hauptergebnis   gebucht  werden  kann, 

39 


schon  in  dem  vermittelnden  Bahnenexemplar  zu  finden  sind.  Das  Schlußkapitel  ist 
den  sechs  für  Meistersingeraufführungen  bestimmten  Originaldramen  Spangenbergs 
gewidmet,  die  mit  ihrer  guten  Komik  und  plastischen  Charakterzeichnung  den  scharfen 
Beobachter  volkstümlichen  Lebens  verraten.  —  Nachdem  seinerzeit  (1909)  Franz 
Wegner  mit  seiner  Arbeit  über  den  „Trewen  Eckharf  die  Spezialforschung  über 
Bartholomäus  Ringwaldt  eingeleitet  hatte,  behandelt  E.  K rafft  das  dramatische  Haupt- 
werk des  Langenfelder  Pfarrers,  das  „speculum  mundi''  nach  der  sprachlichen,  text- 
kritischen ,  literarhistorischen  und  stilistischen  Seite  in  einer  auch  in  den  Breslauer 
germanistischen  Abhandlungen  (H.  47)  selbständig  erschienenen  Breslauer  Dissertation 
(1915).  Nach  einem  einleitenden  Forschungsbericht  über  das  Fortleben  des  Dichters 
vom  17.— 19.  Jahrhundert  analysiert  der  Verfasser  zunächst  die  Sprache  des  Werkes, 
die  sich  im  wesentlichen  als  übereinstimmend  mit  der  Luthersprache  erweist,  nur 
einen  schärferen  dialektischen  Eiusclilag  des  Schlesischen  verrät.  Nach  einer  genauen 
Charakteristik  der  drei  Ausgaben  des  sp.  m.  (zwei  von  1590  und  eine  von  1645)  zeigt 
die  dai'an  sich  anschließende  literarhistorische  Betrachtung,  daß  in  diesem  protestan- 
tischen Teudenzdrajua  das  vorgeführte  Pastorenschicksal  nicht  Spiegel  persönlicher 
Erlebnisse  ist,  wohl  aber  offenkundig  zeitgeschichtliche  Verhältnisse  verweilet  sind. 
Besonders  interessant  sind  dann  die  weiteren  Untersuchungen,  die  das  Drama  mit  der 
mittelalterlichen  Tradition  verankern,  es  mit  der  Dramatik  des  16.  Jalirhunderts  in 
lehrreiche  Beziehungen  stellen  und  seinen  nach  Kontrastwirkung  und  Volkstümlich- 
keit strebenden  Stil  näher  ins  Auge  fassen.  —  Recht  lehrreich  ist  auch  die  ßostocker 
Dissertation  (1914)  von  C.  Ni essen  über  „Schul-  und  Bürgeraufführungen  in  Köln 
bis  zum  Jahre  1700".  Nachdem  etwas  .summarisch  die  weltlichen  und  geistliclien  An- 
fänge dramatischen  Lebens  in  Köln  gestreift  worden  sind,  werden  die  humanistisch- 
dramatischen Vorführungen  an  den  Kölner  Bursen  (Schottenius,  Broelmanu  u.  a.)  nach 
Inhalt  der  Stücke  und  Aufführungsart  und  dann  im  zweiten  Teil  entsprechend  die 
Bürgerstücke  nach  Stoff,  Form  und  Inszenierung  behandelt.  —  Eine  Auslese  aus  den 
Werken  des  Wiener  Schottenschulmeisters  Wolfgang  ScLmeltzl,  die  Ella  Triebnigg 
(Wien  1916)  mit  Anmerkungen  herausgegeben  haben  soll,  war  mir  nicht  zugänglich. — 
Neben  diesen  individualistisch  und  lokalgeschichtlich  gerichteten  Arbeiten  sucht  die 
Straßburger  Dissertation  (1917)  von  M.  Spenle  den  Rahmen  mit  größerer  provinzieller 
Betrachtung  weiter  zu  spannen,  indem  sie  „Die  Lebeusdarstellung  im  elsässischen 
Volksschauspiel  des  16.  und  17.  Jahrhunderts"  aus  der  Analyse  von  28  Dramen  in 
dem  Zeitraum  von  1531 — 1616  zu  einem  Gesamtbilde  zusammenzufassen  sucht.  Frei- 
lich bietet  sie  mehr  als  der  Titel  besagt,  da  sie  vor  der  im  zweiten  Teil  behandelten 
Darstellung  des  physischen  und  psychischen  Lebens  in  den  Dramen  von  Wickram, 
Frey,  Boltz,  Montanus,  Rasser  u.  a.  auch  eingehend  die  aus  volkstümlichen  und  ge- 
lehrten Elementen  bestehende  äußere  und  innere  Technik  jener  Stücke  vorführt. 

Wenn  an  sich  die  Forschungen  über  das  literarische  Leben  des 
16.  Jahrhunderts  im  Vergleich  mit  dem  für  das  18.  und  19.  Jahrhun- 
dert geltenden  Hochbetrieb  auffallend  zurücktreten,  so  wird  von  dieser 
stiefmütterlichen  Behandlung  leider  noch  immer  die  humanistisch  -  neu- 
lateinische Welt  besonders  empfindlich  getroffen.  Seitdem  um  1890  sich 
ein  verheißungsvoller  Aufschwung  in  diesen  Studiengebieten  bemerkbar 
zu  machen  schien,  sind  zwar  mannigfache  wertvolle  Beiträge  auch  auf 
diesem  beschränkten  Gebiete  aufzuweisen,  die  aber  meistens  auf  Rech- 
nung von  textkritischen  Neudrucken  und  biographischen  Einzelforschungen 
kommen.  Größere  wirklich  literarhistorische  und  geistesgeschichtliche 
Einstellungen,  die  die  Fäden  durch  ganze  Dezennien  hindurch  und  auch 
nach  der  ausländischen  Literatur  hin  ziehen,  sind  fast  nirgends  anzutreffen. 
Und  doch  soll  auch  hier  energisch  betont  werden,  daß  diese  neulateinische 
Welt,  gleichviel  ob  sie  humanistischer  oder  jesuitischer  Herkunft  ist,  bei 
ihrer  gewaltigen  stofflichen  und  formalen  Bedeutung  für  die  gesamte 
Geistes-  und  Bildungsgeschichte  dieser  Jahrhunderte  auch  von  dem  deut- 

40 


sehen  Literarhistoriker  ungleich  mehr  als  bisher  beachtet  werden  muß 
und  das  lateinische  Gewand  keine  Entschuldigung  für  die  meistens  ge- 
übte Ignorierung  sein  kann.  Es  ist  dringend  zu  wünschen,  daß  dem 
neueren  Aufschwung  der  mittellateinischen  Studien,  wie  er  auch  in  Paul 
Lehmanns  Münchener  Akademiebericht  „  Aufgaben  und  Anregungen  der 
lateinischen  Philologie  des  Mittelalters"  (1918)  zutage  tritt,  eine  ent- 
sprechende Belebung  und  Vergeistigung  der  neulateinischen  Forschung 
auf  den  Fuß  folgt.  Leider  fehlt  es  ja  freilich  an  einem  besonderen 
Organ  für  Untersuchungen  dieser  Art,  aber  das  erfreulich  aufblühende 
„  Münchener  Museum  für  Philologie  des  Mittelalters  und  der  Renaissance ", 
die  Z.f.  d.A.,  die  Z.f.d.Ph.,  das  Archiv  für  Kirchengeschichte,  die  Histo- 
rische Zeitschrift  und  andere  periodische  Erscheinungen  sind  erfahrungs- 
gemäß immer  bereit,  auch  solchen  „undeutschen"  Untersuchungen  ihre 
Pforten  zu  öffnen.  Freihch  scheint  die  Zeitstimmung  solcher  Vertiefung 
in  die  lateinische  Welt  der  Frühneuzeit  nicht  eben  günstig  zu  sein; 
geht  doch  eher  ein  unverkennbarer  Zug  unserer  Tage  zur  ,, gotischen" 
Welt  des  Spätmittelalters,  wie  sich  in  der  Kunstgeschichte,  in  der  Kir- 
chengeschichte und  in  anderen  Disziplinen  deutlich  zeigt.  In  den  ger- 
manistischen Reihen  machte  sich,  noch  unter  dem  Eindruck  des  stark 
belebten  Nationalbewußtseins  der  ersten  Kriegsjahre,  R.  Benz  zum  uner- 
schrockenen und  begeisterten  Verfechter  solcher  Anschauungen,  indem 
er  in  seinen  Blättern  „Für  deutsche  Art  und  Kunst"  (1915 ff.)  die  Re- 
naissance als  „das  Verhängnis  der  deutschen  Kultur"  bezeichnete  und 
eine  Rettung  aus  den  geistigen  Nöten  unserer  Zeit  nur  in  der  unmittel- 
baren Anknüpfung  an  die  spätmittelalterliche  Geistes-  und  Kunstwelt  zu 
finden  meinte,  während  gleichzeitig  Worringer  u.  a.  die  gotische  Kunst 
zu  neuen  Ehren  brachten.  So  sympathisch  manches  an  dem  stürmerisch- 
drängerischen  Hinstreben  von  Benz  zu  echt  deutscher  Art  berührt,  so 
wenig  kann  man  sich  der  Einseitigkeit  und  Überspanntheit  seiner  Auf- 
fassung verschließen,  die  auch  die  romanisierte  höfische  Kunst  des  Hoch- 
mittelalters  nicht  gelten  lassen  will  und  nur  die  frühmittelhochdeutsche 
Zeit  (z.  B.  Eilharts,  nicht  Gottfrieds  Tristan)  und  die  spätmittelalter- 
liche Epoche  (Volksbücher!)  anerkennt.  —  Als  bedeutsamer  und  doch 
maßvoller  Wortführer  für  die  gegnerische,  humanistische  Seite  trat  vor 
allem  K.  Burdach  auf  den  Plan,  der  nach  seinen  grundlegenden  For- 
schungen über  den  böhmischen  Frühhumanismus  und  jene  für  Jahrhun- 
derte entscheidungsvolle  Wegbiegung  der  deutschen  Bildungsgeschichte 
wie  kein  anderer  berufen  war,  dem  gotischen  Ungestüm  die  Zügel  an- 
zulegen und  die  positiven  Werte  des  Renaissanceeinschlages  zu  wür- 
digen. In  seinem  schönen  Aufsatz  „Deutsche  Renaissance"  (in  den 
„Deutschen  Abenden"  des  Berliner  Zentralinstituts  für  Erziehungs- 
geschichte, Berlin  1916)  machte  er  vor  allen  Dingen  geltend,  daß  auch 
das  von  Benz  in  so  verklärtem  Lichte  geschaute  Mittelalter  keineswegs 
eine  volkhafte,  einheitliche  und  naiv  -  künstlerische  Kultur  aufzuweisen 
habe,  sondern  sich  ebenfalls  schon  überall  von  der  Kluft  zwischen  höherer 
und  niederer,  fremder  und  einheimischer  Bildung  erfüllt  zeige.  Nach- 
drücklich  wies  er  die   alte  Legende   von   dem   gemeineuropäischen  und 

41 


vorwiegend  aus  der  Wiederbelebung  der  Antike  geflossenen  Ursprung 
der  Renaissance  zurück,  die  vielmehr  zunächst  eine  vaterländische  Sonder- 
angelegenheit der  Italiener  gewesen  sei  und  anfangs  nicht  in  internatio- 
nalen, sondern  direkt  nationalistischen  Bahnen  sich  bewegt  habe.  Nach 
alledem  erscheint  die  Renaissance,  wie  neuerdings  auch  von  Singer  u.  a. 
angenommen  wird,  nicht  als  ein  äußerliches  Ilinstreben  zu  antiker  Geistes- 
bildung, sondern  vielmehr  als  grandioser  Versuch  einer  Amalgamierung 
antiken  und  mittelalterlichen  Geistes.  —  Lehrreich  ist  in  dieser  Hinsicht 
auch  die  tiefschürfende  Aufsatzfolge  von  Burdach,  die  er  unter  dem 
Titel  „Über  den  Ursprung  des  Humanismus"  in  der  „Deutschen  Rund- 
schau" (158.  Bd.)  erscheinen  ließ  und  die  unter  Zurückdrängung  des 
bisher  einseitig  hervorgehobenen  antikisierenden  Zuges  den  Zusammen- 
hang der  Renaissance  mit  der  religiösen  Reformbewegung  und  der  Sehn- 
sucht nach  neuen  idealistischen  Grundlagen  herausarbeitet.  Schließlich 
sei  allen  denen,  die  sich  für  diese  Probleme  interessieren,  die  Schrift 
Burdachs  „Reformation,  Renaissance,  Humanismus"  (Berlin  1918)  emp- 
fohlen, die  unter  neuem  Titel  zwei  ältere  Vorträge  dieses  Forschers  von 
neuem  zum  Abdruck  bringt,  nämlich  die  1910  vor  der  Berliner  Aka- 
demie der  Wissenschaften  dargebotene  wort-  und  geistesgeschichtliche 
Studie  über  „Sinn  und  Ursprung  der  Worte  Renaissance  und  Refor- 
mation" mit  ihrer  Darlegung  des  engen  Zusammenhangs  beider  Begriffe 
miteinander  und  die  1913  vor  der  Marburger  Philologen  Versammlung 
entwickelten  Gedanken  „Über  den  Ursprung  des  Humanismus",  die  mit 
weltgeschichtlicher  Einstellung  die  Keime  jener  religiös  -  kulturellen  Re- 
formbewegung vom  italienischen  Trecento  bis  in  altgriechische  und  früh- 
christliche Zeiten  zurückverfolgen. 

Daß  im  zweiten  Band  der  gesammelten  Schriften  W.  D  i  1 1  h  e  y  s  die  epoche- 
machende Untersuchung  des  Berliner  Philosophen  über  „  Weltanschauung  und  Analyse 
des  Menschen  seit  Renaissance  und  Reformation"  jetzt  bequem  zugänglich  ist,  sei  kurz 
erwähnt.  —  Willkommen  war  ein  kritischer  Neudruck  der  seinerzeit  von  Wunderlich  in 
den  M.  Bernays  gewidmeten  „Studien  zur  Literaturgeschichte"  untersuchten  ersten  Te- 
renzübersetzung  des  vorübergehend  auch  als  Ulmer  Bürgermeister  nachweisbaren  Hans 
Neidhart  (1486),  die  H.  Fischer  in  den  Publikationen  des  Stuttgarter  literarischen 
Vereins  erscheinen  ließ  (Tübingen  1914)  und  die  neben  dem  Text  ein  ausführliches 
Glossar  der  gutschwäbischen  Sprache  dieser  Eunuchusübersetzung  bringt.  —  Als  nicht 
besonders  tief  eindringend  und  vielfach  nur  Bekanntes  zusammenstellend  erweist  sich 
die  pädagogische  Dissertation  (Leipzig  1915)  von  P.  Dittrich  mit  dem  Titel  „Plautus 
und  Terenz  in  Pädagogik  und  Schulwesen  der  deutschen  Humanisten",  die  die  Auf- 
fühning  der  antiken  Lustspiele  mit  der  Gesamttendenz  und  Organisation  des  Unter- 
richtswesens jener  Epoche  in  Zusammenhang  bringen  will,  aber  mit  ihren  im  einzelneu 
recht  brauchbaren  Hinweisen  und  urkundlichen  Nachrichten  dieses  Ziel  nur  teilweis<- 
erreicht. 

Von  den  sog.  Frühhumanisten  an  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts 
hat  nur  Heinrich  Steinhövel  Anlaß  zu  einer  besonderen  Untersuchung 
gegeben,  indem  W.  Borwitz  in  seiner  1914  erschienenen  Hallischen 
Dissertation  (vollständig  als  13.  Bd.  der  Hermaeaj  „Die  Übersetzungs- 
kunst H.  St.,  dargestellt  auf  Grund  seiner  Übersetzung  des  Speculum 
vitae  humanae  von  Rodericus  Zamorensis"  stihslisch  analysierte.  Die 
tüchtige  Arbeit,  die  über  die  alte  Heidelberger  Doktorschrift  von  K.  Karg 

42 


(1884)  über  die  Sprache  Steinhövels  mit  ihrer  nur  laut-  und  flexions- 
grammatischen Einstellung  wesentlich  hinauskommt,  stellt  sich  so  würdig 
der  zwei  Jahre  zuvor  veröffentlichten  Berliner  Dissertation  von  B.  Strauss 
über  den  Übersetzer  Nicolaus  von  Wyle  würdig  zur  Seite.  Ais  Vorlage 
der  im  Originalmanuskript  erhaltenen  und  1475  erschienenen  Übertragung 
wird  ein  vier  Jahre  zuvor  hervorgetretener  Druck  der  lateinischen  Schrift 
des  spanischen  Geistlichen  erwiesen.  Die  stilanalytische  Betrachtung 
gipfelt  in  dem  Nachweis  eines  einfachen,  sinnlichanschaulichen,  dem  Arzt- 
beruf Steinhövels  entsprechenden  Ausdrucks,  der  mit  seiner  Bevorzugung 
volkstümlicher  Stilmittel  und  dem  sichtlichen  Streben,  sich  von  Lati- 
nismen frei  zu  halten,  gute  Ansätze  zu  einem  rein  deutschen  Sprachstil 
aufweist. 

Aus  der  Periode  des  engeu  Zusamraenstehens  von  Humanismus  und  Eeformation 
ist,  abgesehen  von  dem  schönen  Neudruck  der  Huttenbiographie  von  D.  F.  Strauß, 
den  0.  Giemen  für  den  Inselverlag  herausgab,  nur  die  recht  wenig  ertragreiche  Greifs- 
walder  Dissertation  von  L.  Kuchanny,  (1915)  über  „Die  Synonyma  in  Ulrich  von 
Huttens  Vadiscus''  zu  nennen.  In  ihrem  Streben,  darzulegen,  in  welchem  Verhältnis 
Huttens  deutscher  Vadiscus  und  die  spätere  Straßburger  Übersetzung  der  Satire  von 
U.  Varnbüler  zum  lateinischen  Original  hinsichtlich  der  Synonyma  steht,  kommt  sie 
zu  dem  nicht  eben  weltbewegenden  Resultat,  daß  beide  Übersetzungen  den  Schmuck 
der  Synonymik  des  lateinischen  Textes  beizubehalten,  ja  zu  vermehren  suchen,  wobei 
aber  natürlich  die  eigene  Verdeutschung  des  fränkischen  Ritters  von  der  trockenen 
üngewandtheit  des  zweiten  Übersetzers  sich  vorteilhaft  abhebt.  —  Die  Studie  von 
A.  Knellwolf  über  den  „Weltlichen  Reformator  U.  von  Hütten''  war  mir  nicht  zu- 
gänglich. 

Eine  bibliographisch  wichtige  Entdeckung  machte  dagegen  A.  Bömer, 
indem  er  „einen  unbekannten  Frühdruck  der  Epistolae  obscurorum  vi- 
rorum"  fand,  über  den  er  im  32.  Bd.  des  Zentralblattes  f.  Bibliotheksw. 
berichtet  (1916).  Nachdem  derselbe  Verfasser  schon  drei  Jahre  zuvor 
in  der  Festschrift  für  P.  Schwenke  aufhellend  über  fünf  Frühdrucke 
der  berühmten  Humanistensatire  gehandelt  hatte,  weist  er  hier  aus  den 
Beständen  der  Berliner  Staatsbibliothek  einen  Druck  des  ersten  Teils 
mit  Anhang  nach,  der  sich  als  Nachdruck  der  Editio  III  ergibt,  dessen 
typographische  Herkunft  aber  trotz  einer  gewissen  Verwandtschaft  mit 
den  Druckwerken  der  Straßburger  Offizin  Grüningers  unbestimmt  bleiben 
muß. 

Die  zweifellos  tiefgehendste  Forschung  zur  Geschichte  des  deutschen 
Humanismus  innerhalb  des  Berichtszeitraums  stellt  das  schöne  Buch  von 
P.  Mestwerdt  über  „Die  Anfänge  des  Erasmus"  (Leipzig  1917)  dar. 
Der  Verfasser,  der  als  vielversprechendes  und  eigendenkerisches  Talent 
(vgl.  die  beigegebene  warmempfundene  Lebensskizze  von  C.  H.  Becker) 
leider  auch  zu  den  Opfern  des  Weltkrieges  gehört,  hat  sich  in  seiner 
zunächst  theologisch  gerichteten,  aber  allgemein  geistesgeschichtlich  fun- 
dierten Untersuchung  die  Aufgabe  gestellt,  die  Frömmigkeit  und  Theo- 
logie des  Erasmus,  wie  sie  sich  auf  dem  Höhepunkt  seiner  Entwicklung 
darstellt,  aus  seinem  geistigen  und  religiösen  Werdegang  zu  erklären. 
Die  tiefschürfende,  aus  lebendiger  Erfassung  des  gesamten  spätmittel- 
alterlichen und  frühneuzeitlichen  Geisteslebens  erwachsene  Untersuchung 
legt   so   zunächst    eingehend    die    geistesgeschichtlichen  Voraussetzungen 

43 


des  erasmischen  Frömmigkeitsideals  dar,  wie  sie  sich  namentlich  im  ita- 
lienischen und  niederländischen  Humanismus  finden,  um  daran  anschließend 
die  seelisch- geistige  Welt  des  jüngeren  Erasmus  bis  zum  Jahre  1499  zu 
schildern.  Bei  der  im  ganzen  zu  einseitig  philologisch  und  zu  wenig 
geistesgeschichtlich  gerichteten  Forschungsart  vieler  Arbeiten  zum  deut- 
schen und  ausländischen  Humanismus  wäre  zu  wünschen,  daß  dem  früh 
dahingegangenen  Neubahner  bald  tüchtige  Nachfolger  seiner  Methode 
und  Betrachtungsweise  erstünden. 

Sonst  ist  die  Erasmusliteratiu-  nur  durch  die  schmucke  Ausgabe  der  deutscheu 
Übersetzung  des  „Lobes  der  Torheit"  vertreten,  die  der  Münchener  Verlag  von 
G.  Müller  in  seiner  bibliophilen  Sammlung  „Bücher  der  Abtei  Thelem"  1918  ver- 
anstaltete. 

Bei  der  Veröffentlichung  von  „Zwanzig  Briefen  des  Herforder  Fraterherm 
J.  Montanus  an  W.  Pirkheimer",  die  K.  Löf  fler  im  72.  Bande  der  Zeitschr.  f.  vat. 
Gesch.  u.  Altertumsk.  (1915)  aus  den  Beständen  der  Nürnberger  Stadtbibliothek  gibt, 
ist  zu  bedauern,  dal!  diesen  aus  den  Jahren  1524  —  30  stammenden  und  im  wesent- 
lichen über  Pirkheimers  gesundheitliches  Befinden  und  seine  literarischen  Bestrebungen 
handelnden  Briefen  nicht  die  verschollenen  Antwortschreiben  des  Nürnberger  Huma- 
nisten beigegeben  werden  konnten.  —  Fleißig-sorgsame,  freilich  etwas  kleingeistige 
Forschung  bietet  E.  König  in  seinen  „  Peutingerstudien "  dar,  die  er  1914  im  9.  Bd. 
der  Studien  und  Darstellungen  aus  dem  Gebiet  der  Geschichte  erscheinen  ließ.  Der 
Verfasser,  der  besonders  auch  dem  handschriftlichen  Nachlaß  seine  Aufmerksamkeit 
zuwendet,  entwirft  ein  nicht  eben  neues,  aber  in  Einzelheiten  vielfach  vertieftes  Bild 
von  dem  Humanisten,  Büchersammler  und  Politiker  Peutinger  sowie  seiner  Stellimg 
zur  handelspolitischen  und  kirchlichen  Umwelt.  —  Ein  etwas  breit  geratenes,  aber 
verdienstvolles  Bild  von  dem  Luxemburger  Humanisten  N.  Mameranus,  der  sich  be- 
sonders durch  seine  historisch-statistischen  Handbücher  um  die  Mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts einen  Namen  machte  und,  ohne  direkten  Beamtencharakter  zu  haben,  wahr- 
schemlich  der  kaiserlichen  Kanzlei  zugeteilt  war,  entwirft  unter  gleichzeitiger  Berück- 
sichtigung der  geistigen  Umwelt  die  Dissertation  von  N.  Didier  {Freiburg  i.  d.  Schw. 
1915),  die  freilich  mit  ihrem  Auseinanderfall  in  einen  biographischen  und  einen  lite- 
rarischen Teil  von  neuem  zeigt,  wie  wenig  organisch  das  Gesamtbild  bei  dieser  be- 
sonders früher  vielfach  üblichen  Zweiteilung  der  Anlage  wird.  —  Zum  Leben  des 
ersten  deutschen  Homerübersetzers  Simon  Scbeidenreißer,  von  dessen  Odysseeüber- 
tragung F.  Weidling  1911  einen  sorgfältigen  Neudnick  vorlegte  und  dessen  Mittlerrolle 
zwischen  Homer  und  Hans  Sachs  ein  Jahr  später  M.  Betz  ip  einer  Müncheuer  Dis- 
sertation behandelte,  weiß  ein  kurzer  Aufsatz  von  R.  Pfeiffer  (Z.  f.  d.  Ph.,  46.  Bd.) 
wichtige  Ergänzungen  zu  bringen.  Er  zeigt,  daß  Seh.  zwar  kein  geb.  Müuchener  war, 
wohl  aber  nach  einigen  anscheinend  in  Tirol  verbrachten  Jahren  dort  besonders  durch 
seine  Beziehungen  zu  dem  Müuchener  Eatsherrn  Schrenk  eine  zweite  Heimat  fand. 
Über  seine  pädagogische  Lehrstellung  zu  Simon  Lemnius,  Wolfgang  Hunger  u.  a. 
hatte  schon  frühe]-  Merkers  Lemniusbiographie  (S.  11  ff.)  neues  Material  dargelegt. 

Erfreulicherweise  regt  sich  jetzt  auch  das  Interesse  für  die  beiden 
führenden  neulateinischen  Dramatiker  Deutschlands,  Frischlin  und  Nao- 
georg.  Auf  Grund  der  Ausgabe  von  1589  gab  W.  Jan  eil  als  19.  Band 
der  lateinischen  Literaturdenkmäler  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  (BerUn 
1914)  einen  sorgfältigen  und  von  einer  genauen  Bibliographie  begleiteten 
Neudruck  des  Julius  Redivivus,  dessen  Wert  sich  durch  die  gehaltreichen 
Einleitungen  erhöht.  Der  Herausgeber  und  W.  Hauff  behandeln  in 
zwei  einführenden  Abschnitten  Frischlins  Lebensgang  und  seine  philo- 
logische Stellung,  wobei  sie  mehrfach  über  die  ungemein  verdienstvolle, 
aber  doch  mehr  den  äußeren  Lebensschicksalen  des  württembergischen 
Humanisten  nachgehende  Biographie    von  D.  F.  Strauß  hinauskommen, 

44 


Auf  breitester  Grundlage  der  neulateinischen  Dramatik  Deutschlands 
untersucht  dann  G.  Roethe  die  dramatische  Bedeutung  Frischlins, 
wobei  als  Quellenanregung  für  den  Julius  Redivivus  die  Schrift  des  Aneas 
Sjlvius  über  Germanien  vom  Jahre  1589  nachgewiesen  wird. 

Das  Straßburger  Lokalkolorit  dieses  Frischlinschen  Dramas  arbeitet  B.  A.  M  ü  1 1  e  r 
in  einem  Aufsatz  im  135.  Bd.  des  Archivs  f.  d.  Studium  d.  neueren  Spr.  (1917) 
heraus. 

Nachdem  schon  1913  A.  Hübner  im  54.  Bd.  der  Z.  f.  d.  A.  recht 
fordernde  Studien  zum  „Pammachius"  und  „Mercator"  des  Naogeorg 
gegeben  hatte,  untersuchte  P.  H.  Diehl  in  seiner  Münchener  Dissertation 
(1915)  „Die  Dramen  des  Th.  Naogeorgus  in  ihrem  Verhältnis  zur  Bibel 
und  zu  Luther",  wobei  er  besonders  den  Unterschied  zwischen  der 
früheren  und  spätei-en  Schaffensperiode  des  Dichters  betont.  Die  ersten 
drei  ganz  unter  dem  Einfluß  der  neuen  Lehren  Luthers  stehenden  Dra- 
men (Pammachius,  Mercator,  Incendia)  stellen  sich  als  aktuelle  Kampf- 
und Tendenzdichtungen  dar  und  zeigen  dementsprechend  drastische  Kraft, 
genialen  Schwung  und  Neigung  zu  übertriebener  Charakteristik.  Die 
folgende  biblische  Gruppe  (Hieremias,  flamanus,  Judas)  streitet  weniger 
tendenziös  und  ohne  Polemik  für  die  reine  evangelische  Lehre,  weist 
engeren  Anschluß  an  die  Bibel,  doch  mit  mehrfach  selbständiger  Weiter- 
bildung der  Motive  auf,  bekommt  aber  aus  der  objektiven  Haltung  des 
Dichters  seinem  Stoff  gegenüber  im  allgemeinen  bessere  Grundlagen  zu 
künstlerischer  Gestaltung. 

Nur  genannt  seien  die  flüchtige  Übersicht  von  R.  F.  Kaindl  über  die  deut- 
schen Humanisten  in  Polen  (Internationale  Monatsschrift  8.  Bd.,  1588  ff.)  und  der 
Aufsatz  von  F.  Boehm  über  „  Voikskundliches  aus  der  Humanistenliteratur  des  15. 
und  16.  Jahi-h."  im  25.  Bd.  der  Z.  f.  Volksk.  —  Nicht  zugänglich  waren  mir  die  Lu- 
cianstudien  des  Italieners  N.  Caccia,  die  unter  dem  Titel  „Note  su  la  fortuna  di  Lu- 
ciano nel  rinascimento ''  1914  in  Mailand  erschienen  sein  sollen  und  indirekter  Kunde 
zufolge  besonders  auch  den  Nachahmungen  von  Erasmus  und  Hütten  nachgehen. 

Der  neulateinische  Bogen  spannt  sich,  gestützt  von  Gelehrtendich- 
tung in  den  protestantischen  Ländern  und  Jesuitenpropaganda  in  den 
kathohschen  Gegenden  auch  ins  17.,  ja  ins  18.  Jahrhundert  hinüber, 
obwohl  gerade  dieser  Späthumanismus  von  der  wissenschaftlichen  Be- 
achtung fast  ausgeschlossen  ist.  Mehr  aus  äußeren  sprachlichen  als 
inneren  Gründen  —  denn  Geist  und  Stil  sind  dort  bereits  ganz  anders  — 
sei  hier  gleich  die  einzige  Arbeit  angeführt,  die  sich  mit  einem  lateinischen 
Poeten  der  Barockzeit  beschäftigt,  nämlich  die  vortreffliche  Untersuchung 
von  A.  Henrich  über  „Die  lyrischen  Dichtungen  Jakob  Baldes",  die  1912 
der  Straßburger  philosophischen  Fakultät  als  Habilitationsschrift  vorge- 
legen hatte  (der  Verfasser  ist  unterdessen  wieder  aus  dem  akademischen 
Lehrberuf  ausgeschieden)  und  1915  in  den  „Quellen  und  Forschungen" 
(122.  Bd.)  erschienen  ist.  Unter  Verzichtleistung  auf  die  biographische 
Seite,  die  in  den  Büchern  von  Westermayer  und  Bach  im  wesentlichen 
geklärt  vorlag,  sucht  sie  die  lyrische  Dichtung  des  bayrischen  Hofpre- 
digers als  Ganzes  und  nach  ihrer  künstlerischen  Seite  hin  zu  erfassen, 
indem  sie  —  ohne  der  Frage  nach  dem  Zusammenhang  mit  der  Antike 
nachzugehen   —    die  charakteristischen  Eigenzüge  des  Dichters   an   der 

45 


Hand  einer  eingehenden  inhaltlichen  und  formalen  Analyse  mit  Kenntnis 
und  feinem  Geschmack  herauszuarbeiten  weiß. 

Über  Fischart,  der  den  Abschluß  dieser  volkstümlich-demokratischen 
Periode  bildet,  wenn  auch  manches  bei  ihm  bereits  in  die  neue  Welt 
des  Barock  weist,  ist  die  Forschung  nach  langer  Vernachlässigung  in 
letzter  Zeit  ebenfalls  erfreulicherweise  lebendiger  geworden,  nachdem 
jahrzehntelang  fast  nur  A.  Hauffen  in  unermüdlicher  Kleinarbeit  den 
Spaten  angesetzt  hatte.  [Auf  den  soeben  erschienenen  1.  Band  seiner 
Fischartbiographie  sei  wenigstens  kurz  hingewiesen.]  Einen  originellen 
Weg,  der  mit  seinen  großen  Bogen  scheinbar  müßig  ist  und  doch 
schheßlich  zu  einem  netten,  wenn  auch  kleinen  Resultat  führt,  schlägt 
W.  Quentin  in  seinen  „Studien  zur  Orthographie  Fischarts*'  (Mar- 
burger Diss.  1915)  ein.  Ausgehend  von  der  orthographischen  Zwie- 
spältigkeit in  den  beiden  Teilen  des  „Glückhaften  Schiffes",  die  schon 
1901  Baesecke  in  seiner  kritischen  Ausgabe  aufgedeckt  hatte,  weist 
Quentin  nach,  daß  nur  der  zweite  Teil  mit  der  Schreibart  der  Hand- 
schriften Fischarts  übereinstimmt.  Indem  er  dann  diese  orthogra- 
phische Untersuchung  auf  16  weitere  Schriften  Fischarts  ausdehnt,  die 
in  derselben  Jobinschen  Druckerei  erschienen,  kommt  er  zu  dem  Er- 
gebnis,  daß  nur  die  Drucke  der  Jahre  1576  — 1578  die  persön- 
liche Orthographie  des  Dichters  zeigen,  wogegen  sie  bei  vorher  und 
nachher  herausgekommenen  Werken  fehlt.  Gegen  den  Schluß,  daß 
Fischart  also  in  diesen  Jahren  als  Korrektor  oder  sonstwie  in  der  Druckerei 
seines  Schwagers  tätig  war,  während  er  bei  den  übrigen  Schriften  nur 
die  Manuskripte  einsandte ,  wird  sich  -  nichts  einwenden  lassen.  —  Die 
Greifswalder  Dissertation  von  E.  Rühr m und  (1916)  würdigt  „Johann 
Fischart  als  Protestanten",  indem  sie  in  drei  Kapiteln  den  antikatho- 
lischen Standpunkt,  die  protestantischen  Anschauungen  und  Fischarts 
Stellung  innerhalb  des  Protestantismus  in  fleißig  zusammengetragenen, 
freilich  nicht  überall  verarbeiteten  Belegstellen  darzustellen  sucht.  — 
Recht  interessante  geistesgeschichtliche  Längsschnitte  können  auch  Unter- 
suchungen über  das  Nachleben  einzelner  vielgelesener  Dichter  geben. 
Einen  Beitrag  zu  dieser  Art  der  Behandlung,  wie  sie  früher  z.  B.  Eichler 
in  seiner  Schrift  über  die  Hans  Sachsische  Tradition  anstellte,  gibt 
H.  A.  Bob  in  seiner  1916  ei'schienenen  Straßburger  Dissertation  mit 
dem  Titel  „Johann  Fischarts  Nachleben  in  der  deutschen  Literatur", 
wo  in  fünf  Kapiteln  das  Echo  des  Fischartschen  Schaffens  in  Poesie  und 
Wissenschalt  von  den  Mitlebenden  bis  zur  Gegenwart  aufgezeigt  wird.  — 
Einen  tüchtigen,  auf  Heranziehung  der  gesamten  Schriften  Fischarts  be- 
ruhenden grammatischen  Beitrag  lieferte  schließlich  A.  Geyer  mit  seiner 
als  Hallische  Dissertation  erschienenen  Untersuchung  über  die  ntarke 
Konjugation  im  Sprachgebrauch  dieses  Dichters  (1912). 

§  5.    Das  Zeitalter  des  Barock 

Auch  Zeitalter  und  Stilrichtungen  erleben  in  der  ästhetischen  wie 
wissenschaftlichen  Beurteilung  ein  Steigen  und  Sinken  ihrer  Wertschätzung 

46 


je  nach  der  Geistesart  und  seelischen  Struktur  der  bewertenden  Gene- 
ration. Die  beiden  klassischen  Epochen  um  1200  und  1800,  die  lange 
kanonartig  fast  alles  Interesse  absorbierten,  sind  bei  aller  Anerkennung 
ihres  einzigartigen  künstlerischen  und  bildungsgeschichtlichen  Wertes 
aus  ihrer  alleinherrschenden  Vorrechtstellung  zurückgetreten.  Wie  vor- 
her der  gotischen  Welt  des  ausgehenden  Mittelalters  beginnt  man 
auch  der  Barockkultur  mit  gerechteren  Maßstäben  entgegenzutreten. 
In  literargeschichtlicher  Hinsicht  macht  sich  dabei  verschiedentlich  auch 
die  Neigung  zu  veränderter  Bezeichnung  bemerkbar.  Wir  haben  früher 
die  gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  im  Zusammenhang  mit  der 
Verschiebung  der  gesamten  kulturellen  Verhältnisse  liegende  Reform- 
bewegung und  die  aus  ihr  entspringende  Gelehrtendichtung  nach  dem 
Beispiel  der  bildenden  Kunst  „Renaissanceliteratur"  genannt  und  dann 
gewöhnlich  erst  die  literarischen  Erscheinungen  der  zweiten  Hälfte 
des  17.  Jahrhunderts  als  Barockliteratur  bezeichnet.  Ganz  abgesehen 
davon  aber ,  daß  diese  Renaissance  aus  zweiter  und  dritter  Hand  als 
Nachzügler  der  echten  großen  Renaissancebewegunj-  im  14.  und  15. 
Jahrhundert,  die  sich  bei  uns  fast  nur  in  pädagogisch -humanistischer 
Form  auslebte ,  eine  Verwirrung  der  Begriffe  nahelegte ,  hat  man 
neuerdings  auf  den  Gebieten  der  bildenden  Kunst  wie  des  litera- 
rischen Lebens  mehrfach  betont,  wie  stark  doch  von  Anfang  an  die 
barockalen  Elemente  waren,  die  dieser  ganzen  früher  als  deutsche  Re- 
naissance bezeichneten  Kulturstufe  innewohnen ,  und  so  scheint  es  rat- 
sam, diese  ganze  Epoche  nach  Schluß  der  volkstümlichen  Reformations- 
literatur bis  zum  Beginn  der  Aufklärungsreaktion  im  letzten  Viertel 
des  17.  Jahrhunderts  als  Barockliteratur  zu  bezeichnen.  Von  solchen 
Anschauungen  geht  auch  der  bedeutsame  und  mit  Recht  vielbeachtete 
Aufsatz  von  F.  Strich  über  den  „Lyrischen  Stil  im  17.  Jahrhundert  •' 
aus,  der  in  den  F.  Muncker  zum  60.  Geburtstag  dargebrachten  Abhand- 
lungen zur  deutschen  Literaturgeschichte  (S.  21 — 53)  zum  Abdruck  kam 
(1916).  Manches  in  diesen  Ausführungen  halte  ich  für  schief,  wie  z.  B.. 
die  Anknüpfung  an  die  altgermanische  Literatur  u.  a.  Im  ganzen  be- 
trachtet aber  hat  dieser  Aufsatz  seine  hohen  Verdienste.  Niemals  bis- 
her ist  der  großlinige,  bewegungsfrohe,  superlativische,  beziehungsreiche, 
antithetische  Stil  und  das  Momentane,  Ringende,  Mystische,  Lastende 
dieser  Geistesrichtung  so  deutlich  zum  Ausdruck  gebracht  worden.  Vieles 
wird  sich  anders  fassen  und  tiefer  herausarbeiten  lassen.  Aber  die  An- 
regungen werden  und  müssen  bleiben.  Mit  der  alten,  achselzuckenden 
Bewertung  der  Gelehrten-  und  Kavaliersdichtung  dieses  Jahrhunderts, 
deren  Mißkredit  letzten  Endes  noch  aus  den  Tagen  der  Aufklärung 
stammte,  muß  aufgeräumt  werden.  Von  neuem  aber  wird  mit  Ar- 
beiten dieser  Art  deutlich  zum  Bewußtsein  gebracht,  daß  wir  mit 
der  reinen  Philologie  bei  der  literarhistorischen  Bewertung  nicht  aus- 
kommen, sondern  notwendigerweise  dazu  eine  historische  und  vor 
allem  kulturphilosophische  Einstellung  brauchen,  die  ein  genügend 
weites   Blickfeld    auch    zur   Bewertung    der   Einzelerscheinung    an    die 


Hand  gibt. 


47 


Von  allgemeineren  Arbeiten,  die  diesen  Zeitraum  betreffen,  ist  noch  F.  Schräm  ms 
tüchtige  wortgeschichtliche  Studie  über  die  „Schlagworte  der  Alamodezeif  zu  nennen, 
die  1914  als  Freiburger  Dissertation  und  gleichzeitig  als  Beiheft  zum  15.  Bd.  der  Z. 
f.  d.  Wortforschung  erschien.«  Sie  untersucht  das  historische  Auftreten,  die  Verbrei- 
tung und  die  Ableitungen  der  Worte  Mode ,  Kavalier ,  Monsieur ,  Galan ,  Dame ,  Mä- 
tresse, Compliment,  Baselman,  favor,  Repiitation.  —  Bei  dem  rocht  unbedeutenden 
Programm  von  K.  Wagner  (Stendal  1914)  n)it  dem  Titel  ,, Das  deutsche  Mittel- 
alter in  den  Vorstellungen  der  gebildeten  Kreise  von  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
bis  zum  Beginn  der  altd.-romant.  Bewegung"  kann  man  bei  dem  zumeist  ganz  anders 
gerichteten  Inhalt  nur  einen  unbegreiflichen  Auseinanderfall  von  Problemstellung  und 
Ausführung  feststellen. 

Fördernd  ist  dagegen  das  aus  Anlaß  der  dreihundertjährigen  Wie- 
derkehr des  Begründungsjahi'es  der  Fruchtbringenden  Gesellschaft  ver- 
faßte Buch  von  O.  Denk  „Fürst  Ludwig  zu  Anhalt -Cöthen  und  der 
erste  deutsche  Sprachverein'*  (Marburg  1917),  das  nach  einem  nicht 
recht  zur  Sache  gehörigen  Überblick  über  die  anhaltinische  Dynasten- 
geschichte in  der  Biographie  des  Fürsten  Ludwig  wie  in  der  Darstellung 
der  Gründung,  Entwicklung  und  des  Bestandes  der  Gesellschaft  manches 
Neue  bringt,  wobei  mit  Recht  die  üblich  gewordene  Bezeichnung  „Pal- 
menorden" abgelehnt  wird,  da  dieses  Emblem  erst  1668  auftaucht. 

Der  Opitzforschung  kamen  nur  zwei  kleine  Aufsätze  von  K.  H.  Wels  zugute, 
der  sich  schon  in  seiner  Dissertation  über  ,,Die  patriotischen  Strömungen  in  der 
Literaturgeschichte  des  30jährigen  Krieges'-  als  guter  Kenner  der  Zeitverhältnisse 
erwiesen  hatte  und  jetzt  über  „Opitzens  politische  Dichtungen  in  Heidelberg"  (Z.  f. 
d.  Ph.  46.  Bd.)  und  „Opitz  und   die  stoische  Philosophie"  (Euphor.  21.  Bd.)   schrieb. 

Die  nachopitzische  Kuustlyrik  weltlichen  Schlages  hat  im  Berichts- 
zeitraum keine  Forschungsbereicherung  erfahren.  Dagegen  war  die 
volkstümliche  und  religiöse  Lyrik  mehrfach  Gegenstand  besonderer 
Untersuchungen.  Besonders  ist  da  auf  die  gehaltvolle  Arbeit  von 
R.  Veiten  über  „Das  deutsche  Gesellschaftslied  unter  dem  Einfluß  der 
italienischen  Musik"  (Heidelberg  1914)  hinzuweisen,  die  einen  guten 
Beitrag  zu  der  im  allgemeinen  noch  recht  wenig  angebauten  Forschung 
über  die  Zusammenhänge  deutschen  und  fremdländischen  Kulturgutes 
gibt.  Sie  zeigt,  wie  der  seit  ca.  1575  besonders  in  der  Villanellenform 
eindringende  neue  musikalische  Stil  die  Dichtung  neuer  literarischer 
Texte  nach  sich  zieht.  Nach  einer  vorübergehenden  Erholung  des  älteren 
volkstümlichen  Geistes  veranlaßt  dann  die  um  1590  eindringende  Form 
der  Chanzonette  eine  zweite  italienische  Welle,  die  in  ihrer  Hochflut  um 
16C0  eine  Überschwemmung  mit  italienischen  Liedsammlungen  bringt, 
bis  ein  Jahrzehnt  später  eine  Erstarrung  sich  zeigt  und  eine  gewisse 
deutsche  Reaktion  eintritt,  die  durch  Opitz  in  andere  Bahnen  gelenkt 
wird.  Ein  völliges  Absterben  dieses  italienischen  Liedtypus  ist  aber  erst 
um  die  Jahrhundertmitte  zu  erkennen,  wo  die  Schäferdichtung  in  den 
Vordergrund  tritt.  Die  Arbeit,  die  auf  reicher  Kenntnis  der  beiden 
Kulturgebiete  aufgebaut  ist,  beweist  von  neuem  —  was  in  den  Kreisen 
der  Kenner  ja  längst  erkannt  ist,  aber  erfahrungsgemäß  noch  immer 
nicht  zum  festen  Lehrstoff  der  Schulliteraturgeschichte  gehört  —  daß 
längst  vor  Opitz  im  Zusammenhang  mit  der  allgemeinen  Kulturumstel- 
lung bereits    im    letzten  Viertel    des    16.  Jahrhunderts  sich  allenthalben 

48 


Umbildungserscheinungen  des  literarischen  Stiles  geltend  machen.  — 
Die  Geschichte  der  Volksliedforschung  erfuhr  eine  Bereicherung  durch 
die  Marburger  Dissertation  von  E.  Schroeder  über  „Das  historische 
Volkslied  des  3üjährigen  Krieges"  (1916),  die  im  Gegensatz  zu  der 
1904  hervorgetretenen  Promotionsschrift  von  J.  Becker,,  Über  historische 
Lieder  und  Flugschriften  aus  der  Zeit  des  30jährigen  Krieges"  zu  einer 
Gesamterfassung  und  vor  allem  formalen  Erkenntnis  dieser  literarischen 
Erscheinungen  zu  kommen  sucht.  So  werden  nach  einer  Betrachtung 
über  die  Spiegelung  des  öffentlichen  und  privaten  Volkslebens  in  diesen 
Liedern  hauptsächlich  die  Stil-  und  Verselemente  eingehend  untersucht, 
wobei  der  rhetorisch-rationalistische  Gehalt,  die  starke  Tendenz,  die  Un- 
ausgeglichenheit von  Form  und  Inhalt  und  die  Mischung  volkstümlichen 
und  kunstmäßigen  Stiles  besonders  deutlich  werden. 

Bei  der  Übersicht  über  die  geistliche  Lyrik  dieses  Zeitraums  sei  mit 
besonderer  Freude  der  Abschluß  des  grüßen  Kirchenliedcorpus  von  Al- 
bert Fischer  begrüßt,  das  freilich  den  Namen  dieses  hochverdienten 
Hymnologen  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  mit  Recht  trägt.  Denn  als 
1902  der  erste  Band  dieses  gi'oßen  Werkes  (Das  deutsche  evangelische 
Kirchenlied  des  17.  Jahrhunderts)  hervortrat,  war  Fischer,  auf  dessen 
]\Iaterialien  sich  das  Ganze  freilich  aufbaute,  schon  seit  sechs  Jahren  nicht 
mehr  unter  den  Lebenden.  Der  mit  hingebender  Arbeit  sich  in  den  Dienst 
dieses  Unternehmens  stellende  Vollender  und  Herausgeber  war  der  Pfarrer 
W.Tümpel,  der  1905  (IL  u.  IIL  Bd.),  1908  (IV.  Bd),  1911  (V.  Bd.)  mit 
der  Sammlung  der  Erbauungslieder  von  1648  —  1750  das  Werk  zu  blei- 
bender wissenschaftlicher  Bedeutung  brachte.  Auch  der  1916  erschie- 
nene VI.  und  letzte  Band  stammt  noch  von  Tümpel,  wenn  es  diesem 
infolge  seines  Ende  1915  erfolgten  Todes  auch  nicht  mehr  vergönnt  war, 
die  ganze  Reihe  abgeschlossen  vor  sich  liegen  zu  sehen.  Dieser  für  die 
Forschung  ungemein  wichtige  Schlußband  enthält  neben  Nachträgen  und 
Berichtigungen  eine  nicht  weniger  als  1020  Nummern  umfassende  Bi- 
bliographie aller  in  der  Sammlung  als  Quellenschriften  benutzten  Werke, 
ferner  ein  Verzeichnis  der  verwerteten  Liederdichter  (415),  sowie  ein 
Verzeichnis  der  Liedanfänge,  das  mit  seinen  58  Druckseiten  noch  ein- 
mal die  Reichhaltigkeit  des  Gesamtwerkes  verdeutlicht.  Ein  Glossar 
und  ein  kui'zer  grammatischer  Anhang  beschließen  das  Ganze.  Nach- 
dem nunmehr  in  Wackernagels  großem  Sammelwerk  die  Kirchenlied- 
dichtung des  16.  Jahrhunderts  und  durch  Fischer-Tümpel  die  des  17.  Jahr- 
hunderts in  die  Scheuern  gebracht  worden  ist,  bleibt  nur  der  Wunsch, 
daß  sich  auch  für  das  18.  Jahrhundert,  an  dessen  beabsichtigter  Bear- 
beitung nunmehr  Tümpel  verhindert  ist,  die  entsprechende  sammelnde 
Kraft  finden  möge.  —  Zu  den  wertvollsten  monographischen  Erschei- 
nungen des  ganzen  Berichtszeitraums  gehört  die  große  Paul  Gerhardt- 
Biographie  von  Hermann  Betrieb  (Gütersloh  1914),  die  schon  in 
ihrem  Untertitel  „  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deutschen  Geistes " 
die  starke  Berücksichtigung  der  zeit-  und  geistesgeschichtlichen  Umwelt 
zu  erkennen  gibt.  Das  Ganze,  eine  auf  neuem  handschriftlichem  und 
urkundlichem  Material  beruhende  und  vor  allem  formanalytisch  berei- 
Wissenschaftliche  Forschungsbericlite  VIIL  4 

49 


cherte  Umarbeitung  des  sieben  Jahre  zuvor  erschienenen  kürzeren  bio- 
j^raphischen  Werkes  desselben  Verfassers,  hat  sich  zu  fast  abschließender 
Bedeutung  aufgeschwungen,  indem  philologische  Exaktheit,  psychologi- 
scher Feinsinn  und  geistesgeschichtlicher  Weitblick  sich  hier  in  vorbild- 
licher Weise  die  Hände  reichten. 

Einem  wenig  gekannten  Gebiet  wendet  sich  die  Münsterische  Dissertation  von 
(;.  AVaters  zu,  die  sich  eine  Untersuchung  der  ?, Münsterischen  katholischen  Kircheu- 
liederbücher  vor  dem  ersten  Diözesangesangbuch  1677"  zur  Aufgabe  setzt  (191  *>). 
Nach  einem  einleitenden  Überblick  über  die  grolie  Zahl  deutscher  katholischer  Ge- 
saugbücher am  Niederrhein  bespricht  die  Arbeit  eingehend  zwei  in  Münster  gedruckte 
Andachtsbücher  mit  deutschen  Hymnen  und  Sequenzen. 

Für  die  als  Vorstufe  für  die  kulturpsychologische  Umwälzung  des. 
18.  Jahrhunderts  nicht  schwer  genug  zu  bewertende  mystische  Bewegung 
des  17.  Jahrhunderts  wollen  die  von  W.  von  Schröder  begonnenen 
,, Studien  zu  den  deutschen  Mystikern  des  17.  Jahrhunderts"  grund- 
legende Forschung  bringen,  die  sich  in  dem  ersten  (Heidelberg  1917 
erschienenen)  Bande  dem  berühmten  Verfasser  der  Unparteiischen  Kirchen- 
und  Ketzerhistorie,  Gottfried  Arnold,  zuwenden,  der  hier  im  Gegensatz 
zu  der  vorwiegend  individualistisch  angelegten  Darstellung  von  Dibelius 
(1878)  im  Zusammenhang  mit  den  gesamten  irrationalistischen  Tendenzen 
dieses  Zeitalters  erfaßt  wird.  Sind  die  ersten  beiden  der  Bedeutung 
Speners  für  die  Entwicklung  Arnolds  und  den  Zusammenhängen  zwi- 
schen Leben,  Geschichtschreibung  und  Dichtung  dieses  pietistischen 
Theologen  nachgehenden  Kapitel  mehr  von  allgemeinerem  Interesse,  so 
kommen  für  den  Literarhistoriker  besonders  die  beiden  letzten  Kapitel 
in  Frage,  die  der  Lyrik  und  allegorischen  Dichtung  Arnolds  gewidmet 
sind. 

In  einer  Jenaer  Dissertation  (1915)  gibt  R.  Zwetz  ein  gutes  Bild  von  der 
.,  Dichterischen  Persönlichkeit  Gerhard  Tersteegens ".  Nach  der  Schilderung  der 
religiösen  Milieuverhältnisse  in  Mühlhausen  a.  d.  Ruhr,  des  äußeren  Lebensganges 
und  einer  Darlegung  der  Grundanschauungen  seiner  mystischen  Theologie  werden  die 
verschiedenen  Dichtungsgruppen  eingehend  behandelt.  Die  Sprachdichtung  Tersteegens 
übernimmt  vieles  von  Silesius ,  kommt  aber  in  etliischer  Hinsicht  auch  über  diesen 
hinaus.  Die  „  Betrachtungen  "  zeigen  eine  Fortführung  der  biblischen  Anregungstexte 
in  selbständiger  Denkarbeit.  Unter  gleichzeitiger  Würdigimg  der  Dichtungen  Arnolds, 
Schefflers,  Gerhardts  und  Neanders  wird  besonders  die  Lieddichtung  eingehend  behan- 
delt, freilich  mehr  mit  philologisch-äußeren  Mitteln  als  mit  einfühlender  Betrachtungs- 
weise. Zum  Schluß  werden  kurz  die  Übersetzungen  und  Prosawerke  Tersteegens 
untersucht. 

Etwas  abseits  von  dieser  pietistischen  Welt  führt  die  Dissertation 
der  Amerikanerin  Adah  Blanche  Roe  (Bryn  Mawr  1915)  mit  dem 
Titel  „Anna  Owena  Hoyers,  a  poetess  of  the  seventeenth  Century". 
Denn  der  Gesamteindruck  dieser  kenntnisreichen  und  fördernden  Ar- 
beit, die  weit  über  die  früheren  Würdigungen  Erich  Schmidts  und 
Paul  Schützes  hinauskommt,  zeigt,  daß  die  holsteinische  Dichterin  in 
ihren  religiösen  Anschauungen  wie  im  Inhalt  und  Stil  ihrer  Dichtungen 
zwar  manches  von  der  mystischen  Art  übernommen  hat,  daß  sie  im 
Grunde  ihres  Wesens  aber  eine  rationalistisch  -  nüchterne  Natur  war, 
die  bereits  auf  die  lehrhafte  und  praktische  Weltanschauung  und  Dicht- 

50 


weise  des  folgenden  Aufklärungsalters  hinweist.  Nach  der  offenbar 
guten  philologischen  Schulung  der  Verfasserin  kann  man  der  von  ihr 
geplanten  vollständigen  Ausgabe  der  zu  Unrecht  vergessenen  Dichterin 
mit  Vertrauen  entgegensehen. 

Erfreulicherweise  beginnt  neuerdings  auch  der  Roman  der  Barock- 
zeit mehr  in  den  Vordergrund  des  wissenschaftlichen  Interesses  zu  treten, 
nachdem  jahrzehntelang  nur  die  Resultate  der  großen  zusammenfassenden 
Werke  von  Bobertag  und  Cholevius  das  literarhistorische  Wissen  über 
diese  Materie,  soweit  es  nicht  auf  eigener  Lektüre  beruhte,  gespeist 
hatten.  Die  Würzburger  Dissertation  von  J.  Prys  über  den  Staats- 
roman des  16.  und  17.  Jahrhunderts  (1913),  an  die  hier  kurz  erinnert 
sei,  hatte  besonders  in  ihrem  Kapitel  über  Johann  Valentin  Andreas 
von  Campanella  beeinflußter  pädagogischer  Utopie  „Reipublicae  christiano- 
politanae  descriptio"  die  Kenntnis  gefördert.  Schon  ein  Jahr  zuvor 
hatte  H.  Körnchens  Buch  über  Zesens  Romane  (Palaestra  115)  ein  gutes 
Stück  weitergeführt.  Eine  Ergänzung  dazu  gab  jetzt  Margarete 
Gutzeit,  indem  sie  in  ihrer  Greifswalder  Dissertation  (1917)  die  „Dar- 
stellung und  Auffassung  der  Frau  in  den  Romanen  Philipps  von  Zesen" 
besonders  untersucht.  Das  Resultat  der  Arbeit,  die  zunächst  die  äußeren 
Erscheinungsformen  der  dargestellten  Frauengestalten  und  einige  daran 
sich  anschließende  Fragen  behandelt,  um  dann  im  zweiten  Teil  der 
psychologischen  Analyse  sich  zuzuwenden,  konnte  nicht  eben  viel  Neues 
bieten.  Es  bestätigt  an  diesem  herausgegriffenen  Einzelpunkte  der  kör- 
perlichen und  seelischen  Zeichnung  das  sichthche  Bestreben  Zesens,  über 
den  Konventionahsmus  seiner  Zeit  hinauszukommen,  zeigt  aber  auch, 
wie  dieser  Versuch  vielfach  mit  unzureichenden  Mitteln  unternommen 
wurde.  Das  fleißig  zusammengestellte  Material  wird  dabei  nicht  genügend 
ausgewertet,  da  der  Verfasserin  der  entsprechende  stilgeschichtliche  Weit- 
bhck  abgeht;  immerhin  aber  bietet  die  Untersuchung  gute  Vorarbeit 
und  einen  brauchbaren  Beitrag  zur  stilanalytischen  Erforschung  der 
Barockhteratur.  —  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auch  auf  die  im  Berichts- 
zeitraum hervorgetretene  Bonner  Dissertation  (1916)  der  Holländerin 
Cornelia  Bourmann  über  ,, Philipp  Zesens  Beziehungen  zu  Holland" 
hingewiesen.  Die  Bedeutung  der  holländischen  Literatur  und  Kultur 
für  die  deutsche  Dichtung  seit  dem  ausgehenden  Mittelalter,  besonders 
aber  im  17.  Jahrhundert,  ist  ja  in  ihren  tieferen  Wirkungen  bei  weitem 
noch  nicht  erkannt,  wie  mir  überhaupt  der  deutsch-fremdländische  Aus- 
tauschverkehr erst  in  den  Anfängen  wissenschaftlicher  Erforschung  zu 
stehen  scheint.  Bei  der  Tatsache,  daß  Zesen  den  größten  Teil  seines 
Lebens  in  Holland  verbrachte,  nicht  weniger  als  33  Werke  in  Amster- 
dam erscheinen  ließ  und  selbst  gelegentlich  in  holländischer  Sprache 
dichtete,  erscheint  dieses  Thema,  das  gut,  wenn  auch  nicht  erschöpfend 
hier  behandelt  ist,  von  vornherein  recht  ergiebig.  Nach  einer  Schilderung 
der  niederländischen  Renaissancekultur  seit  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahr- 
hunderts werden  Zesens  persönliche  und  Uterarische  Beziehungen  zu 
dieser  seiner  zweiten  Heimat  behandelt.  Der  Einfluß  des  holländischen 
Milieus   auf  seine  Dichtung   scheint   etwas   geringer   als   man   erwarten 

4" 

51 


möchte,  dagegen  gewinnt  Zesen  als  sprachlicher  Vermittler  noch  an 
Bedeutung,  wenn  man  die  fleißig  zusammengetragenen  Wortlisten  im 
4.  Kapitel  der  Arbeit  betrachtet,  die  neben  vielen  erfolglosen  Sprach 
bildungen  nicht  weniger  als  53  ins  deutsche  SprachbewulJtsein  über- 
getretene Übersetzungen  holländischer  Worte  verzeichnen  können.  — 
Eine  Arbeit  des  verdienten  holländischen  Germanisten  J.  H.  Schölte 
über  Zesen  im  14.  Jahrbuch  (1916)  der  „Vereeniging  Amstelodamum'' 
war  mir  nicht  zugänglich.  —  Einem  längst  fühlbar  gewesenen  Be- 
dürfnis kam  die  Marburger  Dissertation  (1918)  von  F.  Stöffler  über 
„Die  Romane  des  Andreas  Heinrich  Buchbolz ^'  entgegen.  Nach  einem 
kurzen  Überblick  über  die  Grundtypen  des  Idealromans  der  Barock- 
literatur werden  die  beiden  großen  Romane  des  Braunschweiger  Super- 
intendenten eingehend  behandelt,  indem  neben  ausführlichen  Inhalts- 
wiedergaben besonders  die  Quellen-  und  Vorbildfrage,  der  Ideengehalt, 
Komposition  und  Technik,  sowie  Charakteristik  und  Stil  erörtert  wer- 
den. Ihre  literargeschichtliche  Bedeutung  wird  in  der  Übergangsstellung 
vom  alten  Amadisroman  zu  dem  späteren  Volltypus  des  heroisch - 
galanten  Romans  richtig  erkannt. 

Bereits  in  die  Anfänge  des  Aufklärungszeitalters  hinüber  führt  dann  der  neue 
Typus  des  politischen  Bildungsromans,  wie  ihn  Ch.  Weise  begründet.  Mit  einem 
wenig  bekannten  Nachfolger  des  Zittauer  Rektors  auf  diesem  Gebiete,  dem  Schlesier 
Paul  Winckler,  beschäftigt  sich  die  solide  Rostocker  Dissertation  von  W.  van  der 
Briele  (1918),  indem  sie  besonders  an  der  Hand  autobiographischer  Aufzeichnungen 
(die  freilich  leider  nur  bis  zum  Jahre  1679  reichen)  eingehend  das  Leben  des  1686 
(falsch  bei  Goedeke  1679)  verstorbenen ,  übrigens  nahe  mit  Gryphius  verwandten 
Glogauers  erzählt,  um  dann  ausführlich  den  posthum  erst  1696  erschienenen  großen 
Roman  „Der  Edelmann"  nach  Inhalt  und  Form  zu  behandeln.  —  Mit  einem  anderen  Ver- 
treter dieser  Richtung  beschäftigt  sich  die  Heidelberger  Dissertation  von  A.  F.  Kölmel 
über  Johannes  Riemer. 

Wenn  die  jahrzehntelang  trotz  einiger  tüchtiger  Ansätze  nicht  recht 
vorwärts  kommende  Grimmeishausenforschung  neuerdings  stark  in  Fluß 
gekommen  ist,  so  ist  dies  neben  anderen  besonders  das  Verdienst  von 
A.  Bechtold  und  H.  Schölte.  Ersterer  hat  vorwiegend  durch  archivalische 
Studien  und  Aufdeckung  unbekannten  biographischen  Materials  die 
Kenntnis  vom  Leben  des  Simplicissimusdichters  stark  gefördert  und  alte 
Irrtümer  kritisch  beleuchtet,  letzterer  ist  besonders  textkritische  Wege 
gegangen.  Seine  in  verschiedenen  Zeitschriftenaufsätzen  vorgelegten 
Einzelforschungen  faßte  Bechtold  in  seinem  Buche  „Johann  Jakob 
Christoph  von  Grimmeishausen  und  seine  Zeit"  zu  einem  biographischen 
Gesamtbilde  zusammen  (Heidelberg  1914,  dazu  eine  Titelauflage  von 
1920),  das  seinen  Namen  freilich  nicht  ganz  mit  Recht  führt,  indem 
neben  der  in  allen  Einzelheiten  dargelegten  individuellen  Lebensliuie 
das  kulturgeschichtliche  Milieu  nur  ganz  nebenbei  zur  Behandlung  kommt. 
Die  persönlichen  Lebensumstände  von  Grimmeishausen  aber  werden  hier 
mit  kritischer  Neubahnung  und  mit  einer  Ausführlichkeit  behandelt,  die 
dieses  Werk  zu  einer  bleibenden  Grundlage  aller  weiteren  Forschung 
stempeln.  Noch  freilich  bleiben  einige  Punkte  ungeklärt.  Ob  statt  des 
auch  von  Bechtold  als  Gebui'tstermin  angenommenen  Jahres   1G25  nicht 

52 


das  Jahr  1610  einzusetzen  ist,  für  das  Witkowski  Beweise  geben  zu 
können  meint,  muß  bis  zur  Vorlegung  der  angekündigten  urkundlichen 
Notizen  eine  offene  Frage  bleiben.  Auch  das  konfessionelle  Problem  u.  a. 
harrt  noch  der  endgültigen  Lösung.  Im  ganzen  aber  naht  sich  die  Er- 
forschung der  biographischen  Seite  einer  Vollständigkeit,  über  die  man 
kaum  noch  wird  hinauskommen  können,  und  es  scheint  an  der  Zeit, 
der  bisher  noch  stark  vernachlässigten  ästhetisch- literarhistorischen  Wür- 
digung der  Werke  nunmehr  die  gebührende  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  — 
Dafür  haben  die  langjährigen  textkritischen  Studien  des  holländischen 
Forschers  Schölte,  die  bereits  in  seinem  1912  vorgelegten  Buche  über 
„Probleme  der  Grimmeishausenforschung"  in  ihrer  grundlegenden  Be- 
deutung zur  Erscheinung  kamen,  die  Wege  gebahnt.  NamentUch  hat 
die  veränderte  Ansetzung  der  Reihenfolge  der  Simplicissimusdrucke 
für  verschiedene  philologische  Fragen  neue  Gesichtspunkte  ergeben.  Vor 
allem  hat  die  jahrzehntelang  als  älteste  erreichbare  Fassung  geltende 
Ausgabe  A,  für  die  schon  W.  A.  Holland  und  H.  Kurz  eingetreten  waren 
und  die  auch  Kögel  in  seinem  Neudruck  (1880)  als  „älteste  Original- 
ausgabe" ansah,  die  Prioritätswürde  an  die  Ausgabe  B  abtreten  müssen, 
die  schon  vor  Jahrzehnten  ganz  richtig  der  alte  A.  von  Keller  in  ihrer 
textkritischen  Stellung  erkannt  hatte.  Damit  im  Zusammenhang  stehend 
mußte  der  zwei  Generationen  lang  als  hypothetische  Grundlage  ange- 
nommene angeblich  verlorene  Urdruck  X  (1668)  endgültig  aus  der 
ganzen  Rechnung  gestrichen  werden.  Sowohl  der  Druck  A  wie  der 
Druck  B  ist  echt  und  bei  Felsecker  in  Nürnberg  herausgekommen, 
womit  sich  bei  dem  starken  Unterschied  beider  Drucke  weitere  Pro- 
bleme ergeben.  Dies  und  eine  Reihe  anderer  damit  zusammenhängender 
Fragen  hat  Schölte  dann  neuerdings  in  ergänzenden  Aufsätzen  weiter 
ausgeführt,  besonders  im  40.  Band  von  Paul  und  Braunes  Beiträgen, 
im  12.  Jahrgang  der  „Zeitschrift  für  Bücherfreunde",  N.  F.,  neuestens 
in  der  Februar-  und  Aprilnummer  1920  der  Modern  Language  Notes.  — 
Angeregt  von  dieser  schon  1912  von  Schölte  angeschnittenen  Frage 
hat  dann  der  Schwede  G.  Einar  Törnvall  dieses  Problem  in  einem 
besonderen  Buche  „Die  beiden  ältesten  Drucke  von  Grimmeishausens 
Simphcissimus  sprachlich  verglichen"  (Upsala  1917)  mit  gründlicher 
methodischer  Schulung  (wie  sie  zumeist  in  schwedischen  Universitäts- 
arbeiten zutage  tritt)  behandelt,  die  Scholtes  Ansetzung  durchaus  bestätigt, 
mit  ihrer  vergleichenden  sprachlichen  Betrachtung  aber  zugleich  weitere 
allgemein  sprachgeschichtliche  Ausblicke  bietet.  —  Ganz  neuerdings  ist 
dann  dieser  ganze  Problemkreis  wiederum  ein  gut  Stück  weiter  durch 
die  gründliche  Untersuchung  von  H.  H.  Borcherdt,  „Die  ersten  Aus- 
gaben von  Grimmeishausens  Simphcissimus"  (München  1921)  gefördert 
worden,  der  die  Resultate  von  Schölte  vielfach  bestätigen  kann,  in  zwei 
Punkten  aber  überzeugend  darüber  hinausführt.  Einmal  wird  die  seit 
Kurz  in  der  Grimmeishausenphilologie  spukende  Ausgabe  AU  des  Sim- 
phcissimus als  überhaupt  nicht  vorhanden  nachgewiesen,  vor  allem  aber 
wird  die  nach  Borcherdts  Zählung  die  Nummer  III  führende,  bisher 
mit  A    bezeichnete   Ausgabe,   die   in    typographischer   und   sprachlicher 

53 


Hinsicht  eine  Sonderstellung  einnimmt,  sonst  aber  eine  überraschende 
Korrektheit  aufweist,  gegen  iScholte  überzeugend  als  Nachdruck  er- 
kannt, womit  sich  bei  der  Bedeutung  dieses  Druckes  für  die  folgenden 
(Originalausgaben  eine  neue  Gruppierung  ergibt. 

F.  Stern  bergs  Studie  ..Grimmelsbausen  und  die  deutsche  satirisch-politische 
literatur  seiner  Zeit"  (1^5)  war  mir  nicht  zugänglich  und  sei  deshalb  nur  genannt. 

Nicht  sehr  zahlreich  stellt  sich  die  Literatur  über  die  dramatische 
Dichtung  dieser  Epoche  dar.  Besonders  bedauerlich  ist,  daß  die  reiche 
jesuitische  Produktion  in  lateinischer  und  deutscher  Sprache,  aber  auch  die 
reich  entwickelte  Volksdramatik  noch  der  genaueren  Durchforschung  harren. 
Nadlers  Aufsatz  über  „Bayrisches  Barocktheater  und  bayrische  Volks- 
bühne" in  den  „Süddeutschen  Monatsheften"  (11.  Bd.),  dessen  Aus- 
führungen freilich  im  wesentlichen  nur  eine  Wiederholung  der  entsprechen- 
den Partien  seiner  großen  Literaturgeschichte  geben,  läßt  von  neuem  in 
diesen  unerschlosseuen  Reichtum  hineinbHcken.  —  Einen  allgemeinen, 
namentlich  auch  für  die  Theatergeschichte  fruchtbaren  Gesichtspunkt 
griff  E.  Hövel  heraus,  wenn  er  in  seiner  etwas  reichhch  flott  und  bilder- 
froh geschriebenen,  aber  kenntnisreichen  Münsterischen  Dissertation  (1916) 
den  „Kampf  der  Geistlichkeit  gegen  das  Theater  in  Deutschland  im  17.  Jahr- 
hundert" untersucht.  Weit  ausholend  wirft  er  zunächst  einen  Blick 
auf  das  Verhältnis  von  Kirche  und  Theater  in  antiker  und  mittelalter- 
licher Zeit,  und  zeigt  dann,  wie  trotz  der  im  allgemeinen  herrschenden 
Eintracht  im  16.  Jahrhundert  sich  bereits  einzelne  Übereiferer  besonders 
von  calvinistischer  Seite  melden,  wie  sich  weiterhin  das  Vorurteil  durch 
das  Aufkommen  eines  schauspielerischen  Berufsstandes,  der  Verwelt- 
lichung der  Stoffe  und  der  steigenden  Konkurrenz  gegen  das  Schuldrama 
verschärft,  wie  vor  allem  in  der  Schweiz  eine  erhöhte  Theaterfeindlich- 
keit sich  geltend  macht  und  eine  Beschränkung  der  alten  Spielfreudig- 
keit auf  die  katholischen  Orte  zur  Folge  hat.  Mit  der  zunehmenden 
Verwilderung  des  Schauspielerstandes  während  des  30jährigen  Krieges 
und  der  Erstarkung  sektiererischer  Strömungen  nimmt  man  diese  feind- 
seüge  Gesinnung  auch  in  Norddeutschland  überall  zu,  wo  besonders  der 
Rostocker  Pfarrer  Schröder  als  zelotischer  Vorkämpfer  eine  bedeutungs- 
volle Rolle  spielt.  Auf  Grund  lokalgeschichtlicher  Darstellungen  und 
urkundUcher  Nachrichten  wird  dieser  zum  Teil  auch  in  Süddeutschland 
recht  erfolgreiche  Kampf  der  Geistlichkeit  in  einer  Reihe  namhafter 
Städte  aufgezeigt.  Einen  Führer  erhielt  dann  diese  ganze  Bewegung 
in  Spener,  der  während  seines  langen  Lebens  die  calvinistischen  An- 
schauungen von  der  Verwerflichkeit  des  Theaters  vertrat.  Eine  neue 
Verschärfung  in  dem  Verhältnis  beider  Momente  machte  sich  dann  mit 
dem  Überhandnehmen  der  Barockoper  geltend,  die  mit  ihrem  Prunk 
und  ihren  Frauenrollen  die  pietistischen  Eiferer  von  neuem  reizte.  Die 
große  Fehde  gegen  die  Hamburger  Oper,  bei  der  sich  besonders  die 
Pastoren  Anton  Rei.ser  und  J.  F.  Mayer  hervortaten,  ist  auf  dieser  Linie 
nur  eine  wichtige  Etappe.  Später  findet  dieser  Kampf,  durch  Speners 
Schüler  G.  Arnold  u.  a.  fortgeführt,  besonders  in  Halle  einen  neuen 
Vorposten. 

54 


Einer  von  den  wenigen  Jesuitendichtern;  deren  Gestalt  dem  literar- 
historischen Bewußtsein  bisher  etwas  näher  gerückt  worden  ist,  tritt  uns 
in  dem  österreichischen  Hofpoeten  Nicolaus  Avancini  entgegen.  Schon 
1899  hatte  N.  Scheid  in  einem  Feldkircher  Programm  den  äußeren 
Lebensgang  des  1611  in  einem  Dorfe  bei  Trient  aus  adeügem  Hause 
geborenen  Dichters  vorgeführt,  der  nach  seinen  Studien  in  Graz,  und 
Wien  als  hochangesehener  Theologieprofessor  und  akademischer  Prediger 
fast  zwei  Jahrzehnte  in  Wien  lehrt  und  in  den  beiden  letzten  Dezennien 
seines  Lebens  hohe  Verwaltungstellen  innerhalb  seines  Ordens  bekleidet, 
bis  er  1686  in  Rom  stirbt.  Neben  den  Nachrichten  über  das  äußere 
Leben  hatte  Scheid  noch  aufschlußreich  über  die  von  kräftigem  Vater- 
landsgefühl getragene  Odendichtung  gehandelt,  die  neben  hoher  Begabung 
freilich  auch  eine  allzustarke  Neigung  zur  Rhetorik  erkennen  läßt  und 
deshalb  an  die  Bedeutung  der  Lyrik  Baldes  nicht  heranzureichen  ver- 
mag. In  erwünschter  Ergänzung  zu  jener  biographischen  und  lyrik- 
analytischen Studie  gab  derselbe  Verfasser  1913  in  einem  Feldkircher 
Programm  eine  Fortsetzung,  die  sich  mit  der  reichen  und  in  fünf  Bänden 
zusammengefaßten  Dramendichtung  Avancinis  beschäftigt.  Indem  er 
den  pädagogischen  Grund char akter  der  jesuitischen  Dramenkunst  betont, 
werden  die  zum  Teil  (6)  aus  dem  Italienischen  übersetzten,  zumeist  (21) 
aber  eigenschöpferischen  Dramen  des  fruchtbaren  Jesuitenpaters  nach  den 
stofflichen  Gruppen  allegorischer,  biblischer,  legendarischer,  sagenhafter 
und  geschichtlicher  Stücke  besprochen  und  von  den  wichtigsten  der 
Inhalt  dargelegt.  Die  starke  Neigung  zur  Rhetorik  sehen  wir  auch 
hier  wiederkehren. 

Die  junge  theatergeschichtliche  Wissenschaft  beginnt,  abgesehen 
von  ihrer  allgemeinen  kulturhistorischen  und  stilgeschichtlichen  Be- 
deutung auch  in  ihrem  Wert  als  Hilfswissenschaft  für  die  Literatur- 
imd  besonders  Dramengeschichte  immer  deutlicher  zu  werden.  Für  das 
17.  Jahrhundert,  wo  unsere  literarhistorischen  Kenntnisse  ja  überhaupt 
zumeist  noch  recht  dürftig  bestellt  sind,  mußte  bei  der  engen  Verbindung 
von  Drama  und  Theater  in  dieser  Epoche  und  der  Ungeklärtheit  der 
bühnentechnischen  Verhältnisse  eine  so  eingestellte  Untersuchung  be- 
sonders fruchtbare  Ausbeute  erhoffen  lassen.  Von  solchen  Gesichts- 
punkten ging  die  zunächst  als  Marburger  Dissertation  (1914)  erschienene 
Arbeit  von  W.  Flemming,  „Andreas  Gryphius  und  die  Bühne"  aus. 
In  methodisch  vorbildUcher  Weise  geht  sie  den  Theatereindrücken  des 
Dichters  während  seiner  schlesischen  und  Danziger  Jugendzeit,  sowie 
während  der  Jahre  seiner  holländischen  Studien  und  Wanderungen  in 
Frankreich  und  Italien  nach,  um  so  festzustellen,  welche  bühnentechni- 
schen Vorstellungen  und  Erfahrungen  für  die  eigene  Produktion  zu 
Gebote  standen  und  als  formgebende  Anregungen  von  Einfluß  sein 
konnten.  Die  vielversprechende  Erstlingsleistung  liegt  unterdessen  auch 
unter  demselben  Titel  in  vollständigem  Druck  und  erweiterter  Gestalt 
in  einem  436  Seiten  umfassenden  Gesamtwerke  vor,  das  jene  erfahrungs- 
und  vorstellungsgeschichthche  Untersuchung  auch  auf  die  Jahre  der 
Reife  des  Dichters  ausdehnt  und  dann  auf  dieser  so  gewonnenen  Basis 


O'o 


in  einem  II.  und  III.  Teil  die  Tragödien  und  Komödien  des  Gryphius 
nach  bühnentechnischen  Gesichtspunkten  analysiert.  Da  dieses  Werk 
aber  erst  1921  hervortrat,  liegt  es  jenseits  des  hier  zum  Referat  stehen- 
den Zeitraums,  doch  sei  nachdrücklich  auf  diese  Neuerscheinung  hin- 
gewiesen. 

Von  bühnenbildlichen  Gesichtspunkten  zeigt  sich  auch  die  Göttinger  Dissertation 
von  H.  Stein berg  über  „Die  Reyhen  in  den  Trauerspielen  des  Andreas  Gryphius'' 
(1914)  beherrscht.  Nachdem  die  Einleitung  den  abweichenden  Charakter  des'antiken 
Chores  betont  und  den  Unterschied  des  Zvvischenaktreyhens  von  dem  auch  sonst  vor- 
kommenden chorischen  Lied  hervorgehoben  hat,  geht  die  tüchtige  Arbeit  darauf  aus, 
das  Element  des  Zwischenaktchores  vom  Gesamtgefüge  der  Dramen  aus  zu  erfassen 
und  den  organischen  Aufbau  des  Gedankeninhalts  der  Reyhen  aufzudecken.  Zu  diesem 
Zwecke  werden  im  ersten  Teil  diese  Reyhen  im  engsten  Zusammenhang  mit  dem 
inneren  Entwicklungsgang  der  dramatischen  Handlung  analysiert,  worauf  im  zweiten 
Teil  diese  Giyphschen  Dramenelemente  in  Vergleich  gesetzt  werden  mit  den  Chören  und 
chorartigen  Gebilden  vor  Gryphius  (mittelalterliches  Drama,  Schuldraraa,  schweize- 
risches Bürgerdrama,  Meistersängerdrama,  Jesuitendrama,  italienische,  englische,  hol- 
ländische Bühnenpraxis).  —  Auf  einen  Neudruck  von  Rists  allegorischem  Drama  „Das 
Friede  wünschende  Deutschland",  den  H.  Stümcke  besorgte  (Gotha  1915),  sei  nur 
kurz  verwiesen,  da  er  in  seiner  sprachlich  erneuerten  und  bearbeiteten  Form  für 
philologische  Zwecke  nicht  in  Frage  kommt. 

Die  unverkennbare  Vernachlässigung  der  didaktisch  -  satirischen 
Literatur,  die  für  die  Literaturforschung  aller  Epochen  gilt  und  besonders 
ja  auch  für  das  16.  Jahrhundert  fühlbar  wird,  läßt  auch  in  der  Barock- 
zeit Untersuchungen  dieser  Gattung  zurücktreten.  Dafür  wiegen  die 
beiden  im  wesentlichen  nur  in  Frage  kommenden  Untersuchungen  in- 
haltlich um  so  schwerer.  Vor  allem  ist  hier  die  vorzügliche  aus  einer 
Berliner  Dissertation  (1916)  hervorgegangene  Arbeit  von  P.  Hempel 
über  „Die  Kunst  Friedrichs  von  Logau"  zu  nennen,  die  den  130.  Band 
der  Sammlung  Palaestra  bildet  (Berlin  1917).  Hatte  man  bisher  vor- 
wiegend die  inhaltliche  Seite  seiner  epigrammatischen  Dichtung  beachtet 
und  die  kulturgeschichtliche  Bedeutung  seiner  satirischen  Angriflfe  wie 
ihre  vielfache  stoffliche  Abhängigkeit  von  Martial,  Euricius  Cordus, 
Owen  u.  a.  ins  Auge  gefaßt,  so  war  es  bei  der  immerhin  freischöpferi- 
schen Stellung,  die  Logau  seinen  Quellen  gegenüber  einzunehmen  pflegt, 
eine  lohnende  Aufgabe,  nun  auch  einmal  die  in  diesen  Epigrammen 
steckende  Formkunst  zu  analysieren  und  damit  eine  Forschungsrichtung 
einzuschlagen,  die  bei  der  literarhistorischen  Würdigung  des  17.  Jahr- 
hunderts leider  immer  noch  arg  vernachlässigt  wird  und  erst  ganz 
neuerdings  —  im  Zusammenhang  mit  dem  steigenden  Verständnis,  das 
man  der  Barockkultur  überhaupt  entgegenbringt  —  mehr  in  den  Vorder- 
grund des  Interesses  tritt.  In  einer  Reihe  von  Kapiteln  wird  mit  ein- 
fühlendem Verständnis  und  gutem  Blick  für  form  analytische  Probleme 
die  Kunst  Logaus,  wie  sie  sich  in  der  plastischen  Gestaltung,  in  der 
Struktur  der  Gedichte,  im  Stil  und  anderen  Momenten  bewährt,  vor- 
geführt. —  Als  nicht  ganz  auf  der  Höhe  dieser  Leistung  stehend, 
aber  gleichwohl  eine  sehr  ansehnliche  Leistung  darstellend  erweist 
sich  die  Heidelberger  Dissertation  von  L.  Pfeil  (1914),  die  den  Titel 
führt:    „Gottfried  Wilhelm    Sacers    Reime    dich    oder   ich   fresse   dich", 

56 


Nordhausen  1676.  Im  Gegensatz  zu  dem  Buche  Hempels  liegt  hier 
das  Schwergewicht  durchaus  auf  der  inhaltlich -philologischen  Seite. 
Die  Autorfrage  des  pseudonym  erschienenen  Werkchens,  bei  der  man 
längere  Zeit  infolge  einer  irreführenden  Angabe  Morhofs  zwischen  Jo- 
hann Riemer  und  Gottfried  Wilhelm  Sacer  schwankte,  wird  überein- 
stimmend mit  der  neueren  Annahme  endgültig  zugunsten  des  letzteren 
geklärt,  während  die  im  Titel  erscheinende  Druckortangabe  als  falsch  er- 
wiesen wird,  ohne  daß  dafür  mit  sicherer  Bestimmtheit  eine  andere  An- 
nahme eingesetzt  werden  könnte.  Nach  einer  Darlegung  der  äußeren 
Lebensverhältnisse  Sacers  wird  dann  besonders  eingehend  und  fördernd 
die  Quellenfrage  erörtert,  wobei  neben  dem  auffallend  starken  Einfluß 
Baldes  der  Einwirkung  Moscheroschs ,  Schupps,  Andreaes,  Sorels  u.  a, 
nachgegangen,  aber  auch  ein  Nachklingen  Fischarts  festgestellt  wird. 
Recht  aufschlußreich  sind  dann  auch  die  weiteren  Ausführungen,  die  das 
Verhältnis  Sacers  zur  zeitgenössischen  Poetik  und  zu  anderen  Literatur- 
satirikern aufzeigen. 

§  6.     Aufklärung 

Wie  Sacer  1673  scharf  gegen  den  marinistischen  Dichtungsstil  vor- 
ging, so  sehen  wir  just  zur  selben  Zeit,  wo  Lohenstein  und  Hofmanns- 
waldau  im  Zenit  ihres  Ruhmes  standen,  die  vorwiegend  in  den  späteren 
Schlesiern  zutage  tretende  literarische  Geschmacksrichtung  des  extremen 
Barock  bereits  allenthalben  aus  ihrer  maßgebenden  Stellung  verdrängt 
werden,  solange  auch  noch  ihre  Nachwirkung  in  einzelnen  Kreisen  und 
Gattungen  zu  beobachten  ist.  Seit  rund  1670  aber  drängt,  wie  schon 
etwas  früher  in  Frankreich  und  England,  auch  in  Deutschland  die  neue 
Welt-  und  Kunstanschauung  der  Aufklärung  auf  der  ganzen  Linie  sieg- 
reich vor.  Damit  geht  eine  Verschiebung  der  literarischen  Zentren 
nach  dem  ober-  und  niedersächsischen  Gebiet,  der  eigentlich  klassischen 
Stätte  der  Aufklärung,  vor  sich. 

Dem  Führer  dieser  Richtung,  Christian  Weise,  der  in  allen  drei 
Gattungen  den  neuen  Stil  mit  zuerst  anwendet,  ist  seiner  zwar  nicht 
ästhetischen,  aber  entwicklungsgeschichtlichen  Bedeutung  entsprechend 
neuerdings  eine  stärkere  Aufmerksamkeit  zugewandt  worden.  Nachdem 
1910  R.  Beckers  tüchtige  Berhner  Dissertation  Weises  Romane  und 
ihre  Nachwirkung  auf  den  poHtischen  und  pikarischen  Roman  der  Folge- 
zeit untersucht  hatte,  füllte  M.  von  Waldberg  eine  empfindliche  Lücke 
unserer  Neudrucke  aus,  indem  er  1914  einen  kritischen  Neudruck  von 
Weises  „Überflüssigen  Gedanken"  nach  der  Ausgabe  von  1678  vorlegte, 
deren  Einleitung  sorgfältig  die  textkritischen  Grundlagen  festlegt.  Be- 
sonders zu  begrüßen  ist,  daß  in  dem  Neudruck  auch  das  in  der  Original- 
ausgabe der  Gedichte  angehängte  Erstlingsdrama  des  fruchtbaren  Zittauer 
Schulrektors  „Die  triumphierende  Keuschheit**'  zur  Auferstehung  kommt, 
das  bisher  nur  in  einer  modernisierten  Bearbeitung  von  K.  Halling  in 
neuerer  Form  zugänglich  war.  —  Im  selben  Jahr  legte  dann  auch  der  un- 
serer Wissenschaft  viel  zu  früh  entrissene  W.  von  Unwerth  einen  Neu- 

57 


druck  der  bisher  unveröffentlichten  beiden  nordischen  Dramen  Weises 
„Regnerus"  und  „Ulvilda''  vor  (Germanistische  Abhandlungen,  hrsg. 
von  F.  Vogt,  46.  Heft,  Breslau  1914),  der  von  einer  gehaltvollen  Ab- 
handlung über  die  Quellen-  und  IStoffgeschichte  dieser  Dramen  begleitet 
war  und  des  Verfassers  Vertrautheit  mit  der  nordischen  Welt  zeigte. 
Ob  freilich  seine  Annahme,  daß  Weise  neben  dem  Studium  skandinavi- 
scher Chronisten  und  Historiographen  einem  dramatischen  Archetypus 
verpflichtet  sei,  der  (heute  nicht  mehr  nachweisbar)  sich  nach  einem 
Drama  des  schwedischen  Dichters  Messenius  in  der  Praxis  deutscher 
Komödianten  ausgebildet  habe,  muß  zum  mindesten  zweifelhaft  bleiben. 
Immerhin  hat  sich  von  Unwerth,  dessen  jäh  abgebrochene  Lebensarbeit 
sonst  auf  dem  Gebiet  der  altdeutschen  und  nordischen  Philologie  lag, 
mit  dieser  Arbeit  auch  um  die  neudeutsche  Literaturgeschichte  verdient 
gemacht.  —  Bereits  jenseits  dieses  Berichtszeitraums  liegt  die  tüchtige 
Leipziger  Dissertation  von  H.  Schauer  über  „  Christian  "\A'eises  biblische 
Dramen",  die  in  überarbeiteter  Fassung  als  Buch  1921  in  Görlitz  er- 
schien und  die  Voraussetzungen,  die  Technik  und  den  pädagogischen 
Ertrag  dieser  Dramengruppe  eingehend  untersucht. 

Aus  dem  Boden  der  Aufklärung  erwuchs  auch  das  satirische  Schaffen 
Christian  Reuters,  den  vor  nunmehr  fast  schon  vierzig  Jahren  Zarnckes 
archivalischer  Spürsinn  zu  neuem  Leben  erstehen  ließ.  Nachdem  früher 
die  satirischen  Dramen  und  vor  allem  der  „Schelmuffsky"  mehrfach  in 
Einzelneudrucken  bekanntgeraacht  worden  waren  und  vor  dem  Kriege 
auch  der  „Graf  Ehrenfried"  in  einem  Liebhaberdruck  des  Leipziger 
Bibliophilenabends  wenigstens  in  100  Exemplaren  einen  Neudruck  erlebte 
(1911),  erwarb  sich  der  Insel  vorlag  ein  großes  Verdienst  damit,  daß  er  die 
zerstreuten  und  immer  noch  vielfach  kaum  zugänglichen  Werke  Reuters 
in  einer  zweibändigen  Ausgabe  vereinte,  die  unter  dem  Titel  „Christian 
Reuters  Werke"  in  vornehmer  Ausstattung  1916  hervortrat  und  von 
G.  Witkowski  besorgt  wurde,  der  unter  Verzicht  auf  alles  rein 
philologische  Beiwerk  den  zwei  starken,  fast  800  Seiten  füllenden  Bän- 
den nur  ein  knappes,  in  die  Persönlichkeit  einführendes  Nachwort  beifügt. 
Die  Ausgabe,  die  zum  erstenmal  das  immerhin  reichhaltige  Schaffen 
Reuters  vereinigt  vorführt,  enthält  von  den  aus  dem  Leipziger  Erlebnis 
hervorgegangenen  Arbeiten  die  beiden  der  „Ehrlichen  Frau"  geltenden 
Dramen  und  das  daran  sich  anschließende  „Denk-  und  Ehrenmal". 
Das  Singspiel  „Ilarlequins  Hochzeitschmauß ",  dessen  Autorschaft  nach 
Boltes  Nachweis  für  Reuter  nicht  mehr  in  Frage  kommt,  wurde  kon- 
sequenterweise ausgelassen,  während  das  ebenfalls  stark  verdächtige 
Singspiel  „Ilarlequins  Kindbetterin  Schmauß"  wenigstens  im  Anhang 
beigegeben  wurde.  Zu  begrüßen  ist,  daß  dann  nicht  nur  der  satirische 
Ilauptroman  in  beiden  Fassungen  zum  Abdruck  kommt,  sondern  auch 
die  weniger  bekannte  Oper  „Seigneur  Schelmuffsky"  nunmehr  leicht 
zugänglich  ist.  Vor  allem  aber  wird  durch  diese  Ausgabe  das  spätere 
Dresdner  und  Berliner  Schaffen  Reuters  erst  klar,  so  sehr  auch  der 
Abfall  dieser  mittelmäßigen  Hofpoetenleistungeu  von  der  einstigen  sa- 
tirischen Höhe   des  Dichters    zu   beklagen   ist.     Erst   durch    diese  Aus- 

58 


gäbe    seiner   gesammelten   Werke    hat    sich   die   Wiedergeburt   Reuters 
vollendet. 

Der  seit  Beginn  des  neuen  Jahrhunderts  immer  deutlicher  zur  Er- 
scheinung kommende  englische  Einfluß  tritt  vor  allem  in  den  Wochen- 
schriften und  den  Robinsonaden  zur  Erscheinung.  Beide  literarische 
Gebilde  sind  im  Berichtszeitraum  behandelt  worden.  Nicht  eigenthch 
in  die  Literaturgeschichte  im  engeren  Sinne  gehört  die  vorwiegend  er- 
ziehungsgeschichtlich orientierte,  aber  auch  dem  Literarhistoriker  viel 
bietende  Arbeit  von  M.  Stecher,  die  in  ungemein  sorgfältiger  Forschung 
„Die  Erziehungsbestrebungen  der  deutschen  moralischen  Wochenschriften" 
(Langensalza  1914)  untersucht.  Die  Einleitung  freilich  beruht  auf  ver- 
alteten Anschauungen  über  die  geistige  Entwicklung  des  17.  Jahrhunderts 
(die  hergebrachte  These  von  dem  nahezu  alles  geistige  Leben  vernich- 
tenden Einfluß  des  Dreißigjährigen  Krieges  sollte  endlich  einmal  aus 
wissenschaftlichen  Darstellungen  verschwinden).  Die  Art,  wie  aber  dann 
die  Grundideen  der  Aufklärung  überhaupt  und  besonders  ihrer  erziehungs- 
technischen Anschauungen  aus  den  früheren  Wochenschriften  heraus- 
gearbeitet werden,  verdient  volle  Anerkennung.  —  Als  eine  besonders 
bedeutsame  Leistung  stellt  sich  daneben  F.  Brüggemanns  Buch 
„Utopie  und  Robinsonade"  dar,  das  1914  als  46.  Nummer  der  „For- 
schungen zur  neueren  deutschen  Literaturgeschichte"  erschien.  Nach  den 
grundlegenden  Forschungen  von  H.  Ullrich  Tl  8 9 8 ff.)  war  neuerdings  vor  allem 
Kjchnabels  „Insel  Felsenburg"  in  den  Vordergrund  des  Interesses  gerückt, 
die  neben  den  übrigen  Romanen  des  Stoiberger  Vielschreibers  in  den 
beiden  Dissertationen  von  F.  K.  Becker  (Bonn  1911)  und  K.  Schröder 
(Marburg  1912)  behandelt  worden  war.  Nach  der  mehr  individualisti- 
schen Einstellung  dieser  beiden  Untersuchungen  geht  B.  mit  allgemeinerer 
geistesgeschichtlicher  Betrachtung  an  seine  Aufgabe.  Sie  gipfelt  in  dem 
überzeugenden  Nachweis,  daß  für  die  „Insel  Felsenburg",  auf  die  sich 
das  Hauptaugenmerk  des  Verfassers  richtet,  aber  auch  für  die  übrige  damit 
im  Zusammenhang  stehende  sog.  Robinsonadenliteratur  der  Einfluß  des 
englischen  Originalromans  stark  überschätzt  worden  ist  und  für  die  ganze 
Gruppe  von  ungleich  größerer  Bedeutung  die  reiche  utopistische  Literatur 
ist,  deren  Motive  in  ihrer  Nachwirkung  auf  die  „Insel  Felsenburg"  mit 
großer  Sorgfalt  und  Belesenheit  nachgewiesen  werden.  Vielleicht  über- 
schätzt B.  die  entwicklungsgeschichtliche  Bedeutung  der  Gefühls-  und 
Humanitätselemente  des  Schnabelschen  Romans  etwas.  Jedenfalls  aber 
zeigt  auch  diese  Untersuchung,  wie  sehr  die  hterarhistorische  Würdigung 
eines  Dichtwerkes  bei  größerer  geistesgeschichtlicher  Einstellung  an 
problematischem  Weitblick  gewinnen  kann  und  daß  bei  genügend  fester 
philologischer  Fundierung  die  Bedenken  aufklärerischer  Kleingeister  gegen 
solche  kulturhistorische  Methode  unberechtigt  sind.  Unsere  moderne 
Literaturgeschichte  bedarf  neben  der  natürlich  unerläßhchen  philolo- 
gischen Grundarbeit  und  der  in  den  letzten  Jahrzehnten  erfit-eulicherweise 
stärker  betonten  ästhetisch- psychologischen  Analyse  und  der  Einfühlung 
in  den  Sondercharakter  des  Einzelwerkes  notwendigerweise  als  dritten 
ergänzenden  und  vielfach  die  Untersuchung  krönenden  Momentes  dieser 

59 


geistes-  und  stilgeschichtlichen  Betrachtungsweise,  die  vieles  in  ganz, 
anderer  Beleuchtung  zeigt,  als  es  die  herkömmliche  Literaturgeschichts- 
betrachtung sieht. 

In  seiner  tüchtigen  Greifswalder  Dissertation  „Die  Welt-  und 
Lebensanschauung  in  dem  Irdischen  Vergnügen  in  Gott  von  B.  H. 
Brokes''  (1914)  betont  F.  von  Manikowsky  gegenüber  der  bisher 
geübten  meist  aburteilenden  literarischen  Wertung  die  relormatorische 
Bedeutung  des  Hamburger  Dichters.  Vor  allem  vermag  er  in  dem 
Nachweis,  daß  Brokes'  Vorstellungsweise  von  Gott,  Welt  und  Mensch 
in  den  wesentlichen  Punkten  auf  Shat'tesbury  zurückgeht,  mit  dessen 
Anschauungen  er  als  Übersetzer  Thompsons  und  anderer  englischer  Di- 
daktiker bekannt  wurde,  eine  wertvolle  Berichtigung  der  bisherigen  An- 
nahme zu  erbringen,  daß  die  Ideen  Leibnizens  von  entscheidender  Ein- 
wirkung gewesen  seien.  Im  Gegenteil  lehnt  Brokes  den  Mittelpunkt 
der  Leibnizschen  Lehre,  die  Monadologie,  scharf  ab.  Gewonnen  hätten 
diese  Darlegungen  noch,  wenn  sie  die  zeitgenössische  Literatur  stärker 
herangezogen  hätten  und  allgemeines  Zeitgut  und  individuelles  Eigentum 
dadurch  deutlicher  geschieden  worden  wäre. 

Hinsichtlich  der  beiden  Lyriker  des  frühen  18.  Jahrhunderts,  die  mehr  oder 
weniger  den  Spuren  von  Brockes  folgen,  vermag  Fr.  Meyer  in  seiner  Münchner 
Dissertation  (19Hi)  durch  eine  eingehende  Prüfung  und  Vergleichung  der  zeitgenössi- 
schen Hallerbiographien  untereinander  sowie  an  der  Hand  autobiographischer  Angaben 
und  handschriftlicher  Notizen  Hallers  aus  dem  Besitz  der  Stadtbibliothek  in  Bern 
neue  „Beiträge  zur  Biographie  A.  von  Hallers"  zu  erbringen,  während  Bertha 
Reed  Coffman  in  einer  mir  nicht  zugänglich  gewordenen  Abhandlung  in  Modern 
Philology  XIII  und  XIV  „The  influence  of  English  Literature  on  Fr.  v.  Hagedorn" 
(1916)  untersucht. 

Noch  immer  will  sich  die  Einzelforschung  über  Gottsched  nicht 
recht  entwickeln,  obwohl  sich  neuerdings  ein  gerechteres  Urteil  über  den 
Leipziger  Geschmacksdiktator  durchzusetzen  beginnt,  ohne  daß  man  des- 
halb nun  gerade  in  E.  Reicheis  dithyrambische  Begeisterung  zu  ver- 
fallen braucht.  So  ist  es  zu  begrüßen,  daß  J.  Hülle  in  seiner  Arbeit 
„Joh.  Valentin  Pietsch.  Sein  Leben  und  seine  Werke"  (Forsch,  z.  n. 
Litg.,  50.  Bd.,  1916)  eine  alles  irgend  erreichbare  biographische  Material 
sorgsam  ausschöpfende  Lebendarstellung  des  Lehrers  von  Gottsched, 
sowie  ein  bibliographisches  Verzeichnis  der  Einzeldrucke  und  Ausgaben 
seiner  Gedichte  gibt  und  seine  Entwicklung  von  den  ersten  Anfängen 
in  Lohensteinschem  Geschmack  zu  der  nüchternen,  am  französischen 
Klassizismus  geschulten  Art  Neukirchs  und  den  unter  Neumeisters  Ein- 
fluß stehenden  geistlichen  Gedichten  verfolgt.  —  Wertvoll  für  die  Er- 
kenntnis Gottscheds  selbst  ist  die  scharf  und  klar  dui'chdachte,  aus  einer 
Heidelberger  Dissertation  hervorgegangene  Arbeit  von  E.  Lichten - 
stein:  „Gottscheds  Ausgabe  von  Bayles  Dictionnaire"  (Beitr.  z.  n.  Litg. 
VIII,  1915).  Sie  stellt  sich  die  Autgabe,  aus  den  Beziehungen  Gott- 
scheds zu  Bayle,  soweit  sie  ihren  Niederschlag  in  den  zahlreichen  und 
umfänglichen  Anmerkungen  gefunden  haben,  die  Gottsched  der  von  ihm 
herausgegebenen  Übersetzung  des  großen  Bayleschen  Wörterbuches  hinzu- 
fügte, einen  Beitrag  zur  Erkenntnis  Gottscheds  als  eines  Repräsentanten 

60 


■der  Aufklärung  zu  geben.  Nacheinander  werden  seine  Beziehungen  zur 
Theologie  und  Philosophie,  zur  Literatur.,  zum  Theater  und  zu  natio- 
nalen und  kulturellen  Zeitfragen  erörtert,  ungefähr  im  Anschluß  an  die 
Gruppierung,  die  er  selbst  in  der  Vorrede  zum  ersten  Bande  des  Wörter- 
buches seinen  Anmerkungen  gegeben  hat.  Während  die  philosophischen 
Versuche  ihrer  ganzen  Natur  nach  zur  Fruchtlosigkeit  verurteilt  waren, 
sind  die  literarischen  Anmerkungen  nach  zwei  Seiten  hin  bedeutsam: 
als  ästhetische  Äußerungen  setzen  sie  sich  mit  den  Anschauungen  Bod- 
mers  und  Breitingers  auseinander,  als  literargeschichtliche  suchen  sie  die 
Gleichwertigkeit  des  deutschen  Geistes  mit  dem  der  Nachbarvölker  zu 
erweisen  und  so  das  deutsche  Nationalgefühl  zu  heben,  ebenso  wie  ihm 
die  deutsche  Sprache  ein  Mittel  zur  Verherrlichung  des  Vaterlandes 
wird;  rein  und  unvermischt  kommt  dieses  schöne  vaterländische  Gefühl 
dann  auch  in  zahlreichen  Anmerkungen  zum  Ausdruck,  die  die  Laster 
und  Schwächen  seiner  Landsleute  scharf  geißeln  und  die  Deutschen  auf- 
stacheln sollen,  sich  von  fremdländischem  Wesen  frei  zu  machen  und 
ihre  eigene  Art  zu  erkennen  und  zu  entwickeln.  —  Über  die  unmittel- 
baren Trabanten  und  Mitkämpfer  Gottscheds  liegen  aus  den  Berichts- 
jahren keine  eingehenderen  Darstellungen  vor.  Dagegen  sind  einigen 
Gottsched  immerhin  nahestehenden  Persönlichkeiten  aus  dem  Kreise  der 
Bremer  Beiträge  Dissertationsarbeiten  zugute  gekommen. 

Während  W.  Lippe rt  als  Vorstudie  zu  einer  in  Aussicht  gestellten  umfassen- 
den Untersuchung  der  dichterischen  Tätigkeit  N.  D.  Giesekes  eine  ausführliche  bio- 
graphische Behandlung  seiner  Persönlichkeit  bietet  (Greifswald  19 i5),  gibt  K.  Kühnes 
Berliner  Dissertation  (1914):  „Studien  über  den  Moralsatiriker  G.  W.  Rabener"  wert- 
volle Forschungen  zu  Rabeners  literarischer  Tätigkeit,  Nachdem  ein  erstes  Kapitel 
vielfach  unbekannte  Beziehimgen  menschlicher  und  literarischer  Art  zwischen  dem 
Bremer  Beiträger  und  zeitgenössischen  Autoren  wie  Gramer,  Gieseke,  Hagedorn,  Bod- 
mer,  Gottsched,  Gleim  u.  a.  neu  aufgedeckt  oder  bisher  Bekanntes  berichtigt  hat,  geht 
das  zweite  Kapitel  mit  umsichtiger  philologischer  Kritik  daran,  Eabeners  Anteil  an 
den  Leipziger  periodischen  Schriften  aufzuzeigen  und  den  Nachweis  seiner  Autorschaft 
für  die  anonymen  Satiren  der  ,, Belustigungen  des  Verstandes  und  Witzes''  zu 
führen.  Ein  dritter  Teil  der  Arbeit  präft  die  Satiren  nach  Theorie,  Stoff  und  Form 
und  unterscheidet  vier  Entwicklungsperioden  derselben:  die  Abhängigkeit  der  ersten 
Versuche  von  den  Kunstsatiren  Günthers  und  Neukirchs,  die  Anlehnung  der  Produkte 
der  Leipziger  Studenten] ahre  an  Swift,  die  Periode  des  „Zuschauers",  und  die  deutsche 
Moralsatire  mit  sächsischen  Lokalstoffen  in  englischer  Technik.  Der  Anhang  bringt 
erstmalig  abgedruckte  Briefe  Rabeners  aus  dem  Gleimstift,  der  preußischen  Staats- 
bibliothek in  Berlin  und  der  Hamburger  Stadtbibliothek.  —  Die  Gießener  Dissertation 
von  G.  Paul  über  „Die  Veranlassung  und  die  Quellen  von  J.  E  Schlegels  Canut" 
(1916)  sucht  die  bisher  unbekannte  Anregung  zur  Wahl  dieses  Stoffes  aus  der  dä- 
nischen Geschichte  in  einer  Arbeit  Hans  Granis  über  Canuts  Reise  nach  Rom  fest- 
zustellen, die  1745  erschienen  war  und  zu  deren  Verfasser  Schlegel  auch  in  nach- 
weisbaren persönlichen  Beziehungen  stand.  Die  etwas  breite  und  äußerliche  Unter- 
suchung über  die  Quellen  des  Dramas  ergibt,  daß  zu  den  im  „Vorbericht"  angeführten 
Schriften  noch  einige  mittelalterliche  englische  Geschichtschreiber  hinzuzufügen  sind. 
Die  Quellen  selbst  sind  z.  T.  ziemlich  frei  verwertet;  besonders  ist  verschiedentlich 
das  Bestreben  nachzuweisen,  zur  Erregung  stärkerer  Gemütsbewegungen  einzelne  Tat- 
sachen aus  anderen  Zusammenhängen  auf  die  Figuren  des  Dramas  zu  übertragen. 

Mit  Lessing  wird  die  Aufklärung  auf  den  Höhepunkt  ihrer  Ent- 
wicklung geführt.  Seiner  Bedeutung  entsprechend  beschäftigt  sich  auch 
im  Berichtszeitraum  eine  ganze  Reihe  von  Arbeiten  direkt  oder  indirekt 

61 


mit  ihm.  Allen  voran  aber  sind  zwei  Erscheinungen  zu  nennen.  Mit 
den  beiden  1915  und  1919  erschienenen  Teilen  des  22  Bandes  seiner 
Lessingausgabe  schließt  Franz  Muncker  die  Arbeit  eines  vollen  Menschen- 
alters ab!  1886,  als  dritte  Auflage  der  ursprünglich  von  Karl  Lach- 
mann herausgegebenen  und  in  zweiter  Auflage  von  Maltzahn  verschlech- 
terten Ausgabe  begonnen,  lagen  bis  1 907  bereits  21  Bände  vor.  Der  Schluß - 
band  bringt  nunmehr  die  Berichtigungen  und  Nachträge  zu  den  voraus- 
gegangenen Bänden  und  ein  Verzeichnis  aller  irgendwie  beachtenswerten 
Drucke  Lessingscher  Schriften.  Damit  ist  für  alle  -  Lessingforschung 
nunmehr  die  abschließende  und  bleibende  Grundlage  gegeben.  Das  in 
Aussicht  gestellte  ausführliche  Namen-  und  Sachregister,  das  die  Be- 
nutzung der  Ausgabe  wesentlich  erleichtern  und  ihre  Brauchbarkeit  el*- 
höhen  soll,  wird  hoffentlich  nicht  mehr  lange  auf  sich  warten  lassen.  — 
Mit  W.  Oehlkes  zweibändigem  Werk  „Lessing  und  seine  Zeit"  reiht 
sich  der  auch  heute  noch  wertvollen  Lebensbeschreibung  Th.  W.  Danzels 
(1850 — 53)  und  Erich  Schmidts  Meisterdarstellung  eine  dritte  biogra- 
phische Schilderung  an,  die  dem  „scheinbar  so  Spröden,  Unpersönlichen*' 
zuförderst  „von  der  rein  menschlichen  Seite"  sich  nahen  will.  Im 
Sinne  des  vorangestellten  Mottos  aus  Dichtung  und  Wahrheit  sucht 
Oehlke  den  Menschen  Lessing  in  seinen  Zeitverhältnissen  darzustellen 
und  zu  zeigen,  inwiefern  ihm  das  Ganze  widerstrebt ,  inwiefern  es  ihn 
begünstigt,  wie  er  sich  eine  Welt-  und  Menschenansicht  daraus  gebildet 
hat,  und  wie  er  sie  nach  außen  abspiegelt,  womit  gleichzeitig  eine  Kultur- 
und  Geistesgeschichte  des  Lessingschen  Zeitalters  gegeben  wird.  In  ge- 
schickter und  sicherer  Gliederung  wechseln  zeitlich  und  örtlich  bedingte 
Abschnitte  (Heimat,  Vaterhaus  und  Schule,  Universität  usw.)  mit  abge- 
rundeten Kulturbildern  ab,  die  sich  um  Gruppen  Lessingscher  Werke 
oder  Höhepunkte  seines  Schaffens  (In  der  Schule  der  Weltliteratur.  — 
Die  Umgestaltung  des  dichterischen  und  religiösen  Lebens.  —  Der  Sieben- 
jährige Krieg.  —  Minna  von  Barnhelm  usw.)  ordnen  und  den  Zeitungs- 
schreiber und  Kunstrichter,  den  Gelehrten  und  Dichter,  insonderheit 
aber  den  Menschen  Lessing  wirklich  lebendig  werden  lassen,  wozu 
die  flüssige  Darstellungsweise  ihr  Teil  beiträgt.  Die  über  hundert 
Seiten  umfassenden  Anmerkungen  bieten  besonders  kulturgeschichtliche 
Nachweise  und  machen  die  wertvollsten  neueren  Schriften  zur  Lessing- 
literatur namhaft. 

Mit  Lessings  Minna  von  Barnhelm  eröffnet  E.  Meyer- Beufey  eine  Samm- 
lung, die  ästhetisch  hervorragende,  ausnahmsweise  auch  historisch  bedeutsam  ge- 
wordene Dramen  der  verschiedenen  Völker  mit  besonderer  Betonung  der  deutschen 
aus  allen  Zeiten  bis  zur  Gegenwart  behandeln  soll.  Die  tief  schürfende,  freilich 
auch  nicht  selten  zu  sehr  in  die  Breite  gehende  analytische  Beti  achtungsweise  dieses 
Autors  ist  aus  seinem  großen  Kleistwerke  wie  aus  seiner  Einzeluutersuchuug  der 
Hebbelschen  Judith  zur  Genüge  bekannt.  —  K.  Behschnitt  behandelt  in  einer 
Breslauer  Dissertation  „Lessings  Ansichten  von  der  deutschen  Sprache"  (191G)  und 
kommt  zu  dem  Ge.samturteil ,  daß  Lessing  auf  dem  Gebiete  der  Grammatik  und  der 
Etymologie  wenig  über  den  allgemeinen  Standpunkt  der  Zeit  hinauszukommen  ver- 
mochte, daß  er  dagegen  in  stilistischen  Fragen  durch  den  Kampf  gegen  den  über- 
mäßigen Fremdwortgebrauch  der  Zeit,  durch  den  Hinweis  auf  die  Ausdruckskraft  von 
gcwis.sen  Provinzialismen,  durch  die  Betonung  von  Kürze,  Klarheit  und  "Wahrheit  und. 

62 


besonders  durch  das  Vorbild  seiner  eigenen  Prosa  fördernd  eingewirkt  habe.  —  Eine 
Züricher  Dissertation  von  R.  Dikenmann  (1915)  mit  dem  Titel  „Beiträge  zum  Thema 
Diderot  und  Lessing"  weist  in  einer  Reihe  von  Parallelen  auf  die  engen  Beziehungen 
zwischen  den  Gedankengängen  Diderots  und  Lessiugs  hin,  aus  denen  die  starken  An- 
regungen, die  der  Begründer  der  deutschen  Ästhetik  von  dem  französischen  Kunst- 
feuilletonisten  erfahren  hat,  deutlich  werden,  zugleich  aber  auch  die  Selbständigkeit 
Lessings  in  der  Lösung  der  Probleme  hervortritt. 

Während  sich  die  eben  genannten  Arbeiten  verschiedenen  ab- 
gegrenzten Sonderfragen  zuwandten,  gruppiert  sich  eine  ganze  Reihe 
von  z.  T.  tiefeindringenden  Untersuchungen  um  einen  der  Zentralpunkte 
Lessingscher  Weltanschauung:  den  Toleranzgedanken.  In  ihm  gipfeln 
die  beiden  Beantwortungen,  die  das  von  der  Mendelssohn-Toleranzstiftung 
gestellte  Thema:  „Der  Toleranzgedanke  in  der  deutschen  Literatur  zur 
Zeit  Moses  Mendelssohns"  erhalten  hat  (1914).  J.  Horowitz  erörtert, 
nachdem  er  einleitend  den  Toleranzgedanken  aus  den  religiösen  Ten- 
denzen des  Deismus  und  der  Aufklärung  abgeleitet  hat,  Lessings,  Men- 
delssohns, Herders,  Kants  und  Schillers  Stellungnahme;  A.  Wolffs 
Arbeit  dagegen,  die  denselben  im  Preisthema  festgelegten  Titel  trägt, 
stellt  einen  ersten  Versuch  dar,  eine  Entwicklungsgeschichte  des  Toleranz- 
gedankens aufzuzeigen,  der  mit  dem  Auftreten  Lessings  seinen  Höhe- 
punkt und  seine  endgültig  abschließende  Formulierung  erreicht.  —  Auch 
T.  C.  van  Stockums  Abhandlung  „Spinoza  —  Jacobi  —  Lessing" 
(Groningen  1916)  kommt  auf  die  Schilderung  einer  Art  von  Betätigung 
des  Toleranzprinzips  heraus,  indem  sie  die  alte  Streitfrage  der  großen 
Literaturfehde  der  Mitte  der  achtziger  Jahre,  den  „Pantheismusstreit", 
in  den  Mittelpunkt  ihrer  Untersuchung  stellt,  mit  dem  Resultat,  daß 
der  Lessing  der  siebziger  Jahre  vielfach  unter  dem  Einflüsse  Spinozas 
stehe,  aber  doch  nicht  Spinozist  in  unserem  modernen  Sinne  gewesen 
sei.  —  Endlich  liegen  auch  alle  religiösen  Bestrebungen  Lessings  nach 
ihrer  positiven  Seite  hin  in  der  erstrebten  Stärkung  des  Toleranz- 
gedankens. Auf  diesem  Gebiete  legt  G.  Fittbogen  verschiedene  ein- 
gehende Untersuchungen  vor.  In  seiner  Halleschen  Dissertation  „Die 
Religion  Lessings"  versucht  er  eine  neue  Deutung  der  Ringparabel:  sie 
sei  eine  Weissagung  auf  die  kommende  Menschheitsreligion,  welche  die 
positiven  Religionen  überwinden  wird.  Damit  lehnt  er  auch  die  Be- 
zeichnung des  Dramas  als  Toleranzdrama  ab,  da  es  sich  nicht  mehr 
um  gegenseitige  „Duldung"  verschiedener  Religionen  handle,  sondern, 
die  (aufgeklärten)  Glieder  verschiedener  Religionsgemeinschaften  in  Wirk- 
lichkeit Anhänger  derselben  Humanitätsreligion  seien.  Das  Kapitel  der 
Dissertation  über  „Reimarus'  Religion"  wurde  im  Juniheft  1918  der 
Preußischen  Jahrbücher  unter  der  Überschritt  „Lessings  Entwicklung 
bis  zur  Bekanntschaft  mit  Reimarus"  in  einer  Inhalt  und  Stil  der  Rei- 
marusschen  Schrift  klar  kennzeichnenden  Abhandlung  fortgeführt,  die  her- 
vorhebt, wie  Lessing  hauptsächlich  die  negative  Kritik  positiver  Glaubens- 
dokumente bei  Reimarus  zu  schätzen  wußte,  selbst  aber  in  den  Wolfen- 
büttler  Fragmenten  über  den  Deismus  und  die  natürliche  Religion  hinaus- 
wuchs, um  damit  sowohl  der  Begründer  der  Religionswissenschaft  als 
der  Dichter  des  Nathan  zu  werden.    Ob  dieser  Aufsatz  Fittbogens  ebenso 

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wie  die  Darstellung  von  „Leasings  Anschauung  über  die  Seeleuwandrung" 
(G.  R.  M.  1914,  6;i2/55)  Teile  des  in  der  Dissertation  angekündigten 
Gesaratwerkes  darstellen,  vermag  ich  nicht  zu  überblicken,  da  ich  nicht 
festzustellen  vermag,  ob  die  ganze  Arbeit  bisher  im  Druck  erschienen  ist. 

Adolf  Bartels'  "Werk  „Lessiiig  und  die  Juden"  stellt  auf  fast  40t)  Seiten  alles 
irgendwie  unter  diesen  Gesichtspunkt  Fallende  zusammen ,  wobei  es  sich  besonders 
mit  Erich  Schmidt  einerseits  und  Dühring  andrerseits  auseinandersetzt.  Das  Buch 
ist  natürlich  im  Sinne  der  bekannten  antisemitischen  Tendenz  des  Verfassers  ge- 
schrieben, versucht  aber,  sich  in  den  Grenzen  sachlicher  Erwägungen  zu  halten,  so 
daß  es  gleichfalls  einen  Beitrag  zur  Geschichte  des  Toleranzgedankens  zu  erbringen 
vermag. 

Schließlich  sei  in  diesem  Zusammenhang  noch  Wolfgang  Liepes 
Werk  „Das  Religionsproblem  im  neueren  Drama  von  Lessing  bis  zur 
Romantik"  (Halle  1914)  mit  Auszeichnung  genannt,  das  scharfsinnig 
und  klar  in  flüssigem  Stil  und  einprägsamer  Formulierung  die  hervor- 
ragenden Dramen  dieser  Epoche  auf  ihre  Stellung  zur  positiven  Religion 
untersucht  und  den  Entwicklungsgang  des  religiösen  Geistes  vom  reinen 
dogmenlosen  Vernunftglauben  der  Aufklärung  über  das  klassische  Evan- 
gelium der  Humanität  zur  persönlich  erlebten  Religion  der  Romantiker 
verfolgt.  Vielleicht  ist  die  Aufklärung  etwas  zu  einseitig  vom  Stand- 
punkt der  Romantik  aus  eingeschätzt;  auch  die  Einteilung  der  Romantik 
in  drei  Entwicklungsphasen  ist  nicht  ganz  frei  von  Konstruktion.  Als 
Ganzes  aber  sowie  besonders  in  der  Charakteristik  Zacharias  Werners, 
dessen  geistesgeschichtliche  Bedeutung  hier  zum  erstenmal  eingehend  zur 
Geltung  gebracht  wird  und  dessen  Dramen  eine  musterhafte  Analyse 
erfahren,  gehört  das  Buch  mit  zu  den  beachtungswertesten  Neuerschei- 
nungen der  letzten  Jahre. 

Wenn  die  Wielandforschung  immer  noch  auf  weite  Strecken  hin 
unbebautes  Feld  aufweist,  so  liegt  dies  in  erster  Linie  an  dem  Fehlen 
einer  kritischen  Gesamtausgabe,  da  die  von  der  deutschen  Kommission 
der  preußischen  Akademie  der  Wissenschaften  herausgegebenen  „Ge- 
sammelten Schriften",  die  nach  Seufferts  sachkundigen  und  ziel- 
sicheren „Prolegomena  zu  einer  Wieland  -  Ausgabe "  (Abhandlungen 
der  Berhner  Akademie  d.  W.  1904 — 1909)  auf  etwa  fünfzig  starke 
Bände  berechnet  sind,  heute  erst  in  neun  Bänden  vorliegen.  Im  Be- 
richtszeiträume sind  von  der  ersten  Abteilung  der  „Werke"  als  vierter 
Band  die  prosaischen  Jugendwerke,  hrsg.  von  F.  Homeyer  und  Hugo 
Bieber  (1916),  erschienen,  die  eine  Fülle  neuen  Materials  besonders  zu 
den  Kämpfen  der  Schweizer  gegen  Gottsched  und  zu  Wielands  ana- 
kreontischer  Jugenddichtung  erbringen.  —  Von  den  vorliegenden  Eiuzel- 
studien  gibt  die  aus  einer  Straß  burger  Dissertation  hervorgegangene 
Arbeit  von  Emilie  Marx  „Wieland  und  das  Drama"  (1914)  l]eißige 
Analysen  und  Vergleichungen  mit  den  Quellen  sowie  eine  Darstellung 
der  Singspieltheorie  Wielands,  die  aber  mehr  mit  den  Bestrebungen  des 
zeitgenössischen  Musik-  und  Opernwesens  hätte  verknüpft  werden 
müssen.  —  Für  „Wielands  Gandalin"  vermag  die  tüchtige  Leipziger 
Dissertation  von  R.  G ermann  (Probefahrten,  26.  Bd.,  1914)  eine 
Novelle    Scarrons    aus   seinem    Roman    comique,    betitelt   „Histoire    de 

64 


l'Amante  invisible"  als  Quelle  nachzuweisen,  wobei  eingehend  die  Arbeits- 
weise Wielands  aufgezeigt  wird.  —  P.  Groschwald  unterzieht  in 
seiner  Gießener  Dissertation  (1914)  „Das  Bild  des  klassischen  Alter- 
tums in  Wielands  Agathon"  einer  sorgfältigen  Prüfung  hinsichthch 
der  antiquarischen  Richtigkeit  der  Schilderung  der  Landschaften  und 
Orte,  des  Volkscharakters,  des  staatlichen  und  religiösen,  häuslichen 
und  gesellschaftlichen  Lebens,  wobei  er  zu  dem  Resultate  gelangt,  daß 
Wieland  durchaus  geeignet  war,  ein  historisch  richtiges  Bild  dieses 
Zeitalters  zu  geben.  Das  vereinzelte  Vorhandensein  unrichtiger  An- 
gaben beruhe  nur  zum  kleinsten  Teil  auf  Mangel  an  entsprechenden 
Kenntnissen,  sondern  sei  zur  Erreichung  künstlerischer  Ziele  vor- 
genommen worden.  —  Handelt  es  sich  bei  diesen  Untersuchungen  um  eng- 
umkreiste Probleme,  so  ist  IL  Wahl s  „Geschichte  des  deutschen  Merkur" 
(Palaestra  127,  1914)  aus  eingehendster  Kenntnis  eines  vier  Jahrzehnte 
umspannenden  Zeitraumes  hervorgegangen.  Die  Arbeit  verfolgt  die  Ent- 
wicklung des  Journalisten  Wieland  von  seinen  moralphilosophisch- 
ästhetischen  Anfängen  über  die  antiklerikalen  und  antisupranaturalisti- 
schen  Kämpfe  der  achtziger  Jahre  bis  zu  seinen  stegreifpublizistischen 
und  tagesschriftstellerischen  Äußerungen  in  den  Jahren  nach  der  Revo- 
lution. Durch  die  zahlreichen  Charakteristiken  der  verschiedenen  Mit- 
arbeiter und  ihrer  Beiträge,  sowie  durch  das  Hineinstellen  der  Zeitschrift 
in  die  journalistische  Gesamtlage  der  Zeit  gelingt  es  dem  Verfasser, 
nicht  nur  ein  gutes  Bild  des  literarischen  Lebens  zu  entrollen,  sondern 
gleichzeitig  ein  Stück  Zeitgeschichte  zu  anschaulicher  Darstellung  zu 
bringen. 

Dem  österreichischen  Nachahmer  "Wielands,  Joh.  Baptiste  von  Alxinger,  ist  die 
Dissertation  K.  Bullings  (Leipzig  1914)  gewidmet,  die  nach  einer  allgemeinen 
Schilderung  des  damaligen  geistigen  Milieus  in  Wien  dem  Leben  und  den  Werken 
eine  eingehende  Untersuchung  zuteil  werden  läßt,  wobei  die  verschiedenen  Verände- 
rungen und  Verbesserungen  bei  der  Aufzeigung  von  Alxingers  Stilprinzipien  mit  Ge- 
schick verwertet  werden.  —  Der  ausgezeichnete  Vertreter  des  Wiener  Volksdramas, 
Philipp  Hafner,  dessen  Schriften  bisher  nur  in  der  hundert  Jahre  zurückliegenden 
seltenen  Samleithnerschen  Ausgabe  zugänglich  waren,  ist  in  einer  von  E.  Baum  be- 
sorgten schönen  Ausgabe  der  Werke  in  den  Schriften  des  literarischen  Vereins  in 
Wien  (1914  und  1915)  nunmehr  wieder  weiteren  Kreisen  zugänglich  gemacht  worden. 
Bisher  sind  zwei  Bände  in  zeitlicher  Anordnung  der  Werke  mit  der  ganzen  Willkür 
und  Mannigfaltigkeit  der  Erstdrucke  erschienen,  mit  einer  ausführlichen  biographischen 
Einleitung,  die  vielfach  über  die  früheren  Biographien  von  Wurzbach  und  Schlossar 
hinauszukommen  vermag  und  die  treffend  die  literarische  Eigenart  dieses  Vorgängers 
Raimunds  auf  die  Formel  bringt :  „uralter  Wust  der  Hanswurstkomödie  neben  frischen 
Anfängen  eines  neuen  Volksdramas,  platte  Routine  neben  kräftiger  Eigenart''. 

Mit  Georg  Christoph  Lichtenberg  und  Friedrich  Nicolai  nimmt  die 
Aufklärung  ihren  Kampf  gegen  die  neue  Richtung  der  Empfindsamkeit 
und  des  Sturmes  und  Dranges  auf.  Zu  diesem  Thema  liegen  zwei 
wertvolle  Arbeiten  vor.  R.  Kleineibst  untersucht  auf  Grund  um- 
fassender Lektüre  der  Schriften,  Briefe  und  Tagebücher  „G.  Ch.  Lichten- 
berg in  seiner  Stellung  zur  deutschen  Literatur"  (Straßburg  1915).  In 
vier  Kapiteln  werden  nicht  nur  die  verschiedenen  Beziehungen  dieses 
geistreichen  Aphoristikers  (der  erst  durch  Leitzmanns  in  fast  zehnjähriger 

"Wissenschaftliche  Forschungsberichte  VIII.  5 

65 


Arbeit  fertigf];estellte  mühevolle  Ausgabe  seiner  Aphorismen  in  die  rechte 
literarische  Beleuchtung  gerückt  worden  ist)  zu  den  schriftstellernden 
Zeitgenossen  zur  Darstellung  gebracht,  sondern  auch  eingehend  die 
Gründe  dieser  Stellungnahme  aufgezeigt.  Lichtenberg  blieb  eben  allen 
Erscheinungen  gegenüber  der  kühle,  scharfblickende  Rationalist,  der 
jedem  Aufklärerischen  freundlich,  allem  Genialen,  Empfindsamen, 
Schwärmerischen  feindlich  gesinnt  war.  So  wurde  er  zum  laudator 
temporis  acti,  zum  Verteidiger  der  Geliert,  Rabener,  Gottsched,  Ramler, 
Nicolai  usw.  und  zum  heftigen  Gegner  Klopstocks,  des  Hains  und  vor 
allem  des  jungen  Goethe  sowie  alles  religiösen  und  wissenschaftlichen 
Schwärmertums,  wie  es  sich  ihm  besonders  in  Lavater,  Zimmermann, 
Hamann  und  Jakob  Böhme  verkörperte. 

Die  Arbeit  von  V.  Bouiller  „G.  Ch.  Lichtenberg.  Essai  sur  sa  vie  et  ses 
OBUvres"  (Paris  1914)  war  mir  nicht  zugänglich. 

In  dieselbe  geistige  Atmosphäre  führt  M.  Sommerfelds  durch 
sachliche  Gründlichkeit  wie  Klarheit  und  Übersichtlichkeit  gleich  aus- 
gezeichnetes Werk  „F.  Nicolai  und  der  Sturm  und  Drang",  das  aus 
einer  Münchener  Dissertation  (1918)  hervorgegangen  nunmehr  in  einem 
Umfange  von  400  Seiten  vorliegt  (Halle  1921).  Nachdem  die  Einleitung 
in  systematischer  Analyse  die  Grundlagen  von  Nicolais  kritischem  Ver- 
halten festgelegt  hat,  wird  seine  Stellung  zu  Klopstock  und  dessen  Kreis, 
zu  Hamann,  Jacobi  und  Herder  dargelegt.  Ohne  daß  eine  „Rettung" 
Nicolais  versucht  wurde,  erhellt  doch,  daß  dieser  durchaus  nicht  nur 
als  der  unbedingte  Gegner  des  Sturmes  und  Dranges  anzusehen  ist.  Er 
hat  sehr  wohl  die  künstlerische  Bedeutung  dieser  literarischen  Leistungen 
einzuschätzen  gewußt;  in  seiner  weltanschaulich  gebundenen  Position 
aber  mußte  er,  besonders  von  der  moralischen  Seite  her,  zur  Negation 
gelangen.  Sommerfeld  hat  den  umfangreichen  Nachlaß  Nicolais  ein- 
gehend herangezogen  und  zeigt  überall  eine  sichere  Beherrschung  des 
ausgedehnten  Materials,  so  daß  sein  Werk,  aus  derselben  wissenschaft- 
lichen Einstellung  hervorgegangen  wie  Ungers  Hamannbuch,  eine  wert- 
volle Ergänzung  zu  diesem  und  einen  weiteren  Beitrag  zur  Geschichte 
der  deutschen  Aufklärung  bietet. 

Schließlich  sind  in  diesem  Zusammenhange  noch  i-inige  Untersuchungen  zu  er- 
wähnen, die  hauptsächlich  der  Erkenntnis  des  Prosastiles  zugute  kommen.  Zu  be- 
giüßen  ist  es,  daß  R.  Abekens  trotz  sorgfältiger  Edition  heute  doch  veraltete  und  nur 
noch  antiquarisch  zu  beschaffende  Ausgabe  der  Werke  Justus  Mosers  (1842 — 43)  er- 
.setzt  werden  soll  durch  eine  von  H.  Schierbaum  besorgte  Ausgabe  der  „Gesammelten 
Werke",  von  der  aber  (soweit  ich  sehen  kann)  erst  der  erste  die  „Patriotischen 
Phantasien"  umfassende  Band  vorliegt  (München  1915).  Die  folgenden  Bände  sollen 
den  Briefwechsel  Mosers  mit  seinen  Zeitgenossen,  die  „ üsnabrückische  Geschichte", 
die  Jugendwerke  und  kleineren  Schriften  bringen  und  von  einem  die  Biographie, 
Bibliographie,  Kegister,  Verzeichnisse  und  Beilagen  enthaltendem  Bande  beschlossen 
■werden.  —  „Justus  Mosers  Prosa"  wird  in  einer  tüchtigen  Kieler  Dissertation  von 
A.  Lagin  g  (1915)  sprachlich  -  stilistisch  betrachtet.  Von  den  zwei  Hauptperioden 
ihrer  Entwicklung  ist  die  erste  (bis  1760)  erfüllt  von  einer  immer  wachsenden  Auf- 
lehnung gegen  die  französische  Mode,  die  aber  erst  in  der  zweiten  in  Theorie  und 
Praxis  zum  endgültigen  Siege  der  Muttersprache  führt.  Dabei  entwickelt  sich  diese, 
schon  von  Anfang  an  verhältnismäßig  frei  von  den  alten  Formen  des  Kanzleistils, 
über  den  Konversationston  hinaus  zu  frischer  Volkstümlichkeit  und  rhetorischer  Kraft 

66 


und  bedeutet  damit  einen  wesentlichen  Fortschritt  in  der  Erzäbliingskunst  des  18.  Jahr- 
hunderts. —  J.  M.  Bopps  Arbeit  „G.  K.  Pfeffel  als  Prosaschriftsteller''  (Einzel- 
schriften zur  elsässischen  Geistes-  u.  Kulturgesch.  H.  4)  lag  mir  leider  nur  in  dem 
Teildruck  der  Straßburger  Dissertation  (1918)  vor,  aus  dem  für  die  Gesamterfassung 
des  Stoffes  wenig  zu  ersehen  ist.  —  F.  Rummelt  hat  sich  für  seine  Hallesche 
Dissertation  (1914) :  ,,A.  H.  J.  Lafontaine  von  den  Anfängen  bis  zur  Höhe  seines 
Schaffens  1785 — 1800'-  verdienstüch  und  fleißig  der  Lektüre  von  zirka  200  Werken 
dieses  gelesensten  Modeschriftstellers  seiner  Zeit  unterzogen  und  wendet  sich  mit 
guten  Gründen  gegen  die  allgemeine  Auffassung,  in  Lafontaine  immer  nur  den  Ver- 
fasser sentimentaler  Familienromane  zu  erbücken.  "Wenn  man  die  Entwicklungsjahre 
seines  Schaffens  von  1785  bis  zum  Höhepunkte  um  die  "Wende  des  18.  Jahrhunderts 
überblickt,  so  muß  man  seine  Fähigkeit,  in  kurzen  Novellen  mit  nur  wenigen  Per- 
sonen gar  nicht  so  üble  dichterische  Gebilde  darzubieten,  anerkennen,  ebenso  wie 
seine  pädagogischen  Romane  das  rege  Interesse  an  Rousseauschen  Erziehungsgedanken 
durchblicken  lassen.  In  seinen  historischen  Romanen  vollzieht  sich  dann  allmählicli 
der  Übergang  zum  Familienroman,  der  aber  ebenfalls  bis  1800  nicht  die  durchweg 
absprechende  Beurteilung  verdient.  —  Erwin  Jahn  untersucht  „Die  Volksmärchen 
der  Deutschen  von  J.  K.  A.  Musäus"  (Probefahrten  25,  1914)  eingehend  nach  Stoff 
und  Form,  nach  der  Stellung  im  Lebeu  ihres  Verfassers  und  in  der  Märchendichtung 
der  Zeit  mit  dem  literarhistorischen  Ergebnis,  daß  sie  einmal  als  die  wichtigste  Er- 
scheinung auf  dem  "S\^ege  zu  dem  reinen  Volksmärchen  vor  der  Sammlung  der  Brüder 
Grimm  anzusehen  sind,  zugleich  aber  auf  der  anderen  Seite  eine  Voraussetzung  zur 
Entstehung  des  romantischen  Kunstmärchens  bilden.  —  Für  „Heinrich  Zschokkes 
Jugend-  und  Bildungsjahre  (bis  1798)"  vermag  K.  Günthers  Züricher  Dissertation 
(1917/18)  mannigfache  Berichtigungen  und  wertvolles  neues  Material  für  die  Grau- 
bündener  Zeit,  besonders  mit  Hufe  des  Tscharnerschen  Familienarchivs  zu  erbringen, 
wobei  auch  die  Schilderung  von  Umgebung  und  zeitgenössischen  Zuständen  gut  ein- 
geflochten wird  und  der  junge  Zschokke  eine  treffende  Charakteristik  als  ehrgeiziger, 
schaffensfreudiger,  anpassungsfähiger  und  journalistisch  begabter  Jüngling  erfährt,  der 
aber  daneben  wenig  Originalität  und  keine  tiefe  künstlerische  Begabung  aufzuweisen  hat. 

§  7.   Empfindsamkeit  und  Sturm  und  Drang 

Während  die  Aufklärung  von  ihrer  einstigen  beherrschenden  Ober- 
stellung zu  einer  die  neuen  Geistesströmungen  nicht  mehr  verstehenden 
und  sie  bekämpfenden  Unterströmung  herabgesunken  war,  die  aber  noch 
weithin  ihren  Einfluß  mehr  oder  weniger  offen  oder  versteckt  geltend 
machte,  war  seit  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  eine  neue  junge  Generation 
und  mit  ihr  eine  neue  Geistesrichtung  auf  den  Plan  getreten.  Mit 
ihrem  vertieften  Gefühlsleben  und  echter  Leidenschaft  beinflußte  sie 
als  „Empfindsamkeit"  und  „Sturm  und  Drang"  (zwei  trotz  des  schein- 
baren Gegensatzes  innerlich  eng  zusammengehörende  Erscheinungs- 
formen) bald  entscheidend  das  gesamte  literarische  Leben.  Am  An- 
fange dieser  neuen  literarischen  Epoche,  die  wenig  später  dann  durch 
Herder  zu  voller  Entfaltung  gebracht  wurde,  steht  Klopstock,  der  in 
der  literarhistorischen  Forschung  —  offenkundig  im  Zusammenhang 
mit  der  expressionistischen  Kunstanschauung  der  Gegenwart  —  nach 
jahrzehntelang  vielfach  unzulänglicher  Beurteilung  eine  Renaissance  er- 
fährt und  endlich  langsam  in  seiner  entwicklungsgeschichtlichen  Bedeu- 
tung voll  erkannt  zu  werden  beginnt.  Von  den  Klopstock  gewidmeten 
Arbeiten  bringt  A.  Piepers  Marburger  Dissertation  über  „Klopstocks 
Deutsche  Gelehrtenrepubhk"  (1915)  nur  eine  fleißige  Zusammenstellung 
der  Entstehungsdaten  und  eine  systematisch  geordnete  Inhaltsübersicht.  — 

5* 

67 


Dagegen  verdient  die  Arbeit  von  Emil  Brooks  mit  dem  Titel  „Klop- 
stocks  ISilbenmaße  des  „gleichen  Verses"  (Kiel  1918)  Beachtung.  Er 
sucht  —  ohne  Rücksicht  auf  die  heutigen  metrischen  Theorien  —  aus 
Klopstocks  eigenen  metrischen  Bemühungen  und  Ansichten  die  Gesetze 
zu  ermitteln,  nach  denen  der  Dichter  die  Strophen  der  Triumphgesänge 
des  Messias  und  den  seit  1764  in  den  „neuen"  Silbenmaßen  gedichteten 
Oden  geformt  hat,  und  kommt  dabei  zu  dem  interessanten  Ergebnis, 
daß  die  „Wortfüße",  aus  denen  der  Dichter  sein  neues  Versmaß  ge- 
bildet hat,  dieselben  sind  wie  die  des  deutschen  Hexameters.  —  Auch 
H.  Wo  hl  er  ts  Bemühungen,  „Das  Weltbild  in  Klopstocks  Messias" 
(Bausteine  14,  Halle  1915)  zur  Darstellung  zu  bringen,  können  im 
ganzen  als  wohlgelungen  bezeichnet  werden.  In  den  einzelnen  Ab- 
schnitten: Himmel,  Weltraum,  Erde,  Hölle,  leerer  Raum,  menschliche 
Seele  wird  nachgewiesen,  wie  der  Dichter  versucht,  dem  kopernikanischen 
Weltbilde  gerecht  zu  werden,  ohne  aber  sich  ganz  dem  Einfluß  von 
Bibel,  Gnosis  und  mittelalterlich-theologischer  Überlieferung  entziehen  zu 
können.  Mit  Recht  wird  Erich  Schmidts  Annahme  von  der  völligen 
Unanschaulichkeit  dieses  Weltbildes  zurückgewiesen  als  eine  von  dem 
naturalistischen  Wirklichkeitssinn  der  neunziger  Jahre  diktierte  falsche 
Fragestellung,  die  Klopstocks  ganz  auf  Gefühl  und  Empfindung  ge- 
richtetem Streben  niemals  gerecht  werden  könne. 

Wieweit  F.  H.  Adlers  New  Torker  Publikation  „Herder  and  Klopstock.  A 
comparative  study"  (1916)  die  wertvolle  Problemstellung  des  Titels  in  der  Darstellung 
zu  erschöpfen  vermag,  kann  ich  leider  nicht  nachprüfen. 

Diese  von  Klopstock  angeführte  Richtung  löst  sich  vorwiegend  in 
zwei  Zentren  aus :  der  gemäßigten ,  noch  vielfach  in  der  Konvention 
der  Geßnerschen  Idyllen  und  der  Gleimschen  Anakreontik  befangenen 
Göttinger  Hain-Bewegung  und  der  literarischen  Revolution  des  südwest- 
deutschen Sturmes  und  Dranges.  Ehe  auf  diese  beiden  Gruppen  und 
ihre  literarische  Bearbeitung  im  einzelnen  eingegangen  werden  soll,  seien 
einige  Arbeiten  angeführt,  die  sich  dem  Gesamtproblem  zuwenden.  Dabei 
zeigt  sich  freilich,  wie  gefährlich  es  ist,  wenn  Erstlingsarbeiten  ihr  Ar- 
beitsfeld zu  weit  abstecken  und  wie  nahe  Entgleisungen  liegen,  wenn 
sie  dabei  nicht  nur  Stoffmassen  zu  bewältigen  suchen,  sondern  die 
geistigen  Strömungen  ganzer  Perioden  zu  zusammenfassender  Darstel- 
lung bringen  möchten.  So  sind  denn  auch  von  den  vier  Dissertationen, 
die  allgemeine  Tendenzen  der  Sturm-  und  Drangperiode  behandeln, 
die  Züricher  Arbeit  von  J.  Ernst,  „Der  Geniebegriff  der  Stürmer 
und  Dränger  und  der  Frühromantiker"  (1916)  und  die  Leipziger 
„Beiträge  zur  Ethik  der  Sturm-  und  Drangdichtung"  von  Ulrike  Garbe 
(1916)  als  wenig  fördersam  und  im  wesentlichen  nur  Bekanntes  wieder- 
holend abzulehnen.  Dagegen  führt  H.  Grußendorf  in  seiner  Münchner 
Dissertation  „Der  Monolog  im  Drama  des  Sturmes  und  Dranges"  (1914) 
in  dankenswerter  Weise  Friedrich  Düseis  Abhandlung  „Der  dramatische 
Monolog  in  der  Poetik  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  und  in  den  Dramen 
Lessings"  (1897)  weiter  durch  die  Sturm-  und  Drangperiode  bis  zu 
Schillers  Jugenddramen.     Nach   Aufzeigung   der  Unterschiede  zwischen 

68 


dem  ängstlich  die  Wahrscheinlichkeit  wahrenden,  kühl  abgezirkelten 
Verstandesmonolog  der  Aufklärung  und  dem  Monolog  des  Sturmes  und 
Dranges  als  lyrischer  Ausdrucksform  im  Dienste  der  Charakteristik  und 
der  Handlung  untersucht  das  zweite  Kapitel  die  Monologe  des  Götz  und 
der  ßitterdramen,  das  dritte  die  Monologe  der  bürgerlichen  Dramen  von 
Leisewitz,  Goethe,  Klinger,  Lenz,  Wagner,  Maler  Müller  und  der  Jugend- 
dramen Schillers,  während  das  Schlußkapitel  die  Monologe  des  Urfaust 
und  der  Goetheschen  Satiren  behandelt.  Dabei  werden  die  Monologe 
stets  im  Zusammenhang  mit  der  Eigenart  des  betreffenden  Dramas,  dem 
Wesen  des  Dichters  und  dem  Charakter  der  jeweiHgen  Zeitströmung 
gesehen,  so  daß  tatsächlich  in  diesem  Ausschnitt  ein  „Abbild  der  großen 
Entwicklung  der  deutschen  Poesie  im  18.  Jahrhundert"  gegeben  wird. 

Eine  wirkliche  Bereicherung  unserer  Literatur  dieses  Zeitraumes 
liegt  auch  in  H.  Schnorfs  umfangreicher  Züricher  Dissertation  „Sturm 
und  Drang  in  der  Schweiz"  (1914)  vor.  Hier  wird  zum  erstenmal  ein- 
gehend nach  den  Gründen  gesucht,  warum  in  der  Schweiz,  trotz  der 
zahlreichen  Beziehungen  zu  den  deutschen  Stürmern  und  Drängern, 
trotz  des  regen  geistigen  Lebens  dieser  Jahre  und  trotz  der  vielfach 
vorhandenen  Sturm-  und  Drang- Stimmung,  keine  eigentliche  Sturm- 
und Drang  -Dichtung  nachzuweisen  ist.  Einmal  sind  es  äußere  Ver- 
hältnisse mit  der  Zensur  als  schlimmster  Feindin  aller  geistigen  Ent- 
wicklung an  der  Spitze;  dann  aber  wurden  —  wie  dies  wohl  nur  in 
einer  Republik  möglich  ist  —  die  besten  Kräfte  des  Volkes,  durch  das 
Bestreben  der  politischen  Not  der  Zeit  zu  wehren,  in  einer  Weise  ab- 
sorbiert, daß  sie  entweder,  wie  Füßli  und  Pestalozzi,  in  künstlerischer 
Betätigung  eine  unnütze  Spielerei  erblickten,  oder  aber  ihre  Kunst  in 
den  Dienst  des  Staates  stellten  und  in  erster  Linie  das  Ideal  des  Bürgers 
herauszuarbeiten  suchten,  der  sich  seiner  Freiheit  würdig  erweist,  indem 
er  sich  dem  Gesetz  unterwirft,  strenge  Selbstzucht  übt  und  ein  brauch- 
bares Glied  des  Staates  wird.  Neben  diesen  sorgfaltig  aus  weithin  zer- 
streutem Material  zusammengearbeiteten  allgemeinen  Zusammenhängen 
ist  die  dem  bedeutendsten  Schweizer  Künstler  dieser  Zeit,  Heinrich  Füßh, 
und  seiner  Stellung  zu  der  neuaufblühenden  deutschen  Dichtung  ge- 
widmete, zum  großen  Teil  auf  der  Verwendung  bisher  ungedruckten 
Materials  fußende  Untersuchung  besonders  zu  begrüßen. 

Von  den  Mitghedern  des  Göttinger  Hains  hat  das  liebenswürdigste 
und  echteste  Talent,  Hölty,  endlich  eine  kritische  Edition  seiner  Werke 
erhalten  in  der  zweibändigen,  von  W.  Michael  besorgten  Hölty- Aus- 
gabe der  Gesellschaft  der  Bibliophilen  (Weimar  1914  und  1918).  Der 
erste  Band  bringt  in  chronologischer  Anordnung  die  Gedichte  und 
Übersetzungen  (mit  Ausnahme  von  vier  größeren  Stücken),  der  zweite 
Band  gibt  in  seiner  ersten  Hälfte  Rechenschaft  über  die  Prinzipien  der 
Ausgabe  sowie  ein  sorgfältiges  Verzeichnis  der  Lesarten  mit  zahlreichen 
wertvollen  Hinweisen,  während  die  zweite  Hälfte  Höltys  Briefwechsel 
(vorwiegend  mit  Voß,  Miller  und  Boie)  darbietet. 

Merkwürdigerweise  legt  Georg  Bormann  diese  Ausgabe  nicht  seinen  „Bei- 
trägen zum  Wortschatze  Höltys"  (Dissertation  Greifswald,  1916)  zugrunde,  im  übrigen 

69 


besteht  das  einzig  Brauchbare  dieser  einfach  aneinandergereihten  Auszettelarbeit  höchstens 
in  dem  ali)habetischen  Register,  das  weiterer  Forschung  zugute  kommen  kann. 

Mit  den  „Qellenstiidien  zu  J.  H.  Voß'  Oden"  von  E.  Meyen- 
burg  (Dissertation  Berlin  1916)  wird  dagegen  eine  Lücke  ausgefüllt, 
da  bisher  neben  dem  Idyllendichter  der  Odensänger  Voß  noch  kaum 
eingehender  beachtet  worden  ist.  In  erster  Linie  wird  dabei  das  Ver- 
hältnis zu  Horaz  und  zu  Klopstock  in  den  gedanklichen,  stilistischen 
und  metrischen  Entlehnungen  und  Beeinflussungen  aufgezeigt,  während 
die  Beziehungen  zur  Bibel,  zu  Ramler,  Homer,  Virgil  und  Ovid,  ent- 
sprechend ihrer  Ergiebigkeit,  eine  kürzere  Behandlung  erfahren. 

Von  F.  L.  Stolberg  legt  K.  Lüffler  (Münster  1918)  eine  bisher  unbekannte 
Psalmenübersetzung  vor,  die  eine  handschriftliche  Fortsetzung  der  gedruckten  Psalmen- 
übersetzung des  Hildesheimer  Professors  Joseph  Gramer  darstellt  und  in  reimlosen 
Versen  von  verschiedenen  Silbenmaßen  die  Psalmen  78 — 150  in  gewandter  Über- 
tragung als  "Widmung  für  den  Fürstbischof  von  Hildesheim  wiedergibt. 

Im  weiteren  Sinne  gehört  zu  dieser  Gruppe  von  Arbeiten  auch 
eine  Reihe  von  Untersuchungen,  die  sich  mit  Persönlichkeiten  befassen, 
die  in  mehr  oder  weniger  engem  Zusammenhange  mit  dem  Göttinger 
Hain  stehen.  In  erster  Linie  seien  hier  zwei  biographische  Darstel- 
lungen genannt,  von  denen  A.  M.  Wagners  Gerstenbergbiographie 
(Heidelberg  1920)  leider  erst  mit  ihrem  ersten  Bande  vorliegt,  aber 
wenigstens  bibliographisch  verzeichnet  sei.  —  W.  Stammlers  Lebens- 
bild des  Wandsbeker  Boten  Matthias  Claudius  (Halle  1915)  dagegen 
dürfte,  wenigstens  nach  seiner  biographischen  Seite  hin,  abschließende 
Bedeutung  zukommen.  Auf  Grund  reichen  handschriftlichen  oder  bisher 
unbekannt  gebliebenen  gedruckten  Materials  sind  hier  in  sorgfältigster 
Detailarbeit  alle  irgend  erreichbaren  Lebensdaten  und  Beziehungen  zu- 
sammengetragen und  eingehende  Analysen  aller  Schriften  gegeben. 
Stammler  betont  ausdrücklich,  daß  sein  Werk  das  schöne  Lebensbild 
von  Wilhelm  Herbst  nicht  überflüssig  machen  wolle,  sondern  daß  er  es 
hauptsächlich  nach  der  literarhistorischen  Seite  ergänzen  möchte.  So 
verfolgt  er  die  Entwicklung  von  Claudius  vom  Redakteur  einer  unschein- 
baren Tageszeitung  bis  zum  ernsten  religiösen  Schriftsteller,  von  den 
ersten  jugendlich-konventionellen  dichterischen  Anfängen  bis  zum  eigenen 
originalen  Ton,  den  er  bis  an  sein  Lebensende  beibehielt.  Besonders 
sei  auch  auf  die  z.  T.  grundlegende  Forschung  bietenden  Anmerkungen 
verwiesen,  deren  Verwertung  freilich  leider  durch  das  Fehlen  des  Re- 
gisters (das  der  Verfasser  wegen  seiner  Teilnahme  am  Kriege  nicht 
mehr  anfertigen  konnte)  erschwert  wird. 

Nach  der  theologischen  Seite  bieten  H.  Loofs  Ausführungen  „Die  religiösen 
Anschauungen  des  Dichters  Matthias  Claudius"  (Theologische  Studien  und  Kritiken 
1915,  S.  173/223  u.  273/366)  eine  gute  Ergänzung. 

Von  dem  bedeutendsten  Gesinnungsgenossen  des  Hains,  Gottfried 
August  Bürger,  liegt  die  ausgezeichnete  mit  reichhaltigen  Anmerkungen 
versehene  „kritisch  durchgesehene  und  erläuterte"  Ausgabe  der  Gedichte 
von  E.  ConsentiuB  in  zweiter  vielfach  verbesserter  und  vermehrter 
Auflage  (1915)  vor.   —    W.  Stammlers  Ausgabe   von   „Bürgers  Ge- 

70 


dicht  Die  Nachtfeier  der  Venus"  (Lietzmanns  Kl.  Texte,  H.  128,  1914) 
ermöglicht  durch  die  Vorführung  der  dreifachen  Überarbeitung,  die 
Mitteilung  der  lateinischen  Vorlage  und  der  wichtigsten  Belege  zur  Ent- 
stehungs-  und  Textgeschichte  einen  guten  Einblick  in  die  Arbeitsweise 
und  Technik  des  Dichters.  —  Bürgers  Übersetzungstätigkeit,  der  er 
sich  trotz  aller  Hemmungen  durch  die  eigene  starke  Originalität  immer 
wieder  zuwandte,  sind  zwei  Arbeiten  gewidmet.  Mit  weniger  gutem 
Gelingen  gibt  H.  Fluck  „Beiträge  zu  G.  A.  Bürgers  Sprache  und 
Stil  mit  besonderer  Berücksichtigung  seiner  Iliasübersetzung"  (Dissertation 
Münster  1914),  indem  er  besonders  die  Archaismen  Bürgers,  sein  Ver- 
hältnis zur  Sprache  Klopstocks  und  zum  niederdeutschen  Sprachgut  auf- 
zeigt. —  Eine  sehr  ansprechende  textkritische  und  dramaturgische  Wür- 
digung von  „G.  A.  Bürgers  Macbeth -Bearbeitung"  steuert  dagegen 
K.  Kauenhovenbei  (Dissertation  Königsberg  1915),  der  aufgedrängtem 
Raum  in  klarer  Zusammenfassung  die  Entstehungsgeschichte  und  die 
Wirkung  der  erfolgreichsten  und  für  die  Einführung  Shakespeares  in 
Deutschland  bedeutendsten  vorschillerschen  Bearbeitung  in  voller  Ab- 
rundung  der  bisherigen  lückenhaften  Kenntnisse  vorführt. 

Eine  Ergänzung  zu  diesen  beiden  Untersuchungen  bietet  Adolfine  Pevelings 
Münsterische  Dissertation  über  ..Bürgers  Beziehungen  zu  Herder'-  (1917),  die  in 
ihrem  zweiten  Kapitel  die  Übersetzungen  im  Zusammenhang  mit  Herders  Anregungen 
betrachtet,  wähi'end  nach  einer  Erörterung  des  persönlichen  Verhältnisses  das  erste 
Kapitel  den  Einfluß  Herders  auf  den  Dichter  untersucht  und  das  letzte  die  Urteile 
Herders  über  das  literarische  Schaffen  Bürgers  zusammenstellt. 

Für  die  „literarischen  Beziehungen  zwischen  den  Erstlingsdramen 
Klingers  und  Schillers"  gibt  eine  ausgezeichnete  Berner  Dissertation 
von  A.  Keller  (1913/14)  überzeugende  Nachweise.  In  methodisch 
einwandfreier  Weise,  mit  feiner  psychologischer  Bewertung  von  bewußter 
und  unbewußter  Anlehnung  und  über  dem  Stoffe  stehender  kritischer 
Beherrschung  reicher  Literatur  wird  zunächst  die  Vorgeschichte  und 
die  literarhistorische  Stellung  von  Klingers  „Otto"  aufgezeigt;  daran 
anschließend  werden  die  hterarischen  Beziehungen  zu  den  „Räubern" 
nach  den  äußeren  Daten  sowie  den  inneren  Beziehungen  untersucht, 
wobei  die  gemeinsamen  Elemente  in  der  Charakteristik  des  Intriganten, 
der  Väter,  der  Frauen  und  der  Helden  herausgearbeitet  werden,  mit 
dem  Ergebnis,  daß  das  Klingersche  Erstlingswerk  unbedingt  unter  die- 
jenigen Dramen  einzureihen  ist,  die  als  Übergang  zu  den  Räubern 
betrachtet  werden  müssen. 

Elsa  Sturms  Freiburger  Dissertation  (1916)  „F.  M.  Klingers  philosophische 
Romane",  die  kurze  Analysen  unter  den  Oberabteilungen  „Abenteurerromane''  und 
„BUdungsromane"  aneinanderreiht,  vermag  kaum  etwas  Neues  zu  tieferer  Kenntnis 
dieses  zehnbändigen  Romanzyklus  beizutragen. 

Mit  Schubart  findet  die  neue  Dichtung  ihren  Weg  nach  Süddeutsch- 
land. Durch  ihn  wird  der  Klopstocksche  Enthusiasmus  nach  Schwaben 
verpflanzt;  er  ist  der  wichtigste  unter  denjenigen,  durch  welche  diese 
Stimmung  dann  auf  den  jungen  Schiller  überging.  Diesem  Banner- 
träger und  begeisterten  Herolde  Klopstocks  ist  W.  Brüstles  Münchner 

71 


Dissertation  „Klopstock  und  Schubart"  (1917)  gewidmet.  Der  erste 
Teil  der  Arbeit  gibt  eine  ausführliche  historisch  -  chronologische  Dar- 
legung der  menschlichen  Beziehungen,  wie  sie  aus  den  brieflichen  und 
autobiographischen  Äußerungen  Schubarts,  aber  auch  aus  den  Äuße- 
rungen in  der  „Deutschen  Chronik"  und  in  der  „Vaterlandschrouik" 
deutlich  werden  und  in  diesem  Umfange  bisher  noch  nicht  erkannt 
worden  sind.  Der  zweite  Teil  untersucht  den  Einfluß  der  Gedanken- 
und  Emptindungswelt  Klopstocks  auf  die  Schubartschen  Gedichte.  — 
Neben  dem  Dichter  Schubart  ist  es  von  je  der  Chronikschreiber,  der 
Kämpfer  für  geistige  und  politische  Freiheit,  für  künstlerische  und 
dichterische  Ideale,  der  Gefangene  von  Hohenasperg,  der  Märtyrer  der 
politischen  Publizistik  gewesen,  dem  sich  das  Interesse  der  Zeitgenossen 
wie  der  folgenden  Generationen  zugewandt  hat.  Für  das  Thema  „Chr. 
Fr.  D.  Schubart  als  politischer  Journalist"  liegt  nunmehr  eine  erfreu- 
liche Tübinger  Arbeit  von  F.  Schairer  (1914)  vor,  die  die  Deutsche 
Chronik  von  1774/77  und  die  in  Stuttgart  herausgegebene  Chronik  von 
1787/91  eingehend  untersucht  und  damit  nicht  nur  das  Bild  eines  der 
bedeutendsten  deutschen  JournaHsten  zeichnet,  sondern  einen  wertvollen 
Beitrag  zu  einer  Geschichte  der  Journalistik  im  18.  Jahrhundert  liefert. 
Den  Arbeiten  über  J.  M.  R.  Lenz  fehlt  immer  noch  eine  kritische 
Grundlage  der  Werke  und  eine  eingehende  wissenschaftliche  Lebens- 
beschreibung. Diesen  Mangel  vermag  auch  die  von  E.  Lewy  besorgte 
Ausgabe  der  „Gesammelten  Schriften  von  J.  M.  R.  Lenz"  (Leipzig  1917) 
nicht  zu  beheben,  da  sie,  ohne  allen  kritischen  Apparat,  nur  das  bringt, 
„was  noch  lebendig  ist  an  Lenz"  und  „das  psychologisch  Interessante" 
auswählt.  Immerhin  ist  sie  der  Ausgabe  von  Fianz  Bley  (München 
1910  ff.)  vorzuziehen.  —  Für  eine  zukünftige  Biographie  liegt  in  der 
schönen  Publikation  „Briefe  von  und  an  J.  M.  R.  Lenz"  von  K.  Fr  eye 
und  W.  Stammler  ein  reiches  Forschungsmaterial  vor,  das  von  K.  Freye 
in  langer  Vorarbeit  gesammelt  von  Stammler  allein  zu  Ende  geführt 
werden  mußte;  der  Tod  in  Feindesland  hat  dem  genauesten  Kenner  des 
Dichters  die  Feder  aus  der  Hand  genommen,  die  sein  Leben  zu  be- 
schreiben am  berufensten  gewesen  wäre. 

In  dankenswerterweise  sucht  eine  Erlanger  Dissertation  (1917)  von  Ilse  Kaiser 
eine  gerechtere  "Würdigung  der  drei  eng  zusammengehörigen  Dramen  „Die  Fi'eunde 
machen  den  Philosophen'-,  „Der  Engländer"  und  „Der  Waldbruder"  anzubahnen, 
indem  sie  —  methodisch  in  der  Art  von  Sarans  „Bausteinen"  geschult  —  nach  einer 
eingehenden  Analyse  der  einzelnen  Charaktere  den  Gedankengehalt  der  drei  Dramen 
aufzeigt  und  in  der  Liebe  den  Mittelpunkt  alles  Geschehens  nachweist.  Damit  werden 
diese  Dichtungen  aus  der  bisher  einseitigen  Verarteilung  als  pathologische  Erschei- 
nungen über  das  persönlich  Erlebte  hinaus  zu  Äußerungen  des  Sturmes  und  Dranges, 
was  besonders  deutlich  bei  einem  Vergleich  mit  Rousseaus  Neuer  Heloise  hervor- 
tritt. —  Wertvoll  ist  auch  die  Veröffentlichung  der  bisher  nur  durch  einen  Brief 
an  Jacobi  bekannten  Schrift  Lenzens  „Briefe  über  die  Moralität  des  jungen  Werthers", 
die  von  L.  Schmitz-Kallenberg  aufgefunden  und  herausgegeben  wurde  (Münster 
1918). 

Der  eigentliche  Führer  und  Begründer  der  Sturm-  und  Drangbewegung 
ist  Herder,  in  dessen  Jugendschriften  sich  die  Ideen  und  Tendenzen  der 
Geniezeit  am  eindringlichsten  und  wirksamsten  verkörpern.    Doch  liegen 

72 


über  diese  Epoche  seines  Lebens  und  Schaffens  keine  Sonderstudien  vor. 
Dagegen  gibt  G.  Schmidt  in  seiner  Berliner  Dissertation  „Herder 
und  August  Wilhelm  Schlegel"  (1917)  einen  erwünschten  und  wohi- 
gelungenen  Beitrag  zu  dem  großen  noch  ungeschriebenen  Werke  „Herder 
und  die  Romantik".  Nachdem  einleitend  der  Geschichte  ihrer  persön- 
lichen Beziehungen  nachgegangen  ist,  wird  die  Übernahme  Herderscher 
Ideen  in  A,  W.  Schlegels  Schriften  untersucht,  sowie  ihre  nachhaltige 
Wirkung  auf  das  gesamte  Denken  und  Schaffen  des  Romantikers  ein- 
gehend zur  Darstellung  gebracht.  Dabei  wird  im  Gegensatz  zu  Walzel, 
der  angesichts  der  feindlichen  Stellung  der  Romantiker  zu  Herder  nur 
eine  mittelbare  Kenntnis  Herderscher  Schriften  anzunehmen  geneigt  war, 
für  A.  W.  Schlegel  eine  „durch  gründliches  Studium  genau  erworbene 
Kenntnis"  nachgewiesen,  deren  inhaltlicher  und  formaler  Einfluß  auf 
Schlegels  historische  Methode  und  Geschichtsauffassung,  auf  seine  Kunst- 
lehre, seine  kritische  Tätigkeit,  seine  sprachlichen,  stilistischen  und  metri- 
schen Bestrebungen  aufgezeigt  wird.  —  Als  Ergänzung  zu  A.  Koschmieders 
Arbeit  „Herders  theoretische  Stellung  zum  Drama"  (Bresl.  Beitr.  35, 1913) 
behandelt  A.  Treutiers  Buch  mit  dem  Titel  „Herders  dramatische 
Dichtungen  (ebd.  H.45,  1915)  die  gesamten  praktischen  Versuche  Herders 
auf  dem  Gebiete  des  Dramas  sowie  der  Kantaten  und  Oratorientext- 
dichtungen.  Ob  es  freilich  eines  gar  so  umständlichen  Verfahrens  be- 
durft hätte,  um  nachzuweisen,  daß  Herder  kein  dramatischer  Dichter 
sei,  mag  billig  " bezweifelt  werden.  Doch  muß  die  Herder- Forschung  die 
Mitteilung  ungedruckter  Skizzen  aus  der  Berliner  Bibliothek  begrüßen. 

Eine  philosophische  Dissertation  von  Elisabe  th  Ho  ff  art  über  „Herders  ,Gott'" 
(Erlangen  1917,  vollständig:  Bausteine  XVI.  Bd.),  untersucht  dieses  schöne,  für  das  Ver- 
ständnis der  „  Ideen "'  sowohl  wie  der  Persönlichkeit  Herders  überhaupt  so  wichtige  Spinoza- 
gespräch, indem  sie  die  von  Herder  hier  entwickelte  Weltanschauang  unter  den  Gesichts- 
punkten :  Gottesbegriff,  Natur,  Mensch,  Erkenntnistheoretisches  und  Gottesbeweise  ana- 
lysiert und  ihre  Abweichung  von  Spinozas  Anschauungen,  sowie  ihre  Beziehungen  zu 
Leibnizschen  und  Shaftesburv'schen  Ideen  darlegt.  —  Gleichfalls  von  fachphilosophischer 
Seite  augeregt  ist  W.  Sturms  ßreslauer  Dissertation  „Herders  Sprachphilosophie  in 
ihrem  Entwicklungsgangund  ihrer  historischen  Stellung '-(1917).  Nach  einem  kurzen  Über- 
blick über  die  Entwicklung  der  vorherderschen  Bestrebungen  wird  das  fast  zwei  Jahr- 
zehnte umfassende  sprachphilosophische  Interesse  Herders  verfolgt  mit  seinem  wider- 
spi-uchsvollen  dilettantenhaften  Hin-  und  Herschwanken,  das  zu  keiner  Klarheit  kommen 
konnte,  so  daß  der  positive  Gewinn  für  die  unmittelbare  Förderung  des  Problems 
nicht  aUzu  hoch  zu  veranschlagen  ist.  Doch  hebt  die  tiefere  Auffassung  vom  AVesen 
des  Menschen  und  der  Sprache  Herder  weit  über  seine  Vorgänger,  und  hier  hat  er 
zuerst  die  Bahn  eingeschlagen,  auf  der  sich  die  spätere  Sprachphilosophie  weiter  ent- 
wickelt hat,  wie  er  denn  überhaupt  durch  seine  Behandlung  sprachphilosophischer 
Probleme  die  Diskussion  darüber  erst  recht  eigentlich  in  Fluß  brachte.  —  Zwei 
umfangreiche  ausländische  Arbeiten  können  leider  nur  bibliographisch  verzeichnet 
werden:  A.  Bessert,  Herder,  sa  vie  et  son  oeuvre  (Paris  1916)  und  I.  M.  Andress, 
Herder  as  an  educator  (New  York  1917). 

Wie  Herder  dem  deutschen  Sturm  und  Drang  die  Wege  gewiesen 
hatte,  so  sollte  er  auch  Offenbarer  und  Erwecker  dessen  werden,  was 
in  dem  jungen  Schweizer  Lavater  aus  der  verständigen  Nüchternheit 
und  stofflich  befangenen  Religiosität  seiner  Züricher  Umgebung  nach 
Ausdruck   rang.     Diesen   „Sturm   und  Drang   Lavaters   im  Zusammen- 

73 


hang  seines  religiösen  Bewußtseins'^  sucht  C.  Janentzky  in  einer  an 
Ungers  Hamannbuch  geschulten  umfangreichen  und  weitblickenden  Unter- 
suchung zur  Darstellung  zu  bringen  (Halle  1916).  Historisch- genetisch 
vorwärts  schreitend  zeigt  J.  in  den  ersten  vier  Kapiteln  die  Entwick- 
lung Lavaters  von  jener  Sammlung  seiner  Briefe  an  J.  G.  Zimmermann 
in  den  „Aussichten  in  die  Ewigkeit"  über  Herder  zu  der  Höhe  der 
Physiognomischen  Fragmente  auf,  die  wie  Herder  ein  neues  Menschen- 
tum predigen :  einen  christlichen,  ästhetisch-religiösen  Pantheismus.  Nach- 
dem dann  in  den  folgenden  Kapiteln  die  Gründe  dargelegt  sind,  die 
zunächst  den  Bruch  mit  Herder,  dann  die  Entfremdung  Goethes  ver- 
anlassen, werden  besonders  eingehend  die  Beziehungen  zu  Jacobi  und 
die  Magielehre  behandelt,  während  der  Schluß  eine  Reihe  von  Urteilen 
verzeichnet  und  Linien  der  Fortwirkung  andeutet.  Vielleicht  ist  Lavater 
etwas  zu  sehr  auf  dieselbe  Linie  mit  Jacobi  gestellt,  vielleicht  hätte  der 
spezifisch  schweizerische  Einschlag  sowohl  als  Staramescharakter  wie 
im  Sinne  der  früher  erwähnten  Arbeit  von  H.  Schnorf  „Sturm  und 
Drang  in  der  Schweiz"  stärker  herausgearbeitet  werden  können,  womit 
dann  auch  eine  leise  durchklingende  Überschätzung  Lavaters  als  Ver- 
treter der  neuen  Zeitideen  auf  das  gebührende  Maß  eingeengt  worden 
wäre.  Ln  ganzen  aber  liegt  hier  eine  entwicklungsgeschichtHche  Leistung 
vor,  die  warm  begrüßt  werden  muß. 

§  8.   Klassizismus 

Die  Aufgaben  und  Ziele  des  vorliegenden  Literaturberichts  bringen 
es  mit  sich,  daß  die  Berichterstattung  nicht  in  allen  Perioden  der  lite- 
rarischen Entwicklung  mit  der  gleichen  Vollständigkeit  vor  sich  gehen 
kann.  In  Zeitaltern,  wo  die  Forschung  verhältnismäßig  selten  ihren 
Spaten  ansetzt,  gewinnt  auch  die  kleinste  Neuerscheinung  und  eine  viel- 
leicht nicht  allzu  belangreiche  Dissertation  als  Beitrag  zu  der  noch 
wenig  vorgeschrittenen  Erkenntnis  ihre  Bedeutung.  Dagegen  liegt  es 
auf  der  Hand,  daß  in  den  Epochen,  denen  die  Forschung  wegen  ihrer 
ästhetischen  und  entwicklungsgeschichtlichen  Bedeutung  besonders  starkes 
Interesse  entgegenbringt,  aus  der  Fülle  der  neuerschienenen  Literatur 
eben  nur  das  mehr  oder  weniger  Wichtige  und  Fördersarae  zur  Be- 
urteilung herausgehoben  werden  kann,  während  im  übrigen  auf  die  hier 
schon  verschiedentlich  vorhandenen  Sammelkritiken  verwiesen  werden 
darf.     Vgl.  besonders  die  folgenden  Goethereferate: 

Literari-sches  Echo,  Jahrgang  18  und  20.  —  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unter- 
richt, Jahrgang  1914,  1916,  1918,  1919.  —  Österreichische  Rundschau  76,  36  u.  37.  — 
Stimmen  der  Zeit  68,  8.  —  Goethe  Jahrbuch  1917  u.  a. 

Bei  einem  Gesamtüberblick  über  die  G  o  e  t  h  e  literatur  der  letzten 
Jahre  werden  zwei  Tendenzen  der  Forschung  deutHch.  Einmal  das 
Streben  nach  möglichst  vollständiger  philologisch-historischer  Erschließung 
der  Quellen,  andererseits  das  Suchen  nach  einer  Synthese  der  von  der 
letzten  Forschergeneration  geleisteten  Einzelarbeit.  Beide  Mühungen 
haben  wertvollste  Resultate  aufzuweisen. 

74 


Im  Jahre  1914  ist  der  Schlußstein  zu  dem  gewaltigen,  1887  be- 
gonnenen, nahezu  150  Bände  umfassenden  Bau  der  großen  Weimarer 
Goetheausgabe  gelegt  worden,  an  der  fast  alle  hervorragenden  Goethe- 
forscher mitgewirkt  haben  Mit  Band  53  der  I.  Abteilung  ist  1914, 
von  J.  Wähle  herausgegeben,  der  letzte  Textband  erschienen  mit  wich- 
tigen, zum  Teil  ungedruckten  Nachträgen,  darunter  66  dem  Kreise  der 
venezianischen  Epigramme  angehörigen  Gedichten,  sowie  Berichtigungen 
und  Zeugnissen  in  bezug  auf  Goethes  amtliche  Tätigkeit.  Ebenso  sind 
nunmehr  die  Registerbände  (Bd.  54  und  55  der  I.  Abt.,  Bd.  14  der  II.  Abt., 
Bd.  14  und  15,  1  und  2  der  III.  Abt.)  in  unendlich  mühsamer  und 
-entsagungsvoller  Arbeit  von  M.  Hecker  zu  Ende  geführt  worden.  — 
Gleichfalls  seinen  Abschluß  erreichte  nach  zwanzigjähriger  hingebungs- 
voller, bewundernswert  zuverlässiger  Arbeit  Hans  Gerhard  Grafs  Haupt- 
werk „Goethe  über  seine  Dichtungen",  dessen  neunter  Band  (Frankfurt 
1914)  die  Äußerungen  über  die  lyrischen  Dichtungen  aus  den  Jahren 
1827/32  umfaßt,  dazu  ein  über  250  Seiten  füllendes  Register  über  die 
Gedichtanfänge,  Überschriften,  Gruppen  und  Sammlungen,  die  Namen 
von  Personen  und  Orten  sowie  sachliche  Stichworte  bringt  und  eine  Reihe 
aufschlußreicher  Tabellen  enthält.  Am  wichtigsten  ist  eine  chronologische 
Aufzählung  sämtlicher  lyrischen  Gedichte  Goethes,  deren  philologische 
Exaktheit  ihre  schönste  lebendige  Ergänzung  findet  in  der  ersten  chronolo- 
gisch geordneten  Ausgabe  von  „Goethes  lyrischen  und  epischen  Dichtungen" 
(2  Bde.,  Leipzig  1916),  die  Graf  im  Rahmen  der  Großherzog  Wilhelm- 
Ernst- Ausgabe  des  Inselverlages  darbietet.  —  Wie  hier  die  Gesamtheit 
des  lyrischen  Schaffens  Goethes  in  ihrer  historischen  Entwicklung  uns 
plastisch  vor  Augen  tritt,  so  gab  P.  Merker  in  seinem  Buch  „Von 
Goethes  dramatischem  Schaffen"  (Leipzig  1917)  erstmalig  eine  Vor- 
stellung davon,  welche  Bedeutung  der  üramatischen  Produktion  inner- 
halb Goethes  Lebenswerk  zukommt.  Unter  Ausschluß  der  vollendeten 
oder  in  einer  endgültigen  Fassung  vorliegenden  Bühnenspiele  kommen 
hier  nicht  weniger  als  73  „dramatische  Vorstufen,  Fragmente,  Pläne  und 
Zeugnisse"  auf  653  Seiten  zum  Abdruck,  darunter  neben  Bekanntem 
auch  vielfach  Entwürfe  und  Skizzen,  die  bisher  allein  in  der  großen 
Weimarischen  Ausgabe  an  auseinandergezogenen  Stellen  zum  Abdruck 
gelangt  waren,  hier  aber  in  ihrer  entwicklungsgeschichtlichen  Folge 
aneinandergereiht  sind.  So  darf  das  Buch,  dessen  Einleitung  über  alle 
diese  größeren  und  kleineren  dramatischen  Versuche  und  Schnitzel  näheren 
Aufschluß  zu  geben  sucht,  vielleicht  nach  den  Worten  eines  Kritikers 
als  „erwünschte  Ergänzung  zu  jeder  Goetheausgabe"  angesprochen 
werden. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  das  Hervortreten  mehrerer  großer  Brief- 
wechsel. Der  „Briefwechsel  des  Herzogs-Großherzogs  Carl  August  mit 
Goethe"  (Berlin  1915/18),  der  die  vierte  Abteilung  eines  großen  Quellen- 
werkes „Carl  August,  Darstellungen  und  Briefe  zur  Geschichte  des  wei- 
marischen Fürstenhauses  und  Landes"  bilden  soll,  dessen  krönende 
Biographie  sich  der  Gesamtherausgeber  Erich  Marcks  vorbehalten  hat,  liegt 
in  drei  Bänden,  von  Hans  Vx'^ahl  herausgegeben,  abgeschlossen  vor.  Leider 

75 


sind  gerade  für  die  menschlich  bedeutsamsten  Jahre  bis  1792  von  Goethe 
alle  Briefe  des  Herzogs  vor  der  dritten  Reise  in  die  Schweiz  verbrannt 
worden,  aber  in  den  über  1200  Briefen,  in  denen  ein  halbes  Jahrhundert 
an  dem  Leser  vorüberzieht,  ist  eine  Fülle  geschichilichen  und  kultur- 
geschichtlichen Materials  ausgebreitet,  das  durch  sachkundige  knappe 
Anmerkungen  des  Herausgebers  gestützt  wird.  V/ährend  Goethe  selbst 
nicht  in  wesentlich  neuem  Lichte  erscheint,  tritt  die  Gestalt  Carl  Augusts 
dagegen  deutlicher  als  bisher  in  der  überragenden  Bedeutung  seiner 
menschlichen  und  fürstlichen  Persönlichkeit  hervor.  —  Von  dem  aut 
mehrere  Bände  berechneten  „Briefwechsel  mit  H.  Mayer",  der  von 
Max  Hecker  besorgt  in  den  Schriften  der  Goethegesellschaft  publiziert 
wird,  hegen  bisher  zwei  Bände  (Weimar  1917  und  1919)  vor,  die  Jahre 
1788 — 1820  umfassend.  Wenn  auch  arm  an  persönlichem  Gedanken- 
austausch, so  ist  der  Inhalt  dieser  fast  ausschließlich  Fragen  der  Kunst 
und  wissenschaftlichen  Bestrebungen  gewidmeten  Briefe  für  die  Liter- 
aturgeschichte sowohl  wie  auch  für  die  Altertumswissenschaft  doch  von 
größtem  Belang.  Heckers  Einleitung  zeichnet  mit  schöner  Wärme  das 
sympathische  Bild  des  lange  so  stark  unterschätzten  tüchtigen  Schweizers. 
Die  wegen  der  Kriegsverhältnisse  auf  den  Schlußband  verschobenen 
Anmerkungen  werden  das  Werk  erst  völlig  zu  erschließen  wissen.  — 
In  denselben  bewährten  Händen  liegt  auch  die  Herausgabe  des  für 
die  letzten  Jahrzehnte  des  Dichters  besonders  ertragreichen  „Briefwechsels 
zwischen  Goethe  und  Zelter",  von  dessen  geplanten  vier  Bänden  bis 
heute  aber  erst  die  beiden  ersten  den  Jahren  1799 — 1827  gewidmeten 
Teile  erschienen  sind  (Leipzig  1913  und  1915).  —  Gleichfalls  von  Max 
Hecker  ist  die  gründliche  Umarbeitung  des  1908  von  Ph.  Stein  ver- 
öffentlichten Briefwechsels  mit  Marianne  von  Willemer  (Leipzig  1915) 
vorgenommen  worden,  der  den  Bestand  an  Dokumenten  vielfach  ver- 
mehren und  den  Wortlaut  zum  Teil  erheblich  bessern  konnte ,  und  der 
vor  allem  einen  völlig  neuen  über  die  Ergebnisse  der  bisherigen  For- 
schung weit  hinausführenden  Kommentar  hinzufügt.  Zu  bedauern  ist 
nur,  daß  die  von  Heck  er  aus  dem  Bestände  des  Goethe-  und  Schiller - 
archivs  mitgeteilten  „Dreizehn  Briefe  Mariannens  von  Willemer  an 
Goethe"  (Goethe  -  Jahrbuch  1915)  nicht  dem  Briefwechsel  eingereiht 
werden  konnten.  —  Ein  überraschend  wertvolles  Material ,  wohl  das 
kostbarste,  was  seit  langer  Zeit  aus  Goethes  Lebenskreise  zugänglich 
geworden  ist,  hat  H.  G.  Graf  mit  der  Veröffentlichung  von  „Goethes 
Briefwechsel  mit  seiner  Frau"  (Frankfurt  1916)  erschlossen.  Hundert 
Jahre  nach  dem  Tode  Christianens  räumt  dieser  Briefwechsel  (35-4  Briefe 
von  Goethe,  274  von  Christiane)  mit  einem  Schlage  den  ganzen 
Wust  von  Schmähungen  und  Verdächtigungen  hinweg,  den  Haß,  Neid 
und  kleinstädtische  Klatsch-  und  Tratschsucht  um  diese  Ehe  gehäuft 
haben.  Klar  und  gütig  mit  feinstem  psychologischen  Verständnis  geht 
Grafs  Einleitung  dem  Werden  und  Wesen  dieses  Verhältnisses  nach, 
durch  geschickt  sich  anpassende  Überleitungen  die  trotz  der  Fülle  des 
Dargebotenen  doch  vielfach  klaffenden  Lücken  überbrückend  und  die 
gerade    hier    ungemein    schwierige   Herausgeberarbeit    (man    vergleiche 

76 


nur  die  Blütenlese  aus  Christianens  „Rechtschreibung")  einwandfrei 
meisternd.  —  In  den  Mittelpunkt  von  Goethes  Beziehungen  zu  Österreich, 
nach  Böhmen  führt  der  im  Auftrag  der  Gesellschaft  zur  Förderung 
deutscher  Wissenschaft,  Kunst  und  Literatur  in  Böhmen  von  A.  Sauer 
und  J.  Na  die r  herausgegebene  „Briefwechsel  mit  J.  S.  Grüner  und 
J.  St.  Zauper".  Während  die  schwärmerische  Verehrung  des  geistlichen 
Professors  Zauper  trotz  der  gemeinsamen  naturwissenschaftlichen  Interessen 
Goethe  bald  zu  kühler  Reserviertheit  dem  ihm  Wesensfremden  gegenüber 
zwingt,  tritt  er  zu  dem  stets  dienstbereiten  Polizeirat  Grüner,  mit  dem 
er  verschiedentlich  in  und  bei  Eger  zusammentraf  und  der  1825  mit 
Auszeichnung  von  ihm  in  Weimar  aufgenommen  wurde,  in  einen  bis 
zum  Tode  Goethes  fortgesetzten  Briefwechsel,  der  besonders  die  geo- 
logischen und  mineralogischen  Interessen  Goethes  beleuchtet,  für  welches 
Studiengebiet  Böhmen  die  ergiebigste  Grundlage  und  die  reichste  Nahrung 
für  den  Sammeleifer  bot.  Die  Einleitung  geht  mit  ihi'en  100  Seiten 
weit  über  eine  bloße  Erläuterung  des  Briefwechsels  hinaus,  der  Kom- 
mentar gibt  besonders  auch  höchst  dankenswerte  Auskunft  über  die 
oft  schwer  zugängliche  Literatur.  —  Schießlich  sei  hier  auch  noch  die 
Zusammenfassung  des  bisher  nur  einzeln  veröffentlichen  Materials  in 
dem  „Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  J.  W.  Döbereiner  (1810 — 30)", 
hrsg.  von  J.  Schiff  (Weimar  1914)  erwähnt,  aus  dem  Goethes  ernstes 
Streben  nach  wissenschaftlicher  Erkenntnis  und  die  unermüdlich  gegebene 
Belehrung  des  bedeutenden  Jenaer  Chemieprofessors  deutlich  wird. 

Auf  die  Neuausgabe  von  Goethes  Gesprächen  mit  J.  P.  Eciermann  von  E.  Castle 
(Berlin  1917)  sei  "wegen  des  besonders  ausführlichen,  von  wissenschaftlicher  Gründ- 
lichkeit und  feinem  Gefühl  gleichmäßig  zeugenden  Kommentars  nachdrücklich  hin- 
gewiesen. 

An  der  Spitze  aller  darstellenden  Werke  über  Goethe,  sein  Schaffen 
und  seinen  Lebenskreis  steht  F.  Gundolfs  „Goethe"  (Berlin  1916,  1920% 
ein  Werk,  das  in  einer  Weise  „Epoche"  gemacht  hat,  der  innerhalb  der 
literarischen  Forschung  nur  wenig  an  die  Seite  zu  stellen  sein  dürfte. 
Bewußt  subjektiv,  absichtlich  die  Methoden  der  objektiven  Wissenschaft 
meidend,  alles  biographisch  Tatsächliche  stillschweigend  voraussetzend, 
soll  hier  die  Einheit  von  Leben  und  Schaffen,  die  Eigengesetzlichkeit, 
das  Urphänomen  Goethe  herausgestellt  werden.  Drei  großen  Haupt- 
teilen, die  er  „Sein  und  Werden",  „Bildung"  und  „Entsagung  und  Voll- 
endung" überschreibt,  entsprechen  drei  Erlebniszonen,  in  denen  der 
dichterische  Gehalt  sich  entfaltet:  Lyrik,  Symbolik,  Allegorik.  Goethes 
Lyrik  enthält  seine  Urerlebnisse,  dargestellt  im  Stoff  seines  Ich;  Goethes 
Allegorik  enthält  seine  abgeleiteten  Erlebnisse  im  Stoff  einer  Bildungs- 
welt; in  der  Symbolik  durchdringt  sich  beides:  Urerlebnisse  im  Stoff 
einer  Bildungswelt.  Methodisch  bedeutsam  ist,  daß  dabei  die  Entwick- 
lung des  Menschen  und  Künstlers  nicht  wie  bei  den  meisten  früheren 
biographischen  Darstellungen  in  epischer  Weise  und  mit  wechselnder 
Berg-  und  Talsicht  durch  die  Jahrzehnte  verfolgt  wird,  sondern  nur 
entwicklungsgeschichthch  reife  Punkte  und  Erlebnisstadien  zur  breiteren 
Vorführung   kommen.     Bei   solcher  Gipfeldarstellung   schlägt   dann   die 

77 


Analyse  ähnliche  Bahnen  ein,  wie  sie  Dilthey  bei  der  Entfaltung  seiner 
„Strukturzusammenhänge"  angestrebt  hatte.  Am  ehesten  läßt  sieh  dieses 
Werk  vielleicht  mit  den  Goethedarstellungen  Simmeis  und  Chamberlains 
vergleichen.  Auf  eine  Formel  gebracht  kann  man  dann  sagen,  daß  bei 
Simrael  der  Denker,  bei  Chamberlain  der  Universalmensch,  bei  Gundolf 
dagegen  der  Künstler  Goethe  im  Vordergründe  der  Betrachtung  steht. 
Der  Zweck  dieses  Forschungsberichtes,  mehr  Hinweise  und  Einführungen 
als  Einzelkritik  zu  geben,  bringt  es  mit  sich,  daß  hier  nicht  in  eine 
der  Bedeutung  des  Werkes  entsprechende  Erörterung  über  die  Vorzüge 
und  Schwächen  (auch  daran  fehlt  es  nicht!)  eingetreten  werden  kann. 
Dafür  sei  —  ganz  abgesehen  von  der  Fülle  von  Einzelbesprechungeu  — 
nur  auf  einige  besonders  ausführliche  Anzeigen  (Petersen:  Litbl.  1918, 
Sp.  218—229;  H.  Maync:  Jahrb.  d.  Goethegesellschaft  IV,  S.  267 ff.; 
Petsch:  Preuß.  Jahrbücher,  107.  Bd.,  S.  388—404)  und  die  Sammel- 
besprechung im  14.  Ergänzungsheft  (Gundoltheft)  des  Euphorien  (1921) 
hingewiesen,  wo  zwölf  Beurteiler  zu  dem  Werke  Stellung  nehmen,  unter 
ihnen  besonders  A.  von  Grolmann  durch  seinen  Aufsatz  „Methodische 
Probleme  in  Gundolfs  Goethe"  hervorragend. 

Einen  kritischen  Überblick  über  die  bisherigen  Darstellungen  von  Goethes  Leben 
von  Schubarth  (1818)  bis  zu  Simmel  und  Chamberlain  (1912  und  1913),  der  gleich- 
zeitig ein  Stück  Ideen-  und  Weltanschauungsgeschichte  darstellt,  gibt  H.  Maync  in 
einer  Studie,  die  er  schon  1906  in  den  Neuen  Jahrbüchern  für  das  klassische  Alter- 
tum veröffentlichte,  nunmehr  aber  wesentlich  erweitert  als  Sonderschrift  vorlegt 
Leipzig  1914). 

Von  biographischen  Arbeiten,  die  dem  Leben  von  Goethe  nahestehenden 
Persönlichkeiten  nachgehen,  sind  drei  Neuerscheinungen  zu  verzeichnen. 
Die  Stärke  von  W.  Bodes  Darstellung  „Goethes  Sohn"  (1917)  liegt  wieder 
in  der  intimen  Kenntnis  des  weimarischen  Lebens,  das  in  tausend  Einzel- 
heiten und  Notizen  aus  der  Vergangenheit  heraufgeholt  wird.  Die  Charakte- 
ristik Augusts  bleibt  aber  an  der  Oberfläche  haften.  —  Etta  Federn  hat 
Christiane  von  Goethe  die  erste  selbständige  Biographie  gewidmet  und 
als  erste  endhch  eine  Rettung  der  so  Vielgeschmähten  und  Verkannten 
gebracht.  In  schlichter  wahrheitsgetreuer  Schilderung  zeichnet  sie  zunächst 
das  äußere  Leben  Christianens,  gibt  dann  eine  zusammenfassende  Charak- 
teristik und  geht  schließlich  (wenn  auch  nicht  ganz  ohne  Überschätzung) 
den  Spuren  nach,  die  viel  zahlreicher,  als  man  bisher  meist  zugeben 
wollte,  von  Christiane  in  Goethes  Schaffen  geblieben  sind.  War  den 
ersten  beiden  Auflagen  des  liebenswürdigen  Buches  noch  die  Haupt- 
quelle, Grafs  Ausgabe  des  Briefwechsels,  verschlossen  gewesen,  so  hat 
die  dritte  Auflage  (München  1917)  das  neue  Material  sorgfältig  ver- 
wertet, und  die  verschiedentlich  von  der  Kritik  gerügte  Trennung  der 
Biographie  und  Charakteristik  sehr  zum  Vorteil  einer  fortlaufenden 
psychologischen  Schilderung  aufgegeben,  die  die  Entwicklung  Christianens, 
ihres  Verhältnisses  zu  Goethe  und  beider  Verhältnisse  zur  Umwelt  nun 
in  einer  einheitlich  aufsteigenden  Linie  darlegt.  —  IdaBoy-Eds  schöne 
Schilderung  „Das  Martyrium  der  Charlotte  von  Stein"  (Stuttgart  1916, 
1920^")  scheint  mir  das  psychologische  Problem  dieses  so  viel  diskutierten 

78 


Verhältnisses  vom  Standpunkte  Charlottens  aus  einer  Lösung  zuzuführen 
Nur  aus  der  nach  fünfjährig^en  Kämpten  erfolgten  völligen  Hingabe  er- 
klärt sich  der  veränderte  Ton  der  Briefe  seit  dem  März  1782,  erklärt 
sich  die  leidenschaftliche  Eifersucht  der  Verlassenen,  ihr  Haß  gegen 
Goethe    und  Christiane. 

Der  neuerdings  auch  in  anderen  Disziplinen  mehrfach  hervortretende 
Gedanke,  in  lexikalischer  Form  und  in  einer  Fülle  von  längeren  und 
kürzeren  Sonderartikeln  das  Fazit  eines  wissenschafthchen  Problemkreises 
zu  ziehen,  kam  innerhalb  der  Goethe  Wissenschaft  in  dem  dreibändio;en 
„Goethe-Handbuch"  zum  Ausdruck,  das  J.  Zeitler  unter  Mitarbeit  von 
zahlreichen  Sachkennern  erscheinen  ließ  (Stuttgart  1916 — 1918).  Wenn 
natürlich  auch  für  dieses  fast  2200  Artikel  umfassende  Unternehmen 
die  für  alle  solche  lexikalische  Zusammenarbeit  bestehenden  Bedenken 
gelten,  daß  die  Güte  der  einzelnen  Darstellungen  ungleich  ist  und  neben 
manchem  Entbehrlichen  Wichtiges  fehlt,  so  wird  doch  niemand  diesem 
Goethe- Lexikon  seine  große  Bedeutung  absprechen  können.  Der  gesamte 
Kreis  des  Goetheschen  Lebens  und  Schaffens,  alle  ihm  nahestehenden 
Persönlichkeiten  und  der  ganze  weite  Umfang  seiner  Interessen ssphäre 
kommt  hier  zur  Bearbeitung.  Fast  noch  wichtiger  aber  ist,  daß  neben 
den  „substantiellen"  Artikeln,  deren  Inhalt  man  zur  Xot  auch  in  der 
früheren  Goetheliteratur,  wenn  auch  stark  verstreut  finden  konnte,  in 
diesem  Werke  eine  große  Reihe  von  Begriffen  ihre  Erörterung  findet 
(z.  B.  Andenken,  Anpassung,  Autorität,  Ehrfurcht,  KosmopoHtismus, 
Goethewissenschaft  u.  a.j,  die  bisher  nur  selten  oder  gar  nicht  eine 
quellenmäßige  Behandlung  erfahren  hatten. 

Natürlich  Hegen  neben  diesen  bisher  genannten  mehr  oder  weniger 
umfangreichen  und  größere  Gebiete  umspannenden  Veröffenthchungen  auch 
zahlreiche  Einzelstudien  vor,  die  den  verschiedensten  Gebieten  der  Goethe- 
forschung zugute  kommen.  Die  journalistische  Tätigkeit  des  jungen 
Goethe  wird  von  M.  Morris  in  einer  dritten  Auflage  seiner  zuerst  1909 
veröffentlichten  Untersuchung  „Goethes  und  Herders  Anteil  an  dem 
Jahrgang  1772  der  Frankfurter  gelehrten  Anzeigen"  (Stuttgart  1915) 
einer  zweiten  Revision  unterzogen,  die  wieder  zu  erheblich  anderen  Re- 
sultaten gelangt  als  die  die  erste  Auflage  völlig  umarbeitende  zweite  von 
1912.  Bei  dem  dreilachen  zähen  Bemühen  um  die  Lösung  dieser  end- 
gültig wohl  nie  zu  bewältigenden  Aufgabe,  die  Verfasser  der  einzelnen 
Rezensionen  namhaft  zu  machen,  kommt  der  um  die  Goethewissenschaft 
so  hochverdiente  Gelehrte  (f )  dazu,  den  Anteil  Goethes  immer  höher  und 
umfassender  einzuschätzen,  so  daß  er  1?06  zehn,  1912  achtzehn  und 
nunmehr  125  Rezensionen  als  gesichertes  Goethesches  Eigentum  hin- 
stellen möchte.  Da  dies  stets  auf  Grund  des  gleichen  stilkritischen  Ver- 
fahrens geschieht,  fallen  die  Gründe,  die  gegen  eine  solche  starke  An- 
teilnahme Goethes  sprechen,  besonders  schwer  ins  Gewicht,  können  aber 
hier  unmöglich  im  einzelnen  dargelegt  werden.  Doch  sei  auf  die  aus- 
fuhiliche  Rezension  im  A.  f  d.  A.  39,  S.  67  76  von  UHch  hingewiesen.  — 
Die  journalistische  Tätigkeit  des  reifen  Goethe  auf  dem  Höhepunkt  seines 
unbedingten  Klassizismus  führt  E.  Bö  hl  ich  in  seiner   in  den  Breslauer 

79 


Beiträgen  (H.  44,  1915)  erschienenen  Arbeit  „Goethes  Propyläen"  in 
einer  eingehenden  Untersuchung  vor,  die  zunächst  die  äußere  Geschichte 
der  Zeitschrift  verfolgt  und  dann  die  einzelnen  Aufsätze  analysiert,  wo- 
bei die  methodisch  tüchtige  Beweisführung,  daß  der  sechste  Brief  „Der 
Sammler  und  die  Seinigen''  auf  den  ersten  philosophierenden  Brief 
Schillers  an  Goethe  zurückzuführen  sei ,  besonders  hervorgehoben  sein 
möge.  An  E.  von  der  Hagens  ausgezeichnete  Arbeit  über  „Goethe  als 
Herausgeber  von  Kunst  und  Altertum  und  seine  Mitarbeiter"  (1912) 
reicht  diese  neuere  Forschung  freilich  nicht  heran,  um  so  weniger,  als 
dem  Verfasser  das  Material  des  Briefwechsels  mit  H.  Meyer  noch  nicht 
vollständig  zugänglich  war.  —  Einen  überraschend  reichen  Gewinn  bringt 
dagegen  die  so  recht  aus  dem  Weltkrieg  herausgewachsene  philologische 
Untersuchung  G.  Roethes  über  „Goethes  Campagne  in  Frankreich  1792" 
(Berlin  1919).  Nachdem  das  erste  Kapitel  die  äußere  Entstehungsgeschichte 
nach  jeder  Richtung  hin  klargelegt  hat,  scheidet  das  zweite  Kapitel  auf 
Grund  sprachlicher  und  stilistischer  Kriterien  Früheres  und  Späteres  von- 
einander, während  die  fünf  folgenden  Abschnitte  die  Hauptquellen  in  den 
Tagebüchern  des  Kämmeriers  Wagner  und  verschiedene  Nebenquellen 
in  Briefen,  Memoiren  und  persönlichen  Berichten  nachweisen  und  gegen 
diese  Grundlage  den  Anteil  von  eigenen  Erinnerungen  und  phantasie- 
mäßigen Zutaten  abheben.  Werden  schon  dabei  vielfach  bewußt  künst- 
lerische Absichten  deutlich  gemacht,  so  betrachtet  das  achte  Kapitel  zum 
ersten  Male  mit  feinstem  Einfühlungsvermögen  die  „Campagne"  als  dich- 
terisches Kunstwerk  und  kommt  mit  vorsichtig  gerechter  Abwägung  zu 
dem  Urteil,  daß  Goethe  zwar  „dem  Objekt  gegenüber  nicht  Sieger  ge- 
blieben ist",  daß  ihm  aber  „unerhört  scharfe  Einzelbilder  und  Szenen 
gelungen  sind,  deren  sorgsame  und  streng  stilistische  Durchbildung, 
deren  kühl  klare  Durchsichtigkeit  keinen  Vergleich  zu  scheuen  haben." 
Den  Abschluß  bildet  ein  Überblick  über  Goethes  Stellung  zum  Krieg, 
der  sicher  das  Beste  und  Gerechteste  enthält,  was  über  dieses  Thema 
bisher  gesagt  worden  ist.  —  Wichtige  Erkenntnisbereicherungen  ent- 
springen auch  der  Untersuchung  Fr.  Sarans  über  „Goethes  Mahoraet 
und  Prometheus".  Wenn  einerseits  in  gründlicher  philologischer  Beweis- 
führung Quellenfragen  und  Entstehungsgeschichte  vielfach  berichtigt  und 
geklärt  werden,  so  liegt  andererseits  der  Hauptwert  in  der  Herausarbeitung 
des  ideengeschichtlichen  Gehaltes  dieser  problematischen  Jugenddichtungen, 
wobei  durch  die  Aufzeigung  der  Beziehungen  zur  mittelalterlichen  christ- 
lichen Mystik  und  der  Umbiegung  ihrer  Ideen  ins  Naturalistische,  Welt- 
bejahende viele  von  der  Forschung  bisher  übersehene  Züge  deutlich  werden 
und  manches  erst  in  das  rechte  Licht  gesetzt  wird.  —  Methodisch  von  Saran 
angeregt  gibt  O.Spieß  eine  eingehende  Untersuchung  zu  Goethes  Dram*in- 
technik  unter  dem  Titel  „Die  dramatische  Handlung  in  Goethes  ,Cla- 
vigo',  ,Egmont'  und  ,Iphigenie'"  (Bausteine,  Bd.  17,  Halle  1918),  in 
der  er  ähnlich  wie  in  seiner  früheren  Abhandlung  über  Minna  von 
Barnhelm  und  Emilia  Galotti  die  Darlegung  der  inneren  und  äußeren 
Entwicklung  durch  graphische  Hilfsmittel  unterstützt  und  aufzeigt,  wie 
die  ursprüngliche  technische  Anlage  des  Clavigo   und  der  Iphigenie  als 

80 


Entwicklungsdrama  durch  das  Hineintragen  einer  Zieltechnik  gestört 
wird,  während  der  Fehler  in  der  dramatischen  Anlage  des  Egmont  aus 
dem  umgekehrten  Verfahren  hervorgeht.  —  Das  Urmanuskript  des 
„Egmont"  in  Schillers  Bearbeitung  vom  April  1796  legt  C.  Höfer 
(München  1914)  in  sorgfältiger  Edition  nach  dem  Originalmanuskript 
des  Goethe-  und  Schiller  -  Archivs  vor,  unter  Hinzufügung  der  mannig- 
fachen Zeugnisse  über  diese  Bühneneinrichtung  und  die  Aufführungen 
auf  dem  Leipziger  und  dem  Weimarer  Theater. 

H.  Beiks  Arbeit  „Zur  Entstehungsgeschichte  von  Goethes  Torquato  Tasso" 
(Leipzig  1918)  ist  hauptsächlich  der  Widerlegung  von  Kuno  Fischers  Hypothese  ge- 
widmet. —  J.  Graubs  Berliner  Dissertation  „Goethes  Mahoniet  und  Tancred''  (1914) 
behandelt  nach  einem  guten  Überblick  über  die  vorgoetheschen  Voltaireübersetzungen 
Goethes  Übersetzungsarbeit  in  eingehender  Analyse,  indem  er  zugleich  die  inhaltlichen 
und  stilistischen  Abweichungen  vom  Original  aufzeigt,  die  das  Werk  des  Franzosen 
geistig  vertiefen  und  an  Stelle  der  Kargheit  des  Voltaireschen  Wortschatzes  durch 
eine  Fülle  von  fein  nuancierenden  Ausdrücken  die  Schönheit  dichterischer  Rede  setzen. 
Interessant  sind  die  Zusammenstellungen  der  Übersetzungsfehler. 

Von  den  drei  dem  Wilhelm  Meister  gewidmeten  Arbeiten  ist  E.  Woiffs 
Deutung  (W.  Meisters  Wanderjahre.  Ein  Novellenkranz.  Frkf.  1916)  der  Wander- 
jahre als  einer  Rahmenerzählung,  die  in  der  Art  des  Decamerone  oder  der  Cent  nou- 
velles  nouvelles  nur  die  Hauptsache,  die  einzelnen  Novellen,  zusammenhalten  solle, 
abzulehnen  und  infolgedessen  auch  der  Abdruck  derselben  im  Sinne  dieser  Hypothese.  — 
Dagegen  geht  die  Berner  Arbeit  von  S.  L.  Janko  nach  einem  ersten  Kapitel  über  das 
Verhältnis  des  jungen  Goethe  zur  Bühne  aufschlußreich  der  „Entwicklungsgeschichte 
von  Goethes  Stellung  zum  Theater"  (Bern  1914/15)  an  der  Hand  des  Wilhelm  Meister 
nach.  —  E.  Sarters  Untersuchung  „Zur  Technik  von  Wilhelm  Meisters  Wander- 
jahren" (Bonner  Forschungen  1914)  sucht  in  erwünschter  und  vielfach  fördernder 
Ergänzung  und  Berichtigung  der  bisherigen  Forschung  die  Herleitung  der  komposi- 
torischen Mängel  aus  Nachlässigkeit  der  Redaktion  oder  Wunderlichkeit  und  Unfähigkeit 
des  hohen  Alters  möglichst  einzuschränken.  In  diesem  Sinne  wird  die  Absicht  des 
Verschleierns  und  Verhüllens  hervorgehoben,  die  Rolle  des  Erzählers  näher  beleuchtet 
und  schließlich  darauf  hingewiesen,  daß  der  Hochbetagte  sich  eben  auch  stark  von 
dem  Streben,  wenigstens  das  Wesentliche  noch  zur  Vollendung  zu  führen,  be- 
stimmen ließ. 

Einen  sehr  beachtenswerten  Beitrag  zur  Entwicklungsgeschichte  der 
Faustphilologie  gibt  H.  Titze  in  seiner  umfangreichen,  339  Seiten  um- 
fassenden Greifswalder  Dissertation  „Die  philosophische  Periode  der 
deutschen  Faustforschung  (1817 — 1839)  nebst  kurzen  ÜberbHcken  über 
die  philologische  und  die  philosophisch-ästhetische  Periode  zur  Beleuch- 
tung der  Gesamtentwicklung  der  deutschen  Faustphilologie  bis  zur 
Gegenwart"  (1916).  Eingehend  werden  zunächst  die  Faustschriften  der 
Hegelianer  Göschel,  Hinrichs,  Rauch  und  Rosenkranz  analysiert  und 
dann  unter  dem  zusammenfassenden  Namen  „Allegoristen'*  die  ent- 
sprechenden Schriften  von  K.  E.  Schubarth,  Johannes  Falk,  M.  Enk, 
F.  Deyks,  Löwe,  Carus,  Düntzer,  Weber,  Weiße  und  Leutbecher  be- 
handelt. Dabei  wird  die  Bedeutung  jener  ersten  Phasen  der  Faust- 
erforschung innerhalb  der  Gesamtentwicklung  literarhistorischer  Wissen- 
schaft so  gut  interpretiert  und  in  ihren  einzelnen  Entwicklungsstufen  so 
aufschlußreich  dargelegt,  daß  man  es  lebhaft  bedauert,  die  philologische 
und  die  philosophisch-ästhetische  Periode  nur  überblicksweise  verfolgen 
zu  können. 

Wissenschaftliclie  Forschungrsberichte  VIII.  6 

81 


Zur  Kenntnis  der  naturwissenschaftlichen  Bestrebungen  Goethes 
liegen  zwei  Arbeiten  von  ersten  Fachkennern  vor.  Wilhelm  Ostwald 
unternimmt  es,  in  seiner  Schrift  „Goethe,  Schopenhauer  und  die  Farben- 
lehre" (Leipzig  1918)  das  Verhältnis  der  Farbenlehren  jener  beiden 
Großen  zueinander  und  zu  der  heutigen  Lehre  darzustellen,  wobei  in 
gerechtem  Abwägen  der  Stärken  und  Schwächen  der  Goetheschen  An- 
nahmen —  die  starke  Betonung  der  subjektiven  Seite  der  Farbenwahr- 
nehmung einerseits  und  die  Unzulänglichkeit  in  der  Handhabung  physi- 
kalischer Methoden  und  quantitativer  Messungen  andererseits  —  wohl 
das  letzte  abschließende  Wort  über  Goethes  Stellung  innerhalb  der 
Entwicklungsgeschichte  dieser  Forschungsprobleme  gesprochen  sein 
dürfte.  —  Gleichfalls  endgültig  abschließend  stellt  M.  Sem  per,  „Die 
geologischen  Studien  Goethes"  (Weimar  1914)  auf  Grund  des  gesamten 
Quellenmaterials  und  unter  Berücksichtigung  der  Goetheschen  Samm- 
lungen dar.  Er  vermag  deutlich  zwei  Perioden  innerhalb  des  Verlaufes 
dieser  Studien  aufzuzeigen,  von  denen  die  erste,  1779 — 1790,  dem  posi- 
tiven Ausbau  einer  Geogenesis  gewidmet  ist,  während  die  zweite,  von  1806 
bis  zum  Tode  reichend,  von  der  Polemik  des  überzeugten  Neptunisten 
gegen  den  immer  siegreicher  sich  durchsetzenden  Vulkanismus  erfüllt  ist. 

Da  die  vorliegenden  Einzeluntersuchungen  sprachlich  -  stilistischer  und  begriff- 
licher Art  nirgends  über  das  Niveau  fleißiger  Sammelarbeit  hinauskommen,  sei  nur 
bibliographisch  darauf  verwiesen:  W.  Pfannkuchen,  „Periodenbau  in  Goethes  und 
Schillers  größeren  Dichtungen"  (Diss.  Gießen  1915);  C.  Liederwald,  „Der  Begriff 
,edel'  bei  Goethe"  (Diss.  Greifswald  1914);  N.  Balk,  „Die  Bedeutung  der  Ordnung 
für  Goethe"  (ebd.  1919);  AVilh.  Müller,  „Die  Erscheinungsformen  des  Wassers  in 
Anschauung  und  Darstellung  Goethes  bis  zur  italienischen  Reise"  (Diss.  Kiel  1917); 
Dorothea  Hillmann,  „Studien  über  Goethes  Sehen"  (Diss.  Bonn  1917).  —  Dagegen 
verdient  A.  Kochs  Sammlung  dreier  Aufsätze  (Goethes  Ausbildung  zum  Verskünstler 
und  seine  Ansichten  über  Versbau.  —  Über  den  Versbau  in  Goethes  Iphigenie,  Tasso 
und  Natürlicher  Tochter.  —  Über  den  Hiatus  in  Goethes  Versen),  die  er  unter  dem 
Titel  „Von  Goethes  VerskTinst"  (Essen  1917)  vereinigt,  nachdrücklichste  Beachtung. 

Schheßlich  seien  noch  vier  Erscheinungen  namhaft  gemacht,  die 
mit  besonderem  Erfolge  Goethes  Verhältnis  zu  anderen  Persönlichkeiten 
zu  klären  suchen.  „Goethe  und  sein  Kreis"  (Leipzig  1919)  überschreibt 
F.  Neubert  seine  Sammlung  von  651  Abbildungen,  die  Goethe  selbst, 
seine  Familie,  sowie  fast  alle  Personen  und  Ortlichkeiten ,  zu  denen  er 
Beziehungen  hatte,  zur  Darstellung  bringen,  womit  ein  reiches  An- 
schauungsmaterial zugänglich  gemacht  wird.  —  Von  methodisch  bester 
Schulung  zeugt  H.  Eckerts  Arbeit  „ Goethes  Urteile  über  Shakespeare 
aus  seiner  Persönlichkeit  erklärt"  (Studien  zur  englischen  Philologie, 
Halle  1918),  die  das  Verhältnis  Goethes  zu  Shakespeare  unter  den  Ent- 
wicklungsstufen „Nachahmung",  „Manier"  und  „Stil"  untersucht  und 
in  Verbindung  mit  eingehender  psychologischer  Analyse  ein  wirkhch 
tieferes  Verständnis  von  Goethes  Auffassung  erschheßt.  —  Durch 
O.  F.  Vaternahms  Heidelberger  Dissertation  „Goethe  und  seine  Ver- 
leger" (1916)  wird  hauptsächhch  das  Verhältnis  Goethes  zu  Göschen 
und  zu  Cotta  in  das  rechte  Licht  gerückt,  wobei  sich  interessante  Ein- 
blicke in  Goethes  stark  durch  Mißtrauen  bestimmte  Sonderstellung  den 
Verlegern  gegenüber  ergeben,  im  Gegensatz  zu  dem  sonst  in  dieser  Zeit 

82 


meist  üblichen  freundschaftlichen  Verbältnisse  zwischen  Autor  und  Ver- 
leger, wie  es  etwa  bei  Schiller  oder  bei  Wieland  so  erfreulich  in  Er- 
scheinung tritt.  —  Von  Schubart  bis  zu  Mörike  führt  Frank  Thieß 
in  seiner  Tübinger  Dissertation  (1914)  „Die  Stellung  der  Schwaben  zu 
Goethe"  vor,  indem  er  nacheinander  die  Stellung  der  schwäbischen  Auf- 
klärung, des  Sturmes  und  Dranges,  des  Klassizismus,  der  Romantik, 
der  Reaktion  und  Nachromantik  festzustellen  sucht  und  unter  steter  Be- 
rücksichtigung der  durch  stammliche,  politische,  literarisch- ästhetische  und 
psychologische  Momente  sich  ergebenden  Modifikationen  die  wechselnde 
Reaktion  der  führenden  geistigen  Vertreter  dieses  Volksstammes  auf  die 
gewaltige  PersönHchkeit  Goethes  nachweist. 

Den  grundlegenden  großen  Ausgaben  der  Werke  und  Briefe,  den 
glänzenden  synthetischen  Leistungen  und  hervorragenden  Sonderunter- 
suchungen der  Goetheforschung  hat  die  Schillerliteratur  der  Be- 
richtsjahre nichts  Gleichwertiges  an  die  Seite  zu  stellen.  Eine  wirklich 
historisch-kritische  Ausgabe  ist  noch  immer  nicht  in  Angriff  genommen 
worden  und  dürfte  bei  den  heutigen  Verhältnissen  in  absehbarer  Zeit 
auch  kaum  zu  erwarten  sein,  und  die  neuen  Erkenntnisse  und  Dar- 
stellungsmethoden biographischer  Schilderung  sind  noch  nicht  in  den 
Dienst  der  Schillerforschung  gestellt  worden.  Immerhin  liegt  eine  Reihe  von 
Untersuchungen  strebsamer  und  fleißiger  Doktoranden  vor,  deren  Er- 
gebnisse dankbar  zu  buchen  sind.  An  erster  Stelle  müssen  dabei  zwei 
Arbeiten  genannt  werden,  die  der  journalistischen  Tätigkeit  Schillers 
gewidmet  sind.  So  gelingt  es  Hermann  Müller  in  seiner  Münchner 
Dissertation  (1915)  „Schillers  journahstische  Tätigkeit  an  den  , Nach- 
richten zum  Nuzen  und  Vergnügen'  im  Jahre  1781"  durch  eine  sorg- 
fältige Aufspürung  und  Vergleichung  der  Quellen  zu  den  einzelnen 
Artikeln  vielfach  über  die  bisherigen  Forschungen  von  Boas,  Minor 
und  E.  Schröder  hinauszukommen,  die  Beiträge  Schillers  festzustellen 
und  die  besondere  Art  seiner  Redaktionstätigkeit  eingehend  zu  charak- 
terisieren. —  „Schiller  als  Herausgeber  der  rheinischen  Thalia,  Thalia 
und  neuen  Thalia  und  seine  Mitarbeiter"  behandelt  F.  Berresheim 
(Stuttgart  1914)  in  eingehender  Analyse  der  einzelnen  Hefte,  wobei  das 
vielfach  wechselnde  Gepräge  der  Zeitschrift  in  den  zehn  Jahren  ihres 
Bestehens  teils  in  den  Veränderungen  von  Schillers  äußeren  Lebens- 
umständen, teils  in  dem  Wechsel  seiner  geistigen  Richtungen  und  persön- 
lichen Beziehungen  aufgezeigt  wird,  womit  sich  zugleich  ein  Bild  der 
dichterischen  und  wissenschaftlichen  Entwicklung  des  Herausgebers  in 
den  Jahren  1785 — 1795  ergibt.  —  Anschließend  sei  kurz  auf  das  viel- 
fach anregende  Buch  von  K.  Berger  „Vom  Weltbürgertum  zum 
Nationalgedanken"  (München  1918)  verwiesen,  das  unter  diesem  Ober- 
titei  zwölf  Bilder  aus  Schillers  Lebenskreis  und  Wirkungsbereich  zu 
anschaulichster  Darstellung  bringt,  darunter  für  den  Literarhistoriker 
besonders  wichtig  die  Kapitel  über  Karl  Eugen,  Schillers  Doppelliebe, 
Schiller  und  Kleist,  Schiller  und  die  französische  Revolution. 

„Schillers  lyrische  Jugenddichtung  in  der  Zeit  der  bewußten  Nachahmung 
Klopstocks "  untersucht  JR.  Müller  in  sorgfältiger  Gegenüberstellung  von  Vorbüd  und 

6* 

83 


Nachahmer  nach  den  Prinzipien  der  Elsterschen  Stilistik  (Diss.  Marburg  1916),  wäh- 
rend F.  Varnegs  Münsterische  Dissertation  „Schiller  als  Erzähler"  betrachtet  und 
den  gedanklichen  Gehalt  seiner  Erzählungen,  die  inneren  Beziehungen  des  Dichters 
zu  denselben  und  die  künstlerische  Gestaltung  des  Stoffes  erstmalig  zusammenhängend 
behandelt.  —  Alexander  J<3hannessons  Arbeit  „Die  Wunder  in  Schillers  Jung- 
frau von  Orleans"  (Diss.  Halle  1915)  ist  ein  schönes  Zeugnis  dafür,  wie  gründlich  sich 
der  junge  Isländer,  der  heute  als  Dozent  an  der  Universität  Reykjavik  wirkt,  in  das 
Werk  des  deutschen  Dichters  eingefühlt  hat,  —  Melitta  Gerhard  (Forschungen  z. 
n.  Litg.  53.  Bd.,  1919)  stellt  in  ihrer  fleißigen  Untersuchung  „Schiller  und  die  griechi- 
sche Tragödie"  den  Einfluß  derselben  erst  auf  die  späteren  Dramen  fest,  wobei  es 
sich  weniger  um  unmittelbare  Beziehung  handelt  als  um  die  mittelbare  Einwirkung  des 
„vereinfachenden,  einheitlichen,  nur  die  große  Linie  wiedergebenden  Stils  und  die  der 
Idealität  der  Kunst  dienende  Betonung  des  Allgemein-Menschlichen ".  —  Schließlich 
sei  noch  die  Greifswalder  Dissertation  von  W.  Meise,  „Beiträge  zu  einer  ethischen 
Terminologie  Schillers"  (1917)  erwähnt  und  auf  die  Mai'burger  Arbeit  von  Maria 
Teichmann  ,,Über  Schillers  und  Friedrich  Schlegels  Stellung  zur  griechischen 
Poesie"  in  den  Abhandlungen  „Über  naive  und  sentimentalische  Dichtung"  und 
„Über  das  Studium  der  griechischen  Poesie"  (1919)  hingewiesen. 

Erfreulicherweise  ist  im  Berichtszeitraum  auch  die  große  Ausgabe 
von  „Wilhelm  von  Humboldts  Gesammelten  Schriften",  die  im  Auftrag 
der  preußischen  Akademie  der  Wissenschaften  besonders  von  A.  L  e  i  t  z  - 
mann  besorgt  wird,  ein  gutes  Stück  weiter  gekommen.  Von  den  drei 
Abteilungen  dieser  Ausgabe  war  die  erste  die  „Werke"  umfassende  Ab- 
teilung in  den  Jahren  1903  — 1912  auf  9  Bände  gediehen,  während  die 
die  zweite  Gruppe  bildenden  „Politischen  Denkschriften"  (1903 — 1904 
erschienen)  die  Bände  10 — 12  füllten.  Zu  diesem  bereits  vorliegenden 
Bestände  sind  jetzt  mit  dem  XIII.  Bande  (1920)  „Nachträge"  zur  ersten 
Abteilung  gekommen,  in  denen  Leitzmann  die  neugefundene  Abhandlung 
über  die  Basken  und  eine  Reihe  amtlicher  Arbeiten  in  kritischem  Neu- 
druck veröffentlicht.  Besonders  wichtig  für  den  Germanisten  aber  ist 
unterdessen  die  dritte  Abteilung  geworden,  die  in  den  Bänden  XIV 
(1916)  und  XV  (1918)  die  für  die  Persönlichkeit  Humboldts  wie  für 
die  Zeitgeschichte  ungemein  interessanten  „  Tagebücher "  darbietet.  Da- 
mit ist  die  Ausgabe  vorläufig  zu  einer  gewissen  Abrundung  gekommen. 
Der  noch  ausstehende  Rest  der  poUtischen  Denkschriften  sowie  die  noch 
vorgesehene  weitere  Abteilung  „  Briefe  "  mußten  aus  materiellen  Gründen 
auf  bessere  Zeiten  verschoben  werden.  — -  Auch  die  große  von  Anna 
von  Sydow  besorgte  Brief publikation  „Wilhelm  und  Caroline  von 
Humboldt  in  ihren  Briefen",  die  seit  1906  an  die  Offenthchkeit  getreten 
ist,  konnte  inzwischen  zum  Abschluß  gebracht  werden.  Nachdem  der 
1913  erschienene  sechste  Band  im  wesentlichen  politischen  Inhalts  ge- 
wesen war  und  ein  besonders  starkes  Licht  auf  den  Gegensatz  Hum- 
boldts zu  Hardenberg  in  den  Jahren  1817 — 1819  geworfen  hatte,  werden 
wir  in  dem  1916  erschienenen  siebenten  und  letzten  Bande  bis  an  den 
Tod  der  beiden  Ehegatten  (Carohne  f  1827,  Wilhelm  f  1835)  geführt. 
Mit  Recht  hat  die  Herausgeberin  diesem  Schlußbande  den  Untertitel 
„  Reife  Seelen  "  gegeben,  tritt  doch  in  diesen  letzten  Jahren,  wo  die  beiden 
ungleich  seltener  voneinander  getrennt  waren  und  damit  die  Gelegenheit 
zur  brieflichen  Aufteilung  weniger  häufig  gegeben  war,  die  harmonische 
Verknüpfung  zweier  innerlich  zueinander  gestimmter  Seelen  und  die  durch 

84 


mannigfache  körperliche  Leiden  und  die  Mühseligkeiten  des  Alters  nur 
noch  gesteigerte  Abgeklärtheit  ihrer  Anschauungen  und  Urteile  besonders 
deuthch  zutage.  Den  Germanisten  interessieren  wiederum  besonders 
natürlich  die  zahlreichen  Stellen  über  Goethe,  Schiller  und  andere  Er- 
scheinungen der  klassischen  Welt.  —  Auf  Grund  vollsten  Vertrautseins 
mit  dem  Gegenstand  entwirft  A.  Leitzmann  (Halle  1919)  ein  knappes 
Lebensbild  Wilhelm  von  Humboldts  und  eine  das  Wesentliche  klar  heraus- 
stellende Charakteristik,  die  besonders  durch  den  Ton  persönlichster  An- 
teilnahme Wärme  und  Wirkung  erhält. 

Der  Hauptvertreterin  des  klassizistischen  Frauenromans  und  ihrem 
ersten  größeren  Werke  „Agnes  von  Lilien"  ist  St.  Brocks  Berliner 
Dissertation  „Karoline  von  Wolzogens  Agnes  von  Lilien"  (1914)  ge- 
widmet. Der  Verfasser  sucht  den  Roman  weniger  von  der  ästhetischen 
als  von  der  historischen  Seite  zu  erfassen  und  seine  Mittelstellung  dar- 
zutun zwischen  der  Aufklärung,  an  die  die  Diskussionen  über  moderne 
Fragen,  soziale,  ökonomische  und  pädagogische  Zeittendenzen  sowie  die 
Abhängigkeit  der  Gestalten  von  den.  Typen  der  moralischen  Wochen- 
schriften erinnern,  und  dem  Klassizismus,  dessen  Idealwelt  stofflich  und 
formal  die  Darstellung  bestimmt.  —  Der  klassische  Publizist  und  Pro- 
saist dieser  Zeit,  Georg  Forster,  wird  durch  eine  Reihe  von  Veröffent- 
lichungen in  eine  ganz  neue  Beleuchtung  gerückt.  P.  Zincke  hat  durch 
die  Bearbeitung  des  gesamten  gedruckten  und  handschriftlichen  Nach- 
lasses wirklich  eine  Art  Rettung  Forsters  vornehmen  können.  Dies  ge- 
schieht besonders  in  dem  zweibändigen  Werke  „Georg  Forster  nach 
seinen  Originalbriefen"  (Dortmund  1915),  dessen  erster  philologisch- 
textkritischer  Teil  die  zahlreichen  bewußten  Verstümmelungen,  Verfäl- 
schungen und  schiefen  Redaktionen  der  von  Forsters  Witwe  Therese 
und  deren  zweitem  Gatten  L.  F.  Huber  besorgten  Ausgabe  aufdeckt  und 
damit  sowohl  Forsters  politische  wie  menschliche  Ehre  wieder  herstellt, 
während  der  zweite  historisch -biographische  Teil  die  Lebensgeschichte 
Forsters  und  besonders  die  Geschichte  seiner  unglücklichen  Ehe  auf 
dieser  Grundlage  neu  aufbaut.  Eine  historisch  -  kritische  Ausgabe  der 
Briefe  soll  folgen,  deren  Anfang  die  Veröffentlichung  von  „  Georg  Forsters 
Briefen  an  Chr.  Fr.  Voß"  (Dortmund  1915)  macht.  Von  besonderem 
Interesse  sind  schließlich  die  aus  dem  Besitze  A.  Leitzmanns  und  des 
Goethe-  und  Schillerarchivs  von  Leitzmann  und  Zincke  veröffentlichten 
Tagebücher  Forsters  (Berlin  1914),  das  englisch  geschriebene  von  der 
Reise  nach  Paris  (1777),  das  deutsche  von  der  Reise  von  Kassel  nach 
Wilna  (1784)  und  ein  drittes,  das  seine  Rückkehr  nach  Göttingen  zur 
Vereinigung  mit  Therese  schildert. 

In  die  klassische  und  nicht,  wie  es  gelegentlich  geschieht,  in  die 
romantische  Welt  ist  auch  Hölderlin  trotz  der  romantischen  Einschläge 
seiner  Persönlichkeit  und  Dichtung  einzureihen.  Nachdem  seit  langem 
vergeblich  eine  kritische  Ausgabe  seiner  sämtlichen  Werke  gefordert  worden 
war,  traten  unmittelbar  vor  dem  Kriege  gleich  zwei  auf  den  Plan,  von 
zwei  in  der  Hölderlinforschung  gleich  verdienstvoll  bewährten  Heraus- 
gebern besorgt  und  in  zwei  durch  ihre  buchtechnischen  Leistungen  gleich 

85 


ausgezeichneten  Verlagen  erschienen.  1913  legte  Norbert  vonHelling- 
rath,  der  1911  mit  einer  Münchener  Dissertation  über  Hölderlins  Pindar- 
übersetzungen promoviert  hatte,  den  ersten  Band  der  „Sämtlichen  Werke. 
Historisch-kritische  Ausgabe"  (München,  Georg  Müller;  jetzt  Propyläen- 
verlag) vor,  der  in  chronologischer  Anordnung  die  Gedichte  und  Briefe 
der  Frühzeit  brachte,  während  der  bald  nachfolgende  fünfte  Band  die 
Übersetzungen  und  Briefe  und  der  1916  erschienene  vierte  Band  der  auf 
sechs  Bände  berechneten  Ausgabe  die  Gedichte  und  Gedichtfragmente 
von  1800  — 1806  hinzufügte.  Franz  Zinkernagel,  der  sich  1907  mit 
einer  Arbeit  über  die  „Entstehungsgeschichte  von  Hölderhns  Hyperion" 
habilitierte,  trat  1914,  mit  dem  zweiten  Bande  beginnend,  mit  seiner 
kritisch- historischen  Ausgabe  „Hölderlins  Sämtliche  Werke  und  Briefe" 
(Inselverlag)  an  die  Öffentlichkeit  und  konnte  bis  heute  von  den  fünf 
vorgesehenen  Bänden  zwei,  die  Empedoklesbruchstücke  und  die  Über- 
tragungen sowie  den  Hyperion  mit  seinen  Vorstufen  und  eine  Reihe 
von  Aufsatzentwürfen  enthaltende  Bände  vorlegen.  Während  die  Hel- 
lingratsche Ausgabe  bereits  zu  jedem  Bande  umfängliche  Quellennach- 
weise, textkritische  Anmerkungen  und  Ergänzungen  sowie  Einleitungen 
ästhetisch -kritischen  Inhaltes  hinzufügt,  steht  der  von  Zinkernagel  für 
den  fünften  Band  vorgesehene  kritische  Apparat  noch  aus,  so  daß 
eine  Vergleichung  noch  nicht  möglich  ist.  —  An  Einzelstudien  liegen 
zu  Hölderlins  Hyperion  äußerst  wertvolle  „Stilkritische  Studien  zu 
dem  Problem  der  Entwicklung  dichterischer  Ausdrucksformen"  von 
A.  von  Grolmann  (1919)  vor,  in  denen  in  beachtenswerter  Weise  eigene 
methodische  Bahnen  beschritten  werden,  unter  Berücksichtigung  der 
psychol.-ästhetischen  Forschungen  von  W.  Hellpach  und  G.  Mehlis  und 
unter  der  Einwirkung  der  kunstgeschichtlichen  Grundbegriffe  Wölfflins. 
Ausgehend  von  den  seelischen  Grundlagen  Hölderlins,  die  Grolmann  für 
die  Eigentümlichkeiten  dieses  individuellen  Lebens  als  „Distanz  und 
Gegensatz",  für  die  Durchdringung  seiner  künstlerischen  Leistung 
als  „Naturerlebnis  und  Landschaftsbild"  formuliert,  sucht  er  Hölderlins 
„Bildgebung"  zu  erfassen.  An  der  Hand  einer  Fülle  von  Belegstellen 
vermag  Grolmann  die  einzelnen  Fassungen  der  Dichtung  in  überzeugen- 
der Weise  auf  seelische  Voraussetzungen  zurückzuleiten  und  die  an- 
schauliche „echte  Bildgebung"  der  früheren  Hyperionfassungen  von  der 
mehr  reflektierenden  der  Endfassung  zu  scheiden.  —  Ahnlich  wie  für 
die  Kleistforschung  liegt  für  die  Erkenntnis  Hölderlins  ein  klar  und 
schön  geschriebener  Aufsatz  Ernst  Cassirers  über  das  Thema  „Hölder- 
lin und  der  deutsche  Idealismus"  (Logos  7,  262/82;  8,  30/49)  vor,  der 
das  Verhältnis  des  Dichters  zu  dem  spekulativen  Idealismus  seiner  Zeit 
betrachtet,  zu  den  drei  Grundelementen :  Kant,  Spinoza,  Piaton,  und  den 
drei  Schöpfern  der  großen  philosophischen  Systeme:  Fichte,  Schelling 
und  Hegel.  In  vorbildlich  feinfühliger  Weise  geht  Cassirer  dabei  stets 
vom  Ganzen  Hölderlinscher  Welt-  und  Lebensauffassung  aus  mit  dem 
Resultat,  daß  der  Pantheismus,  den  Hölderlin  mit  seiner  Zeit  teilt,  bei 
ihm  eine  neue  und  eigene  Prägung  erhält  in  einer  seiner  lyrischen 
dichterischen  Individualität  entsprechenden  Dialektik  des  Gefühls,  gegeu- 

8f> 


über  der  Dialektik  der  Begriffe  des  philosophischen  Idealismus.  — 
Schließlich  ist  noch  auf  E.  Lehmanns  Programmschrift  (Landskron 
1916)  „Hölderlins  Oden"  hinzuweisen,  die  die  bisher  als  unzusammeu- 
hängende  Einzelwerke  angesehenen  Oden  der  Reifezeit  (ebenso  wie  die 
Jugendhymnen,  die  Jugendoden  und  die  Frankfurter  Elegien)  als  ein 
kunstvoll  aufgebautes  Ganze  zu  erweisen  sucht,  das  sich  in  sechzehn 
kleinere  Reihen  bzw.  sechs  Gruppen  einteilen  lasse.  Den  Ausgangs- 
punkt für  die  Gruppierung  dürften  dabei  einige  einzeln  entstandene 
Oden  ergeben  haben,  von  denen  aus  inhaltlich  und  formal  die  Reihe 
fortgesetzt  wurde,  so  daß  für  die  Erklärung  der  einzelnen  Oden  das 
Einzelerlebnis  gegenüber  dem  inneren  Fortgang  des  Gedankengehaltes 
vielfach  nur  eine  sekundäre  Bedeutung  haben  kann.  Wenn  es  Lehmann 
auch  nicht  immer  gelingt,  den  Eindruck  des  Konstruktiven  zu  ver- 
meiden, so  vermag  er  doch  vieles  durch  inhaltliche,  formale  und  metrische 
Kriterien  durchaus  überzeugend  zu  gestalten,  wie  denn  diese  Betrach- 
tungsweise ja  neuerdings  auch  von  Brecht  mit  Erfolg  für  die  tiefere 
Erkenntnis  der  Lyrik  K.  F.  Meyers  in  Anwendung  gebracht  worden  ist. 
Während  Hölderlins  Kunst,  trotz  der  begeisterten  Bewunderung 
einzelner  Kreise,  doch  eigentlich  erst  in  der  deutschen  Dichtung  um  die 
Wende  des  20.  Jahrhunderts  wesensverwandten  Nachklang  gefunden 
hat,  sind  die  Schöpfungen  Jean  Paul  Richters  mitbestimmend  für  die 
ganze  weitere  Entwicklung  der  erzählenden  Dichtung  des  19.  Jahr- 
hunderts geworden.  Mit  dieser  Tatsache  steht  in  seltsamem  Gegensatz, 
daß  die  literarwissenschaftliche  Forschung  sich  erst  seit  etwa  1900  ein- 
gehender mit  den  mannigfachen  Problemen  dieses  eigenwilligen  Geistes 
auseinanderzusetzen  beginnt.  Von  den  zwei  vorliegenden  Arbeiten  ist 
besonders  die  Gießener  Dissertation  von  O.  Lenz:  „Jean  Paul  Friedrich 
Richter  und  die  zeitgenössische  Kritik"  (1916)  fördersam.  Auf  Grund 
eines  sorgfältig  gesammelten  und  im  zweiten  Teile  der  Arbeit  mitgeteilten 
Urkundenmaterials ,  das  alle  in  den  zeitgenössischen  Organen  wieder- 
gegebenen Rezensionen  heranzieht  und  Jean  Paul  in  seiner  Stellung  zur 
Kritik  vorführt,  zieht  der  Verfasser  im  ersten  Teile  die  Ergebnisse  aus 
den  Urkunden  in  übersichtlicher  Gruppierung  zusammen,  indem  er  ein- 
mal in  historischer  Darstellung  die  Aufnahme  Jean  Pauls  bei  den  Zeit- 
genossen schildert  und  zum  andern  eine  systematische  Betrachtung 
darüber  gibt,  was  die  Zeitgenossen  an  Jean  Paul  gelobt  und  was  sie 
getadelt  haben.  —  V.  Bachmann  unternimmt  in  seiner  Erlanger 
Dissertation  (1915)  den  Versuch,  „Die  religiöse  Gedankenwelt  Jean 
Pauls"  aufzuzeigen.  Er  verfolgt  die  Entwicklung  von  der  pietistisch 
gefärbten  Frömmigkeit  des  Elternhauses  durch  die  inneren  Kämpfe  der 
Universitätsjahre,  die  einen  ziemlich  starken  polemischen  Zug  einprägen, 
bis  zur  Ausweitung  des  stets  festgehaltenen  allgemein  religiösen  Zuges 
zu  einem  christlichen  Humanismus  auf  der  Grundlage  des  Gottes-  und 
Unsterblichkeitsglaubens.  Abseits  von  Kirchenmauern  und  Koufessions- 
grenzen  soll  ein  großes  Glaubens-  und  Liebesreich  entstehen,  das  alle 
Christi  Nachfolgenden  umfassen  wird.  Der  Zusammenhang  mit  Herder- 
schen  Ideen  wird  dabei  richtig  empfunden  und  die  große  Wirkung  auf 

87 


die  Zeitgenossen  dürfte  zum  Teil  tatsächlich  aus  dem  rein  Gemütvollen 
und  Religiösen  in  seinen  Schriften  erklärt  werden.  Zu  weit  dürfte  es 
dagegen  doch  wohl  gehen,  wenn  Jean  Paul  als  Vertreter  eines  über- 
irdischen Ideals  in  einen  ausgesprochenen  Gegensatz  zu  den  Vertretern 
der  kritischen  Philosophie  und  dem  „Asthetizismus"  der  Klassiker  ge- 
stellt wird. 

Zum  Schlüsse  dieser  letzten  Stilepoche  des  18.  Jahrhunderts  sei 
nachdrücklich  auf  drei  Werke  hingewiesen,  deren  Problemstellung  einen 
Längsschnitt  durch  den  ganzen  Zeitraum  ergibt  und  die  Gesamtentwick- 
lung in  ihren  Hauptzügen  dadurch  besonders  deutlich  aufzeigt.  Zum 
großen  Teil  Neuland  bearbeitet  Christiane  T  ouaillon  in  ihrem  um- 
fangreichen Werk  „Der  deutsche  Frauenroman  des  18.  Jahrhunderts" 
(Wien  und  Leipzig  1919).  Auf  Grund  einer  eingehenden  Lektüre  (wohl 
über  100  Bände!)  jener  ausgedehnten,  bis  heute  von  der  Literaturgeschicht- 
schreibung meist  nur  wenig  beachteten,  von  Frauen  verfaßten  Unter- 
haltungsepik untersucht  sie  nacheinander  den  empfindsamen,  rationali- 
stischen und  klassizistischen  Frauenroman  sowie  die  romantischen  Ele- 
mente, die  sich  gegen  die  Jahrhundertwende  vereinzelt  bemerkbar  machen. 
Dabei  werden  die  Hauptvertreterinnen  jeder  einzelnen  Gattung  geschickt 
herausgehoben  und  gegen  die  weniger  bedeutsamen  Verfasserinnen  ab- 
gesondert, so  daß  die  empfindsame  Sophie  la  Roche,  die  Rationalistin 
Benedikte  Naubert,  die  auf  dem  Boden  des  Klassizismus  stehende  Caro- 
line von  Wolzogen  mit  Charlotte  von  Kalb  und  Sophie  Mereau  auch  in 
ihrer  individuellen  Eigenart  klar  umrissen  werden.  Das  ausführliche 
Auguste  Fischer  gewidmete  Kapitel  weist  zum  erstenmal  nachdrücklich 
auf  diese  bisher  so  gut  wie  unbekannte,  menschlich  sympathische  und 
sittlich  hochstehende  Frau  und  begabte  Schriftstellerin  hin.  —  Während 
Frau  Touaillons  Forschungen  naturgemäß  durch  ihre  stoffliche  Bedingt- 
heit sich  in  den  Kreisen  der  literarischen  Mittelmäßigkeit  bewegen  und 
damit  einen  sehr  erwünschten  Beitrag  zu  der  leider  immer  noch  unge- 
schriebenen Geschichte  der  deutschen  Unterhaltungsliteratur  abgeben, 
sind  zwei  andere  Werke,  die  dem  Wirken  und  Schaffen  führender  Geister 
nachspüren,  von  geistiger  Höhenluft  erfüllt.  So  bieten  die  beiden  Bände 
von  H.  Korffs  Werk  „Voltaire  im  literarischen  Deutschland  des  18.  Jahr- 
hunderts" (Heidelberg  1918)  einen  hervorragenden  Beitrag  zu  einer 
Geschichte  des  deutschen  Geistes  von  Gottsched  bis  Goethe.  Glänzend 
methodisch  sowohl  wie  stilistisch  ist  die  dreifach  gestellte  Aufgabe  ge- 
löst: die  Rolle  Voltaires  im  literarischen  Deutschland  des  18.  Jahrhun- 
derts umfassend  darzustellen,  sodann  mit  dieser  Geschichte  Voltaires  als 
einem  typischen  Beispiel  die  Geschichte  des  französischen  Klassizismus, 
der  Aufklärung  und  des  gallischen  Geistes  bei  den  Deutschen  zu  ver- 
anschaulichen und  endlich  diese  äußere  Geschichte  als  die  Geschichte 
einer  inneren  Wandlung  des  deutschen  Geistes  von  Gottsched  bis  Goethe 
zu  verstehen.  In  fünf  großen  Hauptabschnitten  (Voltaire  als  klassi- 
zistischer Autor,  Voltaire  als  fortschrittlicher  Autor,  Voltaire  als  gal- 
lischer Autor,  Voltaire  als  Popanz,  Voltaire  als  Klassiker)  wird  auf 
fast  800  vSeiten  die  gewaltige  Wirkung  Voltaires  nach  allen  Seiten  hin 


in  ihrem  Auf  und  Ab  ausgemessen  mit  folgendem  Ergebnis :  Voltaire  als 
klassizistischer  Autor  stand  im  Zenith  seines  Ruhmes  am  Anfange  seines 
Auftretens,  auf  tiefstem  Nullpunkte  im  letzten  Drittel  des  Jahrhunderts  und 
erst  um  1800  ist  sein  Ansehen  wieder  gehoben  unter  dem  Einfluß  einer 
allgemeinen  steigenden  Tendenz  des  Klassizismus.  Voltaire  als  fortschritt- 
licher Autor  begann  seinen  Aufstieg  gegen  die  Widerstände  des  herrschen- 
den Alten,  durchbrach  sie,  stand  siegreich  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts, 
ward  aber  überwunden  durch  eine  rückläufige  Bewegung,  die  den  Fortschritt 
wollte  wie  er,  aber  auf  anderem  Wege  und  mit  anderen  Zielen.  Vol- 
taire als  gaUischer  Autor  endlich  fand  im  ganzen  wachsendes  Verständnis 
selbst  beim  deutschen  Publikum,  hatte  aber  in  den  siebziger  Jahren  eine 
schwere  akute  Krisis  zu  bestehen,  die  sich  sowohl  gegen  seinen  Klassi- 
zismus, wie  gegen  sein  Autklärertum  und  seine  gallische  Wesensart  wandte, 
ihn  zum  Anti-Christ,  Anti-Homer,  Anti-Genie  stempelte  und  sein  Bild  zur 
Fratze  entstellte,  bis  er  im  Stadium  schwindender  Aktualität  historisch 
gewürdigt  wurde.  Dies  kommt  als  eine  Art  stiller  Voltaire-Renaissance 
in  Goethes  Übersetzung  des  Tankred  und  des  Mahomet  und  in  Schillers 
dazu  gehörigen  Stanzen  zum  Ausdruck,  wobei  aber  zugleich  Schillers 
Jungfrau  die  produktive  Überwindung  dieser  historisch  gewordenen  Welt 
zeigt.  —  Denselben  geistesgeschichtlichen  Prozeß  der  Auseinandersetzung 
des  deutschen  Geistes  mit  den  beherrschenden  fremden  Einflüssen  des 
18.  Jahrhunderts  zeigt  Max  Scherrers  Werk  „Kampf  und  Krieg  im 
deutschen  Drama  von  Gottsched  bis  Kleist*^  (Zürich  1919),  das  sich  mit 
seiner  sicheren  Beherrschung  der  Literatur  eines  weitgespannten  Zeit- 
raumes, seiner  Stoff'ülle  und  der  geistigen  Durchdringung  derselben  KorfFs 
schöner  Leistung  ebenbürtig  an  die  Seite  stellt.  Noch  deutlicher  wie  bei 
KorfF,  der  den  gesamten  geistigen  Komplex  Voltaire  behandelt,  zeigt 
sich  bei  dieser  ganz  auf  das  Formal-Technische  gerichteten  Untersuchung 
eines  einzelnen  literarischen  Stoffgebiets  die  Fruchtbarkeit  der  von  mir 
seit  Jahren  geforderten  und  im  Lehrbetrieb  nach  Möglichkeit  berück- 
sichtigten stilvergleichenden  Methode.  Überraschend  deutlich  tritt  da- 
durch derselbe  auch  bei  KorfF  aufgezeigte  Wandel  von  Gottsched  zu 
Goethe  zutage:  die  Auseinandersetzung  des  shakespeareschen  mit  dem 
französischen  Tragödienideal,  die  Wandlung  von  dem  unversöhnlichen 
Gegensatz:  Gottsched  —  Götz  zu  einer  neuen  Klassik,  in  der  die  ge- 
schlossene Form  der  französischen  Tragödie  soweit  geweitet  wird,  daß 
die  Sachfülle  Shakespeares  in  sie  eingehen  kann  und  damit  eine  „spe- 
zifisch  dramatische  Organisierung"  des  Krieges  möglich  wird. 

§  9.   Romantik 

An  der  Spitze  der  literarischen  Erscheinungen  aus  dem  Gebiete  der 
Romantik  ist  Walz  eis  Neuausgabe  des  Grundwerkes  aller  deutschen 
Romantikforschung  zu  verzeichnen:  „Rudolph  Haym:  Die  roman- 
tische Schule.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deutschen  Geistes.  3.  Auf- 
lage besorgt  v.  O.  Walzel"  (Berlin  1914).  Waizel  hat  Hayms  Text 
pietätvoll   erhalten   und   nur    dessen  Nachträge   in   den  Text  eingefügt. 

89 


Wo  Neudrucke  erschienen  sind,  wurden  Hayms  Verweisungen  auf  diese 
bezogen;  ebenso  wurden  die  Ausgaben  von  Zeugnissen  eingeführt,  die 
Haym  nur  in  handschriftlicher  Fassung  benutzen  konnte.  Walzeis  eigene 
Ergänzungen  sind  als  Nachträge  gegeben;  besonderen  Wert  darf  der 
bibliographische  Anhang  beanspruchen,  der  alle  wichtigen  Werke  über 
die  von  Jrlaym  behandelten  Probleme  verzeichnet. 

Die  Einzelforschung  ist  in  den  Berichtsjahren  mit  überaus  zahl- 
reichen Arbeiten  in  die  Erscheinung  getreten,  und  zwar  ist  diese  so- 
wohl zusammenfassenden  Darstellungen  einzelner  Probleme  wie  Sonder- 
untersuchungen über  die  verschiedenen  Vertreter  der  Romantik  zugute 
gekommen.  Überblickt  man  die  Gesamtresultate  der  hier  geleisteten 
Arbeit,  so  muß  die  Schrift  von  S.  Elkuß  „Zur  Beurteilung  der  Ro- 
mantik und  zur  Kritik  ihrer  Forschung",  die  nach  dem  Tode  des  Ver- 
fassers Franz  Schultz  mit  einer  schönen  Würdigung  des  jungen,  viel- 
versprechenden Forschertalentes  herausgegeben  hat(  1018),  in  ihrer  scharfen 
Polemik  gegen  die  bisherige  Forschungsmethode  doch  vielfach  als  jugend- 
lich temperamentvolle  Übertreibung  bezeichnet  werden.  Andererseits 
aber  verdient  manche  methodologisch-kritische  Erwägung  trotz  der  bis- 
weilen unzureichenden  Begründung  ernste  Beachtung.  So  vor  allem  der 
Hinweis  auf  die  bisher  zu  einseitig  literarische  Betrachtung  der  Früh- 
romantik, deren  tiefere  Tendenzen  durch  eine  stärkere  Berücksichtigung 
der  romantischen  Staats-  und  Rechtswissenschaft,  Politik,  Geschicht- 
schreibung und  Religionsphilosophie  deutlicher  hervortreten  würden.  In 
diesem  Sinne  gibt  Elkuß  selbst  in  seinen  Studien,  die  von  Adam  Müllers 
Ästhetik  ihren  Ausgang  genommen  haben,  eine  glänzende  Analyse  der 
widerspruchsvollen  Prinzipien  von  Kants  Religionsphilosophie  und  einen 
energischen  Hinweis  auf  den  Engländer  E.  Burke  und  dessen  Einfluß 
auf  die  deutsche  Geistesgeschichte,  den  inzwischen  Frieda  Braune 
(1917)  ausführlich  nachgewiesen  hat.  —  Über  F.  Gieses  auf  gründ- 
licher psychologischer  Schulung  und  großer  Belesenheit  beruhendes  Buch : 
„Der  romantische  Charakter.  I.  Die  Entwicklung  des  Androgynen- 
problems  in  der  Frühromantik"  (1919)  wird  sich  abschließend  erst  nach 
dem  Erscheinen  des  zweiten  Teiles  urteilen  lassen.  Mit  Friedrich  Schlegel 
im  Mittelpunkt,  dessen  Formulierung  „Nur  selbständige  Weiblichkeit, 
nur  sanfte  Männlichkeit  ist  gut  und  schön"  die  prägnanteste  Fassung 
des  Problems  darstellt,  gibt  dieser  erste  Teil  die  Entwicklung  jener 
romantischen  Lehre  von  Humboldt  über  F.  Schlegel,  Schleiermacher, 
NovaHs  und  Ritter  bis  zu  Baader.  —  Paula  Scheidweilers  Dar- 
stellung „Der  Roman  der  deutschen  Romantik"  (Leipzig  1916)  ver- 
sucht die  frühromantischen  Romane  (Lucinde,  Florentin,  Sternbalds  Wan- 
derungen, Godwi,  Ofterdingen  und  Hyperion)  als  einen  neuen  Typus, 
den  „musikalischen"  herauszustellen,  ihn  gegen  den  aus  plastischer  Ge- 
staltung erwachsenen  klassischen  Roman  (Wilhelm  Meister)  abzugrenzen 
und  seine  allmähliche  Auflösung  in  der  Spätromantik  von  EichendorfF 
bis  Immermann  aufzuzeigen.  Dabei  wird  im  Einzelnen  manches  Be- 
achtenswerte vorgebracht,  im  Ganzen  aber  muß  dieser  Konstruktions- 
versuch abgelebt  werden.  —  Von  gutfundierter  ethischer  und  erkenntnis- 

90 


theoretischer  Grundlage  her  behandelt  P.  Vogel,  ein  Schüler  Johannes 
Volkelts,  „Das  Bildungsideal  der  deutschen  Frühromantik",  wobei  er 
—  in  der  Beschränkung  auf  die  Jugendschriften  F.  Schlegels  und 
Schleiermachers  und  auf  die  Werke  Hardenbergs,  Wakenroders  und 
Schellings  —  alle  in  Frage  kommenden  geistigen  Strömungen  erörtert 
und,  ohne  gerade  viel  Neues  zu  bringen,  in  der  klaren  Herausarbeitung 
des  Wesentlichen  eine  brauchbare  Leistung  bietet. 

Dagegen  vermag  A.  Horwitz  in  seiner  zum  Teil  auch  als  Heidelberger  Disser- 
tation erschienenen  Abhandlung  über  die  These:  „Das  Ich-Prohlem  der  Romantik. 
Die  historische  Stellung  F.  Schlegels  inneihalb  der  modernen  Geistesgeschichte"- 
(München  1916)  trotz  des  anspruchsvollen  Titels  weder  ideen geschichtlich  noch 
psychologisch  irgendwie  über  die  bisherige  Forschung  hinauszukommen. 

„Die  romantische  Ironie"  wird  in  einer  Züricher  Dissertation  von 
F.  Ernst  (1917)  in  zusammenfassender  Betrachtung  untersucht.  Der 
erste  Teil  der  Arbeit  behandelt  den  Begriff  und  die  Theorie  des  Be- 
griffes. Bei  F.  Schlegel  zuerst  formuhert ,  findet  diese  Theorie  nach 
anfänglicher  Zustimmung  bald  ständig  wachsenden  Widerspruch,  der 
von  den  Freunden  Schlegels  über  Solger  bis  zu  dem  endgültigen  Ver- 
nichtungsurteil Hegels  führt.  Der  zweite  Teil  gilt  der  Verwendung  der 
romantischen  Ironie  in  der  Dichtung,  wo  sie  von  Tiecks  zweiter  Epoche 
an  eine  entscheidende  Anwendung  bei  Brentano  und  E.  T.  A.  Hoffmann 
bis  zu  Heines  Tode  hin  erfahrt.  —  Stand  bei  diesen  letztgenannten 
Arbeiten  schon  Friedrich  Schlegel  zumeist  im  Mittelpunkt,  so  wendet 
sich  die  Münchner  Dissertation  von  E.  Lewalter  „F.  Schlegel  und 
sein  romantischer  Witz"  (1917)  ausschließlich  diesem  Führer  der  früh- 
romantischen Bewegung  zu.  Angeregt  und  geschult  durch  einen  unserer 
besten  Kenner  literarisch-ideengeschichtlicher  Probleme,  F.  Unger,  dringt 
L.  ungleich  tiefer  als  die  obengenannte  Arbeit  von  Ernst  in  diese 
schwierigen  Gedankengänge  der  romantischen  Ideenwelt  ein.  Nach  einer 
klärenden  Erörterung  des  Verhältnisses  von  romantischem  Witz  und 
romantischer  Ironie,  deren  Kenntnis  der  Züricher  Arbeit  sehr  hätte  zu- 
gute kommen  können,  wird  der  Witz  einmal  als  konstitutives  Prinzip 
der  Schlegelschen  Psyche  aufgezeigt  und  dann  in  seiner  Bedeutung  für 
die  Entwicklung  des  Schriftstellers  charakterisiert.  Eine  Bestimmung 
der  geschichtlichen  Stellung  des  Witzes  beschließt  die  wertvolle  Arbeit.  — 
Eine  weitere  Münchner  Dissertation  (1917)  ist  der  „Un Verständlichkeit 
der  Aphorismen  F.  Schlegels  im  , Athenäum'  und  im  ,Lyceum  der 
schönen  Künste'"  gewidmet.  Der  Verfasser,  H.  v.  Zastrow,  weist 
darin  die  Grundursache  der  im  Interesse  der  geistigen  Anregung  der 
Leser  beabsichtigten  Unverständlichkeit  in  der  reahstisch  -  idealistischen 
Mischung  der  Betrachtungsweise  und  der  sich  daraus  ergebenden  Ironie 
und  Paradoxie  nach.  Die  Form  der  Aphorismen  wird  charakterisiert 
einmal  als  Gegensatz  der  persönlichen  stilistischen  Auffassung  zu  der 
landläufigen  sprachlichen  Bedeutung,  dann  als  logischer  Widerspruch  in 
der  konventionell  begriffenen  Aussage,  wozu  emphatische  und  hyper- 
bolische Wendungen,  Inversion,  abstrakte  Bilder  usw.  treten.  Inhaltlich 
behandeln  diese  Aphorismen  metaphysische  Probleme,  Fragen  des  Indivi- 

91 


dualitätsbegriflfes  und  das  Unzulängliche  der  bestehenden  und  zu  über- 
windenden Disharmonie  von  Geist  und  Stoff.  —  Ebenfalls  aus  der 
Münchner  Schule  hervorgegangen  und  als  wertvoller  Beitrag  zur  Schlegel- 
forschung zu  betrachten  ist  die  Arbeit  von  Johanna  Krüger 
„F.  Schlegels  Bekehrung  zu  Lessing"  (Forschgn.  z.  n.  Litg.,  H.  45),  die 
die  Wandlungen  Schlegels  in  seiner  Stellung  zu  Lessing  von  der  völligen 
Ablehnung  des  „seichten  Aufklärers"  bis  zu  der  starken  Begeisterung, 
wie  sie  in  seinem  berühmten  Lessingaufsatz  des  „Lyceuras"  von  1797 
zutage  tritt,  aufzeigt  und  damit  die  Münsterische  Dissertation  von 
B.  Bolle  „F.  Schlegels  Stellung  zu  Lessing"  (1912),  die  den  Nach- 
druck auf  die  späteren  Jahre  gelegt  hatte,  glücklich  ergänzt.  —  7,Die 
Stellung  F.  Schlegels  und  der  anderen  deutschen  Romantiker  zu  Goethes 
Wilhelm  Meister  im  Lichte  des  Ur-Meister"  wird  in  einer  Kieler  Disser- 
tation von  K.  S.  Galabo  ff  recht  ansprechend  abgehandelt.  Aus  der 
veränderten  Stellung  Goethes  zu  seinen  Gestalten  des  Urmeisters  und 
des  veröffentlichten  Werkes  wird  der  Kampf,  den  die  Romantiker  ent- 
gegen ihrer  früheren  Begeisterung  späterhin  gegen  den  Wilhelm  Meister 
führten,  daraus  erklärt,  daß  sie  intuitiv  die  Grenze  zwischen  der  vor- 
italienischen und  der  nachitalienischen  Arbeit  herausfühlten.  So  konnte 
F.  Schlegel  die  Neutralität,  mit  der  Goethe  die  Gestalten  seines  Ur- 
meisters betrachtet  hatte  und  die  ironisch- humorvolle  Behandlung  seines 
Helden  in  dieser  ersten  Fassung  auch  in  der  veränderten  Form  der 
„Lehrjahre"  noch  als  Ausdruck  „romantischer  Ironie"  erscheinen;  mit 
der  Wendung  ins  Praktische  und  dem  Streben  nach  bürgerlicher  Tüch- 
tigkeit dagegen  mußte  das  abfällige  Urteil  einsetzen. 

Dem  Politiker  F.  Schlegel  ist  das  Buch  von  R.  Volpers  „F.  Schlegel  als 
politischer  Denker  und  deutscher  Patriot"  (Berlin  1917)  gewidmet,  das  allzu  breit 
von  der  psychologisch-biographischen  Seite  her  die  Entwicklung  des  Politikers  zunächst 
bis  zu  seiner  Übersiedelung  nach  AVien  und  den  Eintritt  in  den  österreichischen 
Staatsdienst  verfolgt,  wobei  in  der  Analyse  der  Kölner  Vorlesungen  über  Politik  und 
Staat  und  bei  der  Behandlung  der  politischen  Gedichte  manches  für  Bibliographie  und 
Interpretation  Wertvolle  herausspringt,  während  andererseits  eine  deutlich  spürbare 
politisch-religiöse  Tendenz  des  Verfassers  manche  Schlußfolgerungen  mit  Vorsicht  auf- 
zunehmen rät.  Ganz  unzuverlässig  sind  die  Zitate  und  die  aus  den  Handschriften 
abgedruckten  Stellen,  die  vielfach  auch  die  Quellenangabe  vermissen  lassen.  —  Gleich- 
falls nicht  ganz  frei  von  Tendenz,  aber  in  ihrer  positiven  Beurteilung  des  späteren 
Schlegel,  zu  deren  Stützung  wertvolles  neues  Material  beigebracht  wird,  durchaus  zu 
begrüßen  ist  die  als  Vereinsgabe  der  Görresgesellschaft  (Köln  1918)  erschienene 
Schrift  des  katholischen  Historikers  H.  Finke  „Über  Friedrich  und  Dorothea  Schlegel", 
dem  die  Forschung  auch  die  an  derselben  Stelle  1917  erschienene  wertvolle  Material- 
sammlung „Briefe  an  Fr.  Schlegel"  (meist  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  seines  Lebens 
angehörend)  verdankt.  —  Auch  die  schöne  Publikation  von  E.  Wieneke  „Caroline  und 
Dorothea  Schlegel  in  Briefen"  (Weimar  1914),  in  geschickter  Auswahl  für  einen  wei- 
teren Kreis  berechnet,  bringt  für  die  Kenntnis  der  Persönlichkeit  Dorotheas  durch 
Verwertung  von  teils  ungedrucktem,  teils  revidiertem  Material  auch  der  Forschung 
erwünschte  Bereicherung,  während  für  die  Briefe  Carolinens  nach  wie  vor  auf  die 
Ausgabe  Erich  Schmidts  als  die  grundlegende  zu  verweisen  ist. 

Der  von  W.  Kirfel  herausgegebene  Briefwechsel  A.  W.  v.  Schlegels 
mit  Christian  Lassen  (Bonn  1914)  zeigt  in  91  Briefen  aus  den  Jahren 
1821 — 41  hauptsächlich  den  Anteil,  den  Schlegel  an  der  Entwicklung 
der  Indologie  genommen  hat.  —  „  A.  W.  Schlegels  Verhältnis  zur  spani- 

92 


sehen  und  portugiesischen  Literatur"  wird  in  einer  romanistischen  Arbeit 
von  H.  Schwartz  (Halle  1914)  eingehend  in  ihrer  Entwicklung  auf- 
gezeigt, wobei  vor  allem  die  Übersetzungen  Schlegels  unter  Berück- 
sichtigung des  spanischen  Urtextes  nach  ihrer  metrischen,  formalen  und 
inhaltUchen  Seite  kritisch  untersucht  werden. 

Die  Arbeit  von  Lavinia  Mazzuchottis  über  „A.  "W.  Schlegel  und  die 
italienische  Literatur  (Zürich  1917)  war  mir  nicht  zugänglich. 

Den  wertvollsten  Beitrag  zur  biographischen  Kenntnis  A.  W.  Schlegels 
und  der  zeitgenössischen  politischen  Ideengänge  bietet  0.  Brandts  auf 
eingehenden  Studien  des  historisch  -  politischen  und  literarhistorischen 
Materials  beruhendes  Buch  „A.  W.  Schlegel  und  die  Politik"  (Stuttgart 
1919),  das  bisher  kaum  oder  überhaupt  nicht  verwendete  ungedruckte 
Quellen  aus  dem  handschriftlichen  Nachlaß  Schlegels  in  der  sächsischen 
Landesbibhothek  zu  Dresden,  der  Universitätsbibliothek  zu  Bonn,  der 
preußischen  Staatsbibliothek  zu  Berlin  sowie  aus  Varnhagenschen  Papieren 
verwerten  konnte.  Als  Resultat  der  Entwicklung,  innerhalb  deren  be- 
sonders Schlegels  schwedische  politische  Dienstjahre  zum  erstenmal  zu- 
sammenfassend zur  Darstellung  gelangen,  zeigt  sich  eine  Kreuzung 
nationalstaatlicher  mit  kosmopolitischen  und  deutsch  -  universalistischen 
Gedanken,  wobei  aber  Schlegel  niemals  als  rückständig  im  Kosmopoli- 
tismus oder  einseitig  im  Patriotismus  befangen  erscheint. 

Für  die  Tieck-Forschung  ist  an  erster  Stelle  das  als  Eröffnungsband 
der  Neudrucke  deutscher  Literaturwerke  des  18.  und  19.  Jahrhunderts, 
der  neuen  von  Leitzmann  und  Oehlke  herausgegebenen  Sammlung,  er- 
schienene „Buch  über  Shakespeare.  Handschriftliche  Aufzeichnungen 
von  L.  Tieck"  (Halle  1920)  zu  nennen.  Durch  seine  Frankfurter 
Dissertation  „L.  Tieck  und  das  alte  englische  Theater"  (1917),  von  der, 
soweit  ich  sehe,  bisher  leider  nur  die  beiden  Kapitel  „Tiecks  Studium 
des  alten  englischen  Theaters  im  Rahmen  seines  Lebens"  und  „Die 
romantische  Periode  in  Tiecks  Shakespeare -Kritik"  vorliegen,  ist  der 
Herausgeber  Henry  Ludeke  mit  bester  Vorbereitung  an  seine  Auf- 
gabe herangegangen.  Die  Einleitung  skizziert  mit  Hilfe  aller  bekannten 
Quellen  die  Entwicklung  des  Tieckschen  Planes,  der,  bereits  in  der 
Jugend  konzipiert,  den  Dichter  durch  sein  Leben  hindurch  bis  ins  hohe 
Mannesalter  begleitete,  bis  erst  der  Greis  die  Unerfüllbarkeit  seiner  in 
jugendlicher  Begeisterung  vorgenommenen  Aufgabe  sich  resigniert  ein- 
gestehen und  sillschweigend  Verzicht  leisten  mußte.  Zum  Abdruck  ge- 
langt der  umfangreiche  erste  Entwurf  von  1794,  „Kommentar  zu 
Shakespeare"  (364  S. !),  dem  sich  kürzere  Entwürfe  und  einzelne  Aus- 
arbeitungsversuche aus  den  Jahren  1796,  1800,  1810,  1815  und  1821 
anschließen. 

Eine  Pariser  Arbeit  von  J.  J.  A.  B  e  r  t  r  a  n  d  ,,L.  Tieck  et  le  theatre  espagnol" 
(1914)  war  mir  nicht  zugänglich. 

„L.  Tiecks  Beziehungen  zur  deutschen  Literatur  des  17.  Jahr- 
hunderts" geht  eine  von  Max  Herrmann  angeregte  Arbeit  (Greifswald 
1916)    nach,    deren   Verfasser   F.   Rieder  er   vor  allem   nachdrücklich 

93 


darauf  hinweist,  daß  Tiecks  Stellung  dieser  literarischen  Epoche  gegen- 
über keineswegs  nur  aus  seinen  Aufsätzen  erschlossen  werden  darf,  in 
denen  sie  sich  ihm  nur  als  Niedergang  zwischen  zwei  Höhepunkten  dar- 
stellte. Wie  schon  das  Vorhandensein  zahlreicher  Schriftsteller  des 
17.  Jahrhunderts  in  Tiecks  eigener  Bibliothek  beweist,  hat  er  ein  starkes 
Interesse  an  jener  so  manchen  Erscheinungen  der  Romantik  geistes- 
verwandten Literatur  bekundet;  vor  allem  für  die  volkstümlich-satirische 
Literatur  eines  Grimmeishausen,  Moscherosch  und  Christian  Weise  ver- 
mag R.  mannigfache  Beziehungen  nachzuweisen,  wie  sich  denn  auch 
der  Einfluß  der  geistlichen  Lyrik  des  17.  Jahrhunderts  etwa  in  den 
Jahren  1797  bis  1804  stark  bemerbar  macht.  —  Neben  diesen  über- 
wiegend philologisch  gerichteten  Untersuchungen  treten  uns  in  drei  wei- 
teren Arbeiten  mehr  Längsschnitte  ästhetischer  Art  durch  das  Gesamt- 
schaffen Tiecks  entgegen.  Von  der  Bonner  Dissertation  von  F.  Conen 
„Die  Form  der  historischen  Novelle  bei  L.  Tieck"  (1914)  gibt  der 
Teildruck,  der  mir  allein  vorlag,  nur  zwei  kurze  Kapitel  über  die 
Komposition  und  die  Darstellung  der  Charaktere  wieder;  die  Gießener 
Arbeit  von  L.  Faerber  „Das  Komische  bei  L.  Tieck"  (1918)  be- 
handelt an  der  Hand  der  Lippsschen  Formulierungen  die  Situations- 
und Charakterkomik,  den  Charakterhumor,  Burleske,  Satire  und  Ironie, 
vermag  aber  über  bloße  Materialsammlung  nicht  hinauszukommen.  Wert- 
voll dagegen  ist  die  aus  einer  Wiener  Dissertation  hervorgegangene 
Untersuchung  von  M.  Thalmann  über  „Probleme  der  Dämonie  in 
L.  Tiecks  Schriften"  (Forschg.  z.  n.  Litg.  53.  Bd.,  1919).  Die  Einleitung 
hebt  knapp  und  klar  die  seelischen  Voraussetzungen  hervor,  die  der 
Konzeption  des  Grauens  bei  Tieck  vorgearbeitet  haben  und  faßt  sie 
dahin  zusammen,  daß  Tieck  Periodiker  im  Leben  und  Schafien  war 
und  stark  unter  Störungen  des  körperlichen  und  seelischen  Gleich- 
gewichtes zu  leiden  hatte.  Aus  dieser  Veranlagung  wird  seine  Vorliebe 
für  psycho- physische  Probleme  und  sein  intuitives  Erfassen  fach  wissen- 
schaftlich-medizinischen Wissens  ebenso  abgeleitet  wie  seine  Beziehungen 
zum  Schicksalhaften  und  Dämonischen,  das  sich  nach  Th.  keineswegs 
nur  auf  die  Jugendperiode  beschränkt  (vgl.  das  1910  erschienene 
Buch  von  H.  Hammer  „Die  Anfänge  L.  Tiecks  und  seiner  dä- 
monisch-schauerlichen Dichtung"),  sondern  mit  Ausnahme  ganz  weniger 
Straußfederngeschichten  in  seiner  gesamten  Produktion  dargetan  werden 
kann.  Das  Schlußkapitel  zeigt  den  tiefen  Unterschied  auf  zwischen 
Tiecks  auf  den  Problemen  seelischer  Störung  oder  Steigerung  beruhen- 
den Darstellungen  und  den  mystisch  gefärbten  Bundesromanen  und 
Schauergeschichten  der  Zeit.  —  Hauptsächlich  als  Quellenforschung  stellt 
sich  Th.  Hertels  Marburger  Dissertation  „Über  L.  Tiecks  Getreuen 
Eckart  und  Tannenhäuser"  (1917)  dar.  Nach  der  Darlegung  der 
äußeren  Entstehungsgeschichte  zeigt  H.  die  innere  Entwicklung  aus  den 
verschiedenen  Sagenkreisen  auf,  wobei  die  Hinzufügung  des  wunder- 
baren Spielraannes  und  Rattenfängers  zu  den  schon  seit  langem  mit- 
einander verbundenen  Sagen  vom  getreuen  Eckart,  Tannenhäuser  und 
Venusberg  als  eigene  Erfindung  Tiecks  anzusprechen  ist.     Bei  der  fol- 

94 


genden  eingehenden  Quellenuntersuchung,  die  nur  für  die  Eckarthand- 
lung zu  positiven  Ergebnissen  führt,  ist  die  Gefahr  des  Nachweises  ura 
jeden  Preis  nicht  immer  vermieden  worden.  Gerade  bei  der  Tannen- 
häuserhandlung  würde  eine  Berücksichtigung  der  organischen  Veranlagung 
Tiecks  im  Sinne  der  obengenannten  Thalmannschen  Arbeit  sicher  zu 
weit  fruchtbareren  Ergebnissen  geführt  haben.  —  E.  Nippolds  Be- 
mühungen, „Tiecks  Einfluß  auf  Brentano '^  nachzuweisen  (Dissertation 
Jena  1915),  scheiden  nicht  scharf  genug  zwischen  dem,  was  tatsächlich 
auf  Einwirkung  zurückzuführen  ist,  und  dem,  was  eigener  Veranlagung 
entspricht  oder  zeitgenössisches  Allgemeingut  darstellt.  Dagegen  wird 
der  Höhepunkt  einer  deutlichen  Beeinflussung  um  1799/1800,  die  von 
dort  langsam  abnehmend  schließlich  völlig  überwunden  wird,  richtig  er- 
kannt. —  Der  Schwester  Tiecks  und  der  besonderen  Stellung,  die  sie 
unter  den  literarisch  tätigen  Frauen  des  älteren  Kreises  der  Romantik 
einnimmt^  widmet  M.  Breuers  Tübinger  Dissertation  „Sophie  Bernhard! 
geb.  Tieck  als  romantische  Dichterin"  (1915)  eine  eingehende  Unter- 
suchung, die  ein  gutes  Bild  jener  widerspruchsvollen  Persönlichkeit  und 
eine  klare  Darstellung  ihrer  dichterischen  Entwicklung  von  den  ersten 
ironisch  -  satirischen  Erzählungen  über  die  phantastischen  Traum-  und 
Märchendichtungen  zu  den  künslerisch  am  höchsten  stehenden  wirklich- 
keitsnahen und  zeitgeschichtlich  interessanten  letzten  Arbeiten  gibt  und 
damit  eine  Entwicklung  aufdeckt,  die  derjenigen  ihres  Bruders  fast 
parallel  läuft  und  die  sich,  bei  aller  Abhängigkeit  von  der  Romantik, 
selbständig  frei  von  deren  Auswüchsen  gehalten  hat. 

Über  Novalis  ist  mir  an  größeren  Darstellungen  nur  die  Arbeit  von 
K.  Wolterek  „Goethes  Einfluß  auf  Novalis'  Heinrich  von  Ofterdingen" 
(Dissertation  München  1914)  bekannt  geworden,  die,  entgegen  der  zu- 
meist üblichen  Meinung,  daß  Hardenbergs  Roman  ein  Manifest  gegen 
den  Wilhelm  Meister  darstelle,  nachzuweisen  sucht,  daß  Novalis  wohl 
unter  Tiecks  Einfluß  mit  einer  Polemik  gegen  Goethe  beginne,  vom 
sechsten  Kapitel  ab  dagegen  wieder  durchaus  unter  dem  positiven  Ein- 
flüsse Goethes  stehe  und  seinem  großen  Lehrmeister  viel  näher  komme 
als  die  romantischen  Romane,  die  für  gewöhnlich  dem  Gefolge  der  Lehr- 
jahre zugesellt  werden. 

Innerhalb  der  jüngeren  Romantik  steht  Brentano  im  Mittelpunkt 
der  vorliegenden  Forschungserscheinungen.  Leider  schreitet  die  große 
historisch  kritische  Ausgabe  der  „Sämtlichen  Werke",  die  in  Verbin- 
dung mit  einer  Reihe  erprobter  Mitarbeiter  von  Karl  Schüddekopf  (f ) 
herausgegeben  wurde,  nur  langsam  weiter.  Nachdem  seit  1909  in  ge- 
mächlicher Erscheinungsfolge  nur  der  vierte  (Romanzen  vom  Rosen- 
kranz), fünfte  (Godwi),  zehnte  Band  (die  Gründung  Prags)  und  die  beiden 
Teile  des  vierzehnten  Bandes  (Übersetzungen  und  religiöse  Schriften) 
hervorgetreten  waren,  liegen  nunmehr  auch  die  Märchen,  von  R.  Benz 
herausgegeben,  in  drei  Bänden  vor  (1914  — 1917).  Durch  die  Heran- 
ziehung der  erst  kürzlich  wiedergefundenen  Böhmerschen  Abschrift  von 
1831  konnte  der  Text  gegenüber  der  Görresschen  Ausgabe  wesentlich 
verbessert  und  durch  die  bis  vor  kurzem  noch   unbekannte   frühe  Fas- 

95 


sung  des  Fanterlieschen  bereichert  werden.  Der  erste  Band  bringt  die 
Rheinmärchen  von  1811  mit  den  Resten  früherer  Konzepte  und  späterer 
Umarbeitungen  als  Anhang,  der  zweite  die  italienischen  Märchen  von 
1805 — 1817  in  der  ursprünglichen  Gestalt,  der  dritte  die  beiden  großen 
Umarbeitungen  der  italienischen  Märchen  aus  der  Zeit  nach  1836  und 
den  „Gockel"  mit  den  Bildern  der  Ausgabe  von  1838.  Die  Einleitung 
gibt  unter  Benutzung  der  bisherigen  Literatur  eine  gute  Charakteristik 
des  Märchenerzählers  und  Sammlers  Brentano  und  bespricht  die  ein- 
zelnen Märchengruppen,  überall  sorgfältig  Chronologie  und  Quellen  be- 
stimmend. Ausführlich  werden  dann  die  ersten  Veröflfentlichungen,  die 
Herausgabepläne,  die  letzten  Umarbeitungen  und  die  Herausgabe  des 
„Gockel"  behandelt  und  weiterhin  die  nach  Brentanos  Tode  1842  durch 
Görres  erfolgte  Edition  charakterisiert.  Einigen  Bemerkungen  über  die 
bisherigen  Schicksale  der  Märchen,  über  Erfindung  und  Form  schließt 
sich  eine  kurze  Ausführung  über  Gotik  und  Renaissance  an,  in  der 
Benz  seine  bekannten  Ansichten  über  Klassizismus  und  Romantik  zum 
Ausdruck  bringt. 

Da  der  Abschluß  dieser  Gesamtau.sgabe  wohl  noch  in  weiter  Ferne  liegt,  ist 
das  Erscheinen  der  von  Max  Preitz  besorgten  und  erläuterten  dreibändigen  Brea- 
tanoausgabe  des  Bibliographischen  Instituts  sehr  zu  begrüßen.  Die  Auswahl  betont 
mit  Recht  die  Lyrik  (wobei  freilich  die  Romanzen  vom  Rosenkranz  nicht  hätten  fehlen 
dürfen)  und  Märchendichtung,  läßt  aber  leider  eine  Probe  der  dramatischen  Kunst 
Brentanos  vermissen.  Unter  geschickter  Verarbeitung  des  vorhandenen  Materials  wird 
ein  anschauliches  Lebensbild  gegeben  und  durch  besondere  Einleitungen  und  gründ- 
liche Anmerkungen  das  Verständnis  des  Dichters  Überali  gefördert. 

Neue  wertvolle  Aufschlüsse  über  die  Persönlichkeit  Brentanos  er- 
geben sich  aus  R.  Steigs  (f)  Sammlung  des  Briefwechsels  zwischen 
Cl.  Brentano  und  den  Brüdern  Grimm  (Stuttgart  1914),  einer  Art 
Supplementband  zu  dem  für  die  gesamte  Romantikforschung  grund- 
legenden Werke  desselben  Herausgebers,  das  unter  dem  Titel  „Achim 
von  Arnim  und  die  ihm  nahe  standen"  früher  erschienen  war  (Band  I 
1894;  H  1904),  wobei  in  der  schon  in  jenen  älteren  Publikationen 
R.  Steigs  zutage  tretenden  Art  der  Darstellung,  einer  Verflechtung  von 
wortgetreuem  Abdruck  der  Quellen  und  eigenem  Verbiudungstext,  das 
Werden  und  Vergehen  der  Beziehungen  zwischen  den  so  grundverschie- 
denen Briefschreibern  geschildert  wird. 

Wertvoll  sind  auch  die  Aufschlüsse  über  Brentanos  Persönlichkeit,  die  die  Pu- 
blikation von  H.  Card a uns:  „Aus  Luise  Hensels  Jugendzeit.  Neue  Briefe  und  Ge- 
dichte. Zum  Jahrhunderttag  ihrer  Konversion'-  (Freiburg  1918)  vermittelt  und  die 
das  seltsame  kurze  Verlöbnis  dieser  beiden  zerrissenen  Naturen  beleuchtet. 

Die  Originalbestandteile  der  Frühlingskranzbriefe  sucht  B.  Widraann 
in  seiner  Münchener  Dissertation  (1914)  mit  dem  Titel  „Zu  C.  Bren- 
tanos Briefwechsel  vom  Sommer  1 802  bis  zum  Herbst  1 803 "  fest- 
zustellen und  so  genau  wie  möglich  mit  Hilfe  der  in  den  Briefen 
und  sonstigen  Werken  von  und  über  Brentano  enthaltenen  Angaben  zu 
datieren,  wobei  die  Arbeit  vielfach  Ergänzungen  zu  W.  Üehlkes  seiner- 
zeit in  der  Palaestra  erschienenem  Buch  „Bettina  von  Arnims  Brief- 
romane" (1905)  zu  bringen  vermag.    Vor  allem  leistet  hierzu  die  Heran- 

96 


Ziehung  des  Briefwechsels  zwischen  Brentano  und  Sophie  Mereau  (hrsg. 
von  Heinz  Amelung,  Leipzig  1908)  sowie  der  Briefe  zwischen  Brentano 
und  seiner  Schwägerin  Antonie  geb.  Birkenstock  gute  Dienste.  Den 
Schluß  bildet  eine  zusammenfassende  Untersuchung  über  die  in  den 
Frühlingskranz  eingestreuten  Gedichte,  mit  der  besonderen  Tendenz  fest- 
zustellen, wieweit  im  einzelnen  eine  frühe  oder  eine  spätere  Fassung  vorliegt. 

Der  religiösen  Seite  in  Brentanos  Schaffen  sind  zwei  größere  Arbeiten  gewidmet. 
Die  eine  von  Pater  Aegidius  Buchta  unter  dem  Titel  „Das  Eeligiöse  in  Cle- 
mens Brentanos  Werken'-  (Breslau  1915)  sucht  mit  dem  liehevoll  einfühlenden  Ver- 
ständnis des  Glaubensgenossen  überall  die  Spuren  religiösen  Erlebens  auf  und  glaubt 
damit  nachweisen  zu  können,  daß  von  einem  Bruch  in  Brentanos  Leben  nicht  die 
Eede  sein  könne,  daß  seine  Bekehnmg  nicht  eine  Konversion  im  üblichen  Sinne  ge- 
wesen sei,  sondern  nur  eine  Umkehr  zu  dem  nie  ganz  verlorenen  katholischen  Kinder- 
glauben bedeutet  habe.  Liegt  der  Wert  dieser  Arbeit  nicht  so  sehr  in  der  Gewinnung 
neuer  Resultate  als  in  einer  Gesamtanschauung,  an  der  die  künftige  Forschung  doch 
nicht  ganz  wird  vorübergehen  können,  so  bietet  H.  Cardauns  in  seinen  ,, Beiträgen 
zu  C.  Brentano,  namentlich  zur  Emmerichfrage"  (Vereinsschriften  der  Görresges., 
1915)  eine  Fülle  exakter  Einzelforschung.  Bei  dem  Anwachsen  der  Brentanoliteratur 
ist  die  referierende  Übersicht  des  ersten  Teiles  über  den  Stand  der  neueren  Forschung 
mit  ihren  kritischen  Bemerkungen  und  zahlreichen  eigenen  Ergänzungen  besonders  zu 
begrüßen.  Der  zweite  Teil  behandelt  eingehend  die  Emmerichfrage,  besonders  in  bezug 
auf  Brentanos  Redaktionstätigkeit  und  dessen  Stellung  zu  der  Frage:  Gesichte  oder 
Betrachtungen.  Brentano  hat  sich  bestimmt  Einschaltungen  in  das  gestattet,  was  die 
Emmerich  als  „  Gesichte  "  vortrug  und  zwar  vornehmlich  unter  Benutzung  des  Lebens 
Christi  des  P.  Martin  von  Cochem.  Dagegen  sind  die  darin  nachweisbaren  Bestand- 
teile von  älteren  Überlieferungen  und  Legenden  nicht  von  Brentano  interpoliert  wor- 
den, sondern  zeugen  von  der  Kenntnis,  die  die  Nonne  selbst  von  diesen  Dingen  besaß. 
Die  Nachdrückliehkeit ,  mit  der  Cardauns  für  die  Emmerich-Bücher  eine  gerechtere 
Beurteilung  fordert,  sowohl  innerhalb  einer  Betrachtung  der  Erbauungsliteratur  als 
auch  unter  dem  Gesichtspunkt  literai'isch- ästhetischer  Würdigung,  die  in  der  Darstel- 
lungstechnik des  „  Bitteren  Leidens "  die  Meisterhand  eines  Künstlers  erkennen  würde, 
ist  nur  zu  unterstützen.  —  In  welcher  Richtung  sich  die  Kritik,  die  J.  Ni essen  in 
seinem  Buche  „A.  K.  Emmerichs  Charismen  und  Gesichte"  gegen  Cardauns  gerichtet 
haben  soll,  bewegt,  vermag  ich  leider  nicht  festzustellen. 

Mit  dem  Dramatiker  Brentano  befassen  sich  zwei  weitere  Arbeiten. 
F.  Heiningers  Breslauer  Dissertation  „C.  Brentano  als  Dramatiker" 
(1916)  stellt  in  einem  einleitenden  Teil  die  Ansichten  Brentanos  über 
die  zeitgenössischen  Dramatiker  und  Opernkomponisten  und  seine  eigenen 
theoretischen  Überzeugungen  zusammen,  um  dann  die  dramatischen  Ar- 
beiten des  Dichters,  nach  Lustspielen,  Festspielen  und  ernsten  Dramen 
gruppiert,  inhaltlich,  quellengeschichtlich  und  formal  zu  untersuchen,  mit 
dem  Ergebnis,  daß  trotz  des  Reichtums  an  einzelnen  besonders  lyrischen 
Schönheiten  das  Mißverhältnis  zwischen  Wollen  und  Können  die  dra- 
matischen Bemühungen  Brentanos  zum  Scheitern  bringen  mußte.  — 
R.  Kaysers  Würzburger  Dissertation  über  die  Frage  nach  „Arnims 
und  Brentanos  Stellung  zur  Bühne"  (1914)  stellt  das  dramatische  Wollen 
der  jüngeren  Romantiker  in  den  größeren  Zusammenhang  eines  bewußten 
Zeitstrebens  und  gewinnt  in  einer  vergleichenden  Betrachtung  der  Ent- 
wicklung des  dramatischen  Denkens  dieser  beiden  Dichter  die  Möglich- 
keit einer  guten,  das  WesentHche  treffenden  Formulierung  ihrer  Sonder- 
begabungen. Der  zweite  Teil  ist  der  Prüfung  des  Technischen  gewidmet, 
wobei  K.  seine  Beobachtungen  nach  J.  Petersens  Vorgange  einordnet. 

Wissenschaftliche  Forschun^sberichte  VlII.  < 

97 


Dem  Dritten  von  den  Intimen  des  jungromantischen  Kreises  ist  eine 
Straßburger  Dissertation  (1914)  von  L.  Wagner  gewidmet,  die  „Über 
Joseph  Görres'  Sprache  und  Stil"  eindringend  handelt  und  vollständig  in 
den  „Freien  Forschungen  z.  dtsch.  Literaturgeschichte"  erschienen  ist. 
Der  erste  historische  Teil  dieser  Arbeit  untersucht  die  Anfange  von  Görres' 
Schrifttum,  die  vom  Stil  der  französischen  Revolutionsberedsamkeit  stark 
beeinflußten  Zeitschriften  sowie  die  in  derselben  Zeit  geschriebenen  und 
doch  grundverschiedenen  Briefe  an  die  Braut,  die  von  Rousseaus  und 
Werthers  Geist  getränkt  schon  einzelne  romantische  Züge  aufweisen. 
Der  durch  das  Studium  Herders,  Jean  Pauls  und  Schellings  vermittelte 
Übergang  ins  romantische  Lager  läßt  in  Wortschatz,  Flexion  und  Satzbau 
bestimmte  romantische  Stileigentümlichkeiten  bald  unverkennbar  hervor- 
treten, die  sich  aber  im  Rheinischen  Merkur,  Görres'  reichster  und 
sprachgewaltigster  Schöpfung,  allmählich  wieder  verlieren.  Der  zweite 
Abschnitt  ist  der  Untersuchung  des  Wortschatzes  gewidmet,  während 
der  letzte  Teil  die  Bildlichkeit  des  Stiles  auf  ihre  philosophischen  Grund- 
lagen hin  untersucht  und  die  Allegorie  als  hauptsächlichste  Erschei- 
nungsform eingehend  würdigt. 

Das  publizistische  Moment,  das  Görres'  Schaffen  auszeichnet,  ist 
auch  die  starke  Seite  in  Arndts  umfangreicher  Produktion,  der  in  erster 
Linie  Journalist  und  erst  in  zweiter  Dichter  ist.  Die  Zeit  seiner  Ent- 
wicklung, Klärung  und  Ausbildung,  in  der  sich  der  schwedisch -pom- 
mersche  Partikularist  zum  Vorkämpfer  des  nationalen  Staates  wandelt, 
schildert  der  erste  Teil  des  großen  Lebensbildes  von  E.  Müsebeck: 
„E.  M.  Arndt.  1.  Buch.  Der  junge  Arndt,  1769—1815"  (Gotha  1914). 
Ein  zweiter  Teil  soll  Arndts  Schicksale  während  der  Reaktion  und  Re- 
volution schildern  und  damit  das  Werk  zum  Abschluß  bringen.  Auf 
Grund  des  vor  allem  von  H.  Meisner  in  zwei  Jahrzehnte  langer  Arbeit 
erschlossenen  Quellenmaterials,  dem  eingehendsten  Studium  von  Arndts 
Schriften  und  zahlreichen  eigenen  Vorarbeiten,  Aufsätzen,  Quellenunter- 
suchungen und  selbständigen  Schriften  des  Verfassers  wird  hier  die  wohl 
vorläufig  abschließende  Darstellung  des  inneren  und  äußeren  Lebens 
Arndts  und  seiner  Verknüpfung  mit  der  geistigen  und  politischen  Ent- 
wicklung Deutschlands  gegeben. 

Daß  daneben  die  Einzelforschuug  noch  manches  ergänzend  und  wohl  auch  ab 
und  zu  berichtigend  wird  herbeibringen  können,  dafür  geben  die  in  der  kleinen  Schrift 
von  E.  Gülzow,  „E.  M.  Arndt  in  Scliweden"  (1920)  veröffentlichten  Nachrichten  über 
Arndts  Beziehungen  zu  Amalie  von  Ilelwig  und  Elisa  Muuk  einen  Beweis,  die  auch 
die  Neudeutung  und  chronologische  Fixierung  einiger  Gedichte  gestatten.  —  R.  Krü- 
geis Leipziger  Dissertation  „Der  Begriff  des  Volksgeistes  in  E.  M.  Arndts  Geschichts- 
anschauung" (1915),  die  mehr  in  das  historische  als  literargeschichtliche  Gebiet  fällt, 
sei  hier  wenigstens  bibliographisch  erwähnt,  ebenso  wie  die  Jenenser  Arbeit  von 
C.  Koller,  „E.  M.  Arndts  Fragen  über  Menschenbildung  in  ihrer  pädagogischen  Be- 
deutung" (1917). 

Während  das  romantische  Element  bei  dem  im  Grunde  rationali- 
stischen Arndt  nur  in  dem  stark  entwickelten  Sinn  für  alles  Vaterländische 
zum  Ausdruck  kommt,  tritt  uns  Schenkendorf  in  seiner  ganzen  seelischen 
Struktur  als  Romantiker  entgegen.    Eine  in  diesem  Sinne  den  typischen 

m 


Kern  der  Persönlichkeit  berücksichtigende  Analyse  würde  der  sonst  recht 
tüchtigen  Marburger  Dissertation  von  A.  K  ö  h  1  e  r  über  „  Die  Lyrik  Max 
von  iSchenkendorfs "  (1915)  sicher  zugute  gekommen  sein,  indem  sie 
verbindert  hätte,  daß  K.  etwas  zu  einseitig  mit  den  von  außen  an  die 
Arbeit  herangetragenen  Gesichtspunkten  von  Elsters  ästhetischen  Begriffen 
und  Normen  an  die  Betrachtung  seines  Stoffes  herangetreten  wäre. 

Elsa  von  Klein  gibt  in  iliren  Untersuchungen  zu  Schenkendorfs  Liederspiel 
„Die  Bernsteinküste ''  (Halle  1915)  in  Ergänzung  der  Forschungen  von  A.  Haym  und 
P.  Cygan  wertvolle  Einzelnachweise  durch  die  Aufhellung  des  maßgebenden  Einflusses 
von  J.  F.  Eeichardt  und  der  Anregungen,  die  der  junge  Dichter  von  dem  Königsberger 
Professor  J.  G.  Hasse  erhielt. 

Friedrich  Rückerts  romantische  Periode  steht  im  Mittelpunkt  von 
L.  Magons  Buch  „Der  junge  Rückert.  Sein  Leben  und  Schaffen. 
Band  1"  (Halle  1915),  das  den  ersten  größeren  Versuch  einer  eingehen- 
den Rückertforschung  darstellt  und  dessen  in  Aussicht  gestellter  zweiter 
Band,  der  die  Zeit  bis  1819  umspannen  soll,  hoffentlich  bald  nachfolgen 
wird.  Die  Benutzung  des  reichen  handschriftlichen  Nachlasses  kommt 
ebenso  der  biographischen  Darstellung  wie  der  literarhistorischen  Be- 
trachtung zugute,  die  wichtige  Angaben  über  die  Chronologie  der  Jugend- 
gedichte zu  erbringen  vermag,  den  Einfluß  Bürgers,  Klopstocks  und 
Matthisons  nachweist  und  eingehend  die  Wendung  zur  Romantik  be- 
handelt, besonders  in  der  Analyse  der  Jugenddramen  und  ihrer  Ab- 
hängigkeit von  Calderon.  Besonders  zu  begrüßen  sind  auch  die  aus- 
führlichen metrischen  Analysen. 

Nicht  allzu  ergiebig  sind  dagegen  die  entstehungsgeschichtlichen  Bemerkungen  und 
queUenvergleichenden  Nachweise  von  A.  Krauß  „Zu  F.  ßückerts  dramatischen  Dich- 
tungen''  (Dissertation  Gießen  1916).  —  Eine  in  New  York  1917  erschienene  Arbeit 
von  H.  W.  Church  über  F.  Eückert  als  Lyriker  der  Befreiungskriege  war  mir  nicht 
zugänglich. 

Die  E.  Th,  A.  Hoffmann-Forschung  vermag  sich  leider  immer  noch 
nicht  auf  eine  vollständige  kritische  Ausgabe  zu  stützen,  da  die  von 
C.  Gr.  von  Maaßen  herausgegebenen  und  auf  fünfzehn  Bände  berech- 
neten „Sämtlichen  Werke"  (München  1908 ff.)  seit  1914  mit  dem  Er- 
scheinen des  dritten  Bandes  der  Serapionsbrüder  bis  heute  nicht  über 
die  damals  vorliegenden  sechs  Bände  herausgekommen  sind,  —  Dagegen 
ist  mit  Hans  von  Müllers  Pubhkation  „E.  Th.  A.  Hoffmanns  Tage- 
bücher und  literarische  Entwürfe",  I.Band  Texte  (Berlin  1915)  eines 
der  wertvollsten  Seelendokumente  der  Romantik  neu  erschlossen  worden. 
Der  Herausgeber,  der  in  zwei  Jahrzehnte  langer  mühevollster  und  hin- 
gehendster Forscherarbeit  in  zahlreichen  Publikationen  umfassendes  Unter- 
suchungsmaterial zusammengetragen  und  einer  gerechten  Würdigung  des 
Dichters  die  Wege  geebnet  hat,  lügt  jetzt  den  von  ihm  1904  entdeckten 
Tagebüchern  der  Jahre  1812,  1813  und  1815  die  ebenfalls  von  ihm 
selbst  aufgefundenen  von  1809,  1811  und  1814  hinzu.  Die  frühesten 
Aufzeichnungen  zeigen  den  preußischen  Richter  in  Plock  noch  in  völliger 
Unkenntnis  über  seine  dichterische  Begabung ;  die  Bamberger  Zeit  mit 
ruhiger  Kompositionsarbeit  wird  abgelöst  von  den  inneren  Kämpfen  des 
Übergangs   zum  literarischen  Schaffen,   von    den  Erschütterungen  einer 

7* 

99 


hoflfcungslosen  Liebe  und  den  Sorgen  einer  ungewissen  Stellung  in  den 
Wirren  der  Kriegsjahre,  bis  die  Fürsorge  der  Berliner  Freunde  ein 
ruhigeres  novellistisches  Sehaffen  gestattet.  —  Von  den  vorliegenden  beiden 
Einzeluntersuchungen  bringt  W.  Grahl-Mügelins  Abhandlung  „Die 
Lieblingsbilder  im  Stil  E.Th.A.  Hoffmanns"  (Dissertation  Greifswald  1915) 
zunächst  eine  nach  Stoffgebieten  unter  Berücksichtigung  der  ursächlichen 
Entstehung  aus  der  Lebensgeschichte  und  persönlicher  Veranlagung  des 
Dichters  geordnete  gute  Zusammenstellung  und  Verarbeitung  des  Ma- 
terials mit  der  Einschränkung  auf  die  von  Hoffrnann  bevorzugten  bild- 
lichen Wendungen.  Der  zweite  Teil  nimmt  zu  diesem  Material  kritisch 
Stellung  und  erblickt  den  Hauptwert  der  Bilder  in  ihrer  Bedeutung  für 
die  Stimmungsmalerei  und  die  Erregung  von  Gefühlszuständen.  — 
M.  Roehls  Rostocker  Arbeit  „Die  Doppelpersönlichkeit  bei  E.Th.A.  Hoff- 
mann" (1918)  erweitert  diesen  Begriff  von  der  Bedeutung  des  gespal- 
teten und  verdoppelten  Ichs  zu  der  Einbeziehung  aller  Erscheinungen, 
die  als  Bürger  zweier  Reiche  sich  auch  in  zwei  Gestalten  zeigen.  Sie 
gibt  eine  Aufzählung,  Charakteristik  und  Einteilung  dieser  Doppelpersön- 
iichkeiten,  um  dann  ihre  Quellen  und  literarischen  Abhängigkeiten  mit 
dem  Ergebnis  zu  untersuchen,  daß  Hoffmann  den  Rahmen  des  damals 
modernen  Geheimbundromans  benutzt  und  den  Genius-  oder  Mittlertypus 
durch  die  Einbeziehung  des  Mythus  und  Magnetismus  kompliziert.  Da- 
bei wird  das  Ganze  auf  den  Boden  realistischer  Wirklichkeit  gestellt  und 
zum  Symbol  einer  dualistisch  -  idealistischen  Weltanschauung  besonders 
in  bezug  auf  den  Gegensatz  zwischen  Kunst  und  Alltag  erhoben,  wobei 
sich  Hoffmann  zur  realistischen  Motivierung  reichlich  der  psychiatrischen 
Ergebnisse  der  zeitgenössischen  Wissenschaft  bedient.  —  Das  1920/1  er- 
schienene zweibändige  Werk  von  W.  Harich,  „E.  Th.  A.  Hoffmann, 
Das  Leben  eines  Künstlers",  das  nach  EUingers  grundlegender  Mono- 
graphie (1894)  den  Versuch  einer  die  künstlerische  Eigenart  dieses 
Dichters  erfassenden  Darstellung  macht,  aber  erst  jenseits  der  Berichts- 
grenze liegt,  sei  wenigstens  bibliographisch  verzeichnet. 

Wie  Hans  von  Müllers  Veröffentlichungen  für  E.  Th.  A.  Hoffmann 
so  bedeuten  die  von  0.  Fl o eck  herausgegebenen  „Briefe  des  Dichters 
F.  L.  Zacharias  Werner"  (München  1918)  die  Grundlage  zu  neuen 
Erkenntnissen  sowohl  für  den  äußeren  Entwicklungsgang  als  für  die 
Auffassung  der  Gesamtpersönlichkeit.  Die  hier  zum  ersten  Male  ge- 
sammelten Briefe  der  Jahre  1792 — 1822,  deren  größere  Zahl  bisher  un- 
gedruckt war  und  denen  sich  im  Anhang  noch  72  den  Dichter  be- 
treffende Schreiben  anreihen,  sind  besonders  für  den  letzten  Lebensabschnitt 
Werners,  den  in  Osterreich  wirkenden  kathohschen  Priester,  geeignet, 
bisherige  allzu  ungünstige  Urteile  über  den  Konvertiten  zu  berichtigen, 
und  sowohl  für  den  äußeren  Lebensgang  als  für  Entstehung  und  Idee 
seiner  Werke  wertvolle  Aufschlüsse  zu  geben.  Zahlreiche  erklärende 
Fußnoten  und  arcbivahsch-bibUographische  Nachweise  sind  ebenso  will- 
kommen wie  die  taktvoll  abwägende  Einleitung,  die  besonders  die  Brief- 
empfänger gut  charakterisiert.  —  Von  den  beiden  den  „Söhnen  des 
Tals"   gewidmeten  Untersuchungen   kommen  die    rein   äußerlichen  An- 

100 


gaben  W.  Ekhardts  in  seiner  Schrift  „Die  Technik  in  Z.  Werners 
Söhnen  des  Tals"  (Gießen  1917)  neben  R.  Pal gens  Marburger  Disser- 
tation „Über  Zacharias  Werners  Söhne  des  Tals"  (Beiträge  z.  dtsch. 
Litwissensch.),  die  nach  sorgfältiger  Feststellung  der  äußeren  und  inneren 
Entstehungsgeschichte  die  literarischen  Einflüsse  (Goethe,  Shakespeare, 
die  Ritterstücke  und  besonders  Schiller)  sowie  Aufbau,  Charaktere,  Stil 
und  Stellung  zum  Schicksalsproblem  behandeln,  nicht  mehr  in  Frage. 

Paul  Schubert  zeigt  „Das  Naturgefülil  bei  F.  L.  Zacharias  AVerner"  (Disser- 
tation Greifswald  1914)  aus  stilistischen  Betrachtungen,  aus  der  Auffassung  der 
Beziehungen  zwischen  Natur  und  Gott,  Natur  und  Mensch  und  aus  der  praktischen 
Verwendung  im  Drama  auf,  dabei  Werners  Stellung  zur  Romantik  und  ihren  Ideen- 
kreisen betonend.  —  Die  ausführliche  italienische  Arbeit  über  den  deutschen  Roman- 
tiker von  Guiseppe  Galetti  „II  dramma  di  Zacharias  Werner"  (Torina,  455  Seiten) 
war  mir  nicht  zugänglich.  —  Nur  genannt  sei  das  wiederum  außerhalb  der  Berichts- 
jahre liegende  Buch  von  P.  Haukammer:  „Zacharias  Werner.  Ein  Beitrag  zur 
Darstellung  des  Problems  der  Persönlichkeit  in  der  Romantik"  (Bonn  1920). 

Für  die  schwäbische  Romantik  gelangt  mit  dem  Erscheinen  des 
vierten  Bandes  von  „Uhlands  Briefwechsel.  Im  Auftrage  des  Schwä- 
bischen Schillervereins  hrsg.  von  Julius  Hartraann  (Stuttgart  1916), 
der  Uhlands  letzte  in  stiller  Gelehrtenarbeit  abgelaufene  Lebensjahre 
umfaßt,  Verbesserungen  und  Nachträge  zu  den  ersten  Bänden  bringt 
und  ein  von  W.  Reinöhl  bearbeitetes  gutes  Register  hinzufügt,  eines 
der  wichtigsten  Quellenwerke  zum  Abschluß.  —  Auf  Grund  dieser  sowie 
aller  übrigen  erschlossenen  Quellen  baut  H.  Schneider  die  erste 
wissenschaftlich  vollwertige  Biographie  Uhlands  auf  unter  dem  Titel 
„Uhland.  Leben,  Dichtung,  Forschung"  (Geisteshelden  Bd.  69/70),  die 
aber  erst  1920  erschienen  ist  und  auf  die  hier  wenigstens  hingewiesen 
sei.  —  Angeregt  durch  einen  Aufsatz  W.  Scherers  in  den  Goethe- 
jahrbüchern von  1883  und  1884  „Über  die  Anordnung  Goethescher 
Schriften",  der  davon  ausgeht,  daß  „zur  vollen  Erfassung  und  Wür- 
digung der  künstlerischen  Tätigkeit  des  Dichters"  auch  die  „  Beachtung 
der  Arbeit  letzter  Hand  gehört,  wie  sie  sich  in  der  Anordnung  seiner 
Werke  offenbart",  untersucht  J.  Frenzel  „Die  Anordnung  der  Ge- 
dichte L.  Uhlands"  (Dissertation  Straßburg  1915).  Ausgangspunkt  und 
technische  Grundlage  der  Anordnung  scheint  das  chronologische  Prinzip 
der  Entstehung  gewesen  zu  sein,  wofür  neben  einer  Note  aus  den  Tage- 
büchern die  fast  rein  chronologische  Anordnung  der  Jugendgedichte, 
der  Balladen  und  Lieder  wie  die  vollständig  chronologische  Aneinander- 
reihung der  vaterländischen  Gedichte  spricht.  Uhlands  Absicht,  auf 
diese  Art  die  Wandlungen  seines  eigenen  künstlerischen  Entwicklungs- 
ganges aufzuzeigen,  kommt  am  deutlichsten  in  dem  vollständig  abge- 
rundeten Ganzen  der  Balladen  zum  Ausdruck,  die  von  den  sentimen- 
talsten Produktionen  jugendlicher  Unklarheit  zu  den  reifsten  Produk- 
tionen des  Mannesalters  führen.  Einzelne  Umgruppierungen  sind  aus 
beabsichtigt  antithetischer  oder  verstärkend  paralleler  Wirkung  zu  er- 
klären oder  setzen  antichronologisch  ein  Gedicht  als  Widmung  vor  eine 
ganze  Gruppe,  während  eine  andere  Art  von  Abweichungen  eine  persön- 
liche  Kunstansicht,   die  Wendung   eines  Themas   von    realistischer  An- 

101 


schauung  zu  Übersinnlichkeit  und  Unendlichkeitsstreben  zum  Ausdruck 
bringen  soll. 

L.  Längs  Tübinger  Dissertation  „TJhlaiids  dramatische  Arbeitsweise  in  seinen 
Listorischen  Dramen  und  Drauienentwürfen "  (1914)  betrachtet  das  vorhandene  Ma- 
terial nach  der  jeweiligen  Entstehungsgeschichte  und  dem  Verhältnis  zu  den  Quellen, 
wobei  eine  absteigende  Eutwicklungsliuie  von  der  phantasie-  und  humorvollen  Ur- 
sprünglichkeit der  romantischen  Ajifäuge  zu  steifer  Gelehrsamkeit  führt.  Der  aus  den 
Handschriften  der  Universität  Tübingen  mitgeteilte  Entwurf  zu  dem  Drama  „Ludwig 
der  Baier"  gestattet  dabei  einen  guten  Einblick  in  die  Arbeitsweise  Uhlands.  — 
W.  Schulz  es  Arbeit  „Gustav  Schwab  als  Balladendichter  ^-  (Pal.  126,  1914)  gibt 
vor  allem  eine  Quellonuntersuchung  mit  genauen  Vergleichen ,  aus  denen  die  starke 
Abhängigkeit  von  den  Vorlagen  deutlich  wird.  —  „Gustav  Schwabs  Stellung  in  der 
zeitgenössischen  Literatur"  gelaugt  in  der  Dissertation  von  G.  Stock  (Münster  1916) 
an  der  Hand  von  Schwabs  Redaktionstätigkeit  am  Stuttgarter  Morgenblatt  und  am 
deutschen  Musenalmanach  zu  eingehender  Darstellung,  wobei  seine  Beziehungen  zu 
den  schwäbischen  Dichtern  Uhland,  Waiblinger  und  Mörike,  den  Österreichern  Lenau 
und  Grün,  den  Bayern  Platen  und  Schenk  sowie  zu  den  Korddeutscheu  Fouque, 
Varnhagen  und  David  Assing  fsorgfältig  verfolgt  werden.  —  Die  ,,AVilhelm  Hauffs 
Märchen  und  Novellen"  gewidmete  Dissertation  von  J.  Armandoff  (München  1915) 
vermag  trotz  einzelner  dankenswerter  Hinwaise  (z.  B.  auf  die  Einwirkung  Tiecks) 
weder  in  bezug  auf  die  Quellenfrage  noch  in  den  stilistischen  und  technischen  Unter- 
suchungen die  Lücke  der  bisherigen  Forschung,  die  gerade  Hauffs  Märchendichtung 
noch  wenig  behandelt  hatte,  auszufüllen. 

Von  den  beiden  der  Eichendorff-Forschung  gewidmeten  Arbeiten  unter- 
sucht R.  Wesmeyers  Marburger  Dissertation  (1915)  über  „J.  v.  Eichen- 
dorffs  satirische  Novellen"  unter  Verwertung  der  Nachlaßhandschriften 
eingehend  die  literarische  Satire  der  Novelle  „Viel  Lärmen  um  nichts" 
von  1832  besonders  nach  ihrer  ästhetischen  und  sozialen  Seite  unter 
Aufzeigung  ihres  Zusammenhanges  mit  den  späteren  Ausführungen  über 
Pseudoromantiker  und  Jungdeutsche  in  den  literarhistorischen  Schriften 
und  über  Adel  und  Bürgertum  im  „Erlebten".  In  der  politischen  Sa- 
tire „  Auch  ich  war  in  Arkadien  geboren  "  werden  gelehrter  Doktrinaris- 
mus, praktisch  gewordene  Aufklärung  und  liberaler  Despotismus  ver- 
spottet, während  das  Märchen  „Libertas  und  ihre  Freier"  die  Er- 
eignisse der  Jahre  1848/49  vom  katholischen  Standpunkte  beleuchtet 
und  von  diesem  aus  in  der  bürgerlichen  Klassenherrschaft  vor  allem 
den  Materialismus  verurteilt.  —  Hilda  Schulhoffs  Untersuchungen 
zu  „ Eichendorffs  Jugendgedichten  aus  seiner  Schulzeit"  (Prager  dtsch. 
Studien,  Heft  23,  1915)  kommen  der  germanistischen  Forschung  haupt- 
sächlich mit  den  sechzig  bisher  unveröflfentlichten  Jugendgedichten  zugute, 
die  im  Anhang  abgedruckt  werden,  während  der  Hauptteil  der  Arbeit, 
der  eine  Erklärung  dieser  poetischen  Versuche  im  Sinne  der  psycho- 
logischen Arbeiten  von  Hartmann  und  Schmidkunz  und  des  großen 
amerikanischen  Werkes  von  Hall  „  Adolescense"  zu  geben  versucht,  die 
Ergebnisse  der  Jugendpsychologie  zu  fördern  geeignet  ist.  —  H.  Schnei- 
ders Breslauer  Dissertation  (1916)  über  „Chamissos  Balladentechnik" 
kommt  an  der  Hand  einer  formalen  und  psychologischen  Analyse  der 
Balladen  zu  dem  nicht  eben  neuen  Resultat,  daß  Chamisso,  von  Uhland 
ausgehend,  einen  gewaltigen  Schritt  vorwärts  und  über  sein  Vorbild 
hinausgetan  habe,   indem  er  die  soziale  Ballade  schuf  und   im  Gewand 

102 


der  alten  romantischen  Ballade  politische  Töne  anzuschlagen  wußte.  — 
Weist  Chamisso  mit  diesen  Zügen  schon  mehr  auf  die  realistisch- 
tendenziöse Kunst  der  folgenden  Jahrzehnte  voraus,  so  gehört  Nicolaus 
Lenaus  Dichtung  und  Weltanschauung  ausschheßUch  der  Romantik  an. 
Mit  den  „Entwicklungslinien  von  Lenaus  Weltanschauung",  die  W.  Ale- 
xander in  seiner  Greifswalder  Dissertation  (1915)  zu  ziehen  versucht, 
vermag  der  jugendliche  Verfasser  freilich  nicht  den  Kern  dieser  von 
Heimatlosigkeit  erfüllten,  zerrissenen  und  durch  die  Welt  getriebenen 
Dichterpersönlichkeit  zu  erfassen,  doch  verdient  die  vorsichtige  Ver- 
wertung des  Quellenmaterials  und  das  glückliche  Vermeiden  einer  ge- 
zwungenen Systematisierung  im  Verein  mit  einem  guten  Darstellungsstil 
hervorgehoben  zu  werden.  —  H.  Bischoffs  eindringliches,  freilich  auch 
ungemein  breites  Werk  „N.  Lenaus  Lyrik.  1.  Band.  Geschichte  der 
lyrischen  Gedichte",  das  erst  Ende  1920  erschien  und  eine  neue  Epoche 
in  der  Lenauforschung  begründen  dürfte,  liegt  außerhalb  der  Grenze 
des  Berichtes. 

Als  Lenau  in  vielem  wesensverwandt  läßt  Emmy  Ltickwalds  Greifswalder 
Dissertation  „M.  Solitaire.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Weltschmerzes"  (1917) 
den  Landsberger  Arzt  Woldemar  Nürnberger  erkennen,  dem  seit  A.  Sterns  Skizze 
von  1865  hier  zum  erstenmal  eine  Sonderuntersuchung  gewidmet  wird.  Den  innersten 
Kern  seines  Wesens  bildet  ein  tiefer  im  Gegensatz  zu  manchem  Mode-Weltschmerzler 
als  wirkliches  Erlebnis  zu  wertender  Pessimismus,  der  in  seinen  egoistischen  Elementen 
hauptsächlich  in  der  Lyrik  und  den  persönlich  gefärbten  Eeisebildern  zum  Ausdruck 
kommt  rmd  in  seinen  altruistischen  Elementen  sich  in  der  düsteren  Tragik  seiner 
Novellen  als  Auffassung  vom  menschlichen  Dasein  überhaupt  widerspiegelt.  —  Als 
ebenfalls  von  romantischen  Anfängen  ausgehend,  aber  nach  schweren  Kämpfen  zu 
den  völlig  entgegengesetzten  Zielen  und  Anschauungen  der  Reaktionszeit  führend, 
stellt  sich  die  Entwicklung  Fr.  von  Sallets  dar,  dem  Marie  Hannes  eine  „Gesamt- 
darstellung seines  dichterischen  Schaffens  mit  Ausnahme  seiner  religionsphilosophi- 
schen Schriften"  (München  1915)  widmet,  wobei  der  heute  nur  noch  historisches 
Interesse  hervorrufenden  Dichtung  gegenüber  besonders  auf  die  allgemein  vorbildliche 
Wahrheits-  und  Freiheitsliebe  des  Mannes  hingewiesen  wird.  —  Eine  Ergänzung  nach, 
der  philosophischen  Seite  seiner  Entwicklung  hin  erfährt  die  Forschung  über  Sallet 
durch  die  Würzburger  Dissertation  von  0.  Hundertmark:  „F.  von  Sallet,  ein 
Dichterphilosoph"  (1916),  die  das  Hauptaugenmerk  ihrer  Darstellung  auf  den  Ge- 
dankengehalt der  Werke  und  die  in  den  philosophischen  Schriften  niedergelegten 
Ideen  richtet.  Dabei  wird  die  völlige  Abhängigkeit  von  Hegels  philosophischen  An- 
schauungen erwiesen  und  nur  für  einzelne  Fragen  sozialer  Forderungen  eine  gewisse 
Selbständigkeit  aufgezeigt. 

Mit  Heinrich  Heine  gelangt  die  romantische  Entwicklung  zu  einem 
gewissen  Abschluß,  wenn  sie  auch  noch  in  der  Lyrik  Mörikes  u.  a. 
nachklingt  und  ihre  Spuren  stofflich  und  formal  bis  zur  Gegenwart  zu 
verfolgen  sind.  Heines  Werke  liegen  nunmehr  in  der  neuen  großen  von 
O.  Walzel  geleiteten  Ausgabe  des  Inselverlags  mit  dem  zehnten  Bande  (1915) 
abgeschlossen  vor,  in  einer  Edition,  die  zwar  nicht  ausschließlich  als 
textkritisch  anzusprechen  ist,  in  ihrer  Gesamtanlage  aber,  der  Textver- 
teilung im  Sinne  einer  chronologischen  Reihenfolge  innerhalb  geschlossener 
Gruppen,  der  Einzelausführung  und  der  Ausstattung,  als  vorbildlich  zu 
bezeichnen  ist  und  die  beste  der  vorhandenen  Heineausgaben  darstellt. 
Besonders  sei  auch  auf  den  freilich  erst  1920  erschienenen  Registerband 
verwiesen,  in  dem  P.  Neuburger   in  entsagungsvoller  Kleinarbeit  auf 

103 


274  Seiten  das  Phänomen  Heine  in  allen  seinen  menschlichen,  lokalen 
und  geistesgeschichtlichen  Beziehungen  auseinanderlegt  und  damit  ein 
unentbehrliches  Hilfsmittel  für  alle  zukünftige  Heineforschung  an  die 
Hand  gibt.  —  Mit  dem  von  F.  Hirth  herausgegebenen  Briefwechsel 
Heines,  der  bis  jetzt  in  zwei  Bänden  vorliegt,  ist  der  wissenschaftlichen 
Betrachtung  eine  überaus  wertvolle  Materialsammlung  dargeboten  worden. 
Der  erste  Band  (1914)  reicht  vom  Februar  1815  bis  April  1831,  der 
zweite  (1917)  vom  Juni  1831  bis  zum  Dezember  1846.  Der  dritte 
Band  wird  die  Anmerkungen  bringen,  die  bei  den  überreichen  An- 
spielungen Heines  auf  persönliche  und  öffentHche  Verhältnisse  erst  das 
letzte  Verständnis  der  Briefe  werden  erschließen  müssen,  wobei  freilich 
noch  eine  schwierige  Arbeit  zu  leisten  sein  wird.  Die  ausführliche  Ein- 
leitung berichtet  eingehend  über  die  früheren  Ausgaben,  wobei  den 
älteren  Publikationen  schwere  Vorwürfe  über  Textnachlässigkeiten  und 
selbstbewußte  Textentstellungen  nicht  erspart  werden  können,  durch  die 
z.  B.  der  Buchhändler  Campe  wie  vor  allem  Maximilian  Heine  bisher 
in  einem  viel  zu  günstigen  Lichte  erschienen  waren.  Der  zweite  Teil 
bringt  eine  besonders  auch  durch  den  Vergleich  mit  Hebbel  aufschluß- 
reiche Würdigung  des  Briefschreibers  Heine,  während  der  Schluß  einen 
Einblick  in  die  z.  T.  überaus  schwierige  Beschaffung  des  Materials  gibt 
und  damit  das  Verdienst  des  Herausgebers  noch  deutlicher  erkennbar 
macht. 

Von  den  vorliegenden  Einzeluntersuchungen  behandelt  H.  Mutz  enbe eher  in 
einer  Bonner  Dissertation  (1916)  das  Thema  ,.H.  Heine  und  das  Drama"  wenig  er- 
schöpfend und  mit  unbedeutenden  Ergebnissen.  Höchstens  die  Zusammenstellung 
aller  hierher  gehörigen  Äußerungen  ist  von  einigem  Wert.  —  Nicht  ohne  Verdienst 
ist  M.  Schusters  Programraschrift  „Horaz  und  Heine"  (Wiener-Neustadt  1916), 
die  den  Einfluß  des  Römers  als  sehr  viel  größer,  wie  bisher  zumeist  angenommen 
■\\airde,  zu  erweisen  vermag. 

E.  Brauweiler  gibt  eine  eingehende  Darstellung  von  „Heines 
Prosa''  (Bonner  Forschungen,  9.  Bd.,  1915),  indem  er  au  der  Hand  der 
Berichte  über  die  französischen  Zustände  zu  zeigen  versucht,  welche 
Wandlungen  die  individuellen  Stileigenheiten  Heines  erfahren  haben  in 
ihrer  Beziehung  zum  Subjekt,  zum  Objekt  und  zur  äußeren  Form,  ge- 
messen an  einer  „absolut  objektiven,  intellektuellen,  konformen  und 
gemeinüblichen  Rede".  Worin  diese  besteht,  wird  freilich  nicht  aus- 
einandergesetzt, so  daß  die  fleißigen  und  genauen  Untersuchungen,  die 
sicher  im  einzelnen  zu  beachtenswerten  Ergebnissen  führen,  doch  viel- 
fach einigermaßen  in  der  Luft  hängen. 

Die  Mörikehteratur  hat  eine  wertvolle  Bereicherung  erfahren  durch 
die  neue  Ausgabe  des  von  H.  W.  Rath  dargebotenen  Briefwechsels 
zwischen  E.  Mörike  und  M.  von  Schwind  (Stuttgart  1919).  Gegenüber 
der  ersten  VeröffentUchung  Baechtolds  (1890)  sind  hier  28  bisher  un- 
gedruckte  Briefe,  meist  aus  dem  Besitz  der  Tochter  Schwinds  stammend, 
hinzugekommen ;  auch  konnten  einige  Stellen  der  früheren  Ausgabe 
berichtigt  und  die  Veranlassung  des  Briefwechsels  durch  den  Tübinger 
Musikdirektor  Otto  Scheyer  nachgewiesen  werden.  Die  Einleitung  und 
Kommentierung   bieten  wenig;  die  spärlichen  Erläuterungen  und  Nach- 

104 


weise  sind  recht  störend  in  eckiger  Klammer  dem  Text  beigefügt.  — 
Weiterbin  sind  mehrere  Einzelstudien  zu  nennen.  Eine  schematiscb- 
statistiscbe,  nach  Elsters  stiltheoretischen  Prinzipien  verfaßte  Greifswalder 
Dissertation  von  H.  Kappenberg  über  den  „Bildlichen  Ausdruck  in 
der  Prosa  E.  Mörikes"  (191i)  untersucht  gründlich  und  fleißig  die  Bilder- 
fülle, würdigt  ihre  ästhetische  Bedeutung  und  hebt  die  Anschaulichkeit, 
das  Poesievoll-Künstlerische  und  das  Eigenschöpferisch-Phantasievolle  der 
Bilder  hervor.  —  E.  Flad,  „E.  Mörike  und  die  Antike''  (Dissert.  Münster 
1917)  zeigt,  wie  sich  die  Beschäftigung  Mörikes  mit  der  Antike  aus 
dem  Bildungsgange  des  Dichters  ergibt.  Homer,  Horaz,  CatuU,  dann 
besonders  Theokrit  sind  seine  Lieblinge,  deren  Einfluß  in  inhaltlicher 
und  formaler  Beziehung  nachgewiesen  wird.  Bei  der  Behandlung  der 
„Idylle  vom  Bodensee"  hätte  vielfach  tiefer  geschürft  werden  müssen.  — 
Sehr  feinsinnig  und  fesselnd  hat  dagegen  K.  Adrians  Arbeit  über 
„Wege  der  Gestaltung  in  Mörikes  Maler  Nolten  und  Mozart  auf  der 
Reise  nach  Prag"  (Dissert.  Münster  1914)  das  Problem  ergriffen.  Mörikes 
alle  Handlung  und  alles  Zuständliche  in  Stimmung  auflösendes  Sehen 
wird  auch  für  seine  Erzählungen  als  maßgebender  Faktor  erkannt  und 
mit  wertvollen  Vergleichsblicken  auf  Storm,  Hebbel,  Stifter  im  einzelnen 
überzeugend  als  gestaltendes  Moment  nachgewiesen. 

Noch  sei  auf  drei  Dissertcationen  hingewiesen,  die  sich  mit  der  Geschichte  dreier 
romantischer  Zeitschriften  befassen.  A.  Kloß'  gründliche  und  von  exaliter  methodi- 
scher Schulung  zeugende  Leipziger  Arbeit  behandelt  die  „Heidelberger  Jahrbücher 
der  Literatur  in  den  Jahren  1808/16"  (Probefahrten  24.  Bd.,  1916)  unter  vielfacher 
Verwertung  von  ungedrucktem  Material.  Mit  der  Beschränkung  auf  die  für  den  Geist 
der  Zeitschrift  bezeichnendsten  Fächer  der  Philologie,  Geschichte,  Literatur  und  Kunst 
gibt  ein  erstes  einleitendes  Kapitel  eine  gute  Analyse  des  allgemeinen  Zeitcharakters, 
sowie  eine  Schilderung  des  Lehrkörpers  der  Heidelberger  Universität  in  den  Jahren 
1807—16,  dessen  Zusammensetzung  insofern  von  Bedeutung  für  die  Zeitschrift  war, 
als  ihre  Redaktoren  wie  Mitarbeiter  zumeist  dem  Professorenkollegium  angehörten. 
An  die  eingehende  Darstellung  der  äußeren  Entwicklung  des  Unternehmens  in  bezug 
auf  die  Gründung,  die  äußere  Form,  die  Verlegerverhältnisse  und  die  finanzielle 
Fimdierung  schließt  sich  die  Aufhellung  der  inneren  Geschichte  an,  wie  sie  sich  unter 
der  Leitung  der  verschiedenen  Redaktoren  darstellt :  unter  Creuzer,  der  die  Jahrbücher 
zu  einem  raschen  Höhepunkt  zu  bringen  vermag,  von  dem  sie  aber  mit  dem  Schluß 
seiner  Redaktionstätigkeit  unter  der  Leitung  von  Bökh  und  "VVilken  bald  wieder  auf 
das  Niveau  der  übrigen  Literaturzeitungen  herabsinken,  womit  gleichzeitig  ein  immer 
stärkeres  Ausscheiden  des  zunächst  durchaus  vorherrschenden  romantischen  Einflusses 
bedingt  ist.  Der  Anhang  bringt  eine  Chronologie  der  einzelnen  Hefte  auf  Grund  des 
zeitgenössischen  Briefwechsels  und  der  Redsktionsakten  und  fügt  verschiedene  Stücke 
von  diesen  sowie  einigen  für  die  Geschichte  der  Zeitschrift  besonders  wichtigen  Briefen 
im  Abdruck  bei.  —  Eine  ähnliche  Arbeit  sucht  F.  Blums  Münchener  Dissertation 
(1914)  m.it  dem  Titel  „Die  Musen.  Eine  norddeutsche  Zeitschrift  hrsg.  von  F.  Baron 
de  la  Motte  Fouque  und  Wilhelm  Neumann  •"■  zu  leisten,  die  nach  einem  kurzen  Über- 
blick über  die  Geschichte  der  Zeitschrift  die  einzelnen  Beiträge,  nach  wissenschaft- 
lichem, poetischem  und  kritischem  Inhalt  geordnet,  in  bezug  auf  ihre  Verfasser  ein- 
gehend betrachtet,  wobei  bisher  ungedrucktes  Material  vielfach  gute  Anhalte  zu  geben 
vermag.  Der  Versuch,  das  Unternehmen  von  der  organisatorisch  -  wirtschaftlichen 
Grundlage  zu  analysieren  und  eine  innere  Geschichte  desselben  mit  vergleichsweisem 
Umblick  auf  ähnliche  Erscheinungen  zu  geben,  wie  er  bei  Kloß  zu  so  guten  Resultaten 
geführt  hat,  wird  aber  leider  nirgends  unternommen,  —  Erwähnt  sei  in  diesem  Zu- 
sammenhange schließlich  noch  die  Bonner  Dissertation  von  F.  Rhein  ,,Zehn  Jahre 
historisch-politische  Blätter",  die   die  Entstehung  und  Entwicklung  dieses  so  viel  an- 

105 


gefeindeteu  katholischen  Preßorgans  verfolgt,  das  von  Görres  patronisiert  und  seinem 
Sohne  Phili|)p  herausgegeben  wurde,  und  in  dem  besonders  auch  Eichendorf  mit  zahl- 
reichen Beitriigou  vertreten  ist. 

§  10.   Die  führenden  Dramatiker  des  19.  Jahrhunderts 

Als  Grundlage  für  die  Kleist forscliung  wird  stets  die  von 
Erich  Schmidt  in  Verbindung  mit  Minde-Pouet  und  Steig  im  Verlag 
des  Bibliographischen  Institutes  herausgegebene  Ausgabe  dienen.  Doch 
steht  auch  die  neue  Kleistausgabe  des  Verlags  Hesse  &  Becker,  die  von 
K.  Siegen  unter  Mitwirkung  von  R,  Schlösser  und  0.  Walzel  besorgt 
wurde  (Leipzig  1914),  mit  ihrer  völlig  umgearbeiteten  Biographie  und  sorg- 
fältigen Textredaktion  durchaus  auf  dem  Stande  der  letzten  Forschungen.  — 
Für  die  Einschätzung  der  Gesamtpersönlichkeit  des  Dichters  scheint 
glücklicherweise  die  Epoche  vorbei  zu  sein,  die,  begünstigt  durch  den 
Mangel  quellenmäßiger  Nachrichten ,  uns  eine  Zeitlang  die  verschieden- 
sten „Auffassungen"  bescherte.  Nur  die  Leipziger  Dissertation  von 
W.  Willige,  „Klassische  Gestaltung  und  romantischer  Einfluß  in  den 
Dramen  H.  von  Kleists"  (Heidelberg  1915)  tritt  noch  mit  jenem  An- 
spruch auf,  das  Verständnis  Kleists  auf  eine  neue  Basis  zu  stellen,  wobei 
die  vielfach  einseitige  und  willkürliche  Auffassung,  die  zum  Teil  mit 
der  aus  dem  Gundolf-Georgekreise  bekannten  Terminologie  arbeitet,  nur 
zu  einem  geringen  Ertrag  führt. 

J.  K.  Blankenagel,  „The  attitude  of  H.  v.  Kleist  toward  the  problems  of 
life"  (Hesperia  9.  Bd.,  Göttingen  1917)  will  die  Anschauungen  des  Dichters  über 
Religion,  Schicksal,  AVillensfreiheit,  Frauen,  Tugend,  Pflicht  und  Staat  schildern,  kommt 
aber  über  eine  fleißige  Stoffsammlung  nicht  hinaus. 

Von  größter  Bedeutung  ist  dagegen  E.  Cassirers  Vortrag 
„H.  von  Kleist  und  die  Kantische  Philosophie"  (Philosophische  Vorträge, 
veröffentlicht  von  der  Kantgesellschaft  Nr.  22,  Berlin  1919),  wohl  der 
wertvollste  Beitrag  zur  Kleistforschung  der  letzten  Jahre  überhaupt. 
!Mit  eindringendem  Verständnis  für  die  künstlerische  und  menschliche 
Eigenart  Kleists  wie  nicht  minder  für  seine  geistige  Umwelt  wird  hier 
aufgezeigt,  wie  für  den  bekannten  seelischen  Zusammenbruch  nicht  das 
Werk  Kants  selbst  —  das  Kleist  schon  vorher  durchaus  vertraut  war  — 
bestimmend  wurde,  sondern  die  Kants  Phänomenalismus  ins  schroff 
Subjektivistischc  wendende  Schrift  Fichtes  „Die  Bestimmung  des  Men- 
schen", wonach  sich  für  Kleist  tatsächlich  alle  Werte  in  Illusionen  auf- 
lösen mußten.  Damit  vollzieht  sich  durch  ein  gedankliches  Erlebnis 
die  innere  Wendung  in  Kleist  von  dem  traditionellen  Optimismus  seiner 
Jugendphilosophie  zu  der  ihm  eigenen  dichterischen,  tragischen  Welt- 
anschauung, was  zugleich  das  volle  Bewußtwerden  seiner  produktiven  dich- 
terischen Kräfte  bedingt.  Die  spätere  Einwirkung  der  ethischen  Prinzipien 
Kants  wird  überzeugend  am  „Prinzen  von  Homburg"  nachgewiesen.  — 
Von  den  vorliegenden  Spezialuntersuchungen  zu  einzelnen  \\'erken  haben 
H.  Schneiders  „Studien  zu  H.  von  Kleist"  (Berlin  1916)  die  meiste 
Beachtung  erfahren,  was  in  zahlreichen  äußerst  ausführlichen,  z.  T.  jedoch 
ablehnenden  Kritiken  zum  Ausdruck  kommt.     Da  das  Für  und   Wider 

106 


hier  nicht  erörtert  werden  kann,  sei  besonders  auf  folgende  Besprechungen 
verwiesen:  Litbl.  1920,  232/40  (E.  Wolfi),  A.  f.  d.  A,  40  (R.  Riemann), 
Lit.  Centralbl.  67,  222/3  (J.  Körner);  vor  allem  aber  kommt  hier  der 
Aufsatz  W.  Richters  „Alte  und  neue  Probleme  der  Kleistforschung" 
in  Betracht  (D.  Litz.  1916,  Nr.  10  u.  11),  von  dessen  37  Seiten  nicht 
weniger  als  34  der  Kritik  des  Schneiderschen  Buches  gewidmet  sind, 
wobei  zugleich  wertvolle  Hinweise  für  die  weitere  Forschung  gegeben 
werden.  Im  letzten  Teil  seiner  Arbeit  weist  Schneider  auf  verschiedene, 
bisher  übersehene  oder  mißachtete  Quellen  hin,  die  sich  aus  Kleists 
spanischer  Lektüre  ergeben,  während  J.  Petersens  Studie  über 
„H.  von  Kleist  und  Torquato"  (Z.  f.  d.  U.  31.  Jahrg.,  H.  6)  den  Einfluß 
des  italienischen  Dichters  mit  philologischer  Exaktheit  und  sorgfältiger 
x4.bwägung  zwischen  bewußter  und  unbewußter  Abhängigkeit  klarlegt. 
Mit  Recht  weist  er  dabei  auch  auf  die  mangelnde  Beweiskraft  der  Be- 
hauptungen Frida  Tellers  (Neue  Studien  zu  H.  v.  Kleist,  Euph.  20,  4) 
hin,  die  mit  ihren  sonst  vielfach  schätzenswerten  Nachweisen  über  Kleists 
Beziehungen  zur  Musik  und  die  musikalischen  Formprobleme  seiner 
Kunst  aber  eine  methodisch  gefahrliche  Bahn  betritt,  indem  eine  will- 
kürlich aufgestellte  These  zur  Erklärung  des  Guiskard-Fragmentes  als 
Musikdrama  herangezogen  wird.  —  Die  fleißige,  aber  in  ihr  Problem 
verraunte  Untersuchuog  von  H.  Behme,  „H.  von  Kleist  und  C.  M.  Wie- 
land" (Lit.  u.  Theater,  hrsg.  v.  E.  Wolff,  H.  1,  Heidelberg  1914),  die 
im  einzelnen  manches  entschieden  Beachtenswerte  zutage  fördert,  ist  in 
ihrer  Gesamtauffassung  einer  starken  Abhängigkeit  Kleists  von  Wieland 
unhaltbar.  Hier  zeigt  sich  einmal  deutlich,  zu  wie  schiefen  Resultaten 
man  trotz  gewissenhafter  Eiuzeluntersuchuug  gelangen  kann,  wenn  das 
Verständnis  geistesgeschichtlicher  Zusammenhänge  so  wenig  vorhanden 
ist,  daß  z.  B.  der  Wahrheits-  und  NaturbegrifF  des  Sturmes  und  Dranges 
mit  dem  aufklärerischen  Wielands  gleichgesetzt  Avird,  dessen  Schilde- 
rungen weiblicher  Afickte  das  Vorbild  für  einen  so  leidenschaftdurch- 
glühten Charakter  wie  Penthesilea  ergeben  haben  sollen.  —  In  F.  Kanters 
Dissertation  „Der  bildliche  Ausdruck  in  Kleists  , Penthesilea ' "  (Jena 
1914)  ist  das  Bestreben  anzuerkennen,  gegenüber  den  vielfach  äußerlich 
schematisierenden  Arbeiten  mit  ähnlicher  Fragestellung  zu  einer  ver- 
tieften Betrachtungsweise  aus  dem  Zusammenhang  des  Ganzen  zu  ge- 
langen, wobei  nur  leider  ein  stark  konstruktiver  Zug  der  Auffassung 
und  eine  gewisse  stilistische  Schwerflüssigkeit  die  Lektüre  erschweren.  — 
G.  Buchtenkirchs  Arbeit  über  Kleists  Lustspiel  „Der  zerbrochene 
Krug"  auf  der  Bühne  (Lit.  u.  Theater,  2.  H.,  Heidelberg  1914)  gibt 
neben  der  Betonung  des  märkischen  Lokalcharakters  eine  gute  Analyse 
des  Bühnenwirksamen  und  eine  die  Tatsachen  in  ein  neues  Licht  rückende 
Untersuchung  über  den  Mißerfolg  des  Stückes  in  Weimar,  der  in  dem 
Gegensatz  zwischen  dem  erstarrten  Idealstil  der  Weimarer  Bühne  und 
den  Erfordernissen  eines  neuen  realistischen  Darstellungsstiles  für  das 
Kleistsche  Lustspiel  zu  suchen  sei.  Die  folgende  Schilderung  des  Fort- 
lebens des  Stückes  in  den  verschiedenen  Bühnenbearbeitungen  wird 
durch  die  Betonung  der  diesen  zvxgrundeliegenden,  der  jeweiligen  Bühnen- 

107 


tradition  entsprechenden  Stilbestrebungen  zu  einem  wertvollen  theater- 
geschichtlicheu  Beitrag.  —  Von  den  der  Erzäblungskunst  Kleists  ge- 
widmeten neuen  Untersuchungen  entspricht  der  Ertrag  der  Arbeit  von 
J.  Bat  he,  „Die  Bewegungen  und  Haltungen  des  menschlichen  Körpers  in 
H.  von  Kleists  Erzählungen"  (Diss.  Tübingen  1917  )  nicht  so  recht  der  Mühe, 
die  die  hier  angewandte  Groossche  statistische  Methode  erfordert.  —  Da- 
gegen gelangt  K.  Wächters  Buch  „Kleists  Michael  Kohlhaas,  ein  Bei- 
trag zu  seiner  Entstehungsgeschichte"  (Forschungen  z.  Litg.,  52.  Bd., 
Weimar  1918)  in  eindringender  und  scharfsinniger  Nachprüfung  aller 
quellen-  und  textkritischen  Fragen  zu  einer  klaren  Aufrollung  der  all- 
mähhchen  Entstehungsgeschichte,  deren  drei  Phasen  bestimmt  werden 
durch  das  zunächst  rein  ethische  Problem,  zu  dem  das  Rachemotiv  in 
der  zweiten  und  die  politische  Tendenz  mit  dem  Bekenntnis  zum  Preußen- 
tum  in  der  dritten  Fassung  hinzutritt. 

Die  Aufsätze  von  B.  Luther,  „H.  voa  Kleists  Patriotismus  und  Staatsidee" 
(Neue  Jahrb.  37,  1916)  und  G.  Fittbogeu,  „H.  von  Kleists  vaterländische  Dich- 
tungen" (Deutsche  Rundschau  43.  Bd.,  1917),  sowie  die  Abhandlung  von  M.  Fischer, 
„H.  von  Kleist,  der  Dichter  des  Preußentums"  (Stuttgart  1916),  waren  aus  dem 
nationalbeschwingten  Geiste  ihrer  Entstehungszeit  geboren. 

Von  der  großen  von  August  Sauer  herausgegebenen  Grillparzer- 
ausgabe  (1909  ff.)  hat  nur  die  zweite  und  dritte  Abteilung  inzwischen 
eine  Förderung  erfahren.  Als  7.  und  8.  Band  der  zweiten  Abteilung 
liegen  die  „Tagebücher  und  hterarischen  Skizzen"  von  1808 — 1830 
(1914  und  1916  erschienen)  vor,  chronologisch  geordnet  und  damit 
gegenüber  früheren  sachlich  gegliederten  VeröfFentlichungon  eine  Fülle 
neuer  fruchtbarer  Anregungen  bietend.  In  dieser  Zusammenstellung 
gleichen  die  auf  lose  zerstreut  liegenden  Blättern  fixierten  Einfälle 
und  Gedanken,  Zitate,  Lesefrüchte,  Pläne  und  Entwürfe  den  Aufzeich- 
nungen Hebbels,  den  Studienheften  von  NovaHs  oder  den  Aphorismen- 
büchern Lichtenbergs,  dessen  überraschend  starken  Einfluß  auf  Grill- 
parzer  Sauer  bedeutsam  hervorhebt.  Für  die  Briefe,  Dokumente  und 
Aktenstücke  ist  eine  neue,  3.  Abteilung  der  Ausgabe  eröffnet  wor- 
den, der  sich  auch  das  Generalregister  anschließen  soll.  —  Der  erste 
Band  der  „Briefe  und  Dokumente"  von  1797 — 1826  folgt  technisch 
den  Ausgaben  der  Briefe  Kants,  Herbarts,  Uhlands,  Platens ,  indem 
er  auch  die  an  den  Dichter  gerichteten  Schreiben  mit  aufnimmt,  wo- 
durch Grillparzer  tatsächlich  „weit  weniger  isoliert  erscheint,  als  man 
sich  ihn  für  gewöhnlich  vorzustellen  pflegt".  Der  sechste  Band  (1915 
erschienen)  bietet  mit  den  „Aktenstücken"  (1813 — 1856)  ein  Bild  von 
der  Amtstätigkeit  des  Dichters,  der  43  Jahre  lang  Tag  für  Tag  die 
besten  Stunden  dem  Dienste  der  österreichischen  Finanzverwaltung  widmen 
mußte!  Aus  der  Masse  der  in  dieser  langen  Dienstzeit  von  Grillparzer 
bearbeiteten  Akten  sind  charakteristische  Proben  zum  Abdruck  gebracht 
und  alles  übrige,  soweit  es  sich  in  mühevoller  Durcharbeitung  der  in 
Betracht  kommenden  Materialien  feststellen  heß,  ist  nach  Inhalt  und 
Umfang  in  Regestenform  verzeichnet.  Die  Einleitung  entwirft  in  knappen 
Zügen  ein  Bild  dieser  amtlichen  Tätigkeit,  —  Mit  dem  20.  Bande  der 

108 


„Schriften  des  literarischen  Vereins  in  Wien"  nähert  sich  die  gleichfalls 
von  A.  Sauer  besorgte,  alle  bisherigen  Ausgaben  und  Werke  ergänzende 
Publikation  „Grillparzers  Gespräche  und  die  Charakteristiken  seiner 
Persönlichkeit  durch  die  Zeitgenossen"  mit  den  Zeugnissen  von  1871/72 
und  den  Nachträgen  ihrem  Ende;  nur  ein  Anmerkungsband  soll  noch 
nachfolgen.  —  Durch  das  langsame  Weitererscheinen  der  Ausgabe  und 
die  leider  immer  noch  durchgeführte  Sperrung  des  Grillparzerarchivs 
ist  die  Einzelforschung  in  den  Berichtsjahren  nur  mit  fünf  größeren 
Arbeiten  vertreten.  Vorangestellt  sei  die  Festgabe  zu  A.  Sauers  60.  Ge- 
burtstage: „Grillparzers  Ahnen"  (1915),  in  der  Payer  von  Thurn 
in  glücklicher  Anknüpfung  an  des  Jubilars  eigene  „  Studien  zur  Familien- 
geschichte Grillparzers"  ein  Musterbeispiel  schwierigster  archivalischer 
Forschung  gibt,  ein  Gebiet,  das  dem  Literarhistoriker  meist  ferner  zu 
liegen  pflegt  und  das  bei  dem  heute  immer  stärker  betonten  Werte  der 
Stammes-  und  Familienforschung  größere  Beachtung  verdiente.  — 
H.  Geißlers  Münchener  Dissertation  „Grillparzer  und  Schopenhauer" 
(1915)  zeigt  auf  Grund  der  Übereinstimmungen  zwischen  dem  Dichter  und 
dem  Philosophen,  daß  zahlreiche  enge  und  wichtige  Beziehungen  bestehen 
und  zwar  in  ungleich  größerem  Maße,  als  man  gemeinhin  anzunehmen 
pflegte.  Gut  wird  dabei  herausgearbeitet,  wie  wohl  einesteils  der  direkte 
Einfluß  evident  erscheint,  andrerseits  aber  der  Grund  der  Übereinstim- 
mung tiefer  zu  suchen  ist:  nicht  in  unmittelbarer  Abhängigkeit,  nicht 
in  gemeinsamen  Vorbildern,  sondern  in  den  allgemeinen  Anschauungen 
imd  den  immanenten  Lebensgefühl  der  Zeit.  —  H.  Brauns  Arbeit  über 
„Grillparzers  Verhältnis  zu  Shakespeare"  (Diss.  München  1916)  ver- 
folgt die  Entwicklung  dieses  Verhältnisses  von  dem  rein  Stofflichen 
der  ersten  tastenden  Jugendversuche  über  eine  Stufe  technisch  -  formaler 
Gefolgschaft  bis  zu  der  Epoche  eines  inneren  Anschlusses,  wo  der  eng- 
hsche  Dramatiker  zum  Vorbilde  wird,  von  dem  Grillparzer,  ohne  nach- 
zuahmen, zu  lernen  vermochte  und  das  mit  klärender  Einwirkung 
auf  seine  künstlerische  Auffassung  sein  eigenes  Schaffen  vertiefte.  — 
K.  Bestes  Abhandlung  „Grillparzers  Verhältnis  zur  politischen  Tendenz- 
dichtung seiner  Zeit"  (Diss.  München  1915)  bedeutet  eine  erwünschte 
Ergänzung  zu  der  Marburger  Dissertation  von  W.  Bücher  über 
„Grillparzers  Verhältnis  zur  Politik  seiner  Zeit"  (1913),  indem  sie  der 
Charakteristik  des  Menschen  und  Politikers  als  eines  josephinisch  er- 
zogenen Österreichers,  eines  kirchlich  loyalen  Wieners  und  eines  mit 
reichsdeutscher  Art  im  wesentlichen  zerfallenen  Partikularisten  eine 
Untersuchung  seiner  ästhetisch  -  formalen  Stellung  zum  Problem  der 
politischen  Poesie  hinzufügt.  Danach  ist  für  Grillparzer  eine  mehr 
oder  minder  schroffe  Ablehnung  der  einzelnen  literarischen  Erscheinungen 
dieser  Art  besonders  wegen  ihres  Mangels  an  rein  menschlichen  Pro- 
blemen nachweisbar,  obwohl  er  selbst  in  eigenen  politischen  Gedichten 
die  an  anderen  gerügten  Fehler  durchaus  nicht  immer  vermieden  hat. 
In  seinen  Dramen  erscheinen  dagegen  solche  Probleme  ganz  vom  Streit 
der  Tagesmeinungen  geläutert  und  in  die  Sphäre  reiner  Dichtkunst  er- 
hoben. —   L.    Hradeks   „Studien    zu   Grillparzers   Altersstil   und   die 

109 


Datierung  des  Estherfragments"  (Prager  deutsche  Studien  24.  Bd.,  1915) 
suchen  die  undatierten  Esthertragmente  auf  stilkritischem  Wege  chrono- 
logisch zu  bestimmen. 

Während  Kleist  und  Grillparzer  bereits  im  letzten  Viertel  des 
19.  Jahrhunderts  zu  voller  literargeschichtlicher  Würdigung  gelangt 
waren,  ist  den  beiden  großen  Dramatikern  der  Übergangszeit  vom 
Klassizismus  zum  Realismus,  Büchner  und  Grabbe,  erst  verhältnismäßig 
spät  die  künstlerische  Anerkennung  und  wissenschaftliche  Beachtung 
zuteil  geworden.  Den  fast  vergessenen  Namen  Georg  Büchners 
hatte  zunächst  nur  die  Sozialdemokratie  —  freilich  unter  einseitiger  Be- 
tonung des  sozialen  Vorkämpfers  und  Revolutionärs  —  wieder  zu  Ehren 
gebracht;  Chr.  D.  Grabbes  barocke  Persönlichkeit  veranlaßte  erst 
die  wesensverwandtere  Generation  seit  dem  Beginn  des  20.  Jahrhunderts 
zu  tieferem  Eindringen.  Die  letzten  Jahre  haben  zwei  wertvolle  Bei- 
träge zur  Forschung  aufzuweisen.  M.  Zobel  von  Zabeltitz'  ge- 
haltvolles Buch  „Georg  Büchner,  sein  Leben  und  Schaffen"  (Bonner 
Forschungen,  N.  F.  8.  Bd.,  1915)  gibt  mit  sicherer  Klarheit  eine  bio- 
graphische Darstellung  des  zerrissenen,  von  heißer  Leidenschalt  durch- 
wühlten Jünglings,  der  sich  mit  Hilfe  des  „erbarmungslos  scharfen 
Blickes  des  Mediziners  und  Naturforschers"  zur  Meisterung  des  Lebens 
durchringt,  und  untersucht  seine  Individualität  im  Zusammenhang  mit 
der  politischen  Zeittendenz,  mit  der  Vereinsamung  des  Ichs,  im  Ver- 
hältnis zu  Natur  und  Universum.  —  W.  Schulte  wendet  sich  mit 
seiner  Münsterischen  Dissertation  „Chr.  D.  Grabbes  Hohenstaufendramen" 
(1917)  mit  Erfolg  wieder  der  kritischen  Würdigung  der  dichterischen 
Werke  Grabbes  zu,  nachdem  die  frühere  Forschung  sich  viel  zu  viel 
mit  ausführlichen  Psychogrammen  beschäftigt  hatte.  Lehrreich  ist  be- 
sonders die  Charakteristik  der  Schafi'ensart,  durch  die  manche  bisherige 
Urteile  übei'zeugend  berichtigt  werden;  neu  die  Aufhellung  des  Zu- 
sammenhanges mit  Justus  Moser  und  der  Nachweis  mehrerer  Quellen.  — 
Die  Dissertation  H.  von  Eis  „Grabbe  als  Kritiker"  (Marburg  1917) 
bespricht  in  chronologischer  Anordnung  die  einzelnen  kritischen  Äuße- 
rungen des  Dichters  und  sucht  sie  aus  seiner  Persönlichkeit  zu  erfassen, 
wobei  eine  vertieftere  literarhistorische  Betrachtung  wohl  manches  schiefe 
Urteil  besonders  über  die  „Shakespeare-Manie"  berichtigt  haben  würde. 

Die  grundlegende  Ausgabe  für  die  Hebbelforschung  bleibt  diejenige 
R.  M.  Werners,  deren  dritte  vielfach  verbesserte  Auflage  eigentlich 
zu  Hebbels  hundertstem  Geburtstage  abgeschlossen  vorliegen  sollte.  War 
sie  damals  (1913)  bis  zum  14.  Bande  vorgerückt,  so  ist  sie  nunmehr 
zu  Ende  geführt  worden.  Doch  hat  R.  M.  Werner,  durch  ein  tragisches 
Geschick  verhindert,  nicht  mehr  den  Schlußstein  in  diesen  seinen  Lebens- 
bau einfügen  können;  die  letzten  beiden  Bände  des  Anhanges  sind  in 
seinem  Sinne  von  Julius  Wähle  bearbeitet  worden.  Die  wichtigste 
Ändei'ung  dieser  dritten  Auflage  gegenüber  den  beiden  ersten  besteht 
in  der  Trennung  des  Textes  vom  kritischen  Apparat,  welcher  mit  den 
Anmerkungen  in  drei  Ergänzungsbänden  zu  den  zwölf  Textbänden  zu- 
sammengefaßt   ist,    während    ein    vierter    Band    alles    inzwischen    neu- 

110 


erschlossene  Material  bringt.  —  Als  Ergänzung  zu  dieser  Ausgabe  tritt 
die  seit  1911  im  Erscheinen  begriffene  von  P.  Bornstein  muster- 
haft besorgte  „Säkularausgahe  von  Hebbels  sämtlichen  Wex-ken  nebst  den 
Tagebüchern  und  einer  Auswahl  der  Briefe.  München  u.  Leipzig",  von 
der  außer  den  beiden  vor  dem  Kriege  erschienenen  Bänden  unterdessen 
vier  weitere  Bände  (1914:  III  u.  W,  1921:  V  u.  VI)  hervorgetreten 
sind.  Diese  Ausgabe  ist  —  wie  der  Horen-Schiller  und  der  Propyläen- 
Goethe  desselben  Münchener  Verlages  —  auf  dem  chronologischen  An- 
ordnungsprinzip aufgebaut  mit  Einschluß  der  vollständigen  Tagebücher 
und  der  wichtigeren  Briefe.  Auf  diese  Art  ist  es  in  überraschender 
Deutlichkeit  möglich,  das  außergewöhnliche  Werden  dieser  Dichter- 
persönlichkeit zu  verfolgen,  zumal  die  wissenschaftliche  Zuvei-lässigkeit 
und  der  feinsinnige  Takt  des  Herausgebers  die  vielfach  äußerst  schwie- 
rige Datierungsfrage  überall  glücklich  gelöst  hat.  Dabei  gehen  die 
Anmerkungen  in  eigener  Forschung  wie  in  der  Verwertung  der  ein- 
schlägigen Literatur  zum  Teil  weit  über  R.  M.  Werners  Feststellungen 
hinaus.  —  Die  Einzelforschung  hat  sich  den  verschiedensten  allge- 
meineren und  besonderen  Problemen  philosophischer,  stilistischer  und 
philologischer  Richtung  zugewandt.  Die  an  sich  gut  geschriebene, 
ideen-  und  beziehungsreiche  Arbeit  von  Klara  Hof  er  „Friedrich 
Hebbel  und  der  deutsche  Gedanke"  (Stuttgart  1916)  steigert  Hebbel 
leider  so  ins  Mystisch  -  Symbolistische  hinein ,  daß  auch  die  das  ganze 
Buch  durchziehende  ehrliche  Begeisterung  für  den  Mangel  an  philo- 
sophischer und  literarhistorischer  Schulung  nicht  zu  entschädigen  ver- 
mag. —  Gut  fundiert  auf  einer  vollständigen  statistischen  Material- 
sammlung im  Sinne  der  Groosschen  Methode  ist  dagegen  die  Tübinger 
Dissertation  von  J.  G.  Wenter  „Die  Paradoxie  als  Stilelement  im 
Drama  Hebbels  (1915),  die  im  Anschluß  an  den  Aufsatz  von  Groos 
über  „Den  paradoxen  Stil  in  Nietzsches  Zarathustra"  (Ztschr.  f.  an- 
gewandte Psychologie,  Bd.  VIII,  1913)  verfaßt  ist.  Das  paradoxe  Aus- 
drucksraoment,  das  für  Hebbel  in  sieben  Dramen  mit  544  Fällen  belegt 
werden  kann,  entspricht  dem  innersten  Wesen  dieses  Dichters,  seinem 
Mangel  an  innerer  Harmonie,  seiner  Kampfstellung,  seinem  Bedürfnis  nach 
konzentrierter  Rede,  seiner  scharfen  Ironie,  aber  auch  dem  ästhetischen 
Bedürfnis,  in  die  große  Spannung  der  Handlung  fortwährend  kleinere 
Spannungen  einzustreuen.  —  „Hebbels  Anschauungen  über  die  ältere 
deutsclie  Literatur"  nimmt  Emilie  Loose  zum  Gegenstand  einer  be- 
sonderen Untersuchung  (BerUn  1919,  Teildruck  Diss.  Heidelberg  1917), 
bei  der  das  Wort  „ältere"  freilich  nicht  im  Sinne  der  fachmäßig 
üblichen  Beschränkung  auf  die  ahd.  und  mhd.  Periode  zu  verstehen  ist. 
Sie  gibt  zunächst  in  möglichster  „Objektivität,  Anschaulichkeit  und  Voll- 
ständigkeit" Hebbels  Bild  vom  Gange  der  literarischen  Entwicklung  bis 
zum  Ausgang  der  Klassiker,  die  versteckten  Äußerungen  aus  Werken, 
Tagebüchern  und  Briefen  nach  dem  historischen  Verlaufe  der  deutschen 
Literatur  ordnend  und  der  Lektüre  Hebbels,  seinen  Zitaten  und  Urteilen 
über  einzelne  Erscheinungen  besondere  Beachtung  schenkend.  Aus  der 
Gesamtheit   aller   dargestellten  Äußerungen   werden   dann   in   vorsichtig 

111 


abwägender  Beurteilung  Rückschlüsse  auf"  die  Eigenheiten  der  Hebbel- 
schen  Anschauungsweise  gezogen.  —  Das  Buch  von  E.  Tannenbaum, 
„Hebbel  und  das  Theater"  (Hebbel -Forschungen  Nr.  7,  1915)  unter- 
sucht, wieweit  sich  Hebbel  mit  den  Bedingungen  der  Bühnenkunst  ab- 
findet, welche  Elemente  für  Inszenierung,  Schauspielkunst  und  Publikum 
er  mitbringt,  in  welcher  Weise  er* der  Umsetzung  des  schriftlich  fest- 
gelegten Dramas  in  der  szenischen  Erscheinungsform  entgegenkommt 
oder  inwiefern  er  sich  ihr  widersetzt.  Zur  Sicherstellung  der  Resultate 
werden  die  Nachlese-  und  Soufflierbücher  mit  Erfolg  verwertet.  —  In 
methodisch  vorbildlicher  Art  der  Untersuchung  und  erfreulich  klarer 
Darstellung  prüft  R.  Ebhardts  Buch  „Hebbel  als  Novellist"  (Berlin  1916) 
den  Inhalt  der  Erzählungen  nach  Motiven,  Charakteren,  Weltanschauung 
sowie  nach  Form,  Komposition,  Charakteristik  und  Darstellung.  Über- 
zeugend werden  die  literarischen  Einflüsse,  vor  allem  derjenige  Contessas, 
nachgewiesen.  Besonders  ansprechend  ist  auch  das  Kapitel  über  die 
„Psychologische  Begründung"  der  Novellen  aus  dem  Charakter  des 
Dichters  und  den  damaligen  Verhältnissen.  Vielleicht  hätten  die  von 
R.  M.  Werner  im  8.  Bande  mitgeteilten  Pläne  noch  eine  Berücksichtigung 
erfahren  sollen.  —  Auch  Emilie  Hoestermanns  „Beiträge  zur  Technik 
in  Hebbels  Tagebuch"  (Diss.  Bonn  1917)  bieten  mit  ihrer  künstlerischen 
Bewertung  des  Tagebuches  eine  wertvolle  Ergänzung  der  Hebbelliteratur. 
Die  Geschlossenheit  desselben  liegt  in  der  Persönlichkeit  Hebbels,  es 
soll  den  Weg  seiner  Entwicklung  zeigen ;  daher  das  Fehlen  von  Tages- 
notizen, Daneben  aber  finden  sich  Aneinanderreihungen,  die  verschiedene 
Lösungsversuche  desselben  Problems  darstellen,  Lektürestellen,  die  sich 
aus  Gleichklang  mit  oder  Protest  gegen  eigene  Ansichten  oder  als 
Parallelen  zu  dem  eigenen  Leben  einprägten,  schließlich  äußerliche  Ideen- 
assoziationen, die  aber  durch  ihre  Erläuterungskraft  bedeutsam  für 
Hebbel  werden.  —  Die  Bonner  Dissertation  von  H.  Bender  über 
„Hebbels  Ditbmarschenfragraent"  (1914)  kommt  auf  Grund  einer  ge- 
nauen Durchsicht  und  Prüfung  der  Handschriften  zu  einer  durchaus 
überzeugenden,  die  Wernersche  Anschauung  als  unhaltbar  erweisenden 
Neuanordnung  des  Fragmentes.  —  Ebenso  vermag  A.  H.  Saedlers 
Untersuchung  über  „Hebbels  Moloch"  (Forschungen  zur  neueren  Litgsch., 
51.  Bd.,  1916)  mit  genauen  neuen  Lesungen  der  Handschriften  R.  M. 
Werners  Text  nicht  unwesentlich  zu  berichtigen  und  gute  Deutungs- 
versuche beizubringen.  —  Auch  der  Lyriker  Hebbel  ist  Gegenstand  der 
Forschung  gewesen,  indem  W.  Jahn  in  seiner  Leipziger  Dissertation 
(1916)  die  „Dramatischen  Elemente  in  Hebbels  Jugendballaden"  heraus- 
zuarbeiten bemüht  war.  Er  zeigt  die  Verwandtschaft  der  „inneren 
Form "  zwischen  Hebbels  dramatischen  und  balladesken  Dichtungen  auf 
und  verfolgt  die  Entwicklung  der  Jugendballaden  von  den  ungeschickten 
konventionellen  Nachahmungen  fremder  Vorbilder  bis  zu  dem  Meister- 
werk „Schön  Hedwig",  von  wo  aus  es  nun  bloß  noch  eines,  eine  reichere 
Entfaltungsmöglichkeit  bietenden  Stoffes  bedarf,  um  den  engen  Kreis 
der  Ballade  zur  Tragödie  großen  Stiles  zu  erweitern.  —  Einen  Beitrag 
zu    Hebbels    Charakteristik    als    Politiker    und   nationaler   Schriftsteller 

112 


bietet  schließlich  eine  auf  sorgfaltigster  Sammlung  des  gesamten  nicht 
leicht  zugänglichen  Materials  an  Zeitungen,  Witzblättern,  Schmäh-  und 
Drohschriften  beruhende  Arbeit  P.  Krischs  mit  dem  Titel  „Hebbel 
und  die  Tschechen.  Das  Gedicht  An  S.  Maj.  König  Wilhelm  von 
Preußen.  Seine  Entstehung  und  Geschichte"  (Prager  Dtsche.  Studien, 
H.  22).  Mit  ihrer  Beleuchtung  der  historischen  Grundlagen  gibt  sie  ein 
interessantes  Bild  aus  dem  österreichischen  Nationalitätenkampf. 

Für  das  wissenschaftliche  Studium  des  Gesamtschaffens  Otto  Lud- 
wigs lagen  die  Grundlagen  lange  im  Argen,  vor  allem  deshalb,  weil  die 
wenigen  von  diesem  größten  Fragmentisten  der  deutschen  Literatur  bei 
Lebzeiten  veröffentlichten  Werke  nur  einen  geringen  Bruchteil  seiner  Lebens- 
arbeit darstellen  und  bei  weitem  das  meiste  nur  in  handschriftlicher  Fas- 
sung vorliegt.  Wenn  auch  niemand  daran  denken  kann,  diesen  gewal- 
tigen Nachlaß  mit  seiner  Überfülle  skizzierter  und  halbvollendeter  Dich- 
tungen dem  Druck  zu  übergeben  (was  etwa  100  Bände  füllen  würde), 
so  hat  die  Wissenschaft  doch  die  Pflicht,  sich  näher  mit  diesem  von 
quellender  Phantasie  und  schärfster  Selbstkritik  hin  und  hergeworfenem 
Dichtergeschick  zu  beschäftigen.  Nachdem  bald  nach  Ludwigs  Tod 
G.  Freytag  und  vor  allem  die  treue  Freundeshand  Moritz  Hejdrichs 
aus  diesem  literarischen  Scherbenberg  manches  an  Dichtungen  und 
Studien  herausgezogen  hatte,  gab  1891  die  von  Erich  Schmidt  unter- 
stützte sechsbändige  Ausgabe  A.  Sterns  erstmalig  die  Möglichkeit,  tiefer 
in  das  künstlerische  Schaffen  Ludwigs  hineinzublicken.  Die  unphilo- 
logische Textbehandlung  Sterns,  die  nicht  selten  den  Wortlaut  Ludwigs 
zu  bessern  suchte  und  gelegentlich  ganze  Sätze  und  Verse  strich,  be- 
deutete freilich  einen  recht  unsicheren  Boden,  den  V.  Schweitzer  1896 
wenigstens  für  die  Hauptwerke  in  seiner  dreibändigen  in  der  Text- 
behandlung selbständigen  Ausgabe  fester  zu  fundieren  suchte.  Aber 
erst  die  große  gemeinsam  mit  dem  Goethe-  und  Schillerarchiv  und  nam- 
haften Gelehrten  herausgegebene  Ausgabe  P.  Merkers  (München 
19 12 ff.),  die  von  all  den  zahlreichen  Fragment  gebliebenen  Dramen, 
Novellen  und  sonstigen  Schöpfungen  wenigstens  eine  Fassung  mitteilen 
und  im  Apparat  Bericht  über  den  meist  komplizierten  Entwicklungs- 
gang der  einzelnen  dichterischen  Versuche  geben  wird,  darf  mit  dem 
Anspruch  auftreten,  gesicherte  Grundlagen  für  das  wissenschaftliche 
Studium  dieser  Dichterpersönlichkeit  zu  bieten.  Nachdem  vor  dem  Be- 
richtszeitraum die  beiden  ersten  Bände  hervorgetreten  waren,  ist  unter- 
dessen diese  Ausgabe  auf  sechs  Bände  angewachsen.  Der  3.  Band 
(1914),  je  zur  Hälfte  von  Merker  und  H.  H.  Borcherdt  besorgt,  brachte 
den  Roman  „Zwischen  Himmel  und  Erde"  und  Novellenfragmente.  Im 
selben  Jahre  trat  auch  der  Erbförsterband  (6.)  hervor,  der  dem  Ge- 
samtplane folgend  wenigstens  einmal  an  einem  Werke  dieses  Dichters 
die  lückenlose  Entstehungsgeschichte  mit  allen  ihren  tastenden  Versuchen 
und  zahlreichen  Umarbeitungen  vorführen  und  damit  einen  Einblick  in 
die  Arbeitsweise  dieses  Dichters  und  die  Technik  des  Kunstschaffens 
überhaupt  bieten  sollte.  So  veröffentlicht  Merk  er  hier  neben  dem 
kritisch  gesäuberten  Text  des  Erbförsterdramas  erstmalig  auf  280  meist 
Wissenschaftliche  ForschuBgsberichte  VUI.  8 

113 


in  Petit  gesetzten  Seiten  nicht  nur  ein  den  ersten  Ausgangspunkt  der 
etwa  zehn  Jahre  umfassenden  Entstehungsgeschichte  bildendes  abge- 
schlossenes Drama  „Die  Waldburg",  dessen  ganz  andere  Motivwelt  nur 
in  erst  ganz  leisen  Ansätzen  das  spätere  Erbförsterdrama  ahnen  läßt, 
sondern  auch  über  ein  Dutzend  im  einzelnen  oft  bereits  weit  gediehener 
Entwürfe  und  Pläne,  deren  innere  Zusammenhänge  und  langsame  Motiv- 
wandlung im  Zusammenhang  mit  den  äußeren  meist  von  E.  Devrient 
ausgehenden  Anregungen  die  ausführliche  Einleitung  dieses  Bandes  ein- 
gehend darlegt.  War  während  des  Krieges  eine  Portführung  nicht 
möglich,  so  konnten  nach  längerer  Pause  19 '2  2  zwei  neue  Bände  die.ser 
Ausgabe  hervortreten.  In  Band  IV  ließ  H.  II.  Borcherdt  (der  Haupt- 
mitarbeiter Merkers)  den  Lyriker  Ludwig  auferstehen ,  indem  er  neben 
den  bereits  bekannten  Gedichten  zahlreiche  lyrische  Schöpfungen  erst- 
malig zum  Abdruck  brachte.  Auch  hier  sucht  der  ausführliche  Apparat 
mit  allen  Mitteln  philologischer  Akribie  der  Entstehungs-,  Handschriften- 
und  Druckgeschichte  der  einzelnen  Gedichte  nachzugehen.  Wenn  auch 
vom  künstlerischen  Standpunkt  aus  gesehen  das  lyrische  Schaffen  Lud- 
wigs die  schwächste  Seite  seines  dichterischen  Schaffens  bildet,  so  fallen 
doch  auch  von  diesem  Bande  viele  neue  Lichter  auf  die  geistige  Eigen- 
art dieses  Dichters,  zumal  im  ganzen  über  240  Gedichte  (also  etwa  das 
Dreifache  der  Sternschen  Ausgabe)  hier  gesammelt  erscheinen.  Der 
kritische  Abdruck  des  „Hans  Frei"  beschließt  diesen  Band,  dem  sich 
—  von  Expeditus  Schmidt  herausgegeben  —  der  5.  anreiht,  der  die 
Jugenddramen  „Die  Torgauer  Heide",  „Die  Rechte  des  Herzens", 
„Das  Fräulein  von  Scuderi",  „Die  Pfarrrose"  in  gereinigter  Gestalt  dar- 
bietet und  wiederum  in  den  beigefügten  Lesarten  und  Entwürfen  wich- 
tiges neues  Material  zur  Entstehungsgeschichte  dieser  Jugendschöpfungen 
bringt. 

Angeregt  durch  die  neue  Ludwigausgabe  und  von  deren  Heraus- 
geber verschiedentlich  gefördert  haben  zwei  Greifswalder  Dissertationen 
sich  um  die  nähere  Erforschung  einzelner  Fragmente  gemüht.  B.  Fischers 
verständnisvolle  Arbeit  über  „O.  Ludwigs  Trauerspielplan:  Der  Sand- 
wirt von  Passeier  und  sein  Verhältnis  zu  den  Shakespearestudien"  (1916) 
bestimmt  die  in  mehreren  Heften  verteilten  Niederschriften  nach  ihrer 
zeitlichen  Reihenfolge,  legt  die  Entwicklung  des  Planes  dar,  weist  die 
historischen  Quellen  nach  und  untersucht  das  Verhältnis  zu  den  in  Frage 
kommenden  anderen  Hoferdichtungen.  Nach  einer  eingehenden  Dar- 
stellung der  Skizzen  wird  ihre  Beziehung  zu  den  Shakespearestudien  be- 
handelt und  im  Verlaufe  der  Untersuchung  die  völlige  Übereinstimmung 
zwischen  Theorie  und  Praxis  aufgezeigt.  —  Margarete  Mählichs  Erst- 
lingsschrift „Otto  Ludwigs  Romanplan  Dämon  Geld  und  sein  Verhältnis 
zu  den  Romanstudien"  (1918)  vermag  nach  genauer  Datierung  der 
zahlreichen  handschriftlichen  Skizzen  und  Entwürfe  drei  Arbeitsstufen 
zu  scheiden,  aus  deren  letzter,  wenn  dem  Fragment  ein  Ausreifen  beschieden 
gewesen  wäre,  „sicher  ein  autobiographischer  Roman  hervorgegangen  wäre, 
der  mit  zu  Ludwigs  bedeutendsten  Werken  gehört  hätte."  Ahnlich  wie 
bei  Fischer    wird    dann    der    Gang    der    Handlung   mit   den  wichtigsten 

114 


Ergänzungen  und  Abweichungen  der  einzelnen  Skizzen  herausgeschält, 
das  Fragment  in  Beziehung  zur  zeitgenössischen  Erzählungshteratur  ge- 
setzt und  die  Übereinstimmung  mit  der  Theorie  der  Romanstudien  er- 
wiesen. —  Zwei  weitere  Arbeiten  wenden  sich  technischen  Problemen 
der  Ludwigforschung  zu.  H.  Fresdorfs  Straßburger  Dissertation  ,,Die 
Dramentechnik  0.  Ludwigs"  (19 15)  verfolgt  die  Entwicklung  der  Cha- 
rakterisierungskunst bis  zum  Höhepunkt  des  .,  Erbförsters '•  und  erkennt 
im  Dialog  eine  Entwicklung  von  realistischer  Gesprächsführung  zu  einem 
poetischen  ReaHsmus  mit  innerlich  motivierter  Gedankenfülle.  —  R.  Lind- 
ners Arbeit  „Das  technische  Problem  von  Ort  und  Zeit  in  den  Dramen  und 
dramatischen  Theorien  von  O.  Ludwig"  (Dissert.  Basel  1918)  kann  für 
dieses  technische  Sonderproblem  ebenfalls  eine  deutlich  aufsteigende  Ent- 
wicklung aufzeigen  von  einer  noch  stark  umständlichen  Bearbeitung  des 
Ortes  und  einer  zu  sehr  gewollt  erscheinenden  Absichtlichkeit  in  der  Zeit- 
behandlung zur  Erfüllung  von  Ludwigs  eigener  theoretischer  Forderung: 
„  Ort  und  Zeit  nur  ideal  zu  behandeln ".  Leider  fußen  beide  Arbeiten 
nur  auf  dem  zur  Zeit  gedruckt  vorliegenden  Material.  Die  von  Lindner 
in  Aussicht  gestellte  größere  Arbeit  „Die  dramatische  Technik  0.  Lud- 
wigs "  würde  nur  durch  ausgedehnte  Heranziehung  der  Handschriften 
Anspruch  aufbleibende  Beachtung  machen  können.  —  H.  H.  Borcherdts 
Aufsatz:  „O-  Ludwigs  Novelle  Die  Emanzipation  der  Domestiken"  (in 
den  Abhandlungen  zu  Franz  Munkers  60.  Geburtstag.  München  1916) 
verfolgt  sorgfältig  an  der  Hand  der  Tagebuchnotizen,  Briefe  und  Ent- 
würfe die  Entstehungsgeschichte  der  Novelle  und  weist  Eichendorff,  Tieck, 
E.  Th.  A.  HofFmann  und  Hauff  als  Quellen  für  den  Stoff,  romantische 
Ideen  als  Quelle  für  die  Motiv-  und  Gedankenwelt  nach ,  betont  aber 
dabei  mit  Recht,  daß  „die  Variationen  zu  den  romantischen  Melodien 
doch  eigene  Opera  des  Künstlers"  sind.  —  Auf  den  soeben  (1922)  er- 
schienenen umfangreichen  ersten  Band  der  unter  dem  Titel  „Les  oeuvres 
dramatiques  d'  Otto  Ludwig"  hervorgetretenen  neuen  Ludwigstudien  des 
französischen  Forschers  L.  Mis  und  das  den  Titel  „Les  etudes  sur 
Shakespeare  d'  Otto  Lud  v/ig"  führende  Parallelwerk  desselben  Gelehrten 
(Lille  1922)  sei  wenigstens  bibliographisch  mit  Nachdruck  hingewiesen. 

Die  Arbeit  von  A.  Scotti  „0.  Li;dwig  in  seiner  Stellung  zur  italienischen  Re- 
naissance" (Dissert.  Freiburg  i.  Schweiz  1917)  vermag  in  ihrem  Hauptteü  mit  der 
essayartigen  Gegenüberstellung  von  0.  Ludwig  und  Leonardo  da  Vinci  nichts  die  lite- 
rarische Forschung  irgendwie  Förderndes  zu  bieten,  gibt  aber  durch  die  stärkere  Be- 
tonung von  Ludwigs  durch  die  Dresdener  Galerie  nahegelegter  Beschäftigung  mit  der 
italienischen  Kunst,  die  der  Dichter  vielfach  mit  Shakespeare  in  Beziehung  setzt,  und 
den  Hinweis,  daß  Ludwig  die  Probleme  der  Renaissance  durch  das  Medium  Shake- 
speares erfaßte,  eine  beachtenswerte  Anregung,  das  Problem  einmal  in  diesem  Sinne 
näher  zu  betrachten. 

Eine  Reihe  von  Dissertationen,  die  einzelnen  Dramatikern  zweiter  und  dritter 
Größe  des  19.  Jahrhunderts  gewidmet  ist,  kann  zusammenfassend  dahin  beurteilt 
werden,  daß  sie  in  fleißiger  Materialsammlung  und  Einzelbetrachtung  z.  T.  recht  gute 
Vorarbeiten  für  eine  Geschichte  des  neueren  Dramas  darstellen,  bei  ihrer  rein  indi- 
vidualistisch-monographischen Behandlungsart  aber  und  dem  Mangel  an  größeren  Ho- 
rizontweiten sich  kaum  einmal  über  das  Durchschnittsniveau  braver  Erstlingsarbeiten 
erbeben.  Gerade  bei  an  sich  wenig  bedeutenden  literarischen  Erzeugnissen  müßte 
genaue  historische  Kenntnis  das  zeitgeschichtlich  Bedingte   herauszuheben  versuchen 

8* 

115 


und  so  über  die  Einzelerscheinung  hinaus  einen  Beitrag  zur  Geschichte  des  Massen- 
kunstgeschmackes  oder  zur  üeschichte  der  dramatischen  Technik  erbringen.  In  der 
Reihenfolge  ihrer  Ergiebigkeit  genannt,  sind  folgende  Arbeiten  zu  verzeichnen: 
Fr.  Koch,  Albert  Lindner  als  Dramatiker  (Forschgn.  z.  n.  dtsch.  Lit.  47,  1915); 
M.  Glatzel,  J.  L.  Klein  als  Dramatiker  (Bresl.  Beitr.  N.  F.  42,  1914);  Else  Hes: 
Ch.  Birch-l'feiffer  als  Dramatikeriu  (ebd.  38,  1914).  —  Hingewiesen  sei  hier  auch 
auf  A.  von  Weilens  Band:  „Ch.  Birch-Pfeiffer  und  H.  Laube  im  Briefwechsel'* 
(Sehr,  d  Ges.  f.  Theatergesch.  27,  191b),  eine  Publikation,  die  ganz  nette  Aufschlüsse 
über  Laubes  Persönlichkeit  und  die  temperamentvolle  weiblich-widerspj-uchsreiche  Art 
der  Birch-Pfeiffer  gibt,  dei'cn  Erträgnis  ihre  Aufnahme  in  die  Sammlung  aber  kaum 
rechtfertigt;  genannt  wenig.stens  .seien  die  Arbeiten  von  AV.  Schenkel,  ,, Roderich 
Benedix  als  Lustspieldichter"  (Frankfurt  1916),  Gertrud  Weinschenk,  „Isaac 
V.  Sinclair  als  Dramatiker"  (Diss.  München  1918)  und  L.  West,  „Martin  Greifs 
Jugenddramen"  (Dtsch.  Quellen  u.  Studien,  hrsg.  v.  W.  Kosch,  H.  5,  1916). 

§  11.    Das  junge  Deutschland  und  der  Zeitroman 

Ahnlich  wie  für  Grabbe  und  Büchner  haben  auch  für  das  Junge 
Deutschland  die  letztvergangenen  Jahre  ein  starkes  Anwachsen  des 
Interesses  gezeigt.  Dem  Jungen  Deutschland  als  einer  geistigen  Gesamt- 
ersclieinung  sind  drei  Dissertationen  gewidmet.  Wenig  will  die  Fest- 
stellung F.  Petitpierres  besagen,  der  das  Thema  „Heinse  in  den 
Jugendschriften  der  Jungdeutschen"  (Zürich  1915)  behandelnd  nur  eine 
Wirkung  des  „ Ardinghello"  nachzuweisen  vermag,  die  auch  nur  für 
Laube  deutlicher  aufgezeigt  werden  kann.  —  Dagegen  war  es  ein  Ver- 
dienst von  D.  B.  Öubotic,  mit  seiner  Untersuchung  über  „Rahel  Levin 
und  das  Junge  Deutschland"  (München  1915)  den  vielfach  überschätzten 
Einfluß  dieser  Frau  auf  das  gebührende  Maß  gebracht  zu  haben.  Per- 
sönlich sind  mit  ihr  überhaupt  nur  Heine,  Börne  und  Gustav  Kühne  in 
Berührung  getreten;  am  deutlichsten  steht  der  Kritiker  ihrer  Briefe 
Th.  Mundt  unter  ihrem  Einfluß,  Gutzkow  nur  insofern,  als  er  in  eigenen 
Gedanken  durch  ihre  Äußerungen  bestärkt  wird  und  einzelnen  Personen 
seiner  Werke  Züge  von  ihrer  Eigenart  leiht.  Ihr  Einfluß  auf  Laube 
tritt  völlig  zurück  hinter  der  Wirkung  der  Juli-  und  Polenrevolution 
und  bei  Gustav  Kühne  ist  kaum  mehr  ein  direkter  Zusammenhang  nach- 
weisbar. —  Einen  wertvollen  Beitrag  zur  Kenntnis  des  Jungen  Deutsch- 
land stellt  schließlich  noch  die  aus  philosophisch-pädagogischen  Studien 
hervorgegangene  Leipziger  Dissertation  von  K.  Möckel  „Der  Gedanke 
der  Menschheitsentwicklung  im  Jungen  Deutschland"  (1916)  dar.  Das 
Thema  wird  in  seiner  politischen ,  sozialen,  metaphysischen  und  ästhe- 
tischen Auswirkung  behandelt,  der  jeweilige  Einfluß  Börnes  und  Heines 
aufgezeigt  und  in  seiner  Aufnahme  und  Abwandlung  in  den  einzelnen 
führenden  jungdeutschen  Individualitäten  dargestellt. 

Für  Gutzkow,  Laube  und  Prutz  im  besonderen  können  die  aus  den 
Berichtsjahren  vorliegenden  Arbeiten  die  Forschung  nur  in  einzelnen  Teilen 
ergänzen,  ohne  sie  damit  wesentlich  zu  bereichei'n.  0.  Baumgards 
Münchener  Dissertation  „Gutzkows  dramaturgische  Tätigkeit  am  Dres- 
dener Hoftheater  unter  besonderer  Berücksichtigung  seiner  Bühnenbear- 
beitungen" (1915J  gipfelt  in  dem  Urteil,  daß  die  Schärfe  der  an  Gutzkow 
geübten    Kritik    in    manchem    auf    ein    gerechteres    Maß    zurückgeführt 

116 


werden  muß  und  daß  es  Gutzkow  doch  gelungen  sei,  dem  Dresdener 
Theaterleben  für  eine  kurze  Zeit  den  Stempel  seiner  Persönlichkeit  auf- 
zudrücken und  innerhalb  der  ihm  gesteckten  Grenzen  Bedeutendes  zu 
leisten. 

Die  umfangreiche  Arbeit  von  E.  Metis  „Karl  Gutzkow  als  Dramatiker.  Mit 
Benutzung  unveröffentlichter  Stücke"  (Breslauer  Beiträge  zur  Literaturgeschichte, 
Heft  48)  kommt  dagegen  fast  nirgends  über  eine  bloße  Aneinanderreihung  von  Inhalts- 
angaben hinaus.  —  Auch  Maria  Moormann  bietet  mit  ihrer  Arbeit  „Die  Bühnen- 
technik Heinrich  Laubes''  (Theatergeschichtliche  Forschungen,  hrsg.  v.  B.  Litzmann, 
H.  30,  1917)  nichts  weiter  als  eine  fleißige  Aneinanderreihung  einzelner  technischer 
Beobachtungen,  aus  denen  nicht  viel  mehr  herausspringt  als  die  nicht  eben  neue  Tat- 
sache, daß  Laube  die  äußeren  Mittel  bühnenwirksamer  Technik  ausgezeichnet  beherrscht 
hat.  —  Ebenso  hat  K.  Nolle  in  seiner  Dissertation  „Laube  als  sozialer  und  politi- 
scher Schriftsteller"  (Münster  1915)  ohne  innere  Verarbeitung  und  tiefere  Erfassung 
des  Problems  nur  eine  gute  Zusammenstellung  gegeben,  die  aber  teilweise  berichtigt 
werden  muß.  [So  kann  z.  B.  Rahel  Varnhagen  nicht  auf  die  „  Poeten "  eingewirkt 
haben,  da  diese  schon  im  Druck  waren,  als  Laube  die  Tagebücher  in  die  Hand  bekam]. 

Für  Robert  Prutz  bringt  E.  Hohenstatters  Münchener  Dissertation 
„Über  die  politischen  Romane  von  R.  Prutz"  (1918)  eine  Ergänzung 
des  Lyrikers  und  Dramatikers  nach  der  Seite  seiner  Prosaschriftstellerei ; 
diese  ist  ebenfalls  durchaus  politische  Dichtung,  aus  der  Absicht  ent- 
standen, sich  selbst  zu  rechtfertigen  und  der  Gesellschaft  einen  Spiegel 
ihrer  Schäden  und  Lächerlichkeiten  vorzuhalten.  —  Bedeutender  sind 
die  vorUegenden  Leistungen  zur  tieferen  Ei'forschung  Georg  Herweghs. 
K.  Heu  so  Id.  weist  in  einer  Münchener  Dissertation  (1916)  über 
„G.  Herwegh  und  seine  deutschen  Vorbilder"  (1916)  im  einzelnen  die 
starke  Abhängigkeit  von  Schiller  und  den  Lyrikern  der  Befreiungskriege 
sowie  von  Börne  und  Gutzkow  nach  und  zeigt  den  Einfluß  von  Platen, 
Hölderlin  und  Heine  auf  die  unpolitische  Lyrik.  Ganz  Herwegh  eigen 
ist  dagegen  die  gewaltige  Leidenschaftlichkeit,  die  sein  gesamtes  Schaffen 
durchzieht.  —  Zu  einem  ganz  ähnlichen  Resultat  kommt  die  tüchtige  Zü- 
richer Dissertation  von  E.  Baidinger  „  Georg  Herwegh.  Die  Gedanken- 
welt der  Gedichte  eines  Lebendigen",  indem  sie  auch  für  die  religiösen, 
philosophischen,  politischen  und  ästhetischen  Ansichten  überall  eine  enge 
Anlehnung  an  vorhandene  Strömungen  nachweisen  kann;  ihre  charak- 
teristische Eigenart  aber  erhalten  diese  Gedanken  durch  das  starke  Über- 
wiegen des  Gefühlsmomentes.  —  „Herwegh  als  Übersetzer"  behandelt 
W.  Kilian  (Breslauer  Beiträge  Nr.  43,  1915)  in  einer  von  gründlich- 
ster Beherrschung  des  Stoffes  und  sicherer  Methodik  zeugenden  Arbeit, 
Sie  bringt  in  zwei  Hauptabschnitten  die  Betrachtung  der  Lamartine- 
und  der  Shakespeareübersetzung  und  behandelt  dazwischen  die  Beranger- 
übertragungen,  deren  Einfluß  auf  die  „  Gedichte  eines  Lebendigen "  viel- 
leicht noch  zu  untersuchen  gewesen  wäre.  Aufschlußreich  sind  auch  die 
Vergleiche  mit  den  Übersetzungen  von  Schwab,  Leuthold  und  Friedr. 
Götz,  von  A.  W.  Schlegel  und  Tieck.  Bei  den  neueren  Shakespeare- 
verdeutschungen wäre  auf  Gundolf  und  die  in  „Shakespeare  und  der 
deutsche  Geist"  aufgestellten  wichtigen  prinzipiellen  Gesichtspunkte  hin- 
zuweisen gewesen. 

Zwei   Münchener  Dissertationen    befassen    sich   mit   zwei   weiteren   Vertretern 

117 


dos  Jungen  Deutschland,  die  bisher  noch  wenig  behandelt  wurden.  Einem  der  Ex- 
tremsten der  Richtung,  der  fast  schon  an  der  Stelle  steht,  wo  sich  die  Bewegung 
übersclüägt  und  beinahe  zur  Polemik  gegen  ihren  Ausgangspunkt  wird,  ist  F.  Him- 
nahs  Arbeit  „Ernst  AVillkomm.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Jungen  Deutsch- 
land'" (München  1915)  gewidmet.  Mit  Kocht  wird  nur  die  Periode  bis  184S  be- 
handelt, wo  Willkomm  in  seinen  „ Europamüden "  und  „"Weißen  Sklaven"  Stellung 
zu  den  sozialen  und  politischen  Zuständen  der  Zeit  nimmt,  während  er  in  seinen  spä- 
teren Schriften  —  abgesehen  von  den  Uamburger  Handelsromanen  im  Stile  Gustav 
Freytags  —  ganz  in  der  Tages-  und  selbst  Kolportageliteratur  versinkt.  —  Mit  einem 
Dichter  aus  dom  Prager  Kreise  des  „Jungen  Böhmens"  sucht  U.  C.  Ades  Arbeit 
,, Der  junge  Alfred  Meißner"  (München  1914)  näher  bekannt  zu  machen,  indem  er 
die  Jugendlyrik  in  ihrer  Entwicklung  und  ihrer  mannigfachen  Beeinflussung  durch 
Lenau ,  sowie  durch  die  jungdeutschen  und  englischen  Lyriker  untersucht  und  zum 
Schluß  das  Epos  ,,  Ziska"  eingehender  behandelt,  ohne  jedoch  irgendwie  tiefer  in  die 
Dinge  einzudringen. 

E.  Berneisens  Münsterische  Dissertation  (1914),  die  „Hoffmann  von 
Fallersleben  als  Vorkämpfer  und  Erforscher  der  niederländisch-flämischen 
Literatur"  würdigt,  gibt  eine  eingehende  und  ergebnisreiche  Untersuchung 
von  Iloffmanns  Bemühungen  um  die  niederländische  Literaturgeschichte, 
zeigt  den  Anteil  auf,  den  er  als  beinahe  einziger  Deutscher  an  der  flä- 
mischen Bewegung  in  den  schweren  Jahren  ihres  Entstehens  hatte,  und 
behandelt  eingehend  seine  Verdienste  um  die  Sammlung  und  Wieder- 
erweckung des  altniederländischen  Volksliedes.  Eine  Zusammenstellung 
von  dankbar  begeisterten  Urteilen  belgischer  und  niederländischer  Freunde 
und  Forscher  beschließt  die  verdienstliche  Studie,  eine  der  wenigen,  die 
sich  mit  den  literarischen  Beziehungen  zwischen  den  stammverwandten 
Völkern  beschäftigt. 

Über  Julius  Mosen,  der  mit  seinen  teils  romantischen,  teils  jung- 
deutschen Zügen  merkwürdig  zwischen  diesen  beiden  literarischen  Rich- 
tungen steht,  während  ihn  im  Grunde  seine  eigentUche  Begabung  zur 
Heimatkunst  wies,  liegen  nicht  weniger  als  drei  Dissertationen  vor. 
Während  W.  Schwetjes  öde  Zettelkastenzusaramenstellung  mit  dem 
Titel  „Naturgetübl  in  Julius  Mosens  Novellensaramlung  Bilder  im 
Moose"  (1916)  nicht  scharf  genug  abgelehnt  werden  kann  und  auch 
A.  Fehns  Arbeit  über  „Die  Geschichtsphilosophie  in  den  historischen 
Dramen  Julius  Mosens  (Erlangen  1915)  mit  ihren  nichtssagenden  Inlialts- 
angaben  der  historischen  Dramen  besser  ungeschrieben  geblieben  wäre, 
bietet  K.  J^esse  in  seiner  Untersuchung  über  „Julius  Mosens  Theorie 
der  Tragödie''  (Münster.  Dissertation  1915)  einen  wertvollen  Forschungs- 
beitrag. Mit  großer  Beherrschung  der  zeitgenössischen  Literatur  leitet 
er  Mosens  dramatische  Theorie  aus  den  geistigen  Strömungen  der  Hegel- 
schen  Philosophie  und  der  jungdeutschen  Tendenzen  ab,  stellt  sie  in  den 
Zusammenhang  der  historischen  Entwicklung,  beleuchtet  Mosens  Stellung 
zum  klassischen  und  romantischen  Drama,  zum  bürgerlichen  Schauspiel, 
zur  Künstlertragödie  und  zur  Oper,  um  schließlich  auf  diesem  breiten 
Untergrunde  Mosens  Forderung  der  historischen  Tragödie  ausführlich 
darzulegen.  Ein  aufschlußreicher  Vergleich  mit  Hebbel  und  eine  knappe, 
aber  wohl  fundierte  Übersicht  über  das  historische  Drama  neben  und 
nach  Mosen  runden  die  tüchtige  Arbeit  gut  ab. 

HS 


M.  Appelmanns  Dissertation  „H,  W.  Longfellows  Beziehungen 
zu  F.  Freiligrath"  (Münster  1916)  bringt  vielfach  neues  Material  zur 
Klärung  der  persönlichen  Beziehungen  bei,  behandelt  dann  die  Über- 
setzung von  zehn  Longfellowschen  Gedichten  und  sucht  den  Einfluß 
Freiligraths  auf  Longtellow  nachzuweisen.  —  Der  Wert  von  M.  Bol- 
lerts  Arbeit  „F.  Freiligrath  und  G.  Kinkel"  (Bromberg  1916)  liegt 
vor  allem  in  dem  Abdruck  von  bisher  meist  unveröflFentlichten  Briefen 
Kinkels  an  Freiligrath,  einer  langentbehrten  Ergänzung  der  Bucher- 
schen  Ausgabe,  wodurch  endlich  ein  Urteil  über  Art  und  Verlauf 
der  persönlichen  Beziehungen  ermöglicht  wird.  —  Einen  guten  Ein- 
blick in  Kinkels  früheste  Jugenddichtung  gibt  K.  Enders'  Studie 
„G.  Kinkel  im  Kreise  seiner  Kölner  Jugendfreunde"  (Bonn  1913).  — 
J.  Halle rm an ns  Münsterische  Dissertation  „Freiligraths  Einfluß  auf 
die  Lyrik  der  Münchner  Dichtersehule"  (1917)  kann  unter  Benutzung 
der  von  J.  Schwering  am  Schlüsse  seiner  Freiligrathbiographie  gegebenen 
Fingerzeige  den  Einfluß  Freiligraths  auf  den  Grafen  von  Schack  und 
Hermann  Lingg  in  einer  Fülle  von  inhaltlichen  und  formalen  Parallelen 
darlegen,  besonders  auch  im  Hinblick  auf  die  Reimkunst,  wobei  als 
sicherstes  Kriterium  eine  Liste  der  exotischen  Reime  bei  Schack  sowohl 
wie  bei  Lingg  den  bedeutenden  Einfluß  ihres  Vorbildes  zeigt.  —  G.  Kleins 
Züricher  Dissertation  „Freiligrath.  Eine  Erscheinung  aus  der  Stil- 
geschichte" (1919)  ist  in  ihrem  biographischen  Material  wenig  zuverlässig, 
zeugt  aber  vielfach  von  feinsinniger  Behandlung  der  Stilprobleme. 

Mit  dem  Schafien  Christian  Friedrich  Scherenbergs  befassen  sich 
eine  Marburger  Dissertation  von  E.  Klein,  „Chr.  F.  Scherenbergs 
Epen"  (Teildruck  1916)  und  die  Leipziger  Arbeit  von  R.  Ulich, 
„Chr.  F,  Scherenberg.  Ein  Beitrag  zur  Literaturgeschichte  des  19.  Jahr- 
hunderts" (Probefahrten  Nr.  27,  1917).  Zu  bedauern  ist  hierbei  nur, 
daß  die  Hauptteile  beider  Abhandlungen,  die  die  genaue  Aufhellung  des 
biographischen  Momentes  anstreben,  fast  übereinstimmend  ausgefallen 
sind  und  so  doppelte  Arbeit  geleistet  wurde,  da  eben  beide  Bearbeiter 
im  Verlaufe  ihrer  Untersuchung  auf  dieselben  Quellen  hingeführt  werden 
mußten.  Da  Kleins  Arbeit  früher  im  Druck  vorlag,  wäre  es  vielleicht 
angebrachter  gewesen  (was  freilich  den  natürlich  nicht  ganz  leichten 
Verzicht  auf  den  Nachweis  der  eigenen  gründlichen  Studien  bedeutet  hätte), 
wenn  Ulich  seine  durch  gewichtigere  Empfehlungen  etwas  reichlicher 
fließenden  Nachrichten  als  Ergänzungen  zu  Klein  gegeben  und  den 
Schwerpunkt  seiner  Arbeit  auf  eine  genauere  Durchforschung  des  hand- 
schriftlichen Materials  gestützt  hätte,  das  ihm  wohl  zugänglich  gemacht 
worden  wäre.  Der  zweite  Teil  der  Arbeit  würdigt  das  lyrische  Schaffen 
Scherenbergs  nach  seiner  nicht  zu  unterschätzenden  Bedeutung  und  ordnet 
die  märkisch-preußische  Balladeudichtung  in  die  Überlieferung  der  nord- 
deutschen Ballade  von  Alexis  bis  Münchhausen  ein. 

Bei  der  Beurteilung  von  Vertretern  des  Zeitromans  um  die  Mitte 
des  19.  Jhs.  macht  sich  allmählich  wieder  eine  objektive  und  damit 
gerechtere  Würdigung  bemerkbar.  War  doch  besonders  Friedrich  Spiel- 
hagen von  der  Generation  des  Naturalismus  wegen   seiner  in  der  Mitte 

119 


zwischen  epigonenhaft -klassizistischem  IdeaUsmus  und  modernem  Rea- 
lismus stehenden  Dichtung  und  Theorie  scharf  bekämpft  worden,  ohne 
Kücksichtnahme  auf  das,  was  der  deutsche  Roman  ihm  tatsächlich  ver- 
dankte. Es  ist  das  Verdienst  von  V.  Klemperer  in  seiner  Münchener 
Arbeit:  „Die  Zeitromane  F.  Spielhagens  und  ihre  Wurzeln"  (Forschgn 
z.  n.  Litg.  Bd.  43,  1913)  nachdrücklich  auf  das  Neue  in  Spielhagens 
Werk  hingewiesen  zu  haben.  Er  sondert  dieses  vorwärts  weisende  Ele- 
ment von  dem  zeitlich  Bedingten  durch  die  Charakterisierung  der  un- 
mittelbar vorher  herrschenden  literarischen  Atmosphäre,  wie  sie  in  den 
großen  Romanen  Laubes,  Immermanns,  Gutzkows  und  Freytags  zum 
Ausdruck  kommt,  und  betrachtet  das  Verhältnis  von  Spielhagens  theo- 
retischen Ansichten  zu  denjenigen  seiner  Vorgänger,  zu  seiner  eigenen 
Praxis  und  zu  den  Angriffen  seiner  Gegner.  —  Diesen  theoretischen  An- 
schauungen Spielhagens  widmet  Martha  Geller  eine  eingehende  Sonder- 
betrachtung in  der  Bonner  Dissertation  „F.  Spielhagens  Theorie  des 
Romans"  (Bonner  Forschgn,  N.  F.  Bd.  10,  1917),  indem  sie  die  theo- 
retischen Äußerungen  in  ein  System  einordnet  und  ihre  Übereinstimmung 
mit  der  Praxis  seiner  poetischen  Werke  feststellt.  —  Auf  H.  Schier - 
dings  Münsterische  Dissertation  „Untersuchungen  über  die  Roman- 
technik F.  Spielhagens"  (1915),  die  ihr  Thema  unter  Benutzung  unver- 
öffentlichter Manuskripte  behandelt,  sei  nur  hingewiesen. 

Die  über  H.  J.  König  bisher  noch  fehlende  literarhistorische  Untersuchung  gibt 
H.  Halbeisen  in  seiner  ebenfalls  in  Münster  erarbeiteten  Dissertation  „H.  J.  König, 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deiitschen  Romans  im  19.  Jahrhundert"  (1915)  unter 
besonderer  Betonung  des  biographischen  Momentes  und  einer  Würdigung  dieses  Schrift- 
stellers als  eines  Vertreters  des  historischen  Tendenzromans.  Kulturhistoriscli  von 
besonderem  Interesse  sind,  wie  sich  zeigt,  die  zahlreichen  Anspielungen  in  den  Ro- 
manen auf  literarische  und  musikalische  zeitgenössische  Erscheinungen. 

Der  sogenannte  exotische  Roman  wird  in  seinem  Hauptvertreter  in 
Deutschland,  Friedrich  Gerstäcker,  von  B.  Jacobstroer  in  einer  Greif s- 
walder  Dissertation  „Die  Romantechnik  bei  F.  Gerstäcker"  (1914)  unter- 
sucht. Der  Hauptreiz  dieser  Romangattung  liegt  in  den  für  die  Zeit 
neuen  Stoffen  und  der  spannenden,  oft  leidenschaftlichen  Handlung,  die 
in  einer  bewußt  aufgebauten  realistischen  Technik  vorgeführt  wird. 
Leider  ermüden  die  im  einzelnen  gut  gegebenen  Analysen  durch  die 
nach  demselben  Schema  erfolgende  vierfache  Wiederholung,  und  der 
Mangel  einer  Hineinstellung  Gerstäckers  in  den  literarischen  Zusammen- 
hang mit  entsprechenden  deutschen  und  vor  allem  englisch -amerikani- 
schen Erscheinungen  läßt  die  Arbeit  nicht  über  ein  mittleres  Gesamt- 
niveau herauskommen.  —  Den  fast  nur  als  Romanschriftsteller  bekannten 
Levin  Schücking  würdigt  H.  A.  Schulte  nach  der  lyrischen  Seite,  in- 
dem er  seine  Betrachtung  gleich  mit  auf  einen  anderen  Westphalen  und 
Freund  der  Annette  von  Droste,  Wilhelm  von  Junkmann,  ausdehnt: 
„Levin  Schücking  und  Wilhelm  Junkmann  als  Lyriker"  (Münster  191 G). 
Gegenüber  der  gewiß  wertvollen,  seinerzeit  besonders  von  der  Frauen- 
welt hochgeschätzten  Lyrik  Schückings,  die  aber  überall  deutliche  Ein- 
flüsse der  Romantik,  Annettes  von  Droste,  Freiligraths  und  Uhlands 
aufzuweisen  hat,   erscheinen   die  Jugendgedichte  des  späteren  Breslauer 

120 


Universitätsprofessors  W.  Junkmann  selbständiger  in  ihrer  Mischung  voa 
antiker  Geistesrichtung  und  neuzeitlicher  Art  mit  der  Lockerung  der 
Komposition  und  der  Mißachtung  des  Metrums.  Leider  begnügt  sich 
der  Verfasser  nur  mit  der  Feststellung  dieser  Tatsachen,  ohne  das  ver- 
schiedene Schaffen  der  beiden  Lyriker  aus  dem  Kernpunkt  des  Persön- 
lichen zu  erfassen. 

§  12.  Realismus 

Über  „das  poetische  Bild  bei  A.  von  Droste-Hülshoff"  (For- 
schungen u.  Funde,  hrsg.  v.  Jostes,  4.  Bd.  3.  H.,  1916)  gibt  Anna 
Balkenhob  eine  auf  reichem  übersichtlich  geordnetem  Material  fußende 
Abhandlung.  Sie  zeigt  die  subjektive  Bestimmtheit  von  Annettes  Diktion 
auf,  ihren  Unterschied  gegenüber  der  voraufgehenden  und  gleichzeitigen 
romantischen  Stilkunst,  ihre  Übereinstimmung  mit  und  ihre  Verschieden- 
heit von  Goethes  Bildersprache.  Die  Droste  schafft,  wie  im  einzelnen 
ausgeführt  wird,  im  „ malerischen '^  Stil,  dessen  Werkzeuge  neben  dem 
Epitheton  vor  allem  Vergleich,  Metapher  und  Personifikation  sind.  Die 
Wurzeln  ihrer  Bildersprache  sind  die  ausgeprägte  Neigung  und  Bega- 
bung zur  Beobachtung  von  Natur-  und  Menschenleben,  gestützt  auf  eigen- 
artig feine  Sinneseindrücke  und  psychologischen  Scharfblick,  ein  tiefes 
Gemüts-  und  reiches  Geistesleben,  eine  sehr  rege  und  stark  kombina- 
torische Phantasie  und  in  bezug  auf  die  Form  eine  große  Sprachbega- 
bung. Leider  hat  die  Verfasserin  der  tüchtigen  Arbeit  die  Dichtungen 
in  ungebundener  Rede  gar  nicht  berücksichtigt.  —  Ein  anderer  For- 
schungsbeitrag aus  weiblicher  Feder,  Anna  Freunds  Münchener 
Dissertation  über  „Annette  von  Droste-Hülshoff  in  ihren  Beziehungen 
zu  Goethe  und  Schiller  und  in  der  poetischen  Eigenart  ihrer  ge- 
reiften Kunst"  (1915)  weist  den  Einfluß  Schillers  auf  die  Jugend- 
gedichte besonders  in  bezug  auf  die  Diktion  nach,  demgegenüber  aber 
bereits  starke  Ansätze  zu  Eigenem  stehen  in  der  Erfassung  der  Pro- 
bleme in  der  Richtung  auf  das  Ernste,  im  Hang  zum  Grübeln  sowie  in 
der  ungewöhnlichen  Abstraktionsfähigkeit.  Daneben  lassen  sich  Spuren 
Goetheschen  Einflusses  besonders  aus  den  Balladen  aufdecken.  Das 
Drama  „Bertha"  geht  ganz  in  Schillers  Bahnen,  das  Epos  „Walther" 
ist  geistig  von  Goethes  Jugendwerken,  formal  von  Schiller  abhängig; 
das  Romanfragment  „Ludwina"  steht  dem  Gefühlsgehalt  nach  auf  der 
Wertherstufe,  ist  stilistisch  von  „Wilhelm  Meister",  inhaltlich  von  „Cla- 
vigo"  beeinflußt,  zeigt  aber  in  Anlage  und  Technik  bereits  selbständige 
Züge.  In  der  Zeit  der  Reife  stehen  nur  die  „Klänge  aus  dem  Orient" 
mit  der  „Barmekiden  Untergang"  und  „Bajazet"  als  bewußte  Nach- 
ahmungen des  „Divan"  da;  sonst  hat  die  Droste  in  dieser  späteren 
Epoche  ihren  eigenen  Stil  gefunden. 

Eine  von  gründlicher  Beherrschung  des  Stoffes  und  sorgfältiger  Benutzung  der 
Literatur  zeugende  Arbeit  stellt  schließlich  F.  Heitmanns  Buch  „A.  v,  Droste- 
Hülshoff  als  Erzählerin"  (Münster  1914)  dar;  doch  sind  die  tatsächlichen  Ergebnisse 
etwas  dürftig. 

121 


Dem  Erstlingsroman  von  Wilibald  Alexis,  der  1823  bei  seinem  ersten 
Erscheinen  einen  Welterfolg  bedeutete  und  für  einen  W.  Scott  gebalten 
wurde,  bis  das  Erscheinen  des  dritten  Bandes  die  lachende  Auf  klärung 
der  parodistischen  Absicht  brachte,  von  dem  aber  heute  nur  noch  zwei 
Exemplare  in  Berlin  und  Marburg  existieren,  ist  die  Marburger  Disser- 
tation von  H.  F.  Kohler:  „Walladmar  von  W.  Alexis.  Untersuchungen 
des  Romans  in  seinem  Verhältnis  zu  W.  Scott"  gewidmet  (1915).  iSie 
zeigt,  wie  Alexis  in  der  ganzen  Anlage  der  Erzählung  und  in  den  aben- 
teuerlichen Ereignissen,  die  sich  auf  die  typische  Gestalt  des  Helden  mit 
seiner  ästhetischen  Blässe  und  dem  leidenden  Verhalten  konzentrieren, 
Scott  nachahmt,  wie  er  dessen  Charaktere  teils  direkt  oder  doch  nur 
durch  kleine  von  anderen  übertragene  Züge  leicht  verändert  übernimmt, 
teils  mehrere  Figuren  in  eine  verschmilzt.  Er  kupiert  ferner  die  Situa- 
tion als  Ausgangspunkt,  Weg  und  Ziel  des  Interesses  und  übernimmt 
den  Dialog  und  die  gleichmäßig  ohne  Spannung  fortlaufende  Erzählung 
mit  den  stilistischen  Formen  und  Eigentümlichkeiten  seines  Vorbildes, 
Eine  parodistische  Stellung  nimmt  Alexis  vor  allem  Scotts  Breite  gegen- 
über ein.  Er  übertrifft  ihn  in  den  unendlich  langatmigen  Schilderungen, 
verspottet  seine  Vorliebe  für  den  Dialog,  zieht  Scotts  Sonderlinge  tief 
ins  Lächerliche  und  parodiert  das  Genrehafte  und  wunderbar  Roman- 
hafte durch  Überbietung.  Neues  bringt  er  durch  das  Einführen  der 
Anekdote  und  durch  die  Pflege  der  geschichtlichen  Legende,  die  ersten 
Anzeichen  seiner  künftigen  Weiterentwicklung  über  Scott  hinaus. 

Mehrfach  sind  im  Berichtszeitraum  diejenigen  Dichter  des  Realis- 
mus, die  man  als  Heimat-  bzw.  Dialektdichter  zu  bezeichnen  pflegt, 
wissenschaftlich  gefördert  worden.  Besonders  zu  begrüßen  ist  es,  daß 
nunmehr  das  schnelle  Weitererscheinen  der  großen  Ausgabe  der  Werke 
Jeremias  Gotthelfs  gesichert  ist,  da  die  Regierung  des  Kantons  Bern 
einen  jährlichen  Zuschuß  beisteuert  (J.  Gotthelis  Sämtliche  Werke  in 
24  Bänden.  In  Verbindung  mit  der  Familie  Bitzius  hrsg.  von  Rud. 
Hunziker  und  Hans  Bloesch.  Erlenbach-Zürich,  Eugen  Rentsch  Verlag). 
Nachdem  1911/12  mit  dem  7.  und  17.  Bande  zwei  Teile  hervorgetreten 
waren,  konnten  erst  1916  und  1917  zwei  weitere  Bände  herausgebracht 
werden,  darunter  als  9.  Band  der  hochinteressante  Sozialisteuroman 
,,  Jakobs  des  Handwerksgesellen  Wanderung  durch  die  Schweiz";  1920 
und  1921  sind  dagegen  schon  vier  weitere  Bände  erschienen.  Die  großen 
Schwierigkeiten  in  der  Textgestaltung  gerade  dieser  Ausgabe  sind  fast 
durchweg  glücklich  überwunden ;  einige  Ungleichheiten  der  einzelnen 
Bände  untereinander  [die  sachlichen  und  kritischen  Erläuterungen  der 
letzterschienenen  sind  knapper  gehalten]  erklären  sich  durch  die  lange 
Zi.-itspanne  des  Erscheinens.  —  Was  Ricard a  Huch  in  einem  Vortrag 
„Jeremias  Gotthelfs  Weltanschauung"  mit  scharfer  Charakteristik,  klarem 
Gedaukenbau  und  formvollendetem  Stil  in  warmer  Würdigung  zu  sagen 
hat,  gehört  mit  zum  Besten,  was  wir  über  Gotthelf  und  von  Ricarda 
Huch  besitzen.  —  Reclit  föi'derlich  ist  als  granmiatischer  Beitrag  auch 
die  Tübinger  Dissertation  von  H.  Gluck,  „Der  Dialekt  in  den  Dorf- 
geschichten B.  Auerbachs  und  M.  Meyrs"  (1914).     Der  für  seine  Auf- 

122 


gäbe  gut  vorbereitete  Verfasser  untersucht  den  Dialektstand  der  süd- 
deutschen Heimatdichter  sorgfältig  nach  Grammatik  und  Wortschatz 
und  betrachtet  dann  eingehend  die  Verwendung  dieses  Dialekts  als  Kunst- 
mittel und  nach  seiner  ästhetischen  Wirkung.  Für  Auerbach  ergibt 
sich  aus  der  ungenauen  und  inkonsequenten  Verwendung  der  schwä- 
bischen Mundart  ein  gewisses  Unbehagen  für  den  Leser,  der  durch  die 
häufige  Anwendung  von  nichtschwäbischen  Wörtern  und  Redewendungen 
fortwährend  aus  der  Illusion  der  schwäbischen  Erzählungsstimmung 
herausgerissen  wird.  Meyr  dagegen  erreicht  dort,  wo  er  den  Dialekt 
in  den  Reden  konsequ^t  verwendet,  die  gewollte  ästhetische  Wirkung 
in  der  Erhöhung  der  humoristischen  Wirkung;  wo  er  aber  sonst  die 
Mundart  verwendet,  verfährt  er  so  unsystematisch  und  willkürlich,  daß 
dadurch  nicht  nur  der  Dialekt  als  Kunstmittel  völlig  wertlos  wird,  son- 
dern sogar  der  hohe  künstlerische  Wert  der  Erzählung  eine  Beeinträch- 
tigung erfährt.  Besonders  deutlich  wird  das  Gesagte  durch  den  Schluß 
der  Arbeit,  der  darauf  hinweist,  wie  bei  Gottfried  Keller  die  schrift- 
sprachliche Literatur  durch  Übernahme  des  mundartlichen  Idioms  be- 
reichert wird  ohne  Preisgabe  der  schriftsprachlichen  Form.  Keller  er- 
reicht den  Klang  heimatlicher  Rede  unter  Aufgabe  der  mundartlichen 
Lautform  durch  Herübernahme  des  mundarthchen  Stils  und  in  der  Wort- 
wahl durch  Vermeidung  alles  Mundartlichen,  das  einer  Erklärung  be- 
dürfte, aber  auch  aller  Elemente  aus  fremden  Idiomen.  Die  tüchtige,  von 
dem  nunmehr  auch  dahingegangenen  Tübinger  Germanisten  Fischer  an- 
geregte Arbeit,  ist  ein  gutes  Beispiel  dafür,  wie  gründliche  gramma- 
tische Kenntnisse  und  Untersuchungen  auch  für  die  Literaturgeschichte 
fördernd  zu  verwerten  sind. 

Ein  Beispiel  abschreckendster  Art  bietet  dagegen  die  Dissertation  von  R.  Draeger 
„Doppelformel  und  Wortwiederholung  in  F.  Reuters  Hanne  Nüte'^  (l.?16)i  wo  ohne 
jede  Verarbeitung  oder  ästhetische  Schlußfolgerung  alle  unter  diese  Überschrift  fal- 
lenden Stellen  nach  Substantiv,  Adjektiv,  Verb,  Adverb,  notdürftig  geordnet,  einfach 
abgedruckt  werden!  Auch  die  Arbeit  von  F.  Keerl,  Die  Quellen  zu  F.  Reuters  „Ur- 
geschichte von  Mecklenburg'-  (Diss.  Greifswald  1913)  und  die  wenig  Neues  bietende 
Studie  von  Maria  Hälniers  über  den  .,  Politischen  und  kulturgeschichtlichen  Hinter- 
grund in  F.  Reuters  Ut  de  Franzosentid  •'  (Münster  1917)  erweisen  sich  als  magere 
Forschungsbeiträge. 

Während  die  dritte  biographische  Schilderung  Hansjakobs  durch 
J.  K.  Kempf  („H.  Hansjakob.  Sein  Leben,  Wirken  und  Dichten". 
Stuttgart  1917)  in  ihrem  skizzenhaften  Charakter  über  die  schon  vor- 
handenen Biographien  von  A.  Pfister  (l90l)  und  H.  Bischoff  (1903) 
wenig  hinauskommt,  hat  Hermann  AUmers  die  bisher  noch  ausstehende 
wissenschaftlich  geschlossene  Wertung  des  Menschen  und  Künstlers  er- 
fahren. Th.  Siebs  gibt  in  seiner  Monogi-aphie  „H.  AUmers.  Sein 
Leben  und  Dichten  mit  Benutzung  seines  Nachlasses  dargestellt"  (Berlin 
1915)  aus  genauester  Kenntnis  des  Gegenstandes  mit  der  Wärme  ver- 
ehrender Liebe  und  sicherster  Einfühlung  eine  Art  Selbstbiographie  des 
Dichters,  indem  er  ihm  unter  freier  Verwertung  des  Nachlasses,  kleiner 
Erinnerungen,    unvollendeter    Dichtungen    und   zahlreicher  Briefe    einen 

123 


großen  Teil  der  Schilderung  selbst  in  den  Mund  legt,    gleichzeitig  AU- 
mers  aus  der  Bildungsgeschichte  seiner  Zeit  begreifend. 

Den  volkstümlichen  Jugendschriftsteller  und  Verfasser  rheinischer  Dorfgeschichte» 
"W.  0.  V.  Hörn  (Wilh.  Oertel)  untersucht  W.  Diener  in  seiner  Straßburger  Disser- 
tation (1917)  auf  die  volkskundlichen  Elemente  seiner  Erzählungen  hin  und  betont  ihren 
kulturgeschichtlichen  AVert  für  die  Hunsrückor  bäuerlichen  Verhältnisse. 

Von  den  vier  Wilhelm  Raabes  Schaffen  gewidmeten  Dissertationen 
bieten  die  beiden  Greifswalder  Arbeiten  (W.  Jansen,  Absonderliche 
Charaktere  bei  Wilhelm  Kaabe,  1914,  und  H.  ligner,  Die  Frauen- 
gestalten W.  Raabes  in  seinen  späteren  Werken,  1916)  liebevoll  ge- 
sehene und  gut  gezeichnete  Charakterbilder.  —  Die  Marburger  Disser- 
tation von  Margarete  Bönneken  über  „W.  Raabes  Roman  Die 
Akten  des  Vogelsangs"  (1918)  sucht  eine  Entstehungsgeschichte  aus  dem 
„Urerlebnis"  im  „Persönlichen"  zu  geben,  die  gestaltenden  Kräfte  auf- 
zuzeigen, das  künstlerisch  Wertvolle  als  Gedankengehalt  und  Symbol- 
wert zu  formulieren  und  nachzuweisen ,  daß  Raabe  das  Problem  der 
inneren  Form  wohl  gekannt  habe.  —  Selbständiger  und  aufschlußreicher 
ist  }I.  Schillers  Freiburger  Dissertation  mit  dem  Titel  „Die  innere  Form 
W.  Raabes"  (1917).  Sie  wendet  sich  gegen  die  in  den  meisten  Raabe 
betreffenden  Schriften  geübte  Praxis,  einseitig  unter  der  gewaltigen  Sug- 
gestion des  überwiegend  Menschlichen  in  Raabe  den  Inhalt  seiner  Werke 
zu  betrachten.  Er  will  das  Problem  dieses  Künstlertums  rein  von  der 
Form  aus  untersuchen  und  die  Berechtigung  der  fast  allgemein  üblichen 
superlativischen  Einschätzung  auf  Grund  des  Verhältnisses  zu  den  ästhe- 
tischen Grundgesetzen  prüfen.  Wenn  er  dabei  auch  der  Gefahr  der 
Übertreibung  nach  der  anderen  Seite  nicht  entgeht,  so  werden  doch  in 
der  ßeziehungsetzung  zwischen  der  Persönlichkeit  des  Dichters  und  der 
Ausdrucksform  im  W^erke  wertvolle  Erkenntnisse  gewonnen,  die  für  den 
humoristischen  Stil,  die  Einkleidungsformen  und  die  Sprache  manchen 
neuen,  wenn  auch  nicht  immer  unanfechtbaren  Standpunkt  ergeben. 
Auch  das  Kapitel  Raabe  und  Jean  Paul  stellt  das  Verhältnis  zwischen 
den  beiden  vielfach  wesensverwandten,  aber  im  Grunde  doch  nur  zu- 
fällig übereinstimmenden  Dichtern  auf  eine  gute  Basis. 

F.  Th.  Vischers  Roman  „Auch  Einer"  ist  in  den  letzten  Jahren 
verschiedentlich  zum  Gegenstande  von  Einzelstudien  gemacht  worden. 
Aus  den  Berichtsjahren  liegt  eine  äußerst  gründliche  und  zusammen- 
fassende Züricher  Arbeit  von  Franza  Feilbogen  (Vischers  „Auch  Einer", 
1916)  vor,  die  eine  Reihe  guter  Feststellungen  enthält  und  einen  sehr 
brauchbaren  bibliographischen  Anhang  bietet.  —  H.  Kürbs'  „Studien  zur 
Pfahldorfgeschichte  aus  F.  Vischers  Roman  „Auch  Einer"  (Dissert. 
München  1915)  decken  die  Quellen  und  Anregungen  zu  der  SchiideruDg 
der  Pfahlbürger  auf,  wobei  neben  dem  Impuls  durch  wissenschaftliche 
Werke  auch  das  satirische  Moment  in  den  Angriffen  auf  den  Archäo- 
logenroman, auf  Richard  Wagner  und  auf  Züricher  Erlebnisse  dargelegt 
wird.  Daneben  ist  in  dem  Roman  den  Verdiensten  Ferdinand  Kellers 
um  die  Erforschung  und  Sammlung  der  Pfahlbaureste  ein  schönes  Denk- 
mal   gesetzt    worden,    während   Gottfried   Keilers  Gestalt,    Wesen    und 

124 


Werk  in  dem  Sängerbarden  Guffrud  Kullur  eine  poetische  Manifestation 
erhielt. 

Die  ungewöhnlich  große  Zahl  von  S  t  o  r  m  ausgaben  und  Auswahl- 
bänden, die  mit  Ablauf  der  Schutzfrist  seit  1918  hervorgetreten  ist, 
hat  der  Stormliteratur  auch  die  historisch- kritische  Ausgabe  gebracht 
in  den  von  A.  Köster  herausgegebeneu  acht  Bänden  des  Inselverlags 
(Leipzig  1919  — 1920).  Nach  den  von  Köster  selbst  in  seinen  auch  metho- 
disch w^ertvollen  „Prolegomena  zu  einer  Ausgabe  der  Werke  Storms" 
(Leipziger  Akademieabhandlung  von  1918)  festgesetzten  Prinzipien  ist 
hier  nach  der  bis  auf  Buchstaben  und  Interpunktion  erfolgten  Durch- 
arbeitung von  220  Manuskripten  und  Drucken  der  Text  allein  der 
Novellen  an  mehr  als  1550  Stellen  berichtigt  worden,  so  daß  die  mög- 
lichst reinste  Form  dadurch  hergestellt  ist.  Nach  einer  gehaltreichen 
Einleitung,  die  die  fortschreitende  Entwicklung  des  Dichters  in  der  Tiefe 
erfaßt  und  einleuchtend  darstellt,  bringt  der  erste  Band  die  von  Storm 
selbst  anerkannten  und  zusammengefaßten  Gedichte,  wobei  freilich  das 
Wagois  einer  Umgruppierung  trotz  der  Feinsinnigkeit  der  neuen  An- 
ordnung manchem  Widerspruche  begegnen  dürfte;  die „ Nachlese "  schließt 
sich  dann  in  streng  chronologischer  Reihenfolge  an.  Den  Schluß  des 
Bandes  bilden  die  Novellen  der  Frühzeit  und  der  Potsdamer  Jahre. 
Die  Bände  2  bis  7  bringen  die  folgenden  Novellen  chronologisch  ge- 
ordnet und  bandweise  nach  den  Lebensstationen  des  Dichters  abgeteilt; 
Band  8  wird  außer  von  den  autobiographischen  und  kritischen  Schriften 
von  den  164  Seiten  der  Anmerkungen  ausgefüllt,  die  zu  den  Gedichten 
den  vollständigen  Textapparat,  für  die  Novellen  das  Wichtigste  der 
Bibliographie  und  die  vollständigen  Abweichungen  von  früheren  Fassungen 
bringen,  so  daß  «das  Foi'schungsmaterial  mit  möglichster  Vollständigkeit 
vorliegt. 

Wird  somit  für  die  wissenschaftliche  Forschung  diese  Ausgabe  künftighin  die 
Grundlage  bilden  müssen,  so  genügen  [neben  der  bisher  allein  berechtigten  Wester- 
mannschen]  die  Ausgaben  von  A.  Biese  (Hesse  und  Becker)  und  Th.  Hertel  (Biblio- 
graphisches Institut)  ebenfalls  durchaus  den  Ansprüchen,  die  an  eine  gute  Ausgabe 
zu  stellen  sind,  wobei  die  von  der  Wärme  persönlicher  Beziehungen  belebte  Lebens- 
darstellung Bieses  und  die  besonders  eingehenden  Einleitungen  und  Eiiäutei-ungen 
Hertels  hervorzuheben  sind,  während  die  Textgestaltung  —  vor  allem  bei  Biese  — 
nicht  durchweg  befriedigt. 

Die  Einzelforschung  über  Storm  hat  sich  —  besonders  im  Hinblick 
auf  das  Jubiläumsjahr  1917  —  in  den  Berichtsjahren  überraschend  reich 
gestaltet,  wenn  freilich  auch  zum  Teil  mehr  breit  als  tief  Die  Grund- 
lage hierfür  bieten  die  zu  den  schon  seit  längerem  bekannten  Brief- 
wechseln mit  Mörike  und  Keller  neu  hinzutretenden  Briefsamm- 
lungen, von  denen  die  Tochter  des  Dichters  1915  die  Briefe  an  die 
Braut  und  die  Gattin,  1917  diejenigen  an  die  Kinder  und  1918  die  an 
die  Freunde  Brinkmann  und  Petersen  (sämtlich  bei  Westermann)  heraus- 
gab, denen  sich  der  Briefw^echsel  zwischen  Heyse  und  Storm  aus  den 
Jahren  1854—81  in  der  textkritisch  äußerst  sorgfältigen  Ausgabe  von 
G.  J.  Plotke  (München  1917)  anschließt,  ein  reichbelebtes  literarisch- 
kulturelles Bild  der  siebziger  und  achtziger  Jahre  entrollend. 

125 


Trotz  diosos  in  violor  Tliiisicht  bcdoutsainon  neuerschlossonen  Quellenmaterials 
ist  die  biographische  Gesamtdarstellung  noch  nicht  weit  über  Schützes  verdienstvolles 
AVerk  von  1887  hinausgekommen.  Weder  Bieses  knappes  Lebensbild  (Leipzig  1917) 
noch  die  immerhin  von  einem  starken  Einfühlungsvermögen  zeugende  Skizze  von 
II.  Jess  (Braunschweig  1017)  vermögen  diese  Lücke  auszufüllen.  —  Für  Einzelheiten 
bietet  die  aus  einer  Greif.swalder  Dissertation  hervorgegangene  Aibeit  von  F.  Kobes 
,.  Kindheitserinnerungen  und  Heimatbeziehuugen  bei  Tli.  Storm  in  Dichtung  und  Leben  " 
(Berlin  1916)  reiches  Mateiial;  vielmehr  als  bisher  bekannt  war,  wird  Storms  Dichtung 
als  Eriunerungspoesie  erwiesen  und  manche  neue  Quelle  dabei  aufgezeigt.  —  Auch  die 
Arbeit  von  Therese  Rockenbach  über  „Theodor  Storms  Chroniknovellen'^  kommt 
der  Quellenforschung,  wenn  auch  bi.sweilen  zu  weit  in  der  Abhängigkeitssuche  gehend, 
zugute,  wahrend  die  tüchtige  Rostocker  Dissertation  von  K.  Grattop  über  „Volks- 
poesie und  Volksglauben  in  den  Dichtunseu  Th.  Storms"  diese  Elemente  in  der  poe- 
tischen "Welt  Storms  aus  der  eigenen  Neigung  des  Dichters,  aus  mündlicher  Über- 
lieferung, Einwirkung  des  Heimatlandes,  sammelnder  Tätigkeit  und  Benutzung  von 
wissenschaftlichen  Sammlungen  ableitet  und  systematisch  nach  ihren  einzelnen  Be- 
standteilen untersucht.  —  Der  ästhetisch-psychologischen  "Würdigung  Stormscher  Kunst 
nehmen  sich  mit  für  Erstlingsarbeiten  recht  gutem  Erfolge  au  die  Erlanger  Disser- 
tation von  II.  Stamm  (Ein  Beitrag  zu  Th.  Storms  Stimmungskunst,  1914),  die  Storms 
Stimmungskunst  aus  dem  Untergrund  von  Abstammung,  Heimat,  }»olitischen  Ereig- 
nissen und  be.sonderen  LebensschicLsalen  ableitet  und  ihren  künstlerisch-technischen 
Mitteln  nachgeht,  und  die  Marburger  Dissertation  von  E.  Krey  (.,Das  Tragi.sche  bei 
Th.  Storm",  1914),  die  in  dem  lebhaften  Gefülil  des  Dichters  für  die  Vergänglichkeit 
alles  Lebens  den  Grund  für  das  vielfach  Niederdrückende  und  Quälend-Resignierte  der 
Novellen  ableitet  und  eine  Entwicklung  von  der  Passivität  der  Frühzeit  zu  den  dra- 
matischer gestalteten,  von  stärkerer  "Widerstandskraft  getragenen  Konflikten  der  spä- 
teren Jahre  betont.  Eine  gute  Ergänzung  von  der  Seite  der  Ästhetik  her  bietet  hierzu 
0.  Has  ten  i)f  1  ugs  Arbeit:  „Über  das  Tragische.  Untersuchung  im  Anschluß  an 
J.  Volkelt  u.  Th.  Lipps  als  Vorbereitung  für  eine  Betrachtung  tragischer  Novellen." 

Wenn  die  letzten  Jahre  für  Storm  die  grundlegende  Ausgabe  seiner 
Werke  gebracht  haben,  so  ist  für  eine  historisch- kritische  Kellerausgabe 
erst  eine  Vorarbeit  geleistet  in  der  zehnbändigen  von  ,F.  Munziker  und 
Ermatinger  besorgten  Jubiläumsausgabe  des  Cottascheu  Verlages  (Stutt- 
gart 1919),  die  den  lautgetreuen  Abdruck  der  jeweiligen  Ausgaben 
letzter  Hand  bietet.  Dagegen  hat  Gottfried  Kellers  Leben  inzwischen  seine 
abschließende  Darstellung  erhalten.  Lag  bisher  nur  Bächtolds  Kellerwerk 
mit  der  in  acht  Teile  zerlegten  Sammlung  des  Briefwechsels  und  den  acht 
gründlichen  Einleitungen  dazu  vor  (1S92 — 9G)  sowie  die  von  Bächtolds 
W^itwe  gesondert  herausgegebene  Ausgabe  dieser  biographischen  Einlei- 
tungen (1898),  so  ist  jetzt  durch  E.  Ermatinger  dieses  Werk  in  völliger 
Um-  und  Neubearbeitung  dem  Stande  der  heutigen  Forschung  angepaßt 
worden  („G.  Kellers  Leben,  Briefe  und  Tagebücher.  Auf  Grund  der 
Biographie  J.  Bächtolds  dargestellt  u.  hrsg.'"',  Stuttg.  191 6  ff.).  Ermatinger 
hat  die  Biographie  vollständig  abgesondert,  stofflich  gewaltig  bereichert 
und  durch  Schaffung  eines  weiteren  Hintergrundes  allseitig  vertieft. 
Vieles  erscheint  jetzt  ungleich  lebensvoller,  über  Fragen  wie  Keller  als 
Politiker,  sein  Verhältnis  zur  Romantik,  zu  Feuerbach  wird  endgültig 
Klarheit  verbreitet  und  die  eindringende  Analyse  der  Werke  ermöglicht 
deren  tiefere  Würdigung.  Auch  die  Sammlung  der  Briefe  hat  mannig- 
fache Ergänzungen  erfahren,  sowohl  durch  Vermehrung  wie  durch  Be- 
richtigung des  Bächtoldschcn  Materials.  —  Hierzu  bietet  Äl.  Kai b eck s 
Sammlung  „Faul  Heyse  und  Gottfried  Keller  im  Briefwechsel"  (Braun- 

I2n 


schweig  1919)  eine  erwünschte  Ergänzung,  die  den  barocken  Humor 
des  Schweizers  in  interessantem  Gegensatz  zu  dem  Witz  des  glänzenden 
Stilisten  Heyse  zeigt.  Dagegen  ist  der  Kommentar  vielfach  unzuver- 
lässig und  weitschweifig.  —  Neben  dem  die  Kellerliteratur  besonders  be- 
reichernden Monumentalwerk  Ermatingers  ist  auch  die  Einzelforschung 
nicht  müßig  gewesen.  Für  den  „  Grünen  Heinrich"  bringt  F.  Beyels 
Züricher  Dissertation  mit  dem  Titel  „Zum  Stil  des  Grünen  Heinrich" 
(1914)  eine  wertvolle  stilistische  Untersuchung,  die  für  die  Vergleichung 
bereits  Ermatingers  Neudruck  der  ersten  Fassung  von  1854  55  (Stuttg. 
1915)  benutzt  ;md  trotz  Heranziehung  jeder  kleinsten  stilistischen  Einzel- 
heit durch  übersichtliche  Disposition  und  die  Einhaltung  weiterer  Ge- 
sichtspunkte glücklich  die  Gefahr  des  Versinkens  in  toten  Lesartenkram 
vermeidet.  —  Dagegen  ist  die  an  sich  nicht  sehr  tief  schürfende  Münch- 
ner Dissertation  von  K.  Beckenhaupt  über  ,,  Die  Entstehung  des 
grünen  Heinrich"  (1915)  nunmehr  im  wesentlichen  überholt,  während 
sich  die  Gießener  Dissertation  von  W.  Schallas,  „Die  Begründung 
der  Handlung  bei  G.  Keller"  (1913)  mit  ihrer  auf  rein  logische  Sche- 
men gezogenen  Untersuchungsweise  für  die  Kellerforschung  als  wenig 
fördernd  darstellt.  —  Recht  brauchbar  ist  dagegen  A.  Leitzmanns  Neu- 
druck „Die  Quellen  zu  G.  Kellers  Legenden"  (Quellenschriften  zur 
neueren  dtsch.  Litg.  N.  8),  der  die  Kosegartenschen  Vorlagen  und  eine 
kritische  Textwiedergabe  der  Dichtung  bringt.  Hier  ist,  besonders  auch 
für  seminaristische  Übungen ,  eine  ausgezeichnete  Möglichkeit  gegeben, 
den  Beziehungen  zwischen  dem  fertigen  Kunstwerk  und  dem  ihm  zu- 
grunde liegenden  Stoff  nachzugehen.  Die  Einleitung  orientiert  trefflich 
über  Kosegarten  und  bringt  in  ihrem  dritten  Teil  zu  dem  Bilder-  und 
Gleichnisschatze  der  Kellerschen  Legenden  zahlreiche  Quellennachweise 
und  für  die  Chronologie  wichtige  Parallelen  aus  den  übrigen  Werken.  — 
Eine  genauere  Untersuchung  ist  schließlich  noch  den  „Leuten  von  Seld- 
wyla"  und  der  „Ursula"  zuteil  geworden.  P.  Wüst  legt  in  einer 
Abhandlung  über  „Entstehung  und  Aufbau  von  G.  Kellers  Novelle 
Die  Leute  von  Seldwyla"  (Mitteilungen  d.  lithist.  Ges.  in  Bonn,  1914, 
H.  4/5)  aus  dem  jahrzehntelangen  Werdegang  die  innere  Entstehung 
,  aus  Wahrheit  und  Dichtung  dar :  die  Wirklichkeitskeime  von  drei  ver- 
bürgten Geschehnissen  innerhalb  der  Jahre  1855/63,  einzelne  Züge  aus 
inneren  und  äußeren  Erlebnissen  sowie  die  Beeinflussung  durch  andere 
Dichter,  von  denen  Hauff,  Tieck,  Brentano,  E.  Th.  A.  Hoffmann  und 
Jakob  Frey  besonders  hervorzuheben  sind.  Die  gleichfalls  aus  der 
Bonner  Schule  hervorgegangene  Dissertation  von  H.  Meumann  über 
„Entstehung  und  Aufbau  von  G.  Kellers  Ursula"  (1916)  gibt  ein  gutes 
Beispiel,  wie  eine  sorgfältige  und  gut  disziplinierte  Analyse  trotz  ge- 
ringster Entstehungsüberlieferung  zu  überzeugenden  Resultaten  für  die 
Entstehungsgeschichte  führen  kann.  —  Schließlich  sucht  noch  eine  Älün- 
chener  Dissertation  von  A.  Weiraann- Bischoff  mit  dem  Titel  „G  Keller 
und  die  Romantik"  (1917)  Kellers  Bekanntschaft  mit  den  einzelnen 
Romantikern,  seine  Abhängigkeit  von  romantischer  Malerei  und  das  Vor- 
handensein  romantischen  Gutes   in  seiner  Dichtung  darzustellen,    wobei 

127 


aber    sein    Verhalten    der    Romantik   gegenüber   immer   als   feste  Größe 
und  nicht  unter  dem  Entwicklungsgesichtspunkt  betrachtet  wird. 

Fontaue  ist,  abgesehen  von  einer  Ökizzierung  des  Menschen  und 
Dichters  aus  seiner  Korrespondenz^  die  G.  Kricker  in  den  Mitteilungen 
der  literarhist.  Gesellschaft  in  Bonn  1914  gab  und  die  von  Grete  Litz- 
mann ebenda  durch  besonders  methodisch  wertvolle  Erwägungen  er- 
gänzt wurde,  nur  in  seinem  episch  -  lyrischen  Schaffen  näher  betrachtet 
worden.  H.Rhyns  Untersuchung  über  „Die  Balladendichtung  Th.  Fon- 
tanes mit  besonderer  Berücksichtigung  seiner  Bearbeitungen  altenglischer 
und  altschottischer  Balladen  aus  den  Sammlungen  von  Percy  und  Scott  ^' 
(Forschungen  zur  Linguistik  und  Literaturwissenschaft,  1914)  gibt  einen 
Vergleich  zwischen  der  alten  Vorlage  und  den  Bearbeitungen  Fontanes, 
geht  dann  auf  verschiedene  Einzelheiten  näher  ein  und  untersucht  den 
Stil  des  Vorbildes  und  der  deutschen  Nachbildung.  Dabei  kommt  der 
Einfluß  auf  die  Gestaltung  der  Balladen  der  zweiten  und  dritten  Ent- 
wicklungsstufe nicht  zur  vollen  Herausarbeitung,  das  Ganze  aber  stellt 
sich  trotz  der  etwas  engen,  rein  philologischen  Einstellung  als  eine  an- 
sprechende Leistung  dar.  —  Die  ästhetische  Seite  wird  dagegen  von 
P.  Wißmann  in  seiner  Heidelberger  Erstlingsschrift  ,, Th,  Fontane. 
Seine  episch -lyrischen  Dichtungen*'  (1916)  stärker  in  den  Vordergrund 
gerückt,  der  auch  ungedruckte  Jugendgedichte  heranziehen  kann.  — 
Das  von  E.  Heilborn  herausgegebene  „Fontane- Buch"  (Berlin  1919) 
bringt  wertvolle  Nachträge  aus  dem  handschriftlichen  Nachlaß,  so  be- 
sonders bisher  unbekannte  Entwürfe  zu  Prosaerzählungen  und  die  Tage- 
buchaufzeichnungen von  1884  bis  zu  seinem  Tode.  —  Schließlich  sei 
bei  dieser  Gelegenheit  noch  auf  eine  Publikation  hingewiesen,  die 
F.  Behrend  im  Auftrage  des  Berliner  Geschichtsvereins  herausgibt 
und  die  ihrem  noch  nicht  erschienenen  zweiten  Teil  auch  der  Fontane- 
Forschung  zugute  kommen  dürfte:  „Der  Tunnel  über  der  Spree. 
L  Kinder-  und  Flegeljahre  1827  — 1840".  [Auf  einige  durch  das  Ju- 
biläum hervorgerufene  wichtige  Neuerscheinungen  der  Fontane-Literatur, 
die  die  Bibliographie  am  Schlüsse  dieses  Bandes  vermerkt,  sei  schon 
hier  hingewiesen.] 

§  13.   Neuklassizismus 

Der  hundertjährige  Geburtstag  Emanuel  Geibels  hat  außer  den  ver- 
schiedenen Gedenkartikeln  in  den  Tageszeitungen  und  einzelnen  Zeit- 
schriften nichts  wesentlich  Neues  zur  Erkenntnis  des  Dichters  erbracht. 
Angenehm  berührt  die  taktvoll  abwägende  Würdigung  R.  Schachts 
in  seiner  Einleitung  zu  der  guten  Auswahl  von  Geibels  Werken  (Leipzig, 
Hesse  &  Becker),  die  dem  heute  üblich  gewordenen  völligen  Aburteilen 
widerspricht,  ohne  in  Überschätzung  zu  verfallen. 

M.  Mendheims  Darstellung  „E.  Goibol"  (Keclam  Nr.  2802)  verfolgt  mit  ihrem 
stärlieren  Hervorkehren  der  biographisch-menschlichen  Seite  ebenfalls  mehr  volkstüm- 
liche Zwecke. 

Dagegen  bedeuten  die  Programmarbeiten  von  M.  Nietzki  „Geibel 
und    das  Griechentum"   (Stettin  1915)    und    R.  Thomas  „Geibel    und 

128 


die  Antike"  (Regensburg  1913/14)  immerhin  eine  beachtenswerte  Be- 
reicherung unserer  Kenntnis,  wobei  vor  allem  die  letztgenannte  Arbeit 
durch  ihre  große  Belesenheit  in  der  antiken  und  neueren  Dichtung  einen 
wertvoUen  Beitrag  zur  Erforschung  des  Nachlebens  der  Antike  darstellt. 

Die  Dissertationen  von  K.  von  Stutterheim,  „W.  Hertz  als  Lyrilier"  (Tü- 
bingen 1914)  und  P.  Krause,  „Die  Balladen  und  Epen  des  Grafen  A.  F.  von  Schack" 
(Breslau  1915)  sind  beide  im  wesentlichen  nur  als  Stoffsammlungen  zu  bewerten,  aus 
denen  für  die  individuelle  Eigenart  des  Dichters  sowie  seine  Stellung  in  der  zeitge- 
nössischen Literatur  und  seine  Nachwirkung  auf  die  folgende  Generation  im  ganzen 
recht  wenig  herausspringt. 

Dagegen  bringt  Maria  Peters  mit  ihrer  Münsterischen  Disser- 
tation „F.  W.  Webers  Jugendlyrik  auf  ihre  Uterarischen  Quellen  und 
Vorbilder  untersucht"  (1917),  einen  guten  Beitrag  zur  Kenntnis  des 
Dichters,  indem  sie  seine  hterarischen  Vorbilder  in  den  Göttingern,  in 
Salis,  Matthisson,  Uhland,  Heine,  Lenau  und  Freiligrath  aufzeigt  und 
seine  literarische  Stellung  und  Weltanschauung  einer  verständig  abwä- 
genden Betrachtung  unterzieht. 

Mit  der  von  G.  Bohnenblust  besorgten  dreibändigen  Ausgabe 
„Heinrich  Leuthold.  Gesammelte  Werke"  (Frauenfeld  1914)  ist  dem 
Vielverkannten  nun  endlich  sein  Recht  geworden.  Gereinigt  von  den 
Korrekturen  Geibels,  Baechtolds  und  Gottfried  Kellers,  um  zahlreiche 
ungedruckte  Gedichte  und  zum  Teil  meisterhafte  Übersetzungen  ver- 
mehrt, liegt  das  Werk  des  großen  Lyrikers  in  all  seinen  Vorzügen  und 
all  seinen  Schwächen  vor  uns.  Bohnenblusts  Einleitung  gibt  in  knapper 
Form  eine  wohl  als  abschließend  zu  betrachtende,  gerecht  abwägende 
Beurteilung.  Von  der  Schwierigkeit  der  Ausgabe  —  die  zahlreichen 
Lesarten  der  Handschriften  lassen  nur  selten  eine  vom  Dichter  als  end- 
gültig gewollt  erkennen  —  gibt  die  Handschriftprobe  der  Ode  „Meer- 
fahrt" einen  Begriff. 

Bezeichnend  für  jene  Hterarische  Entwicklung  der  zweiten  Hälfte 
des  19.  Jahrhunderts,  die  inhaltHch  sich  der  historischen  Vergangenheit 
zuwandte  und  formal  ihr  Ideal  im  griechisch-deutschen  Klassizismus  er- 
blickte, ist  der  Einfluß  der  beiden  großen  Historiker  Jakob  Burckhardt  und 
Ferdinand  Gregorovius.  Wieweit  beide  auch  mit  eigenen  dichterischen 
Produktionen  am  literarischen  Leben  ihrer  Zeit  beteiligt  sind,  erhellt  aus 
zwei  dankenswerten  Untersuchungen.  J.  Honig  zeigt  in  einer  durch  ge- 
diegenes kritisches  Urteil  ausgezeichneten  Breslauer  Arbeit  über  „F.  Gre- 
gorovius als  Dichter"  (Bresl.  Beitr.  39,  1914),  wie  bei  dem  Historiker 
der  antiken  Kulturzentren  eine  das  Durchschnittsmaß  weit  überragende 
dichterische  Begabung  Form  und  Stil  seiner  Werke  beeinflußt  hat  und 
seine  Jugenddichtung  unter  dem  Einflüsse  Heines,  Lenaus  und  Platens 
steht.  —  K.  E.  Hoi'fmanns  Untersuchung  über  „Jakob  Burckhardt  als 
Dichter"  (Basel  1918)  gibt,  etwas  trocken,  aber  fleißig  zusammengetragen 
und  systematisch  geordnet  das  bisher  nur  wenig  bekannte  Material,  das 
das  Gesamtbild  des  Forschers  abrundet.  Was  Burckhardt  an  eigener 
schöpferischer  Kunstleistung  versagt  geblieben  ist,  hat  er  in  „nachempfin- 
dender Andacht  fremder  Kunstleistungen "  sich  ausleben  lassen ;  hervor- 

Wissenschaftliche  Forscliungsberichte  VIII.  9 

129 


zuheben  sind  seine  schlichten  Dialektdichtungen :  E.  Hempfeli  Lieder.  — 
Äußerst  aufschlußreich  für  Burckhardt  sowohl  wie  für  den  jungen  Freund 
des  reifen  Mannes,  Paul  Heyse,  ist  der  „  Briefwechsel  zwischen  J.  Burck- 
hardt und  Paul  Heyse",  den  E.  Petzet  herausgegeben  hat  (München 
1919).  Die  Briefe  stammen  hauptsächlich  aus  der  Blütezeit  von  Burck- 
hardts  Schaffenskraft,  aus  den  Jahren  1849/64,  werfen  aber  in  verein- 
zelten Nachläufern  auch  noch  auf  seine  spätere  Zeit  helles  Licht.  Für 
Paul  Heyse  ergibt  der  Briefwechsel  wesentliche  Beiträge  zur  Kenntnis 
seiner  Jugendgeschichte,  zu  wichtigen  Grundzügen  seiner  Dichtung,  zu 
seinem  Verhältnis  zu  Italien  und  zu  den  Formproblemen  seiner  Kunst. 
Eine   ausführliche  Würdigung   des   Briefwechsels  gibt   Petzet  selbst   in 

den    „Abhandlungen Franz   Muncker    dargebracht"    (München 

1916).  —  Reich  an  fruchtbaren  Resultaten  ist  die  kleine  Schrift  von 
R.  Mitchell,  „Heyse  and  his  precedessors  in  the  theory  of  the  No- 
velle. (New  York  Üniversity,  Frankfurt  a.  M.  19 IG),  die  einen  guten 
zusammenfassenden  Überblick  über  die  Entwicklung  der  deutschen  No- 
vellentheorie von  Goethe  und  den  Romantikern  bis  zu  Heyse  und  Spiel- 
hagen gibt.  Dabei  werden  einleuchtende  VerbindungsUnien  gezogen  und 
beachtenswerte  Hinweise  (so  auf  die  bedeutende  theoretische  Arbeit 
Th.  Mundts)  gegeben. 

Schließlich  hat  auch  die  Conrad  Ferdinand  Meyer-Forschung  in  den 
letzten  Jahren  eine  wesentliche  Bereicherung  erfahren.  An  neu  erschlos- 
senem Material  ist  in  erster  Linie  Adolf  Freys  zwei  große  Quartbände 
umfassende  Ausgabe  der  Prosafragmente  zu  nennen :  „  C.  F.  Meyers  un- 
vollendete Prosadichtungen.  I.Teil:  Erläuterungen  u.  Fragmente.  2.  Teil : 
Die  faksimilierten  Handschriften."  Die  hier  enthüllte  Genesis  bisher  nur 
ungenau  oder  gar  nicht  bekannter  Prosawerke  dürfte  hervorragend  geeignet 
sein,  Baumgartens  Auffassung,  Meyers  Novellen  hätten  keine  organische 
Gestalt,  sondern  nur  eine  dekorative  Form,  zu  widerlegen.  Die  Erläu- 
terungen dee  Herausgebers  sind  aus  jener  genauesten  Kenntnis  des  Menschen 
und  Dichters  hervorgegangen,  die  in  allen  Veröfi'entlichungen  des  nun- 
mehr auch  dahingegangenen  Züricher  Gelehrten  über  den  dichterischen 
Landsmann  zutage  trat  und  vor  allem  seiner  biographischen  Darstellung 
„C.  F.  Meyer  und  seine  Werke"  (3,  Aufl.  Stuttg.  1919)  stets  ihren  grund- 
legenden Wert  für  die  gesamte  weitere  Forschung  verleihen  wird.  —  Der 
von  A.  Langmesser  herausgegebene  „Briefwechsel  zwischen  C.  F.  Meyer 
und  Julius  Rodenberg"  (Berlin  1918)  ist  für  den  Dichter  selbst  weniger 
ergiebig,  da  er  ebenso  wie  die  von  A.  Frey  1909  veröflFentlichten  beiden 
starken  Briefbände  jene  innere  Verschlossenheit  Meyers  zeigt,  die  kaum 
je  über  rein  gesellschaftliche  oder  geschäftliche  Dinge  hinausgeht.  Da- 
gegen gewinnt  man  einen  starken  Eindruck  von  der  taktvollen,  klugen 
und  feinen  Persönhchkeit  Rodenbergs  und  dem  starken  Anteil,  den  er 
mit  seinem  tiefen  Verständnis,  seinen  vorsichtigen  kritischen  Bemer- 
kungen und  aufmunternden  Anregungen  an  dem  Lebenswerk  Meyers 
hat.  —  An  der  Spitze  der  darstellenden  Werke  steht  das  eigenwillige, 
oft  überpointierte,  vielfach  apodiktische,  aber  blickweite  und  zuweilen 
tief  in  die  Gründe  künstlerischen  Schaffens  eindringende  Buch  F.  Baum- 

130 


gartens,, Das  Werk  C.  F.  Meyers.  Renaissanceempfinden  und  Stilkunst " 
TMünchen  1917).  Für  ihn  ist  —  offenbar  vom  Standpunkt  moderner 
formsprengender  Gefühls-  und  Erlebnisdichtung  aus  gesehen  —  Meyers 
ganzes  Zeitalter  ein  aus  dem  Historismus  geborener  „  Renaissancismus ", 
seine  Kunst  die  formelle  Routine  des  Asthetentums !  Es  ist  hier  nicht 
möglich,  sich  mit  Baumgarten  näher  auseinanderzusetzen.  Ich  verweise 
daher  auf  die  eingehende,  alle  wichtigen  Punkte  klar  charakterisierende 
Besprechung  von  Erich  Everth  (Ztschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissen- 
schaft Bd.  13,  1.  Heft,  S.  77/97).  —  Ein  großer  Teil  von  Baumgartens 
Ausführungen  wird  nachdrückhch  in  M.  Nußb ergers  Werk  „C.  F. 
Meyers  Leben  und  Werke"  (Frauenfeld  1919)  widerlegt.  Aus  einer 
entwicklungsgeschichtiichen  Darstellung  des  lyrischen  Schaffens  heraus 
weist  Nußberger  an  der  Hand  einer  bis  ins  einzelnste  vordringenden 
Untersuchung  den  großen  Erlebnisgehalt  der  Meyerschen  Dichtung  nach, 
die  weit  entfernt  von  „weltfremdem  Asthetentum"  den  Tendenzen  der 
Zeit  gerade  zu  künstlerischem  Ausdruck  verhalfen.  —  Für  das  lyrische 
Schaffen  des  Schweizers  liegt  in  W.  Brechts  Buch  „C.  F.  Meyer  und  das 
Kunstwerk  seiner  Gedichtsammlung"  (Wien  1918)  eine  überraschende  Auf- 
hellung vor.  Brecht  deckt  in  seiner  methodisch  ebenso  fruchtbaren  wie 
vorbildlichen  Untjrsuchung  den  bewußt  arbeitenden  und  sorgsam  ab- 
wägenden Kunstsinn  Meyers  bei  der  Zusammenstellung  seiner  Gedicht- 
sammlung auf,  wie  er  in  einer  solchen  Ausprägung  bisher  wohl  von 
niemand  vermutet  worden  war,  so  daß  tatsächlich  die  Anordnung  „ein 
zweites  unsichtbares  Kunstwerk  erzeugt,  das  in  und  zwischen  den  ein- 
zelnen Gedichten  sein  Leben  führt". 

Dagesjen  vermag  E.  Sulger-Gebings  Auslassung  über  „C.  F.  Meyers  Michel 
Angelo-üedichte  (in  den  Abhandlungen  zu  Franz  Munckers  60.  Geburtstag,  München 
1916)  trotz  einzelner  dankenswerter  Hinweise  und  Nachweise  nicht  wesentlich  über 
E.  Kalischers  Arbeit  über  ,.C.  F.  Meyer  in  seinem  Verhältnis  zur  italienischen  Re- 
naissance (Pal.  LXIV,  1907)  hinauszukommen.  —  Schließlich  untersucht  noch  die 
Tübinger  Dissertation  von  "Wera  Eostowa  über  „Die  Bewegungen  und  Haltungen  des 
menschlichen  Körpers  in  C  F.  Meyers  Erzählungen"  (1915)  in  sorgfältig  statistisch- 
tabellarischen Aufzeichnungen  jene  Sonderzüge  des  C.  F.  Meyerschen  Darstellungs- 
stiles, wobei  eine  Vergleichung  mit  G.  Keller  wertvolle  Resultate  ergibt. 


131 


Bibliographie 
der  in  den  Jahren  1920/22  erschienenen  Werke  und  Nachträge 

§  1.    Prinzipien  und  Methoden 

S.  V.  Lempicki,  Geschichte  der  deutschen  Literaturwissenschaft  bis  zum  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  (Göttingen  1920).  —  P.  Merk  er,  Der  Ausbau  der  deutschen 
Literaturgeschichte  (Jahrbücher  f.  d.  kl.  Altertum,  1920).  —  Ders. ,  Neue  Aufgaben 
der  deutschen  Literaturgeschichte  (Ztschr.  f.  Deutschkunde.  16.  Ergänzungsheft, 
Leipzig  1921).  —  E.  Ermatinger,  Das  dichterische  Kunstwerk  (Leipzig u.  Berlin  19iil). 

§  2.   Allgemeine  Literaturgeschichte 

W.  V.  Unwerth  und  Th.  Siebs,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  bis  zur 
Mitte  des  11.  Jahrhunderts  (Grundriß  der  deutschen  Literaturgeschichte  I,  Berlin 
1920).  —  G.  Ehrismann,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  bis  zum  Ausgang 
des  Mittelalters,  1.  Teil  München  1918,  2.  Teil  ebenda  1922.  —  F.  Vogt,  Ge- 
schichte der  mhd.  Literatur,  I.  Bd.  1922.  —  S.  Aschner,  Geschichte  der  deut- 
schen Literatur.  1.  Bd.  Vom  9.  Jahrhundert  bis  zu  den  Staufern  (Garman.  Studien 
H.  6.,  Berlin  1920).  —  F.  Wilhelm,  Zur  Geschichte  des  Schrifttums  in  Deutsch- 
land bis  zum  Ausgang  des  13.  Jahrhunderts  (Münchner  Archiv  H.  8.  1920).  — 
W.  Oehlke,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  (Bielefeld  u.  Leipzig  1919).  — 
Ders.,  Die  deutsche  Literatur  seit  Goethes  Tode  und  ihre  Grundlagen  (Halle  1921).  — 
M.  Schneider,  Einführung  in  die  neueste  deutsche  Dichtung  (Stuttgart  1921).  — 
A.  Bartels,  Die  Jüngsten.  Deutsche  Dichtung  der  Gegenwart  (Leipzig  1921).  — 
W.  S  t  am  m  1  e  r ,  Geschichte  der  niederdeutschen  Literatur  (A.  Nat.  u.  Geistesw.  Leipzig 
1921).  —  F.  Schön,  Geschichte  der  deutscheu  Mundartdichtung  (Freibm-g  1920).  — 
E.  Ermatinger,  Die  deutsche  Lyrik  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  von  Herder 
bis  zur  Gegenwart  (Leipzig  1921).  —  Ph.  Witkop,  Die  deutschen  Lyriker  von  Luther 
bis  Nietzsche  (Leipzig  1921  '■*).  —  K.  Borinski,  Deutsche  Literaturgeschichte  (2  Bde. 
1921).  —  J.  Wiegan d,  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  in  strenger  Systematik, 
nach  Gedanken,  Stoffen  u.  Formen  in  fortgesetzten  Längs-  u.  Querschnitten  (Köln 
1922).  —  L.  Bianchi,  Von  der  Droste  bis  Lilicncron  (Leipzig  1922).  —  R.  Rie- 
mann,  Von  Goethe  zum  Expressionismus  (Leipzig  1922).  —  K.  Martens,Die  deutsche 
Literatur  unsrer  Zeit  (München  1921). 

§  3.    Bibliographie 

G.  Baesecke,  Deutsche  Philologie.  Wissenschaftliche  Forschungsberichte  III 
(Gotha  1920). 

§  4.    Reformation  und  Humanismus 

K.  P.  Hasse,  Die  deutsche  Renaissance.  1.  Ihre  Begründung  durch  den 
Humanismus  (Meran  1920).  —  Elvire  Roeder  v.  Diersburg,  Komik  und  Humor 
hei  Geiler  von  Kaisersberg  (German.  Studien  H.  9.  Berlin  1921).  —  J.  F.  Schöbe rl, 
Über  die  Quellen  des  Sixtus  Birck  (Diss.  München  1919).  —  0.  Scheel,  Taulers 
Mystik  und  Luthers  reformatorische  Entdeckung  (Festgabe  für  J.  Kastan  zu  seinem 

132 


70.  Geburtstage.  Tübingen  1920).  —  Käthe  Hirt,  H.  Bullingers  Spiel  von  Lucretia 
und  Brutus  1533  (Diss.  Marburg  1919).  —  P.  Kalk  off,  U.  v.  Hütten  u.  die  Refor- 
mation (1920).  —  A.  Hauffen,  Johann  Fischart,  2  Bde.  (19211). 

§  5.    Barockzeitalter 

Jakob  Böhme ,  Sämtliche  Werke.  Großherzog  Wilhelm  -  Ernst  -  Ausgabe  deut- 
scher Klassiker.  6  Bde.  Hrsg.  von  H.  Kayser  (Leipzig  1920).  —  E.  Cohn,  Ge- 
sellschaftsideale und  Gesellschaftsroman  des  17.  Jahrhunderts  (German.  Studien  H.  13. 
Berlin  1921).  —  K.  Gassen,  Sibylle  Schwarz.  Eine  pommersche  Dichterin  1621/38 
(Greifswald  1921).  —  0.  Kern,  J.  Rist  als  weltlicher  Lyriker  (Beitr.  z.  dtsch.  Lite- 
raturwissensch.  Nr.  15,  Marburg  1920). 

§  6.    Aufklärung 

A.  Schum,  Studien  zur  deutschen  Alexandrinertragödie  nach  dem  Muster  Gott- 
scheds bis  zum  Erscheinen  von  Lessings  Miß  Sara  Sampson  (Diss.  Würzburg  1919).  — 
V.  Bouillier,  G.  Ch.  Lichtenberg  (1742/99).  Essai  sur  sa  vie  et  ses  ceuvres  litte- 
raires  (Paris  1914).  —  Lichtenbergs  Briefe  an  J.  F.  Blumenbach.  Hrsg.  u.  erläutert 
V.  A.  Leitzmann  (Leipzig  1921).  —  Chr.  F.  Geliert,  Briefe  nebst  einer  praktischen 
Abhandlung  von  dem  guten  Geschmacke  in  Briefen.  Unter  Zugrundelegung  der  Erst- 
ausgabe von  1751  von  Dr.  K.  Blanck  hrsg.  (Berlin  1921).  —  B.  Seuffert,  Pro- 
legomena  zu  einer  Wieland- Ausgabe  (S.-B.  d.  preuß.  A.  d.  W.  philos.  Kl.,  N.  7, 1921).  — 
H.  Tribolet,  Wielands  Verhältnis  zu  Ariost  und  Tasso  (Sprache  u.  Dichtung,  hrsg. 
V.  Maync  u.  Singer,  Bern  1920).  —  G.  Witkowski,  Lessing  (Leipzig  1920).  — 
R.  Weinmann,  J.  W.  Gleim  als  Erneuerer  des  altdeutschen  Minnesangs  (Ansbach 
1920).  —  F.  Naumann,  Matth.  Claudius  und  das  Volkslied  (Diss.  Greifswald  1914).  — 
M.  Schulz,  Heinrich  Zschokke  als  Dramatiker  (Diss.  Breslau  1914). 

§  7.    Sturm  und  Drang 

M.  A.  Regli,  Isaak  Iselins  , Geschichte  der  Menschheit'.  Eine  Vorarbeit  zu 
J.  G.  Herders  Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte  der  Menschheit  (Diss.  München 
1920).  —  Luigi  Filip  pi,  La  poesia  di  G.  A.  Bürger  (Firenze  1920).  —  F.  Kaduer, 
G.  A.  Bürgers  Einfluß  auf  A.  W.  Schlegel  (Diss.  Kiel  1919).  —  B.  ßrun,  L'Oriantes 
de  F.  M.  Klinger.     Etüde  suivie  d'une  reimpression  du  texte  de  1790  (Paris  1914). 

§  8.   Klassizismus 

F.  W.  Riemer,  Mitteilungen  über  Goethe.  Auf  Grund  der  Ausgabe  von  1841 
imd  des  handschriftlichen  Nachlasses  hrsg.  von  A.  Pollmer  (Leipzig  1921).  — 
W.  Bode,  Goethes  Leben.  1,  Bd.:  Lehrjahre  1749—71;  2.  Bd.:  Der  erste  Ruhm 
1771—74;  3.  Bd.:  Die  Geniezeit  1774—76  (Berlin  1920/22).  —  Ders  ,  Goethe  in 
vertraulichen  Briefen  seiner  Zeitgenossen.  Auch  eine  Lebensgeschichte  (2  Bde.  Berlin 
1918  u.  1921).  —  E.  Ludwig,  Goethe.  Geschichte  eines  Menschen  (8  Bde.  Stutt- 
gart 1920).  —  P.  Hume  Brown,  The  Life  of  Goethe  (2  Bde.  New  York  1921).  — 
B.  Croce,  Goethe.  Mit  Genehmigung  des  Verfassers  verdeutscht  von  J.  Schlosser 
(Wien  1920).  —  M.  J.  Wolff,  Goethe  (Aus  Nat.  u.  Geistesw.  497,  Leipzig  1921).  — 
G.  Brandes,  Goethe,  Berlin  1921.  —  J.  Bab,  Das  Leben  Goethes,  Stuttgart  1922.  — 
Klara  Hof  er,  Goethes  Ehe  (Stuttgart  1920).  —  W.  Bode,  Die  Schicksale  der 
Friederike  Brion  vor  und  nach  ihrem  Tode  (Berlin  1920).  —  Goethe  [fälschlich  zu- 
geschrieben !] ,  Joseph.  Goethes  erste  große  Jugenddichtung  wieder  aufgefunden  und 
zum  erstenmal  hrsg.  von  P.  Piper  (Hamburg  1920).  —  B.  Baginsky,  Des 
jungen  Goethe  Lektüre  während  der  Frankfurter  Jugendzeit.  Teil  I:  Schulbücher, 
Deutsche  und  französische  Literatur  (Diss.  Breslau  1920.  TeUdr.).  —  G.  Roethe, 
Die  Entstehung  des  Urfaust  (S.-B.  d.  preuß.  A.  d.  W.  1920,  philos.  -  bist.  Kl.).  — 
H.  Brandt,  Goethes  Faust  auf  der  kgl.  sächs.  Hofbühne  xu  Dresden.  Ein  Beitrag 
zur  Theaterwissenschaft  (German.  Studien  H.  8.  Berlin  1921).  —  A.  Trendeleu- 
burg,  Goethes  Faust  erklärt  (Berlin  1921).  —  Hans  Gose,  Goethes  Werther 
(Bausteine  18,  Halle  1921).  —  A.  Hansen,  Goethes  Morphologie  (Metamorphose  dtr 
Pflanzen  und  Osteologie).  Ein  Beitrag  zum  sachlichen  und  philosophischen  Verständnis 
und  zur  Kritik  der  morphologischen  ßegriffsbildung  (Gießen  1920).  —  K.  J.  Oben- 
auer,  Goethe  in  seinem  Verhältnis  zur  Religion  (Jena  1921).  —  Th.  Kappstein, 

133 


Goethes  Weltanschauung  (München  1921).  —  R.  Zilchert,  Goethe  als  Erzieher 
(Leipzig  1921).  —  B.  Satori  -  Neuman  n,  Geschichte  des  weimarischen  Hof- 
theaters unter  Goethes  Leitung  (Schriften  der  Ges.  f.  Theatergesch  Bd.  30,  1920).  — 
TV.  R.  Piuger,  Laurence  Sterne  and  Goethe  (Diss.  California  1920).  —  Bornhausen, 
Schiller,  Goethe  und  das  deutsche  Menschheitsideal  (Leipzig  1920).  —  Schiller  über 
Volk.  Staat  und  Gesellschaft.  Hrsg.  von  0.  Günther  (Veröffentlichungen  des  schwäbi- 
schen SchUlervereins  1920).  —  0.  Wältorlin,  Schiller  und  das  Publikum  (Diss. 
Basel  1920).  —  Th.  Kappstein,  Schillers  AVeltanschauucg  (München  1921).  — 
G.  Moni  US,  Hölderlin  als  Philosoph  (Diss.  Erlangen  1919).  —  F.  Seebaß,  Zur 
Entstehungsgeschichte  der  1.  Sammlung  von  Hölderlins  Gedichten  (Diss.  München 
1919).  —  K.  Victor,  Die  Lyrik  Hölderlins.  Eine  analytische  Untersuchung  (Deutsche 
Forschungen  hrsg.  von  F.  Panzer  und  J.  Petersen.  H."  3.  192U).  —  N.  v.  Helling- 
rath,  Hölderlin.  Zwei  Vorträge  (München  1921).  —  Die  Briefe  der  Diotima,  hrsg. 
von  K.  Vietor  (Leipzig  1921).  —  Käthe  Hengsberger,  J.  von  Sinclair,  der 
Freund  Hölderlins  (German.  Studien  H.  5.  1920).  —  R.  Roh  de,  Jean  Pauls  Titan. 
Untersuchungen  über  Entstehung,  Ideengehalt  und  Form  des  Romans  (Palaestra  105, 
Berlin  1920).  —  W.  G.  Heck  mann.  Die  beiden  Fassungen  von  Jean  Pauls  „Un- 
sichtbarer Loge "  (Diss.  Gießen  1920).  —  F.  Seil,  Jean  Pauls  Dualismus  (Diss.  Bonn 
1920).  —  H.  Reniy,  Jean  Paul,  Seele  und  Leib  (Diss.  Leipzig  1920).  —  F.  Mar- 
cus, Jean  Paul  und  H.  Heine  (Diss.  Marburg  1920). 

§  9.   Romantik 

Anna  Tumarkin,  Die  romantische  "Weltanschauung  (Bern  1920).  —  J.  Nadler, 
Die  Berliner  Romantik  1800—1814  (Berlin  1921).  —  M.  Deutschbein.  Das  AVesen 
des  Romantischen  (Cöthen  1921).  —  A.  Stockmann,  Die  deutsche  Romantik.  Ihre 
"VVesenszüge  und  ihre  ersten  Vertreter  (Freibuj-g  1921).  —  G.  Mehlis,  Die  deutsche 
Romantik  (1922).  —  J.-J.  A.  Bertrand,  Cervantes  et  le  romantisme  allemand 
(Paris  1914).  —  M.  Hasinsky,  Tiecks  Verhältnis  zum  jungen  Deutschland  (Diss. 
Breslau  1920).  —  W.  Jost,  Von  L.  Tieck  zu  E.  Th.  A.  Hoffmann.  Studien  zur 
Entwicklungsgeschichte  des  romantischen  Subjektivismus  (Deutsche  Forschung  H.  4. 
Frankfurt  1921).  —  Bettina  von  Arnim,  Sämtliche  Werke  in  7  Bänden  hrsg.  von 
W.  Oehlke  (Berlin  1921).  —  L.  Brentano,  Clemens  Brentanos  Liebesleben.  Eme 
Ansicht  (Frankfurt  1921).  —  W.  Harich,  E.  T.  A.  Hoffmann.  Das  Leben  eines 
Künstlers.  2  Bde.  (Berlin  1921).  —  W.  Mausolf,  E.  T.  A.  Hoffmanns  Stellung 
zu  Drama  u.  Theater  (Germanist.  Studien  H.  7.  1920).  —  Elisabeth  Reitz, 
E.  T.  A.  Hoffmanns  Eloxiere  des  Teufels  und  Cl.  Brentanos  Romanzen  vom  Rosenkranz 
(Bonn  1920).  —  P.  Hankam  er,  Z.  Werners  Schicksalsdrama,,  Der  24.  Februar'^ 
(Diss.  Bonn  1919).  —  F.  Becker,  Untersuchungen  über  den  fünffüßigen  Jambus 
in  den  Dramen  Z.  Werners  (Diss.  Straßburg  1919).  —  H.  Schneider,  Uhland. 
Leben,  Dichtung,  Forschung  (Berlin  1920).  —  Dors.,  Uhlands  Gedichte  und  das 
deutsche  Mittelalter  (Palaestra  1921).  —  K.  Mut  schier.  Der  Reim  bei  Uhland 
(Diss.  Tübingen  1919).  —  H.  Rogge,  Die  Urschrift  von  A.  v.  Chanüssos  Peter 
Schlemihl  (Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  1919).  — 
H.  B  i  s  c  h  0  f  f ,  N.  Lenaus  Lyrik,  ihre  Geschichte,  Chronologie  und  Textkritik  (2  Bde. 
Berlin  1920f.).  —  H.  Uhlendahl,  Fünf  Kapitel  über  H.  Heine  u.  E.  T.  A.  Hoffmann 
(Diss.  Münster  1919).  —  E.  Spenle,  Henri  Heine  (Paris  1921).  —  A.  Schellen- 
berg, Heines  französische  Prosawerke  (German.  Studien  H.  14.  Berlin  1921).  — 
C.  F.  Rein  hold,  Heine  (Berlin  1920).  —  E.  Mörike,  Briefe  der  Liebe  an  seine 
Braut  Luise  Rau.  Zum  1.  Male  vollst,  hrsg.  von  H.  W.  Rath  (Schriften  der  Gesellsch. 
der  Mörikefreunde.  Ludwigsburg  1921).  —  H.  Kurz  und  E.  Mörike,  Briefwechsel. 
Hrsg.  von  H.  Kindermann  (Stuttgart  1919).  —  E.  Mörike  und  M.  v.  Schwind. 
Brief wechsol.  Hrsg.  von  H.  W.  Rath  (Stuttgart  1920').  —  Ilse  Märtens,  Die 
Mythologie  bei  Mörike  (Beiträge  zur  deutschen  Literaturwissenschaft.  Marburg  1921).  — 
A.  Fisch li.  Über  Klangmittel  im  Versinncrn,  aufgezeigt  an  der  Lyrik  Mörikes 
(Sprache  u.  Dichtung.  Bern  1920).  —  Wilhelm  Waiblinger,  Liebe  u.  Haß,  ungodr. 
Trauerspiel.  Nach  dem  Mskr.  hrsg.  von  A.  Fauconnet  (Deutsche  Literaturdenk- 
mäler des  18.  u.  19.  Jahrhunderts  Nr.  148.  Berlin  1914).  —  F.  Glück,  Byronismus 
bei  Waiblinger  (Diss.  Tübingen  1920). 

134 


§  10.   Die  führenden  Dramatiker  des  19.  Jahrhunderts 

C.  F.  Reinhold,  Heinrich  v.  Kleist  (Berlin  1919).  —  0.  Frau  de,  H.  v.  Kleists 
Hermannsschlacht  auf  der  deutschen  Bühne  (Diss.  Kiel  1919).  —  K.  Gassen,  Die 
Clironologie  der  Novellen  H.  v.  Kleists  (Forschungen  zur  neueren  Litgsch.,  55.  Bd., 
1920).  —  K.  Wächter,  Kleists  Michael  Kohlhaas,  ein  Beitrag  zu  seiner  Entstehungs- 
geschichte (ebd.  Bd.  52).  —  Meta  Corssen,  Kleists  u.  Shakespeares  dramatische 
Sprache  (Diss.  Berlin  1920).  —  R.  Smekal,  Grillparzer  und  Raimund  ("Wien  1920).  — 
E.  Calow,  Grillparzer  u.  die  Bühne  (Diss.  Greifswald  1914).  —  H.  Becker,  Grabbes 
Drama  Napoleon  oder  die  hundert  Tage  (Leipzig  1921).  —  G.  Büchner,  Gesammelte 
Schriften.  Hrsg.  v.  G.  Lewy  (2  Bde.,  Leipzig  1919).  —  W.  Kupsch,  "Wozzek.  Ein 
Beitrag  zum  Schaffen  Georg  Büchners  (Germ.  Studien,  H.  4,  Berlin  1920).  —  L.  Brun, 
Hebbel.  Sa  personnalite  et  son  ceuvre  lyrique  (Paris  1919).  —  F.  M.  Campbell, 
The  life  and  works  of  F.  Hebbel  (Boston).  —  Etta  Federn,  Friedrich  Hebbel 
(München  1920).  —  A.  Bartels,  Hebbels  Herkunft  u.  andere  Hebbelfragen.  Gründ- 
lich erörtert  (Hebbel -Forschungen  Nr.  9,  Berlin  1921).  —  Frieda  Knecht,  Die 
Frau  im  Leben  und  der  Dichtung  F.  Hebbels  (Zürich  1920).  —  G.  Hallmann, 
Das  Problem  der  Individualität  bei  F.  Hebbel  (Beiträge  zur  Ästhetik  XVI,  Leipzig 
1921).  —  F.  Weiß,  Hebbels  Verhältnis  zur  Welt  des  Gegenständlichen  und  zur 
bildenden  Kunst  (Diss.  Basel  1919/20).  —  A.  J außen.  Die  Frauen  ringsum  F.  Hebbel. 
Neue  Materialien  zu  ihrer  Erkenntnis  (Hebbel-Forschungen  Nr.  8,  1919).  —  Leon 
Mis,  Les  Oeuvres  dramatiques  d'Otto  Ludwig,  l^e  Partie  (Lille  1922).  —  Ders. , 
Les  Etudes  sur  Shakespeare  d'  Otto  Ludwig.  Exposees  dans  un  ordre  methodique  et 
precedees  d'une  introduction  litteraire  (LiUe  1922).  —  K.  Boehme,  Otto  Ludwigs 
Trauerspielplan  Maria  von  Schottland  (Eisenberg  1921).  —  W.  Isch,  Otto  Ludwigs 
Erbförster  (Diss.  Bern  1919/20). 

§  11.    Das  junge  Deutschland  und  der  Zeitroman 

L.  Maenner,  Karl  Gutzkow  \md  der  demokratische  Gedanke  (Historische 
Bibliothek  hrsg.  von  der  Redaktion  der  bist.  Ztschr.  46.  Bd.  München  1921).  — 
G.  Droescher,  G.  Freytag  in  seinen  Lustspielen  (Diss.  Berlin  1919). 

§  12.    Realismus 

Marie  Silling,  A.  v.  Droste  - Hiilshoffs  Lebensgang  (Leipzig  1920).  — 
R.  Wittsack,  Immermann  als  Dramaturg  (Diss.  Greifswald  1914).  —  Elisabeth 
Spohr,  Die  Dai'stellung  der  Gestalten  in  Immermanns  „Epigonen"  (ebd.  1916).  — 
H.  Maync,  Immermann.  Der  Mann  und  sein  Werk  im  Rahmen  der  Zeit-  und  Li- 
teraturgeschichte (München  1921).  —  A.  In  eichen.  Die  Weltanschauung  J.  Gott- 
helfs  (Zürich  1920).  —  E.  Stimm el,  Der  Einfluß  der  Schopenhauerschen  Philo- 
sophie auf  W.  Raabe  (Diss.  München  1919).  —  E.  Steiner,  Theodor  Storm  (Basel 
1921).  —  Gottfried  Kellers  sämtliche  Werke  in  14  Teilen.  Hrsg.  v.  K.  Höf  er 
(Leipzig  1921).  —  C.  Enders,  G.  Keller  (Leipzig  1921).  —  Marie  Hey,  The 
Story  of  a  Swiss  poet.  A  study  of  G.  Kellers  life  and  works  (Bern  1920).  — 
Fr.  Jaeggi,  G.  Keller  und  Jean  Paul  (Diss.  Bern  1914).  —  K.  Beck,  G.  Kellers 
7  Legenden  (Germanist.  Studien  H.  2,  1919).  —  P.  Schaffner,  Der  grüne  Heinrich 
als  Künstlerroman  (Stuttgart  1919).  —  C  Wandrey,  Theodor  Fontane  (München 
1919).  —  Fontanes  gesammelte  Werke.  2.  Reihe.  Hrsg.  v.  E.  H  eil  bor  n  (5  Bde. 
Berlin  1920).  —  G.  Kr  ick  er,  Th.  Fontane.  Der  Mensch,  der  Dichter  und  sein 
Werk  (Berlin  1921).  —  H.  Maync,  Th.  Fontane  1819—1919  (Leipzig  1920).  — 
Kenneth  Hayens,  Th.  Fontane,  a  critical  study  (London  1920).  —  M.  Krammer, 
Th.  Fontanes  engere  Welt  (Berlm  1920).  —  M.  F.  Radke,  Das  Tragische  in  den 
Erzählungen  von  M.  v.  Ebner-Eschenbach  (Diss.  Marburg  1918).  —  Käthe  Offer- 
geld,  M.  v.  Ebner-Eschenbach.  Untersuchungen  über  ihre  Erzählungstechnik  (Diss. 
Münster  1918).  —  A.  Bettelheim,  M.  v.  Ebner-Eschenbach.  Wirken  und  Ver- 
mächtnis (Leipzig  1920).  —  M.  Janke,  W.  H.  Riehls  Kunst  der  Novelle  (Diss. 
Breslau  1918).  —  H.  Häberlin,  Studien  zur  Novellistik  W.  H.  Riehls  (Diss.  Zürich 
1918/19).  —   H.  Enz,   Louise   von  Fran9ois  (Diss.  Zürich  1918/19).   —   Gert  rüde 

135 


Lehmann,  L.  v.  Francois.  Ihr  Roman  „Die  letzte  Reckenburgerin "  als  Ausdrack 
ihrer  Persönlichkeit  (Diss.  Greifswald  1<J19).  —  K.  H.  Strobl,  L.  Anzengruber.  Ein 
Lebensbild  (München  1U20).  —  A.  Kleinberg,  L.  Anzengniber.  Ein  Lebensbild 
(Stuttgart  1921).  —  A.  Bettelheim,  Neue  Gänge  mit  L.  Anzengruber  (Wien  19 19). 

§  13.    Neuklassizismus 

Mejasson,  Un  poete  catholique  allemand,  F.  G.  "Weber  (1914).  —  Luise  von 
Fran^ois  und  C.  F.  Meyer.  Ein  Briefwechsel.  Hrsg.  v.  A.  Bettel  heim  (2.  verm. 
Aufl.  Berlin  1920).  —  Scheffels  Werke.  Hrsg.  v.  F.  Panzer  (Leipzig  1919).  — 
y.  V.  Scheffel,  Briefe  an  Anton  von  AVerner  1863—1886.  Mit  Anmerkungen  ver- 
sehen und  herausgegeben  von  dem  Empfänger  (Stuttgart  1915).  —  W.  Grebe,  Die 
Erzählungstechnik  Y.  Scheffels  (Diss.  Münster  1919). 


136 


Verfassernamen 


Ades,  H.  C.  118 
Adler,  F.  H.  68 
Adrian,  K.  105 
Alexander,  W.  103 
Amelung,  H.  97 
Andress,  I.  M.  73 
Appelmann,  M.  119 
Arraandoff,  I.  102 
Arnold,  E   F.  18 
Aschner,  S.  132 

Bab,  J.  133 
Bachmann,  V.  87 
Bächtold,  J.  M.  13 
Baesecke,  G.  2.  21.  132 
Baginsky.  B.  133 
Bahder,  K.  v.  24 
Baidinger,  E.  117 
Balk,  N.  82 
Balkenhol,  A.  121 
Bartels,  A.  11.18. 64. 132. 135 
Bathe,  J.  108 
Baum,  E.  65 
Baumgard,  0.  116 
Baumgarten  130  f. 
Baur,  A.  30 
Bebermeyer,  G.  28 
BecMold,  A.  52 
Beck,  K.  135 
Beckenhaupt,  K.  127 
Becker.  A.  25 
— ,  F.  134 
— ,  F.  K.  59 
— .  H.  135 
—    R.  57 
— ,  V.  M.  3 
Behme,  H.  107 
Behrend,  F.  128 
Beschnitt,  K.  62 
Beik,  H.  81 
Bender,  H.  112 
Benz.  R.  23  f.  41.  95 
Berger,  A.  E.  32,  33 
— ,  K.  83 
Berneisen.  E.  118 
Berr«sheim,  F.  83 
Bertrand,  J.  J.  A.  93.  134 
Besse,  K.  118 
Beste,  K.  109 


Bettelheim,  A.  135.  136 
Betz,  M.  44 
Beyel,  F.  127 
Bianchi,  L.  132 
Biese,  A.  11.  125  f. 
Bischoff,  H.  103.  134 
Blanck,  K.  133 
Blankennagel,  J.  K.  106 
Blatter,  A.  26 
Blum,  F.  105 
Bob,  H.  A.  46 
Bode,  W.  78.  133 
Böhlich,  E.  79 
Boehm,  F.  45 
Boehme,  K.  135 
Bömer,  A.  43 
Bönneken,  M.  124 
Bohnenblust,  G.  129 
Bollert,  M.  119 
Bopp,  I.  M.  67 
Borcherdt,  H.  H.   31  f.  53. 

113  f.  115 
Bormaun,  G.  69 
Bornhausen  134 
Bornstein,  P.  111 
Borwitz,  W.  42 
Bossert,  A.  73 
BouilHer,  V.  66.  133 
Bourmann,  C.  51 
Boy-Ed,  I.  78 
Brandes,  G.  133 
— ,  H.  27 
Brandl,  W.  39 
Brandt,  H.  133 
— ,  0.  93 
Braun,  H.  109 
Braune,  F.  90 
Brauweiler,  E.  104 
Brecht,  W.  131 
Brentano,  L.  134 
Breuer,  M    95 
Brieger,  Th.  32 
van  der  Briele,  "W.  52 
Brietzniann,  F.  26 
Brooks.  E.  68 
— ,  St.'  85 
Brown,  P.  H.  133 
Brüggemann,  F.  59 
Brüstle,  W.  71 


Brun,  L.  133.  185 
Buchta,  A.  97 
Buchtenkirch,  G.  107 
Buchwald,  G.  33 
Bücher,  W.  109 
Bulling,  K.  65 
Burdach,  K.  41  f. 
Busse,  L.  15 

Caccia,  N.  45 
Calow,  E.  135 
Campbell,  F.  M.  135 
Cardauns,  H.  96.  97 
Cassii-er,  E.  86.  106 
Castie,  E.  77 
Church,  H.  W.  99 
Coffmann,  B.  R.  60 
Cohn,  E.  133 
Conen,  F.  94 
Consentius,  E.  70 
Corsen,  M.  135 
Creizenach,  W.  14  f. 
Croce,  B.  133 

Denk,  0,  48 
Deutschbein,  M.  134 
Didier,  A.  44 
Dikenmann,  R.  63 
Diener,  W.  124 
DHthev,  W.  5.  42 
Dittrich,  P.  42 
Draeger,  R.  123 
Droescher,  G.  135 
Düsel..  F.  68 

Ebhardt,  R.  112 
Eckert,  H.  82 
Ehrismann,  G.  132 
Eichler,  B.  46 
Ekhardt.  W.  101 
Eliuß,  S.  90 
V.  Eis,  H.  110 
Enders.  C.  119.  135 
Engel,  E.  5 
Enz,  H.  135 
Ermatinger,  E.  126.  132 
Ernst,  F.  91 
— ,  J.  68 
Ettlinger,  M.  11 


137 


Faerber,  L.  94 
Fauconnet,  A.  134 
Fauth,  G.  26 
Federn,  E.  78.  135 
Fehn,  A.  118 
Feilbogen,  F.  124 
Filippi,  L.  135 
Findeis,  R.  15 
Finke,  H.  92 
Fischer,  A.  49 

—  B.  114 
— ,  E.  42 

-  ,  M.  108 
Fischli,  A.  134 
Fittbo£;en,  G.  63.  108 
Flad,  E.  105 
Flemming,  "W.  55 
Floeck,  0.  100 
Fluck,  H.  71 
Franke,  C.  35 
Fiaude,  0.  135 
Frenzel,  J.  101 
Fresdorf,  IT.  115 
Feund  A.  121 

Frey,  A.  130 
Freye,  K.  72 
Freyer,  M.  35 
Fritz,  F.  25 
— ,  J.  32 

Galaboff,  K.  S.  92 
Galetti,  G.  101 
Garbe,  U.  68 
Gassen,  K.  135. 
Gattermann,  H.  26 
Geißler,  H.  109 
Geller,  M.  120 
Gerhardt,  M.  84 
Germann,  K.  64 
Geyer,  A.  46 
Giese,  E.  36 
— ,  F.  90 
Glätzel,  M.  116 
Gluck,  H.  122 
Glück,  F.  134 
Goedeke,  K.  17  f. 
Götze,  A.  22  f. 
Gose,  H.  133 
Graf,  H.  G.  75.  76 
Grabl-Mügelin,  W.  100 
Gratopp,  K.  126 
Graub,  J.  81 
Grebe,  W.  136 
V.  Grolmann,  A.  78.  86 
Groschwald,  P.  65 
Grußendorf,  JI.  68 
Gülzow,  E.  98 
Günther,  H.  24 
— ,  K.  67 


Günther,  0.  134 
Gundolf,  F.  771 
Gutzeit,  M.  51 

Häberlin,  H.  135 
Hähners,  M.  123 
Halbeisen,  H.  120 
Hallermann,  J.  119 
Hallmann,  G.  135 
Hammer,  H.  94 
Hankamer,  P.  101.  134 
Hannes,  M.  103 
Hansen,  A.  135 
Harich,  W.  100.  136 
V.  Harnack,  A.  32 
Hartmann,  J.  101 
Hasinsky,  M.  136 
Hasse,  K.  P.  134 
Hastenpflug,  0.  126 
Haubold,  F.  136 
Hauff,  W.  44 
Hauffen,  A.  46.  133 
Hausrath,  A.  33 
Hayens,  K.  135 
Haym,  R.  89 
Hecker,  M.  76 
Heckmann,  W.  G.  134 
Heilborn,  E.  128.  135 
Heininger,  F.  97 
Heitmann,  F.  121 
Heitz    P.  27 

V.  Helüngrath,  N.  86.  134 
Hempel,  P.  56 
Hengsberger,  K.  134 
Henrich,  A.  45 
Hensold  K.  117 
Herrmann,  M.  38 
Herte,  A.  34 
Hertel,  Th.  94.  125 
Hertz,  W.  129 
Hes,  E.  116 
Hey,  M.  135 
Hillmann,  D.  82 
Hinnah,  F.  118 
Hintner,  F.  36 
Hirth,  F.  104 
— ,  K.  133 
Höfer,  C.  81.  135 
Hüuig,  J.  129 
Hoestermann,  E.  112 
Ilövel,  E.  54 
Hofer,  K.  111.  133 
Hoffart,  E.  73 
Hoffmaun,  K.  E.  129 
Hohenstatter,  E.  117 
Horowitz,  J.  63 
Horwitz,  A.  91 
Hradek,  L.  109 
Huch,  R.  122 


Hübner,  A.  45 
Hülle,  I.  60 
Hundertmark,  0.  103 
Hunziker,  F.  126 

Egner,  H.  124 
lueichen,  A.  135 
Isch,  W.  135 

Jacobstroer,  B.  120 
Jaeggi,  F.  135 
Jahn,  E.  67 
-,  AV.  112 
Janell,  W.  44 
Janentzky,  K.  74 
Jauke,  M.  135 
Janko,  S.  L.  81 
Jansen,  W.  124 
Janssen,  A.  135 
Jef.,  H.  126 
Johannesson,  A.  84 
Jost,  W.  134 

Kadner,  F.  133 
Kaindl,  R.  F.  45 
Kaiser,  I.  72 
Kalbeck,  M.  126 
Kalischer,  E.  131 
Kalkoff,  P.  32.  133 
Kappenberg,  H.  105 
Kanter,  F.  107 
Kappstein,  Th.  133.  134 
Kauenhoven,  K.  71 
Kaufmann,  P.  37 
Kaulfuß-Diesch,  K.  30 
Kayser,  H.  133 
— ,  R.  97 
Keerl,  F.  123 
Kempf,  J.  K.  123 
Keller,  A.  71 
Kern,  0.  133 
Kilian,  W.  117 
Kindermanu,  H.  134 
Kipka,  K.  18 
Klabund  11 
V.  Klein,  E.  99 
Klein,  E.  119 
— ,  G.  119 
Kleinberg,  A.  136 
Kleineibst,  R.  65 
Klemperer,  V.  120 
Kloß,  A.  105 
Knecht,  F.  135 
Knellwolf,  A.  43 
Kober,  A.  6.  16 
Kobes,  F.  126 
Koch,  A.  82 
-,  F.  116 
— ,  M.  11 


138 


Köhler,  A.  99 
-,  W.  30.  32 
Koller,  C.  98 
Kölmel,  A.  F.  52 
König,  E.  44 
Körnchen,  H.  51 
Köster,  A.  38  f.  125 
Kohler,  H.  F.  122 
Korff,  H.  881 
Koschmieder,  A.  73 
Krafft,  E.  40 
Krammer,  M.  135 
Krauß,  A.  99 
Krev,  E.  128 
Kricker,  G.  128.  135 
Krisch,  P.  113 
Krügel,  P.  98 
Krüger,  H.  A.  18 
— ,  J.  92 
Kuchanny,  L.  43 
Kürbs,  H.  124 
Kürfel,  W.  92 
Kupsch,  W.  135 

Laging,  A.  66 

Lang,  L.  102 

Langmesser,  A.  130 

Lefftz,  J.  29 

Lehmann,  E.  87 

— ,  G.  136 

-,  P.  41 

Leitzmann,  A.  65.  84 f.  127. 

133 
Lemcke,  H.  29 
Lempicki,  S.  v.  132 
Lenz,  0.  87 
Lepp,  F.  26 
Lewalter,  E.  &1 
Lewy,  E.  72 
— ,  G.  135 

V.  d.  Leyen,  F.  2.  28 
Lichtenstein,  E.  60 
V.  Liebenau,  Th.  28 
Liederwald,  C.  82 
Liepe,  W.  23.  64 
Lindemann  11 
Lindner,  R.  115 
Lippert,  W.  61 
Litzmann,  G.  128 
Löffler,  K.  44.  70 
Loofs,  H.  70 
Loose,  E.  111 
Ludwig,  E.  133 
Luckwald.  E.  103 
Lüdeke,  H.  93 
Luther,  B.  108 

MäMich,  M.  114 
Maemer,  L.  135 


Härtens,  J.  134 

Magon,  L.  99 

V.  Manikowsk,  F.  60 

Marcus,  F.  134 

Marx,  E.  64 

Maus,  Th.  27 

Mausolf,  W.  134 

Maync,  H.  78.  135 

Mazzuchotti,  L.  93 

Mechel,  K.  39 

Meier,  G.  26 

Meise,  W.  84 

Mejasson  137 

Mendheim,  M.  128 

Merbach,  P.  A.  13 

Merker,  P.  8  f.  28.  29  f.  33. 

44.  75.  113  f.  132 
Mestwerdt,  P.  43 
Metis,  E.  117 
Meumann,  H.  127 
Meyenburg,  E.  70 
Meyer,  F.  60 
— ,  E.  M.  10  f. 
Meyer-Benfey,  H.  62 
Michael,  W.  69 
Michel,  V.  2 
Mis,  L.  115.  135 
Mitschell,  R.  130 
Möckei,  K.  116 
Mohr,  F.  39 
Monius,  G,  134 
Moormann,  M.  117 
Morris,  M.  79 
Moser,  V.  22 
Müller,  B.  A.  45 
V.  Müller,  H.  99  f. 
MüUer,  H.  83 
— ,  E.  83 
— ,  W.  82 
Müsebeck,  E.  98 
Muncker,  F.  62 
Mutschier,  K.  134 
Mutzenbecher,  H.  104 

Nadler,  J.  4. 11  f.  54.  77. 134 
Nagl,  J.  V.  13 
Naumann,  F.  133 
— ,  H.  22 
Neubauer,  L.  25 
Neubert,  F.  30.  82 
Neuburger,  P.  103 
Niessen,  C.  40 
j    97 

Nietzki,  M.  128 
Nippold,  E.  95 
Nußberger,  M.  131 

Obenauer,  K.  .T.  133 
Oehlke,  W.  62.  96.  132.  133 


Offergeid,  K.  135 
Ostwald,  W.  82 
Ott,  K.  27 

Palgen,  R.  101 

Panzer,  F.  136 

Paul,  G.  61 

Payer  v.  Thurn  25.  109 

Peters,  M.  129 

Petersen,  J.  3.  17.  78.  107 

Petitpierre,  F.  116 

Petrich,  H.  49 

Petsch,  R.  16.  78 

Petzet,  E.  130 

Pieper,  A.  67 

Piper,  P.  133 

Pinger,  W.  R.  134 

Pfannkuchen,  W.  82 

Pfannmüller,  L.  37 

Pfeiffer,  R.  44 

Pfeil,  L.  56 

Plenio,  W.  37 

Plotke,  G.  J.  125 

PoUraer,  A.  133 

Pompecki,  L.  14 

Preitz,  M.  96 

Prys,  J.  51 

Quentin,  W.  46 

Radke,  M.  F.  135 

Rath,  H.  W.  104.  134 

Rausse,  H.  16 

Regli,  M.  A.  133 

Reinhold,  C.  T.  135 

Reitz,  E.  134 

Remy,  H.  134 

Rhein,  F.  105 

Rhyn,  H.  128 

Richter,  W.  37.  107 

Riederer,  F.  93 

Riemer,  F.  W.  133 

Riese,  A.  29 

Rockenbach,  Th.  126 

Roe,  A.  ß.  50 

Reeder  v.  Diersburg,  E.  132 

Röhl,  H.  11 

Roehle,  M.  100 

Roethe,  G.  32.  45.  80.  133 

Rohde,  R.  134 

Rogge,  H.  134 

Rosenloaum,  A.  20 

Rührmund,  E.  46 

Rummelt,  F.  67 

Saedler,  A.  H.  112 
Saran,  F.  80 
Sarter,  E.  81 
Sartori-Neumann,  B.  134 


139 


Sauer,  A.  4.  77.  108  f. 

Scotti,  A.  115 

Schacht,  R.  128 

Schaffner,  P.  135 

Schairer,  F.  72 

SchaUas,  W.  127 

Schauer,  H.  58 

Scheel,  0.  34.  132 

Scheid,  N.  55 

Scheidweiler,  P.  90 

Schellenberg,  A.  134 

Scherer,  W.  9  f. 

Scherrer,  M.  89 

Schierbaum,  H.  66 

Schierdins?,  H.  120 

Schiff,  J.  77 

Schiller,  H.  124 

Schmidt,  E.  114 

— ,  G.  73 

— ,  R.  26 

Schmitz-Kallenberg,  L. 

Schneider,  H.  101. 106  f. 

— ,  H.  102 

— ,  F.  23 

— ,  M.  132 

Schnorf,  H.  69 

Schöberl,  J.  F.  132 

Schön,  F.  132 

Scholienberger,  H.  18 

Schölte,  J.  H.  52.  53 
Schramm,  F.  48 

Schreckenbach,  P.  30 
Schroeder,  E.  49 
Schröder,  K.  59 
V.  Schröder,  ^V.  50 
V.  Schubert,  H.  33.  34 
Schubert,  P.  101 
Schüddekopf,  K.  95 
Schulhof,  H.  102 
Schum,  A.  133 
Schulte,  W.  110 
— ,  H.  A.  120 
Schultz,  F.  28 
Schulz,  M.  133 
Schulze,  W.  102 
Schumann,  G.  29 
Schuster,  M.  104 
Schwaller,  J.  39 
Schwartz,  H.  93 
Schwetje,  W.  118 
Seebass,  F.  134 
•   Seil,  F.  134 
Semper,  M.  82 
Seuffert,  B.  64.  133 
Siebs,  Th.  123.  132 
Silling,  M.  135 
Siegen,  K.  106 
Singer,  S.  13 


72 
134 


Smekal,  R.  135 

Sommerfeld,  M.  66 

Spieß,  0.  80 

Spitta,  F.  35 

Spenle,  M.  40 

Spenle,  E.   134 

Spohr,  E.  134 

Stamm,  H.  126 

Stammler,  W.  70  f.  72.  132 

Stecher,  M.  59 

Stei?,  R.  96 

Steinberg,  H.  56 

Steiner,  E.  135 

Sternberg,  F.  54 

Stimmel,  E.  135 

Stock,  G.  102 

Stockmann,  A.  134 

van  Stockum,  T.  C.  63 

Stöffler,  F.  52 

Stolle,  K.  117 

Strauß,  B.  43 

— ,  D.  F.  43 

Strich,  F.  47 

Strobl,  K.  H.  136 

Stümcke,  H.  56 

Sturm,  E.  71 

— ,  W.  73 

V.  Stutterheim,  K.  129 

Subotic,  D.  B.  116 

Sulzer-Gebing,  E.  131 

V.  Sydow,  A.  84 

Tannenbaum,  E.  112 
Teichmann,  M.  84 
Teller,  F.  107 
Thalmann,  M.  94 
Thode,  H.  31 
Thomas,  R    128 
Thieß,  F.  82 
Titze,  H.  81 
Törnvall,  E.  G.  53 
Touaillon,  Chr.  88 
Treutier,  A.  73 
Trendelenburg,  A.  133 
Triebnigg,  E.  40 
Tribolet,  H.  133 
Tümpel,  W.  49 
Tumarkin,  A.  134 

Uhleudahl,  H.  134 
Unger,  R.  5. 

V.  Unwerth,  W.  57  f.  132 
Ulich,  R  79.  119 
Ulbrich,  H.  b3 

Varney,  F.  84 
Vaternahm,  0.  F.  82 
Veiten,  R.  48 
Verwcyhen,  J.  W.  11 
Vietor,  K.  134 


Vogel,  P.  91 
Vogt,  F.  11 
Vogt,  F.  132 
Volpers,  R.  92 

Wächter,  K.  108.  135 
Wälterlin,  0.  134 
Wagner,  A.  M.  70 
-,  K.  48 
-,  L.  98 
Wahl,  H.  65.  75 
Wähle,  J.  75 
Walther,  W.  32.  34 
Wandrey,  C.  135 
V.  Waldberg,  M.  57 
AValzel,0.7f.  10.16.  89.  U.3 
AVaters,  G.  50 
Wegner,  F.  40 
Weidling,  F.  44 
V.  Weüen,  A.  116. 
Weimann-Bischoff,  A.  127 
Weinmann,  R.  133 
Weinschenk,  G.  116 

Weiß,  F.  135 

Wenter,  J.  G.  111 

Wels,  K.  H.  48 

Werner,  R.  M.  110  f. 

V.  Werner,  A.  136 

Weraike,  S.  37 

Wesmever,  R.  102 

West,  L.  116 

Widmann,  B.  96 

Wiegand,  J.  132 

Wieneke,  E.  92 

Wilhelm,  F.  132 

Willige,  W.  106 

Wißmann,  P.  128 

Witkop,  Ph.  14  f.  132 

Witkowski,  G.  58.  133 

Wittsack,  R.  135 

Wühlert.  H.  68 

Wölfflin,  H.  8 

Wolf,  G.  21  f. 

Wolff,  A.  63 

— ,  E.  81 

— ,  M.  J.  133 

Woltereck,  K.  95 

Wolters,  M.  28 

Wüst,  P.  127 

Zacher,  F.  H.  27 
V.  Zastrow,  H.  91 
Zeidler,  J.  13 
Zeitler,  J.  79 
Zilchert,  R.  134 
Zincke,  P.  85^ 
Zinkernagel,  F.  86 
Zobel  V.  Zabeltitz,  M.  11  o 
Zwetz,  R.  50 


140 


Sachverzeichnis 


Ähasver  25 
Alexis,  TV.  122 
Ällmers,  H.  123 
V.  Alxinger,  J.  B.  65 
Andrea,  J.  V.  51 
Anzengruber  L.  136 
Arndt,  E.  M.  98 
V.  Arnün,  A.  96.  97 
-,  B.  96 
Arnold,  G.  50 
Aufklärung  57  ff.  133 
Avancini,  N.  55 

Bälde,  J.  45 

Ballade  102.  119.  128.  129 
Barock  45.  46  ff.  133 
Barocktheater  54 
Bemhardi,  S.  95 
Bibelübersetzung  34  f. 
Bibliographie  17  ff.  132  ff. 
Birch-Pfeiffer,  Ch.  116 
Birk,  S.  132 
Böhme,  J.  133 
Boltz,  V.  39 
Brandenburg  13 
Brant,  S.  27  f. 
Bremer  Beiträger  61 
Brentano,  Cl.  93  ff.  134 
Brion,  F.  133 
Brinkmann,  J.  125 
Blockes  B.  H.  60 
Buchholz,  A.  H.  52 
Büchner,  G.  119.  135 
Bürger,  G.  A.  70  f.  133 
Bullinger,  H.  134 
Burckhardt,  J.  129  f. 

Carl   August  Ton   Sachsen- 

"W'eimar  75 
Chamisso,  A.  v.  102 
Claudius,  M.  70.  133 

Deutschkunde  3 
Didaktik  56  f. 
Döbereiner,  J.  "W.  77 
Drama  14.   16.  38  ff.   54  ff. 

571  68  f.  106  ff.  118.  133. 

134  f. 
V.  Droste-Hülshoff.  A.  121. 

135 


V.  Ebner-Escheubach,  M.  135 
Eckermann,  J.  P.  77 
V.  Eichendorff,  J.  102 
Elsaß  24.  26.  27  ff.  39.  44  f. 

46.  67 
Empfindsamkeit  67  ff. 
epistolae    obscurorum    viro- 

rum  43 
Erasmus  43.  45 

Faust  133 
Faustforschung  81 
Faustsage  25 
Fischart,  J.  46 
Fontane,  Th.  128.  135. 
Forster,  G.  85 
Fortunatus  24 
V.  Fran(^ois,  L.  135.  136 
Frauenroman  88 
Freüigrath,  F.  119 
Freytag,  G.  135 
Frischlin,  N.  44  f. 

Gattungsgeschichtliche  Dar- 
stellungen 14  f. 

Geibel,  E.  1281 

Geiler  v.  Kaisersberg  27 

Gelehrtendichtuug  47 

Geliert,  Chr.  F.  133 

Gerhardt,  P.  49 

Gerstäcker,  F.  120 

Gerstenberg,  F.  W.  70 

Gesellschaftslied  48 

van  Ghetelen,  H.  27 

Gieseke,  N.  D.  61 

Gleim,  J.  W.  133 

Görres,  J.  98 

V.  Goethe,  A.  78 

— ,  Chr.  76.  78.  133 

— .  J.  W.,  74ff.  92.  95. 121. 
1331 

Göttinger  Hain  681 

Gotthelf,  J.  122.  135 

Gottsched,  J.  Chr.  60 f. 

Grabbe,  Chr.  D.  100.  135 

Gregorovius,  F.  129 

Greif,  M.  116 

Grillparzer,  F.  108  ff.  135 

Grimm.  J.  96 


Grimm,  ^'.  96 

V.  Grinmi eishausen,  J.  Chr. 

52  ff. 
Grüner,  J.  S.  77 
Grvphius,  A.  551 
Gutzkow,  K.  1161  135 

Hafner,  Ph.  65 

y.  Hagedorn,  F.  60 

V.  Haller,  A.  60 

Hansjakob,  H.  123 

T.  Hardenberg,  F.  95 

Hebbel,  F.  110  fl  135 

Heimatdichter  122  f. 

Heine,  H.  1031  134 

Heiuse,  "SV.  116 

Hensel,  L.  96 

Herder,  J.  G.  72  f.  79.  133 

Herwegh,  G.  117 

Heyse,  P.  125.  126.  130 

Historismus  1151  118.1301 

Hölderlin,  F.  85  ff.  134 

Höltv.  L.  69 

Hoffmann,  E.  T.  A.991  134 

Hoffmann  v.  Faliersleben  1 18 

Holland  51 

V.  Hörn,  W.  0.  124 

Hoyers,  A.  0.  50 

Huber,  Th.  85 

Humanismus  40  ff.  132 

V.  Humboldt,  C.  84 

— ,  W.,  841 

V.  Hütten,  U.  43.  45 

Illustration  28 
Immermann,  K.  135 
Iselin,  I.  Iü3 

Jacobi,  F.  63 
Jahresberichte  18  ff. 
Jesuitendichtung  54 f. 
Junges   Deutschland   116  ff. 

135 
V.  Jimkmann,  W.  120 

Keller,  G.  126.  135 
Kinkel,  G.  119 
Kirchenlied  49  f. 
Klassizismus  74  ff.  133 


141 


Klein,  I.  L.  116 
V.  Kleist,  H.  lOßff.  134 f. 
Klinger,  F.  M.  71.  133 
Klopstock,  F.  G.  67  ff. 
König.  H.  H.  120 
Kurz,  H.  134 

Lafontaine,  A.  Tl.  J.  67 
Laube,  H.  116  f. 
Lavater,  J.  K.  73 
V.  Lenau,  N.  103.  134 
Lenz,  J.  M.  R.  72 
Lessing,  G.  E.  61  ff.  93.  133 
Leuthold,  H.  129 
Lewin,  R.  116 
Lichtenberg,  G.  Chr.  65  f.  133 
Lindner,  A.  116 
Literaturgeschichte ,     allge- 
meine 9  ff.  132 
Literaturwissenschaft  132 
V.  Logau,  F.  56 
Ludwig  von  Anhalt-Cöthen  48 
Ludwig,  0.  113  ff.  135 
Lustspiel  42 

Luther,  M.  30  ff.  45.  132 
Lyrik  15  f.  47  ff. 

Mameranus,  N.  44 
Mayer,  H.  76 
Meistersinger  36  f.  40 
Meißner,  A.  118 
Mereau,  S.  97 
Methoden  3  ff.  134 
Meyer,  C.  F.  1301  136 
Meyr,  M.  122 
Mörike,  E.  1041  134 
Moser,  J.  66 
Montanus,  J.  44 
Mosen,  J.  118 
Müller,  A.  90 
Murner,  Th.  27  fl 
Musäus,  J.  K.  A.  67 
Mystik  50 

Naogeorgus,  Th.  45 
Neidhart.  H.  42 
Neuklassizismus  128  fl  136 
Neulateinische    Dichtung 

40  fl 
Nicolai,  F.  651 
Niederdeutschland  27.  132 
Novalis  s.  Hardenberg 
Novelle  94.  130 

Oesterreich  13.  77 
Opitz,  M.  48 


Peutinger,  K.  44 
Pietismus  50 
Pietsch,  J.  V.  60 
Pirkheimer,  W.  44 
Pfeffel,  G.  K.  67 
Prinzipien  If.  132 
Prutz,  R.  117 

Raabe,  W.  124.  135 
Kabener,  G.  ^^\  61 
Raimund,  F.  137 
Realismus  1211  135 
Reformation  21  fl  132 
Reimarus,  ET.  S.  63 
Religiöse  Dichtung  16.  49  f. 
Renaissance  41  f.  47.  132 
Reuter,  Chr.  58 
-,  F.  123 
Richter,  Jean  Paul  87  f.  134 

135 
Riehl,  W.  H.  135 
Riemer,  J.  52 
Ringwaldl  B.  40 
Rist,  I.  56.  133 
Robinson  aden  59 
Roman  16.  23.  26.  51fl  591 

90.  119  ff.  133 
Romantik  12.  89ff.  127.134. 
Rückert,  F.  99 

Sacer,  G.  W.  561 
Sachs,  H.  36  f.  46 
V.  Sallet,  F.  103 
Satirische  Literatur  26.  561 
Schack,  Graf  v.  119.  129 
Scheffel,  V.  136 
Scheidenreißer,  S.  44 
V.  Schenkendorf  M.  99 
Scherenberg,  Chr.  F.  119 
Schiller,  F.  71.  81.  831121. 

134 
Schiltbürger  24 
Schlegel,  A.W.  73.  921  133 
— ,  C.  92 
— ,  D.  92 
— ,  F.  84.  90  fl 
-,  J.  E.  61 
Schmeltzl,  "W.  40 
Schnabel,  J.  G.  59 
Schoi)enhauer,  A.82. 109. 135 
Schul)art,  Chr.  F.  711 
Schücking  L.  120 
Schuldrania  391 
Schwab,  G.  102 
Schwankbücher  24 
Schwarz,  S.  133 


Schweiz  13.  26.  39.  69.  7:^.. 

126.  135 
V.  Schwind,  M.  134 
V.  Sinclair,  J.  116.  134 
Solitaire,  S.  103 
Spangenberg,  V.  39 
Spener,  Ph.  50 
Spielhagen,  F.  1191 
Sprachvereine  48 
Spreng,  I.  37 
Stammeskunde  4 
V.  Stein,  Ch.  781 
Steiuhövel,  H.  42 
V.  Stolberg,  F.  L.  70 
Storni,  Th.  125.  135 
Sturm  und  Drang  67  ff.  133 

Tauler  132 
Terstegen,  G.  56 
Tieck,  L.  93  ff.  134 
Toleranzgedanke  63 

Uhland,  L.  1011  134 
Utopie  59 

Vischer,  F.  Th.  124 
Volksbücher  23  ff.  41 
Volkslied  49 
Voltaire  88 
Voß,  Chr.  85 
— ,  J.  H.  70 

Waiblinger,  W.  134 
"VVagnervolksbuch  25 
Weber,  F.  W.  129.  136 
Weise,  Chr.  52.  57  f. 
Weltschmerzdichtung   1021 
V.  Werner,  A.  138 
Werner,  Z.  64.  100  f.  134 
Westpreußen  14 
Wickram,  J.  26 
Wieland,  Chr.  M.  64 f.  133 
Wild,  S.  39 
V.  Willemer,  M.  76 
WiUkomm,  E.  118 
Winkler,  P.  52 
Wochenschriften  59 
V.  Wolzogeu,  K.  85 
V.  Wyle,  N.  43 

Zauper,  J.  St.  77 
Zeitroman  116fl  119fl 
Zeitschriften  19fl 
Zelter,  K.  F.  76 
V.  Zesen,  Ph.  51 
Zschokke,  H.  67.  133 


Dmck  von  Friedi'lch  Andreas  Perthes  A.-G.  Gotha 


Wissen  schaftliche 
Forschungsberichte 

Herausgegeben  von  Professor  Dr.  Karl  Hönn 

Geisteswissenschaftliche  Reihe 
1914—1920 


Englische  Sprachkunde 


Verlag  Friedrich  Andreas  Perthes  A.-G.  Stuttgart-Gotha  1923 


Englische  Sprachkunde 


bearbeitet 


von 


Johannes  Hoops 

Professor  an  der  Universität  Heidelberg 


e-'JBah^  Pi,  ,j 


Verlag  Friedrich  Andreas  Perthes  A.-G.  Stuttgart-Gotha  1923 


Alle  Reclite,  einschließlich  des  ÜberseUungsrcchtes,  vorbehalten 


Karl  Luick 

dem   Forscher   und   Freunde 


Vorwort 

Es  war  mein  Bestreben,  nicht  nur  die  wichtigeren  inländischen 
Erscheinungen  der  Jahre  1914 — -1920  für  diesen  Bericht  heranzuziehen, 
sondern  auch  die  einschlägige  Literatur  des  Auslands  nach  Möglich- 
keit in  weitem  Umfang  zu  berücksichtigen.  Wenn  gelegentlich  Schriften 
mit  belangvollem  Inhalt  übergangen  oder  nur  flüchtig  gestreift  sind,  so 
wird  dies  entweder  daher  rühren,  daß  die  Verleger  es  nicht  für  der 
Mühe  wert  hielten,  Besprechungsexemplare  einzusenden,  oder  daß  mir 
die  Werke  aus  andern  Gründen  unzugänglich  waren. 

Durch  die  Beschränkung  des  Berichts  auf  die  Sprachwissenschaft 
wurde  einerseits  die  Ausdehnung  des  behandelten  Zeitraums  auf  sieben 
Jahre  ermöglicht  und  konnte  anderseits  auf  den  Inhalt  mancher  Mono- 
graphien, die  für  Studierende  und  Lehrer  von  Belang  zu  sein  schienen, 
ausführlicher  eingegangen  werden.  In  einer  Zeit,  wo  die  Anschaffung 
von  Büchern  dem  einzelnen  nur  in  sehr  beschränktem  Maße  möglich 
ist,  dürfte  dies  manchem  willkommen  sein. 

Heidelberg,  Dezember  1922 

Johannes  Hoops 


Inhalt 

Seite 

I.  Geschichte  der  englischen  Sprache  als  Ganzes 1 

1.  Gesamtdarstellungen 1 

2.  Dialekt-  und  Stammesgrenzen  in  altenglischer  Zeit  ....  5 

a)  Anfänge  der  englischen  Sprache  und  Dialektbildung     ....  5 

b)  Die  altengüsche  «/g- Grenze 8 

c)  Die  Dialektabstufung  von  ae  .  // 9 

d)  Die  mittelenglischo  et/ ^ö- Grenze 11 

e)  Die   Dialektabstufung  des-  wgerm.    a   vor  l   +    Kons,   im  Alt- 
englischen    11 

f)  Vergleich  der  ea/a-  mit  der  ^   e-Grenze 12 

g)  Sprachkurveu  und  Stammesgrenzen 13 

h)  Der  «-Umlaut  von  wgerm.  a  vor  /  +  Kons,  iui  Alteuglischeu  14 

3.  Einfluß  des  Angelsächsischen   auf  das  Althochdeutsche  .    .  15 

4.  Einfluß  des  Lateins  und  des  Christentums  auf  den  altenglischen 
Wertschatz 20 

5.  Norwegische  Siedlungen  in  Nürdwest-Engiand 25 

6.  Der  alte  Londoner  Dialekt 28 

7.  Der   Übergang   zur   Gemeinsprache 32 

8.  Die  heutige  Umgangssprache 35 

9.  Weltsprach-Dialekte  und  Welt-Gemeinsprache 36 

II.  \yortkunde 38 

1.  Lexikographie    • 38 

2.  Etymologie 40 

3.  Bedeutungslehre 40 

4.  Synonymik 42 

III.  Namenkunde 44 

1.  Personennamen 44 

2.  Völkernamen 47 

3.  Ortsnamen 49 

4.  Sonstige  Namen 50 

IV.  Schrift  und  Schreibung 51 

1.  Ursprung  der  Kunenschrift 52 

2.  Anglonormannische  Einflüsse   auf  die   englische  Schreibung  53 

a)  Verschiedene  vokalische  und  konsonantische  Schreibungen    .     .  53 

b)  Schreibmig  ou 54 

c)  Schreibung  ie 55 

d)  Schreibung  ea 56 


X  Inhalt 

Seite 

V.  Grammatische  Gesamtdarstellungen 57 

1.  Historische  Grammatik 57 

2.  Alt-  und  Mittelenglische  Grammatilv 58 

3.  Neuenglische  Grammatik 60 

4.  Grammatik  der   heutigen  Gemeinsprache 61 

5.  Grammatik  der  heutigen  Dialekte 65 

VI.  Lautlehre 66 

1.  Gesamtdarstellungen  und  Quellenkunde 66 

2.  Vokalisraus 69 

3.  Konsonantismus 78 

a)  Palatalisierung 78 

b)  Dissiüiihition,  Assimüatiou  utid  Metathese 79 

4.  Phonetik  und  Aussprache  des  heutigen  Englisch     ....  83 

VII.  Formenlehre 85 

1.  Substantiv 85 

a)  Gramuiatisches  Geschlecht 85 

b)  Genitiv-  und  Pluralbildiing 87 

2.  Pronomen 92 

3.  Verbum 94 

VIII.  Wortbildungslehre 98 

IX.  Syntax 105 

1.  Gesamtdarstellungen 105 

2.  Einzclabhandlungen 110 

a)  Pi'ädikationsklasseu  und  Satzarten 110 

b)  Inkongruenz  zwischen  Subjekt  und  Prädikat Hl 

c)  Präi)üsitioneu 114 

d)  Satzverknüpfung 115 

e)  Syntax  einzelner  Literaturworke 117 

X.  Rhythmik 118 

XI.  Stilistik 122 

Register 125 


I.  Geschichte  der  engHschen  Sprache  als  Ganzes 
1.  Gesamtdarstellungen 

Ein  großangelegtes  Werk  über  die  Geschichte  der  englischen  Sprache 
in  ihrer  Gesamtheit  ist  noch  ein  Wunsch  der  Zukunft.  Es  müßte  die 
Hauptzüge  ihrer  äußern  und  innern  Entwicklung,  die  Geschichte  der 
Schriftsprache  und  der  Mundarten  und  ihr  Verhältnis  zueinander,  die 
Schrift  und  Schreibung,  die  charakteristischen  Veränderungen  auf  gram- 
matischem Gebiet,  die  Einflüsse  fremder  Sprachen  auf  den  Bau  und  den 
Wortschatz  des  Englischen  und  die  Ausdehnung  des  englischen  Sprach- 
gebiets zu  allseitiger  Darstellung  bringen.  Bei  der  Auswahl  des  darzu- 
stellenden Stoffs  wäre  die  Bedeutung  der  Einzelheiten  für  die  Entwick- 
lung des  Gesamtorganismus  der  Sprache  im  Auge  zu  behalten.  Die 
historische  Gruppierung  des  Stoffs  hätte,  wie  es  auch  in  der  politischen 
Geschichte,  in  der  Literatur-,  Kultur-  und  Rechtsgeschichte  geschieht, 
nicht  sowohl  nach  Längs-  als  nach  Querschnitten  zu  erfolgen;  nicht  die 
durchlaufende  Geschichte  der  einzelnen  Sprachkategorien,  wie  Lautlehre, 
Formenlehre,  Syntax  usw.,  müßte  das  Einteilungsprinzip  bilden,  sondern 
der  Sprachzustand  und  die  wichtigsten  sprachlichen  Veränderungen  in 
den  aufeinander  folgenden  Perioden  wären  im  Anschluß  an  die  äußere 
Sprachgeschichte  zu  schildern,  um  stets  die  Vorstellung  der  Gesamtheit 
des  sprachlichen  Lebens  wach  zu  erhalten.  Bisher  hat  man  mehr  in 
Längsschnitten  gearbeitet,  mehr  den  Ausbau  der  einzelnen  Teile  der 
historischen  Grammatik  gepflegt. 

Aber  wenn  auch  eine  zusammenfassende  und  erschöpfende  Darstel- 
lung der  Geschichte  der  englischen  Sprache  in  ihrer  Gesamtheit  bisher 
noch  fehlt,  so  haben  wir  immerhin  eine  Anzahl  älterer  und  neuerer  Ar- 
beiten, in  denen  die  Haupttatsachen  der  Sprachgeschichte  mehr  oder 
weniger  vollständig  behandelt  werden. 

Eine  anregende  und  fördernde,  wenn  auch  ungleichmäßig  durch- 
geführte Skizze  hat  Kluge  in  Pauls  Grundriß  der  germanischen  Philo- 
logie (1891,  2.  Aufl.  1901)  gegeben.  Vollständiger  ist  O.  F.  Emer- 
sons  History  of  tlie  English  Language  (1894),  deren  Mängel  der  Ver- 
fasser in  späteren  Auflagen  sowie  in  seiner  Brief  Hisfori/  of  the  English 
Language  (1896,  wiederholt  neu  aufgelegt)  zu  beseitigen  bemüht  war. 
Eine  Fülle  feiner  sprachgeschichtlicher  Beobachtungen  enthält  H.  Bradleys 
Büchlein  The  Making  of  English  (1904).    Die  wichtigste  und  originellste 

"Wissenschaftliclie  Forschungsberichte  IX.  ^ 


unter  den  älteren  Darstellungen  der  Entwicklungsgeschichte  der  engli- 
schen Sprache  ist  wohl  Jespersens  Groivth  and  Strudure  of  tlie  Emjllsh 
Language  (1905,  3.  Aufl.  1919).  H.  C.  Wylds  Bücher  llistorkal  Study 
of  the  Mother  Tongue  (1906)  und  The  Groivth  of  English  (1907),  sowie 
Krapps  Modern  English,  its  Groivth  and  Present  Use  (1909)  bieten 
gute  Anleitungen  zum  historischen  Studium  des  heutigen  Englisch.  Eine 
vortreffliche  kurze  Einführung  in  den  Gegenstand  endlich  gibt  Lin- 
delöf  in  seinen  Grundzügen  der  Geschichte  der  englischen  Sprache  (1912). 

Zu  diesen  verschiedenartigen  Werken  sind  in  den  letzten  Jahren 
mehrere  bemerkenswerte  Arbeiten  hinzugetreten.  Eine  durch  Klarheit, 
Knappheit  und  wissenschaftliche  Gründlichkeit  ausgezeichnete  Zusammen- 
fassung aller  wesentlichen  Züge  der  äußern  englischen  Sprachgeschichte 
hat  uns  Karl  Luick  in  der  Einleitung  zu  seiner  Historischen  Gram- 
matik der  oiglischen  Sprache  (Leipzig  1914,  Chr.  Herm.  Tauchnitz)  ge- 
liefert. Über  die  Geschichte  des  Englischen  von  der  altenglischen  Pe- 
riode bis  zur  Gegenwart,  über  die  zeitliche  Gliederung,  die  Dialekte  und 
die  Schriftsprache,  die  Schichten  des  englischen  Wortschatzes,  über  Schrift 
und  Schreibung  wird  da  eingehend  und  zuverlässig  gehandelt.  Manche 
in  letzter  Zeit  erörterte  Probleme  erhalten  nach  kritischer  Prüfung  ihre 
abschließende  Darstellung.  Die  große  Bedeutung  des  Buchs  aber  liegt 
nicht  sowohl  in  der  Darstellung  der  Entwicklung  der  Sprache  im  ganzen 
als  vielmehr,  wie  der  Titel  schon  sagt,  in  der  Behandlung  der  Geschichte 
der  grammatischen  Formen.  Wir  werden  darum  später  darauf  zurück- 
zukommen haben. 

Ungefähr  gleichzeitig  mit  Luicks  historischer  Grammatik  erschien 
ein  Buch  von  H.  C.  Wyld:  Ä  Short  History  of  English  (London,  Murray, 
1914),  das  unter  dem  Titel  Kurse  Geschichte  des  Englischen  von  Mutsch- 
mann  ins  Deutsche  übertragen  wurde  (Heidelberg  1919,  Winter).  Es 
bietet  weit  mehr,  als  der  Titel  sagt:  es  ist  keineswegs  bloß  eine  kurze 
Einführung  in  die  englische  Sprachgeschichte,  wie  etwa  der  Abriß  von 
Lindelöf,  sondern  besteht  in  der  Hauptsache  aus  einer  recht  eingehen- 
den Darstellung  der  englischen  Laut-  und  Formengeschichte.  Die  Ge- 
schichte der  Sprache  im  ganzen  tritt  dem  gegenüber  in  den  Hinter- 
grund. Abgesehen  von  einigen  kurzen  Bemerkungen  (in  Kap.  H)  über 
die  Stellung  des  Englischen  unter  den  Sprachen  und  seine  mundartliche 
und  zeitliche  Einteilung,  wird  nur  im  letzten  Kapitel  der  Ursprung  und 
das  Wachstum  der  Schriftsprache  in  großen  Zügen  behandelt.  Von  einer 
Geschichte  des  Wortschatzes  wurde  Abstand  genommen,  „  da  dieser  Gegen- 
stand von  Bradley,  Jespersen,  Skeat  u.  a.  in  großer  Ausführlichkeit  dar- 
gestellt worden  ist".  Dagegen  sind  den  allgemeinen  Prinzipien  der  Sprach- 
geschichte und  besonders  den  Sprachlauten  zwei  besondere  Kapitel  ge- 
widmet. Im  Vordergrund  aber  steht  die  Lautgeschichte,  vor  allem  die 
der  neuenglischen  Zeit.  Der  Verfasser  hat  die  neueste  Forschung,  auch 
die  deutsche,  in  ausgiebigem  Maß  zu  Rate  gezogen,  aber  auch  vieles  aus 
eignen  Untersuchungen  hinzugefügt.  Insbesondere  das  Kapitel  über 
Formengeschichte  bringt  in  der  Darstellung  des  Artikels,  der  Pronomina 
und  der  Konjugation  viel  Eignes.     W^enn  auch  keine  allseitige  und  er- 


schöpfende  Geschichte  der  englischen  Sprache,  ist  Wylds  Buch  doch  als 
Darstellung  der  historischen  Grammatik  von  mittlerem  Umfang  nament- 
lich Studierenden  und  Lehrern  bestens  zu  empfehlen. 

Bedeutender  jedoch  ist  das  neueste  Buch  Wylds:  Ä  History  of 
Modern  CoUoqiciul  EnglisJi  (London,  Fisher  Unwin,  1920).  Schon  der 
Titel  ist  bemerkenswert.  Wyld  will  keine  Geschichte  der  eigentlichen 
Schrift-  oder  Literatursprache,  sondern  der  Umgangssprache  geben.  Er 
weist  in  der  Einleitung  darauf  hin,  daß  die  übliche  Scheidung  des  heu- 
tigen Englisch  in  mustergültiges  oder  gebildetes  Englisch  {Standard  English 
bzw.  Educated  English)  und  Provinzialenglisch  oder  Dialekte  (Regional 
IHaleds)  unzulänglich  sei,  da  sie  das  Vorhandensein  verschiedener 
Klassendialekte  [Class  Dialeds)  ignoriere.  Man  müsse  bei  dem  Eng- 
lisch der  Gebildeten  vielmehr  weiterhin  unterscheiden :  eine  allgemein 
anerkannte  Mustersprache  (Received  Standard  English),  wie  sie  nament- 
lich durch  den  Einfluß  der  großen  Internatschulen  im  ganzen  Lande 
verbreitet  werde,  so  daß  man  sie  auch  als  Public  School  English  be- 
zeichnen könne,  und  die  zahlreichen  modifizierten  Formen  der  Gebildeten- 
sprache  (Modified  Standard  English),  die  sich  teils  unter  dem  Einfluß 
der  Provinzialdialekte,  teils  durch  sozialdialektische  Einflüsse  heraus- 
gestaltet haben.  Die  Geschichte  der  gebildeten  Umgangssprache  in  ihren 
verschiedenen  Formen  von  der  mittelenglischen  Zeit  bis  zum  Ende 
des  18.  Jahrhunderts  darzustellen,  ist  die  Aufgabe  von  Wylds  Buch. 
Er  hat  sich  ihr  mit  großer  Sachkenntnis  und  staunenswerter  Be- 
lesenheit unterzogen.  Auf  400  großen,  eng  bedruckten  Seiten  bietet  er 
uns  eine  Unmenge  wertvollen  Stoffs,  den  er  zum  großen  Teil  selber  aus 
den  Quellen  zusammengetragen  hat.  Die  Anordnung  ist  eine  doppelte. 
Nach  eingehender  Schilderung  der  für  die  Entstehung  der  heutigen  Ge- 
meinsprache vorzugsweise  in  Betracht  kommenden  mittelenglischen  Dia- 
lekttypen und  ihres  Fortlebens  in  neuerer  Zeit  beschreibt  Wyld  zunächst 
in  drei  Querschnitten  den  Zustand  der  enghschen  Sprache  im  15.,  im 
16.  und  im  17.  und  18.  Jahrhundert,  wobei  er  die  sprachlichen  Eigen- 
tümlichkeiten der  Hauptvertreter  der  Literatur  dieser  Perioden  genauer 
erörtert.  Dann  folgt  eine  Anordnung  nach  Längsschnitten.  Die  Wand- 
lungen der  Vokale  in  betonten  und  in  unbetonten  Silben,  die  Verän- 
derungen der  Konsonanten  und  des  Flexionssystems  werden  nacheinander 
vom  Mittelenglischen  ins  18.  Jahrhundert  verfolgt.  Bei  der  Darstellung 
der  Lautlehre  legt  Wyld  —  im  Anschluß  an  Za ehr  issons  Methode  in 
seiner  History  of  English  Vowels  1400—1700  (Göteborg  191 3)  —  besondern 
Wert  auf  Beobachtung  der  occasional  spellings,  der  Abweichungen  von  der 
traditionellen  Orthographie,  aus  denen  sich  mancher  Lautwandel  früher 
nachweisen  läßt  als  aus  den  Angaben  der  Grammatiker,  die  mehr  an  dem 
traditionellen  Schriftbild  kleben.  Ein  interessantes  Kapitel  über  die 
wechselnden  Moden  des  „  Colloquial  Idiom "  macht  den  Beschluß.  Eine 
Darstellung  der  Geschichte  der  Syntax  und  des  Wortschatzes  fehlt  auch 
hier.  Aber  Wyld  bemerkt  in  der  Vorrede  nicht  mit  Unrecht,  es  müsse 
dem  Verfasser  überlassen  bleiben,  welche  Seiten  seines  Gegenstands  er 
behandeln  wolle.    Und  jedenfalls  hat  er  uns  in  diesem  und  in  früheren 

1* 

3 


Werken  so  viel  des  Neuen  und  Wertvollen  geboten,  daß  wir  kein  Recht 
haben  mehr  zu  verlangen.  An  Einzelheiten  wird  mancher  etwas  aus- 
zusetzen linden;  das  Ganze  ist  eine  sehr   respektable  Leistung. 

Eine  knappe,  aber  originelle  und  anregende  Darstellung  der  Ge- 
schichte der  englischen  Sprache,  nach  Längsschnitten  geordnet,  liefert 
E.  C lassen  in  seinen  Oiitlines  of  thc  History  of  the  English  Lamjuage 
(London,  Macmillan,  1919).  Er  betont  den  engen  Zusammenhang  der 
Sprachentwicklung  mit  der  Kulturentwicklung  im  allgemeinen;  er  nennt 
die  Sprache  „  the  rairror  of  civilisation  "  oder  „  the  autobiography  of  the 
human  race"  (S.  l).  „Language  is,  therefore,  in  a  pecuhar  and  inti- 
mate  sense  a  history  not  only  of  material  progress,  but  also  of  the  mental, 
moral  and  emotional  development  of  the  people  which  speaks  it"  (S.  6). 
Ihre  Geschichte  sollte  deshalb  auch  im  Zusammenhang  mit  der  Kultur- 
geschichte studiert  werden.  Die  sprachUche  Einheit  für  den  Ausdruck 
des  Gedankens  ist  der  Satz.  Classen  beginnt  deshalb  seine  Darstellung 
der  Sprachgeschichte,  nach  einem  kurzen  Abschnitt  über  die  Anfänge 
der  englischen  Sprache,  in  etwas  ungewöhnlicher  Weise  mit  einer  Ge- 
schichte der  Syntax.  Daran  reihen  sich  Kapitel  über  die  Geschichte 
des  Wortschatzes,  Bedeutungswandels,  der  Wortbildung,  der  Flexion, 
der  Laute,  über  die  Entwicklung  des  „  Standard  English,  Correct  EngUsh  " 
und  endlich  ein  kurzes  Schlußkapitel  über  die  Geschichte  der  englischen 
Schrift.  Eine  zusammenhängende  Darstellung  der  äußern  Sprachgeschichte 
fehlt.  Das  Hauptgewicht  wird  auf  die  kulturelle  Seite  des  Problems 
gelegt;  der  Verfasser  bemüht  sich,  die  sprachlichen  Erscheinungen  psy- 
chologisch zu  erklären,  statt  nur  Formulierungen  mechanischer  Sprach- 
gesetze zu  geben.  Es  sind  also  Ideen,  wie  sie  auch  von  deutschen 
Sprachfor.schern  seit  einiger  Zeit  nachdrücklich  vertreten  werden. 

An  Introdudion  to  the  History  of  the  English  Language  von 
P.  G.  Thomas  (London,  Sidgwick  &  Jackson,  1920)  ist  mehr  eine 
Einführung  in  die  allgemeine  als  in  die  englische  Sprachwissenschaft. 
Es  handelt  zunächst  über  die  Sprachwissenschaft  im  allgemeinen,  wobei 
der  Verdienste  der  älteren  Sprachforscher  aus  der  ersten  Hälfte  des 
19.  Jahrhunderts,  eines  Franz  ßopp,  A.  W.  von  Schlegel,  Jakob  Grimm, 
Pott  und  Schleicher  mit  einigen  Worten  gedacht  wird.  Dann  folgen  Ab- 
schnitte über  Klassifikation  der  Sprachen,  Elemente  der  Phonetik,  Ur- 
sachen und  Wirkungen  des  Lautwandels,  über  die  germanische  Laut- 
verschiebung, über  Ablaut,  Bedeutung  und  Analogie,  Sprachentwicklung 
und  endlich  über  das  Verhältnis  von  Laut  und  Schrift.  Der  Verfasser 
knüpft  in  seiner  gedrängten  Darstellung  vorzugsweise  an  die  Verhält- 
nisse der  englischen  Sprache  an,  aber  sie  dienen  ihm  zur  Erläuterung 
der  allgemeinen  Prinzipien  der  Sprachgeschichte,  deren  Studium,  wie  er 
in  der  Vorrede  mit  Recht  bemerkt,  oft  ungebührlich  vernachlässigt  wird. 

Wir  wenden  uns  nunmehr  einer  Anzahl  von  Monographien  über 
einzelne  Eutwicklungsphasen  der  englischen  Sprachgeschichte  zu,  die 
wegen  ihres  allgemeinen  Interesses  vielleicht  eine  ausführlichere  Behand- 
lung verdienen. 


2.  Dialekt-  und  Stammesgrenzen  in  altenglischer  Zeit 

a)  Anfänge  der  englischen  Sprache  und  Dialektbildung 

In  der  Benennung  der  germanischen  Eroberer  Britanniens  schwanken 
die  zeitgenössischen  Quellen  zwischen  den  Namen  '  Sachsen  ,  'Angeln 
und  'Angelsachsen'.  Die  frühzeitige  Entscheidung  dieses  Wettstreits 
zugunsten  der  Angeln,  die  schon  in  altenglischer  Zeit  sowohl  der  Sprache 
(englisc)  als  auch  dem  Lande  (Angelcyn,  später  Englaland)  den  Namen 
gaben,  stellt  ein  Problem  dar,  dessen  Beurteilung  für  die  Auffassung  der 
Entstehung  der  enghschen  Nation  von  Belang  ist.  Chadwick  in  seinem 
eigenkräftigen,  anregenden  Buch  TJie  Origin  of  the  English  Nation  (1907) 
nahm  an,  die  Sachsen  seien  in  ihren  Ursitzen  auf  dem  Festland  von 
den  ihnen  benachbarten,  aber  ursprünglich  nicht  näher  verwandten  Angeln 
unterworfen  worden  und  mit  ihnen  zu  einem  Volk  verschmolzen.  In 
dem  so  entstandenen  Mischvolk  aber  hätten  die  Sachsen  allmählich  wieder 
die  Oberhand  gewonnen,  während  die  Angeln  sich  zu  einer  Militär- 
aristokratie verflüchtigten.  Angeln  und  Sachsen  seien  als  einheitliches 
Volk  nach  Britannien  gelangt,  wo  sie  von  den  Briten  als  Sachsen  be- 
zeichnet wurden,  während  sie  selbst  frühzeitig  Sprache  und  Volk  nach 
den  Angeln  benannten.  Bei  der  Bevölkerung  der  „anglischen"  und 
„sächsischen"  Reiche  in  Britannien  könne  demnach  von  einer  Stammes- 
verschiedenheit nicht  mehr  die  Rede  sein.  Die  germanischen  Eroberer 
der  Insel  seien  nicht  in  drei,  sondern  nur  in  zwei  deutlich  getrennte 
Nationalitäten  zerfallen:  die  Juten  und  die  „Angelsachsen",  die  sich 
durch  ihr  Wergeidsystem  unterschieden. 

Ich  habe  diese  stark  konstruktive  Theorie  Chadwicks,  die  sich  zu 
Bedas  Bericht  (Hist.  Eccl.  1,  15)  in  Widerspruch  setzt,  in  dem  Artikel 
'Angelsachsen''  meines  Reallexihons  der  germanischen  Alterhimslcunde 
(1911)  zu  widerlegen  gesucht  und  die  geschichtlichen  und  sprachlichen  Tat- 
sachen zusammengestellt,  die  Bedas  Angabe,  daß  die  Angeln  und  Sachsen 
als  getrennte  Stämme  Britannien  besiedelt  haben,  stützen.  L  u  i  c  k  in  seiner 
Historischen  Grammatik  (§  6  u.  9,  Anm.)  hat  sich  mir  angeschlossen. 
Jordans  Untersuchungen  (Eigentiimlichkeiten  des  anglischen  Wortschatzes, 
Anghst.  Forsch.  17;  1906)  —  um  hier  nur  einen  Punkt  hervorzuheben  — 
haben  gezeigt,  daß  die  altenglischen  Mundarten,  die  wir  auf  Grund  sprach- 
licher und  hterarischer  Kriterien  als  anglische  ansetzen,  untereinander  in 
ihrem  Wortschatz  auffallende  Übereinstimmungen  aufweisen,  an  denen 
die  sächsischen  Mundarten  nicht  teilhaben ,  die  aber  in  den  nordischen 
Sprachen  Parallelen  finden,  während  umgekehrt  die  südenglischen  Dia- 
lekte, die  wir  als  sächsische  bezeichnen,  sich  näher  zum  Friesischen  und 
Altsächsischen  stellen.  Zu  diesen  angestammten  Verschiedenheiten  im 
Wortschatz  der  Angeln  und  Sachsen  kamen  sicher  auch  gewisse  Ab- 
weichungen in  der  Aussprache. 

Aber  diese  Unterschiede  können  nur  vinerheblich  gewesen  sein.  Die 
germanischen  Stämme,  die  sich  in  Britannien  niederließen,  weichen  in 
Typus,  Sprache  und  Kultur  zu  Anfang   verhältnismäßig   so  wenig  von- 


einander  ab,  daß  sie  dem  Ausland  als  ein  Volk  erschienen  und  von 
den  Kelten  mit  einem  Namen  ('Sachsen')  benannt  wurden,  und  daß 
sie  selbst  sich  dem  Ausland  gegenüber  als  ein  Volk  fühlten  und  das 
Bedürtuis  nach  einer  gemeinsamen  Benennung  empfanden.  Auch  als  im 
Laut  der  Zeit  sich  dialektische  Unterschiede  stärker  ausprägten ,  blieb 
das  Getülil  der  Zusammengehörigkeit  bestehn;  die  politischen  Einiguugs- 
versuche  sowie  der  Gegensatz  zu  den  Briten  und  später  zu  den  Dänen 
trugen  zu  seiner  steten  Belebung  bei. 

Wenn  als  Sieger  aus  dem  Kampf  um  den  Gesamtnamen  der  beiden 
Hauptstämme  schließlich  bei  den  Festlandsvülkern  und  den  Inselgermanen 
nicht  (wie  bei  den  Kelten)  die  Sachsen,  sondern  die  Angeln  hervorgingen, 
so  war  der  Grund  dafür  wohl  ein  doppelter:  einerseits  das  Bedürfnis, 
die  Inselsachsen  von  den  Altsachsen  des  Festlands  zu  unterscheiden,  die 
ein  allbekannter,  mächtiger  Stamm  waren ;  anderseits  die  Tatsache,  daß 
die  Angeln  nach  ihrer  Niederlassung  in  Britannien  auf  dem  Festland 
keine  Rolle  mehr  spielten,  während  sie  auf  der  Insel  nicht  nar  an  Aus- 
dehnung der  Hauptstamm  waren,  sondern  im  7.  und  8.  Jahrhundert 
auch  pohtisch  das  Übergewicht  hatten  und  zuerst  eine  Nationalliteratur 
entwickelten.  Ais  dann  im  9.  Jahrhundert  die  Hegemonie  auf  pohti- 
schem  und  literarischem  Gebiet  an  die  Sachsen  überging,  war  die  Namen - 
frage  bereits  entschieden. 

Angeln,  Sachsen  und  Juten  sind  also  getrennt  voneinander  in  Bri- 
tannien eingewandert  und  haben  getrennte  Gebiete  in  Beschlag  genommen. 
Dadurch  war  ein  gewisser  dialektischer  Gegensatz  zwischen  Angeln, 
Sachsen  und  Juten  auch  auf  britannischem  Boden  von  vornherein  ge- 
geben. Aber  die  dialektischen  Unterschiede  waren  zu  Anfang,  wie  ge- 
sagt, gering.  Und  da  die  Besiedlung  nach  allem,  was  wir  wissen,  nicht 
durch  die  Stämme  in  ihrer  Gesamtheit,  sondern  in  kleineren  Scharen 
und  Verbänden  während  eines  Zeitraums  von  mindestens  anderthalb  Jahr- 
Imnderten  erfolgte,  so  wurde  die  örthche  Gruppierung  der  Einwanderer 
zueinander  innerhalb  der  Stämme  in  Britannien  sicher  nicht  ^^^enau  die 
gleiche  wie  in  der  Heimat.  Dadurch  aber  war  eine  neue  Epoche  in  der 
sprachlichen  und  pohtischen  Entwicklung  gegeben,  die  ihren  Ausgangs- 
punkt von  der  geographischen  Nachbarschaft  auf  britannischem  Boden 
nahm.  Etwa  vorhandene  dialektische  Abweichungen  innerhalb  der  ein- 
zelnen Stämme  mußten  sich  ausgleichen.  Überkommene  sprachliche 
Stammeseigentümlichkeiten  werden  auf  benachbarte  Gebiete  des  andern 
Stammes  übergegriffen  haben.  Anderseits  mußten  sich  sprachliche  Neue- 
ruijgen  einstellen,  deren  Verbreitungskurven  bei  dem  Mangel  an  völker- 
scheidenden natürlichen  Hindernissen  die  alten  Stammesgrenzen  vielfach 
überwucherten.  An  die  Stelle  der  alten  Stammesdialekte  traten  neue, 
geographische  Dialektgruppen.  Bei  deren  Ausbildung  spielte 
natürlich  die  spracheinigende  Macht  der  Staatenbildungen  eine  wichtige 
Kolle;  aber  die  angestammten  Unterschiede  zwischen  'Sächsisch'  und 
'Angüsch'  werden  in  der  altenglischen  Grammatik  meist  zu  stark  be- 
tont; in  Wirklichkeit  sind  sie  wohl  bald  durch  die  insularen  Neubildungen 
und  Verschiebungen  in  den  Hintergrund  gedrängt  worden.     Auf  politi- 

ö 


schem  Gebiet  blieb  der  Stammesunterschied  zwar  noch  lange  deutlich 
ausgeprägt,  aber  auch  hier  machte  sich  die  Einwirkung  der  geographi- 
schen Lage  geltend. 

Zu  meinen  Ausführungen  im  Beallexilcon  bemerkte  A.  Brandl  in 
einer  Besprechung  des  Werks  (Archiv  f.  n.  Spr.  127,  465;  1911),  er  könne 
sich  „eine  solche  Überwucherung  eines  Dialekts  durch  Bodenverhältnisse, 
namentlich  in  jener  Zeit  geringen  Verkehrs  und  Verwaltungseinflusses, 
nicht  recht  vorstellen".  AberLuick  in  seiner  Historischen  Grammatilc 
(1914)  stellt  sich  durchaus  auf  den  von  mir  vertretenen  Standpunkt,  und 
seine  Darlegungen  treffen  zweifellos  das  Richtige. 

„Die  alteo  Stammesunterscliiede ",  sagt  er  (§  9),  „waren  wohl  an  sich  nicht 
groß  und  mußten  sich  in  einem  Lande  verwischen,  in  dem  der  Verkehr  zwischen  den 
Eroberern  infolge  ihrer  Interessengemeinschaft  gegenüber  den  Unterworfenen  ein  viel 
lebhafterer  war  als  auf  dem  Festland,  auch  die  Verkehrshindernisse  größerer  Gebirge 
fehlten  und  die  insulare  Lage  an  sich  schon  einen  gewissen  Zusammenschluß  begün- 
stigte. Die  sprachlichen  Verschiedenheiten,  welche  uns  in  der  literarischen  Zeit  ent- 
gegentreten, hatten  sich  zum  größten  Teil  erst  in  Britannien  entwickelt:  diejenigen, 
welche  schon  zur  Zeit  der  Besiedlung  vorhanden  waren,  konnten  kaum  als  bedeutend 
empfunden  werden.  So  entstand  aus  den  einzelnen  Stämmen  das  englisclie  Volk,  das 
zwar  noch  die  alten  Stammesnamen  weiter  gebrauchte,  aber  wesentlich  nur  mehr  als 
geographische  Bezeichnungen."  Und  weiter  {§  19,  S.  29):  ,,Daß  die  alten  Stammes- 
grenzen auch  Dialektgrenzen  waren,  ist  nicht  zu  erweisen,  ja  gewisse  Erwägungen 
machen  es  sogar  unwahrscheinlich.  Somit  sind  die  üblichen  Dialektbezeichnungen  hloß 
geographische  Hinweise,  und  man  muß  sich  vor  dem  Irrtum  hüten,  bei  ihnen  an  ge- 
schlossene Dialektgebiete  zu  denken.  Die  Sprache  der  Angeln  und  der  Sachsen  war 
wohl  schon  auf  dem  Festland  etwas  differenziert,  jedenfalls  auf  dem  Gebiet  des  Wort- 
schatzes und  wohl  auch  in  einigen  wenigen  lautlichen  Zügen.  Aher  die  Hauptmasse 
der  Unterschiede,  die  uns  in  den  überlieferten  Texten  entgegentreten,  ist  erst  in  Bri- 
tannien erwachsen.  Sprachliche  Veränderungen  pflegen  sich  nun  nach  Maßgabe  der 
Verkehrsverhältnisse  auszubreiten.  Diese  mögen  in  der  ersten  Zeit  nach  der  Besied- 
lung von  der  Stammeszugehörigkeit  stark  beeinflußt  gewesen  sein;  in  dem  Maß  aber, 
als  sich  die  Verschmelzung  der  Stämme  zu  einem  Volk  vollzog ,  werden  die  natür- 
lichen geographischen  und  die  darauf  berahenden  wirtschaftlichen  Verhältnisse  für 
sie  ausschlaggebend  gewesen  sein,  zumal  das  Land  keine  großen  Verkehrshindernisse 
zwischen  den  Stammessiedlungen  bot.  Daraus  erklärt  sich,  daß  Dialekte,  die  einander 
geographisch  näher  stehen,  auch  eine  stärkere  Verwandtschaft  aufweisen.  Und  so 
werden  die  sprachlichen  Veränderangen  auch  vielfach  die  alten  Stammesgrenzen  über- 
wuchert haben."     (Vgl.  auch  §  36,  Anm.) 

Brandl  hat  die  hier  angeregte  Frage  der  Mundartenbildung  in- 
zwischen in  einer  Akademieschrift  Zur  Geograpliie  der  altenglisclien 
Dialekte  (Abhandl.  d.  Preuß.  Akad.  1915,  Phil.-hist.  Kl.  4)  ausführlicher 
erörtert.  Er  geht  darin  von  dem  alten  Standpunkt  der  Stammesdialekte 
aus.  In  einem  ersten  Abschnitt  gibt  er  eine  verdienstliche,  aber  in  manchen 
Punkten  angreifbare  Zusammenstellung  der  Siedlungsberichte,  Na- 
mentlich die  Skizzierung  der  mercischen  Verhältnisse  scheint  mir  unter 
dem  Einfluß  der  späteren  Erweiterung  des  Begriffes  '  Mercisch'  verzeichnet. 
Die  Annahme  häufiger  „  Umkolonisierungen  ",  d.  h.  Ausrottung  der  Unter- 
worfenen, in  heidnischer  Zeit  führt  Brandl  gelegentlich  zu  gewagten 
Hypothesen,  so,  wenn  er  (S.  14)  den  mercischen  Dialekt,  in  dem  der 
Priester  Farman  zu  Harewood  bei  Leeds  in  der  zweiten  Hälfte  des 
10.  Jahrhunderts  das  Matthäusevangelium  in  der  Rushworth-Handschrift 
glossierte,   durch  die  Vermutung  erklären  möchte,   daß    der   heidnische 


Mercierkönig  Penda  nach  seinem  Sieg  über  die  Nordhumbrier  bei  Haethteld 
(=  Hatfield  am  Ostrand  des  West  Riding  von  Yorkshire)  in  jener  Gegend 
Mercier  angesiedelt  habe. 

Im  zweiten  Abschnitt  seiner  Schrift  gibt  Brandl  belangreiche  Dar- 
legungen über  die  Entstehung  der  angelsächsischen  Bistümer. 
Sein  Grundgedanke  ist  dabei,  daß  die  angelsächsische  Kirchengeographie 
die  Volksgeographie  widerspiegele,  daß  die  kirchliche  Regierung  an  die 
weltlichen  König-   und  Häuptlingschaften  gebunden  war. 

Alle  diese  Stammes-  und  kirchengeschichtlichen  Ausführungen  sind 
ihm  aber  nur  Mittel  zum  Zweck  der  Umgrenzung  der  Dialekte.  „Es 
ist  denknotwendig'',  sagt  er  (S.  29),  „daß  der  Dialekt  ursprünglich  am 
Stamme  hängt;  es  ist  in  jener  primitiven  Zeit,  wo  jeder  Stamm  nach 
außen  abgeschlossen  und  im  Innern  eng  gefügt  war,  wohl  auch  lange  so 
geblieben ''  —  womit  er  sich  in  direkten  Gegensatz  zu  der  oben  zitierten 
Auffassung  Luicks  stellt. 

Der  ergiebigste  Teil  von  Brandls  Abhandlung  ist  der  dritte.  Hier 
unternimmt  er  es,  drei  wichtige  dialektische  Lautkriterien:  die  Ent- 
wicklung von  westgerm,  ä  (ws.  fe,  angl.  e),  von  ae.  y  und  ae  .  ä, 
durch  mittelenglische  Ortsnamen  der  verschiedenen  Grafschaften  zu  ver- 
folgen, um  dadurch  zu  dialektischen  Abgrenzungen  zu  gelangen. 

b)  Die  altenglische  ^/e-Grenze 

Pogatscher  hatte  in  seinem  Aufsatz  über  Die  englische  ^  [  e-  Grenze 
(Angl.  23,  302;  1900)  den  Versuch  gemacht,  die  mit  strcet  zusammen- 
gesetzten Ortsnamen,  wie  Stratford,  Stratton  u.  a.,  welche  häufig  Punkte 
an  Römerstraßen  bezeichnen,  für  eine  Festlegung  der  Verbreitungsgrenze 
von  ae.Ä;  und  e  zu  benutzen,  da  das  im  Mittel-  und  Neuenglischen  als 
a  oder  c  erscheinende  Ergebnis  der  Kürzung  des  langen  Vokals  vor 
mehrfacher  Konsonanz  (Stratford:  Strefford,  Stratton:  Strettoyi)  einen 
sichern  Rückschluß  auf  die  vormalige  7c-  oder  e-Qualität  erlaubt.  Er 
war  dabei  zu  dem  Ergebnis  gekommen,  daß  das  re- Gebiet  stark  ins 
Älittelland  übergreift.  Die  Grenzlinie  verläuft  nach  Pogatscher  von 
Thetford  am  Südrand  von  Norfolk  zunächst  südwärts  nach  Bury  St.  Ed- 
munds in  Suffolk,  von  da  an  in  ihrer  Hauptrichtung  ziemlich  gerade 
westwärts  über  Cambridge  —  St.  Neots  in  der  Südecke  von  Hunting- 
donshire  —  Northampton  —  Warwick  durch  Worcester  nach  dem  Severn, 
aber  mit  zwei  starken  südlichen  Vorsprüngen  des  e- Gebiets:  zwischen 
Bury  St.  Edmunds  und  Cambridge  bis  tief  nach  Essex  und  Hertfordshire 
hinein  und  zwischen  Northampton  und  Warwick  bis  ins  nördliche  Ox- 
fordshire  und  nordöstliche  Gloucestershire. 

Ritter  hat  später  (Angl.  37,  269;  1913)  einige  methodische  Be- 
denken gegen  Pogatschers  Aufstellungen  geltend  gemacht,  die  sich  vor 
allem  gegen  die  Benutzung  neuenglischer  Ortsnamen  als  Ausgangspunkt 
der  IJntersucbung  richten. 

Mit  Recht  hat  deshalb  Brandl  durchweg  auf  mittelenglische  Namens- 
formen  zurückgegriffen,  wobei  er  sorgfältig  alle  denkbaren  Sondereinflüsse 

8 


und  analogischen  Ausgleichungen  berücksichtigt.  Sein  Ergebnis  ist  im 
wesentlichen  eine  Bestätigung  von  Pogatschers  Beweisfüh- 
rung, nur  daß  er  die  beiden  südlichen  Ausbuchtungen  desselben  be- 
seitigt. Die  Grenzlinie  des  a-  und  e-Gebiets  folgt  nach  Brandl 
(S.  42)  „zunächst  der  Westgrenze  von  Norfolk  und  Cambridgeshire "  ^), 
dann  dem  Nordrand  der  südmittelländischen  Grafschaften  Hertford,  Bed- 
ford,  Buckingham  und  Oxford  und  verläuft  weiter  durch  Warwickshire 
an  dem  Nordrand  der  alten  Diözese  Worcester  entlang  bis  an  den  Severn. 
Pogatscher  spricht  in  seiner  Abhandlung  vorsichtigerweise  nur  von  einer 
rt^/e- Grenze;  für  Brandl  fällt  sie  zusammen  mit  der  Stammesgrenze 
zwischen  Angeln  und  Sachsen.  „Die  erdrückende  Mehrzahl  der  me. 
Belege  zeugt  für  Strat-  bei  den  Sachsen  und  Ostangeln,  für  Stret-  bei 
den  übrigen  Angeln'',  sagt  er  (S.  41).  Shakespeares  Heimatstadt  fallt 
nach  ihm  noch  eben  in  das  Sachsengebiet  (S.  42). 

Es  ist  allerdings  wahrscheinlich,  daß  wir  in  der  Scheidung  von  ce-e 
für  wgerm.  ä  einen  alten  Dialektunterschied  zwischen  Sachsen  und  Angeln 
zu  erblicken  haben.  Aber  das  <e- Gebiet  hat  sich  in  historischer  Zeit 
offenbar  erweitert.  Schon  das  Übergreifen  des  7e  in  die  ostanglischen 
Länder  zeigt,  daß  die  aus  den  mittelenglischen  Ortsnamen  erschlossene 
Sprachkurve  sich  zur  Zeit  der  Verkürzung  des  langen  Vokals  vor  schwerer 
Konsonanz  (um  1000)  nicht  mehr  mit  der  alten  Stammesgrenze  deckte; 
und  es  ist  höchst  zweifelhaft,  ob  die  beiden  in  ihrem  weiteren  Verlauf 
zusammenfielen,  wie  Brandl  annimmt. 

c)  Die  Dialektabstufung  von  ae.fy 
Die  früheren  Anschauungen  über  die  dialektische  Weiter- 
entwicklung von  ae.  ?/  waren  durch  Wyld  in  zwei  wichtigen  Auf- 
sätzen (Engl.  Stud.  47,  1  u.  145;  1913)  berichtigt  worden.  Er  verfolgte 
die  Wiedergabe  einer  Anzahl  von  Probewörtern  mit  ae.  y  in  mittel- 
englischen Ortsnamen  und  kam  dabei  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  drei 
mittelengl.  Entsprechungen  u,  i,  e  für  ae.  y  sich  dialektisch  anders  grup- 
pieren, als  man  bisher  angenommen  hatte.  Das  alte  y  hat  sich  als 
gerundetes  \ü\  aber  in  der  französischen  Schreibung  u,  erhalten  im  west- 
lichen Mittellande  (Chesh.,  Shropsh.,  Heref.,  Staff.,  Worc,  Warw.)  und 
in  einer  Gruppe  des  zentralen  Mittellands  (Northampt. ,  Bück.,  Bedf., 
Hertf.).  In  den  an  diese  reinen  z<- Gebiete  angrenzenden  Grafschaften 
Lanc,  Derb.,  Leic,  Oxf  herrscht  vorwiegend  u  neben  seltnerem  r,  in 
Sussex  und  Essex  steht  u  neben  e.  In  Yorkshire  sowie  in  den  ost- 
mittelländischen  Grafschaften  Line. ,  Nott. ,  Rutl. ,  Hunt. ,  Cambr.  und 
Norf.  ist  ?/  zu  i  entrundet  worden;  ein  zweites  i- Gebiet  findet  sich  im 
Südwesten  des  Landes:  Devon,  Dorset,  Somerset  und  weniger  aus- 
gesprochen in  den  angrenzenden  Gebieten.  Kent  ist  in  mittelengl.  Zeit 
der  Mittelpunkt  eines  e  -  Gebiets,  das  sich  westwärts  nach  Sussex,  nord- 
wärts nach  Essex,  Suffolk  und  vielleicht  darüber  hinaus  erstreckt. 


1)  So ;  eine   unverständliche  Angabe  ,   da  Norfolk  ce-,   Cambr.   aber  e-Gebiet   ist. 
Es  soll  wohl  heißen :  „  der  Grenze  von  Norf.  und  Cambr." 


So  förderlich  Wylds  Untersuchung  war,  lassen  sich  methodisch 
doch  verschiedene  Einwendungen  gegen  sie  erheben.  Die  von  ihm  be- 
nutzten Probewörter  sind  nicht  alle  ganz  einwandfrei;  insbesondere  aber 
war  es  ein  Fehler,  daß  er  die  Entwicklung  von  betontem  und  un- 
betontem y  unterschiedslos  durcheinander  mischte.  Schon  eine  ober- 
flächliche Prüfung  seines  Materials  zeigt,  daß  sich  e,  u,  i  (?/)  in  un- 
betonten Silben  vielfach  in  Gegenden  finden,  wo  sie  in  hochtonigen 
Silben  ungewöhnlich  sind. 

Es  war  ein  verdienstliches  Unternehmen  Brandls,  in  seiner  Arbeit 
Zur  Gcogr.  d.  altemß.  Dialekte  die  Frage  auf  erweiterter  Grundlage 
nochmals  einer  ebenso  mühevollen  wie  umsichtigen  und  gründlichen 
Untersuchung  zu  unterziehen.  Dabei  haben  sich  manche  Berichtigungen 
von  Wylds  Resultaten  ergeben. 

1.  Brandl  stimmt  mit  Wyld  darin  überein,  daß  das  w- Gebiet 
seinen  Schwerpunkt  im  westlichen  Mittelland,  vor  allem  im 
Grenzland  von  Wales  hat:  in  Chesh.,  Shropsh.,  Heref ,  nächstdem  in 
Lanc,  Staff. ,  Warw.,  Worc.  und  Glouc.  Aber  die  zentrale  w- Gruppe 
Wylds  kommt  nach  Brandl  ganz  in  Wegfall.  Die  hierher  gestellten 
Grafschaften  Northampt.,  Bedf,  Bück,,  Hertf.,  sowie  auch  Leic,  Hunt., 
Middlesex  und  Surrey  zeigen  u  in  starker  Mischung  mit  i  oder  e.  Auch 
Wylds  i- Gebiet  im  Südwesten  verflüchtigt  sich  bei  näherer  Prüfung; 
der  ganze  Südwesten  (Hants. ,  Berks. ,  Wilts.,  Dorset,  Somerset, 
Devon,  Cornwall)  ist  nach  Brandl  vielmehr  zum  ?*- Gebiet  zu  schlagen. 
Doch  zeigt  das  von  ihm  gesammelte  Material  immerhin  einen  beachtens- 
werten i- Einschlag. 

2.  Der  Kern  des  i-Gebiets  ist  offenbar  in  den  nordhum- 
brischen  Grafschaften  (Yorks.,  Durh.,  Northumb.,  Westm.,  Cumb.) 
zu  suchen:  aber  auch  das  Nordostmittelland  (Nott,  Line,  Rutl.) 
hat  weit  überwiegend  i.  Hunt,  und  Norfolk  zeigen  i  in  Mischung 
mit  e. 

3.  Hinsichtlich  der  Verbreitung  des  Übergangs  y  zu.  e  bestätigt 
Brandl  im  wesentlichen  Wylds  Ergebnisse.  Die  Hochburg  des  e- 
Gebiets  ist  zweifellos  Kent,  wo  der  Übergang  bald  nach  900  erfolgte, 
und  wo  im  Mittelengl.  e  einheitlich  herrscht.  Aber  von  Kent  aus  hat 
sich  der  Lautwandel  über  den  ganzen  Südosten  verbreitet: 
nach  Sussex,  wo  es  sich  mit  ii  in  die  Herrschaft  teilt,  nach  Surrey, 
I\Iiddlesex,  Hertfordshire,  Essex  und  Suffolk,  wo  neben  vorherrschendem 
e  ein  «-Einschlag  auftritt,  und  weiter  nordwärts  nach  Norfolk,  Cambr. 
und  Hunt. ,  wo  e  gegenüber  vorherrschendem  i  wenigstens  eine  starke 
]\Iinderheit  darstellt.  Selbst  bis  nach  dem  südlichen  Yorks,  reichen  die 
Ausläufer  des  e. 

4.  Von  den  Kerngebieten  des  ii,  i,  e  laufen  Strahlen  aus,  die  sich 
in  der  Mitte  des  Landes  kreuzen,  wo  infolgedessen  bunteste 
Mischung  herrscht.  Aber  auch  sonst  lassen  sich  alle  drei  Vokale  in 
fast  allen  Grafschaften,  die  nicht  gerade  Kerngebiete  sind,  mehr  oder 
weniger  häufig  belegen. 

30 


Die  Ortsnamenschreibung  deckt  sich  mit  den  Reimen  bei  Dichtern 
aus  demselben  Dialektgebiet,  soweit  sich  dieses  zuverlässig  festlegen  läßt. 
In  der  heutigen  Aussprache  der  Ortsnamen  hat  in  der  Regel  i  gesiegt; 
es  hat  das  u  des  Westens  vöUig  verdrängt;  nur  das  südöstliche  e  hat 
sich  vielfach  erhalten. 

d)  Die  mittelenglische  ä/ö-Grenze 

Im  Anschluß  an  diese  Untersuchungen  über  die  dialektische  Ent- 
wicklung von  westgerm.  ä  und  ae.  ij  geht  Brandl  noch  kurz  auf  ein 
drittes,  wichtiges  Dialektkriterium  ein:  die  Verdumpfung  von  ae.ä 
zu  ö,  die  bekanntlich  seit  etwa  1100  im  Mittelland  und  Süden  eintrat. 
Auf'  Grund  der  Ortsnamen  kommt  er  zu  dem  Ergebnis,  daß  ganz  Lan- 
cashire  und  möglicherweise  die  Südosteeke  des  West  Riding  von  York- 
shire  zum  ö -  Gebiet  gehören,  während  Ekwall  (GRM.  5,  597  ff. ;  1913), 
gleichfalls  durch  eine  Ortsnamenprüfung ,  zu  dem  Schluß  geführt  war, 
daß  die  ä/ö-Grenze  in  mittelengl.  Zeit  dem  Flusse  Ribble  folgte,  der 
im  Domesday-Buch  Cheshire  und  Yorkshire  scheidet.  Nach  Brandl 
würden  «t- Grenze  und  ö- Grenze  zusammenfallen,  nach  Ekwall  nicht. 
Allerdings  gibt  auch  Ekwall  an,  daß  die  ö- Grenze  sich  später  nördlich 
verschoben  habe.  Die  Frage  bedarf  wohl  noch  einer  erneuten  Über- 
prüfung. 

e)  Die  Dialektabstufung  des  wgerm.  a  vor  l  +  Kons, 
im  Altenglischen 

Auf  Brandls  Pfaden  wandelt  Ekwall  in  seinen  wertvollen  Con- 
trihutions  to  the  History  of  Old  Englisli  Dialects  (Lunds  Universitets 
Ärsskrift  N.  F.  I,  12,  6;  Lund,  Gleerup,  1917).  In  der  ersten  dieser 
zwei  Abhandlungen  untersucht  er  die  dialektische  Verbreitung 
der  Brechung  von  wgerm.  a  vor  l  +  Kons,  im  Altenglischen. 
Nach  der  herrschenden  Ansic-ht  wurde  a  vor  l  -\-  Kons,  im  Sächsischen 
und  Kentischen  zu  ea  gebrochen,  während  es  im  Anglischen  ungebrochen 
blieb  oder  nach  vorübergehender  Aufhellung  zu  ce  wieder  zu  a  ver- 
dunkelt wurde.  Es  war  aber  bisher  noch  nicht  genauer  untersucht 
worden,  wie  weit  der  Geltungsbereich  der  Brechung  von  a  vor  l  und 
Kons,  reicht.  Und  kürzlich  haben  Dölle  (Zur  Sprache  Londons  vor 
Cliaticer,  1913,  S.  83)  und  Schlemilch  {Beiträge  0ur  Sprache  und 
Orthographie  spätaltengl.  Sprachdenhnäler ,  1914,  S.  27)  im  Anschluß 
an  Äußerungen  ihres  Lehrers  Morsbach  die  Ansicht  ausgesprochen, 
daß  die  Brechung  des  a  vor  l  -{-  Kons,  überhaupt  nur  in  den  südöst- 
lichen Mundarten  von  Kent  bis  Hampshire  eingetreten  sei. 

Ekwall  hat  darum  diese  Frage  auf  Grund  der  alt-  und  mittel- 
englischen Ortsnamen  einer  gründHchen  Prüfung  unterzogen  unter  mög- 
lichster Vermeidung  aller  Fehlerquellen.  Er  geht  dabei  von  der  Er- 
wägung aus,  daß  ea  in  zwei  Fällen  Spuren  im  Mittelenglischen  hinter- 
lassen mußte:  1.  wenn  c  der  g  davor  stehe,  die  durch  den  Einfluß  des 
ea  palatalisiert  wurden  und  im  Mittelenglischen  als  ch  bezw.  y  erscheinen, 

11 


während  vor  dem  angl.  «  keine  Palatalisierung  eintreten  konnte;  2.  in 
der  Gruppe  -eald,  wo  ea  gelängt  und  im  Mittelengl.  zu  e  wurde,  während 
die  angl.  Gruppe  -ald  zu  -idd,  me.  -uld  gedehnt  wurde.  Die  Probe- 
wörter, auf  die  er  sich  stützt,  sind  in  der  Hauptsache  die  folgenden: 
1.  ae.  öealc,  calc  'Kreide',  ceald,  cald  'kalt',  cealf,  calf  'Kalb';  gealga, 
gdlga  'Galgen';  2.  eald,  ald  'alt',  weald,  wald  'Wald'. 

Eine  Untersuchung  der  Ortsnamen ,  die  diese  Elemente  enthalten, 
führt  Ekwall  zu  folgenden  Ergebnissen.  Das  e«- Gebiet  umfaßt 
einmal  sämthche  Grafschaften  südlich  der  Themse,  ferner  nördhch  der 
Themse  die  Grafschaften  Essex,  Middlesex,  den  südlichen  Teil  von 
►Suffolk,  Hertf,  Bedf.,  den  größten  Teil  von  Hunt,  Bück.,  Oxf.  sowie 
Glouc.  und  Worc,  obwohl  die  beiden  letzten  fast  durchweg  a-  und  nur 
ein  paar  ca-Formen  aufweisen.  Zum  a- Gebiet  gehören  der  nördl, 
Teil  von  Suffolk,  Norfolk,  Cambr.,  North.,  Warw.,  StafF.,  Shropsh.,  Heref. 
und  die  Grafschaften  nördlich  davon. 

Auf  Grund  eines  Vergleichs  dieser  Ergebnisse  mit  Brandls  histori- 
schen Aufstellungen  glaubt  Ekwall  (S.  38)  konstatieren  zu  können,  daß 
das  m-Gebiet  sich  auffallend  genau  mit  dem  von  Brandl  erschlossenen 
sächsisch-kentischen  Stammesgebiet  decke.  Er  schließt  daraus,  daß  die 
Brechung  von  a  vor  l  -\-  Kons,  eine  allgemeine  Eigentüm- 
lichkeit der  sächsischen  und  kentischen  Dialekte  sei,  und 
daß  sie  nur  in  diesen  Mundarten  erfolgte. 

f)  Vergleich  der  eaja-  mit  der  ^/e-Grenze 

Daß  die  Brechung  von  a  vor  l  -\-  Kons,  ursprünglich  nur  den 
Sachsen  und  Juten  eigentümlich  war,  wird  wohl  richtig  sein;  aber  die 
von  Ekwall  auf  Grund  der  mittelengl.  Ortsnamen  erschlossene  ea/ «-Linie 
deckt  sich  weder  genau  mit  der  von  Brandl  vermuteten  Grenze  zwischen 
sächsischen  und  anglischen  Bistümern,  noch  mit  dem  von  Brandl  fest- 
gestellten Verlauf  der  ^/e- Linie.  Warwick,  nach  Brandl  «-Gebiet, 
zeigt  keine  ea  -  Formen ;  Gloucester  und  Worcester  haben  fast  ausschließ- 
lich a-  und  nur  ein  paar  vereinzelte  ea- Formen,  was  Ekwall  durch 
frühzeitiges  Eindringen  der  a  -  Formen  zu  erklären  sucht.  Huntingdon 
springt  als  ea- Gebiet  weit  nordwärts  in  das  umschließende  a- Gebiet 
von  Northampton  und  Cambridge  vor,  was  Ekwall  durch  die  Annahme 
erklärt,  daß  Huntingdon  eine  sächsische  Kolonie  sei.  Und  während  in 
Ostanghen  nur  der  südl.  Teil  von  Suffolk  zum  ea- Gebiet  gehört,  um- 
schließt das  et' -Gebiet  nach  Brandls  Ergebnissen  ganz  Ostanglien. 

Diese  Tatsachen  zeigen:  1.  daß  die  ce-\e-  und  die  ea-/a-Linie 
sich  nicht  decken;  2.  daß  beide  doch  recht  erhebhche  Abweichungen 
von  der  auf  Grund  der  späteren  Diözesaneinteilung  erschlossenen  alten 
Stamraesgrenze  zwischen  Sachsen  und  Angeln  aufweisen. 

Es  ist  allerdings  wahrscheinlich,  daß  die  Lautabstufungen  cc\e 
und  eala  vor  l  -}-  Kons,  alte  sächsisch-anglische  Dialekt- 
unterschiede darstellen.  Aber  wenn  sich  auch  somit  die  ceje-  und 
ca/a-Linie  ursprünglich  (im  6.  Jahrh.)  miteinander  und  mit 

12 


der  Stammesgrenze  deckten,  so  zeigt  doch  der  Verlauf  der  auf 
Grund  der  mittelenglischen  Ortsnamen  erschlossenen  ceje-  und  ea/a-Linien, 
daß  die  beiden  Lautkurven  sich  im  Lauf  der  altenglischen 
Zeit  offenbar  verschoben  haben,  aber  nicht  in  gleichlaufender 
Richtung.  Die  Lautabstufung  des  a.e.y  aber  läßt  sich  zur  Feststellung 
der  alten  sächsisch-anglischen  Grenzlinie  überhaupt  nicht  verwerten. 

g)  Sprachkurven  und  Stammesgrenzen 

Brandl  ist  im  Verlauf  seiner  Untersuchungen  von  einer  Über- 
schätzung der  alten  Stammesgrenzen  abgekommen.  Er  muß  (S.  74) 
zugeben:  wer  da  hoffe,  die  mittelengl.  Dialektabstufung  des  y  würde 
ein  Fortleben  der  alten  Stammesgrenzen  darstellen ,  werde  im  wesent- 
lichen enttäuscht;  und  er  warnt  schheßlich  (S.  77)  vor  der  Neigung, 
„die  Spuren  so  fernabliegender  Dinge,  wie  es  die  ursprüngliche  Grup- 
pierung des  Volks  nach  Stämmen  ist,  einseitig  in  der  Dialektgeographie 
später  Jahrhunderte  wiederfinden  zu  wollen".  Das  ist  vollkommen 
richtig.  Wir  wissen  über  die  Abgrenzung  der  altenglischen  Mundarten 
ja  noch  wenig  Sicheres.  Man  kann  zweifeln,  ob  es  in  altenglischer  Zeit 
überhaupt  in  sich  einheitliche,  durch  mehrere  gemeinsame  Sprach- 
erscheinungen ausgezeichnete  Dialekte  gab.  Jedenfalls  haben  aber  die 
alten,  vom  Festland  mit  herüber  gebrachten  Stammesunterschiede  zwischen 
Angeln  und  Sachsen  nach  allem,  was  wir  heute  sagen  können,  für  die 
Dialektbildung  eine  geringe  Rolle  gespielt.  Das  Entscheidende  für 
die  altenglische  Dialektbildung  war  die  geographische 
und  politische  Neugruppierung  der  Stämme  auf  der  Insel. 
Dabei  ist  die  wichtige  Tatsache  nicht  aus  den  Augen  zu  verlieren,  daß 
die  Besiedlung  Britanniens  durch  die  Angelsachsen  nicht  wie  die  Wande- 
rungen der  Festlandsgermanen  in  geschlossenen  Stammesverbänden,  son- 
dern in  kleineren  Gruppen  auf  Schiffen  erfolgte,  die  bald  hier,  bald 
dort  landeten  und  so  regellos  durcheinander  gewürfelt  wurden.  Ahnlich 
ist  es  später  mit  den  Niederlassungen  der  norwegischen  und  dänischen 
Wikinger. 

Bei  der  Weiterentwicklung  der  dialektischen  Unterschiede  sind  die 
politischen  und  kirchlichen  Grenzen  zweifellos  von  Einfluß  gewesen ; 
aber  in  einem  Lande  mit  wenig  hervortretenden  natürlichen  Verkehrs- 
hindernissen war  doch  die  geographische  Nachbarschaft  das  Ausschlag- 
gebende. Wo  die  politischen  und  kirchlichen  Grenzen  mit  natürlichen 
Verkehrsscheiden  zusammenfielen,  war  die  Möglichkeit  zur  Ausbildung 
dialektischer  Unterschiede  natürlich  in  erhöhtem  Maß  gegeben.  Aber 
im  allgemeinen  haben  die  alten  Stammesbezeichnungen  Sachsen,  Angeln, 
Mercier  usw.  in  sprachlicher  Hinsicht  nur  noch  geographische  Bedeutung. 
Gerade  das  Durcheinander  der  Dialektabstufung  des  y  in  den  zentralen 
Grafschaften  des  Mittellands  zeigt,  wie  wenig  die  staatlichen  und  kirch- 
lichen Grenzen  den  sprachlichen  Austausch  behindern  konnten.  Eine 
wissenschaftlich  durchgeführte  historische  Dialektgeographie  wird  für  die 
älteren  englischen  Sprachperioden   sicher   die   gleichen   sich  kreuzenden 

13 


Lautkurven  ergeben,  wie  sie  uns  in  den  Karten  der  heutigen  deutschen 
Dialekte  entgegentreten. 

h)  Der  i-Umlaut  von  wgerm.  a  vor  l  -\-  Kons, 
im  Altenglischen 

Ekwalls  zweite  Abhandlung,  die  den  i- Umlaut  von  wgerm. 
«vor  l  -\-  Kons,  in  seiner  dialektischen  Abstufung  behandelt; 
ergänzt  die  erste  in  willkommener  Weise,  obschon  sie  für  die  Fest- 
stellung der  Grenze  zwischen  sächsischem  und  anglischem  Gebiet  ohne 
Belang  ist.  Nach  der  herrschenden  Ansicht  wurde  ca  durch  «'-Umlaut 
WS.  zu  ie,  kent.  zu  e,  während  angl.  a  vor  l  -Verbindungen  durch  i-Um- 
laut  zu  r/',  selten  e  wurde. 

Ekwall  legt  seinen  Untersuchungen  ausschließlich  mittelenglische 
Ortsnamenformen  zu  Grunde,  wobei  er  sich  leider  fast  nur  auf  die 
Wörter  iviell  'Quelle,  Brunnen'  und  ivielni  'Fließen'  mit  ihren  Varianten 
stützen  konnte.  Das  ist  bedauerlich,  weil  gerade  diese  Wörter  wegen 
der  Möglichkeit  einer  verdunkelnden  Einwirkung  des  iv  zum  Teil  keine 
allgemeinen  Schlüsse  gestatten. 

Die  Ergebnisse,  zu  denenfEkwalFkommt,  und  die  er  inzwischen 
durch  weitere  Untersuchungen  (Angl.  Beibl.  29,  73;  1918)  ergänzt  hat, 
sind  aber  recht  interessant.  1.  Sachs,  ea  vor  /  -\-  Kons,  wurde 
durch  i-Umlaut  in  den  westlichen  und  mittleren  Graf- 
schaften zunächst  zu  ic.  Dieses  ie  wurde  in  Devon  und  Somerset 
weiter  zu  3ie..mQ.i(-wille)]  in  Dorset,  Wilts.,  Hants.,  teilweise  auch  in 
Oxf  und  West- Sussex  und  wahrscheinlich  in  Berks.  wurde  es  nach 
w  zu  ae.  y ^  me.  u  (o)  (-ivulle,  -wolle). 

2.  In  Kent,  wahrscheinlich  auch  in  Essex,  Ost- Sussex  und  viel- 
leicht in  den  östlich- westsächsischen  Bezirken  wurde  ea  durch  i -Um- 
laut zu  e  (-ivelle). 

3.  Angl.  a  vor  l  -\-  Kons,  wurde  durch  i-UmlautimWest- 
mercischen  (Heref,  Shropsh.,  Staff.,  Chesh.,  S.  Lanc,  Derbysh.)  zu 
ae.  «',  me.  a  (-ivaMe,  -walle),  in  allen  übrigen  anglischen  Mund- 
arten zu  einem  e-Laut,  der  ae.  ce,  me.  aber  e  geschrieben  wird. 
Vom  westlichen  Mittelland  hat  sich  das  a  nach  E.  auch  über  die  ursprünglich 
westsächsischen  Grafschaften  Glouc,  Worc,  Warw.,  sowie  nach  SW.  Lanc. 
verbreitet,  wo  sich  einige  Fälle  von  -ivalh  finden,  obwohl  hier  -ivelle  das 
gewöhnliche  ist.  Ekwall  (S.  63 f)  weist  darauf  hin,  daß  das  Gebiet, 
wo  a  der  regelmäßige  Vertreter  des  umgelauteten  a  vor  ?- Gruppen  ist, 
sich  fast  genau  mit  den  beiden  Diözesen  Hereford  und  Lichfield  decke, 
wenn  auch  die  Spuren  von  -walle  in  Warwickshire  schwach  seien. 
Ferner  falle  die  Grenzlinie  zwischen  tvalle  und  wdle  im  Nordmittelland 
mit  der  von  ti  und  *  aus  ae.?/  zusammen,  da  nach  Brandl  Derby  zum 
u-y  Nottingham  zum  i- Gebiet  gehöre.  Er  möchte  auch  hier  eine  alte 
Stamraesgrenze  vermuten,  wagt  aber  aus  Mangel  an  Material  keine 
Entscheidung. 

14 


3.  Einfluß  des  Angelsächsischen  auf  das  Althochdeutsche 

Man  hatte  mehrfach  vermutet,  daß  die  althochdeutsche  Übersetzungs- 
literatur,  insbesondere  die  Isidor-  und  Tatianüber Setzung,  unter  angel- 
sächsischer Leitung  und  nach'  angelsächsischem  Vorbild  entstanden  oder 
wenigstens  durch  Angelsachsen  sprachlich  beeinflußt  worden  sei,  weil  sie 
zahlreiche  Wörter  enthält,  die  dem  Althochdeutschen  sonst  fremd  sind 
und  nur  im  Angelsächsischen  Entsprechungen  haben.  Gegen  diese  Auf- 
fassung wandte  sich  Kögel,  der  grundsätzHch  jegliche  Anglosaxonismen 
im  Althochdeutschen  leugnete.  Wenn  er  darin  auch  zu  weit  ging,  so 
haben  doch  Steinmeyer  für  die  Isidorgruppe,  Gutmacher  und 
Braune  für  Tatian  überzeugend  nachgewiesen,  daß  es  sich  bei  den 
Übereinstimmungen  des  Wortschatzes  jener  beiden  fränkischen  Denk- 
mäler mit  dem  Angelsächsischen  nicht  um  Entlehnungen,  sondern  um 
altes  westgermanisches  Sprachgut  handelt,  das  in  den  übrigen  Mund- 
arten entweder  ausgestorben  oder  nur  literarisch  unbelegt  ist. 

Doch  weist  das  Althochdeutsche  in  andrer  Hinsicht  tatsächlich 
tiefgreifende  angelsächsische  Einflüsse  auf.  Im  8.  Jahrhundert  hielten 
sich  in  deutschen  Klöstern  zahlreiche  enghsche  Mönche  auf,  deren  über- 
legene literarische  Kultur  im  deutschen  Schrifttum  zur  Geltung  kam. 
Ihr  Einfluß  zeigt  sich  am  augenfälligsten  in  dem  Eindringen  der 
insularen,  anglo-irischen  Schrift,  die  namentHch  in  Fulda  und 
St.  Gallen  in  der  zweiten  Hälfte  des  8.  Jahrhunderts  mit  der  heimischen, 
kontinentalen  Schreibweise  in  Wettbewerb  trat,  aber  in  der  ersten  Hälfte 
des  9.  Jahrhunderts  wieder  verschwand. 

Wichtiger  ist  der  angelsächsische  Einfluß  auf  die  ahd. 
Glossenliteratur,  der  durch  zwei  Bonner  Dissertationen:  von  Ley- 
decker.  Über  Beziehungen  zivischen  ahd.  und  ags.  6r Zossen  (1911)  und 
Michiels,  Üher  englische  Bestandteile  altdeutscher  Glossenhandschriften 
(1912),  klargestellt  ist.  Leydecker  behandelt  den  1.,  Michiels  den  2. 
bis  4.  Band  der  von  Steinmeyer  und  Sievers  herausgegebenen  Ähd.  Glossen. 
Aus  ihren  Untersuchungen  ergibt  sich,  daß  nicht  nur  in  viele  ahd. 
Glossare  einzelne  ags.  Wörter  mechanisch  eingemischt  sind,  sondern  daß 
sogar  ganze  althochdeutsche  Glossenstücke  Übersetzungen  angelsächsischer 
Glossen  darstellen.  Nur  das  Hauptwerk  der  ahd.  GlossenUteratur,  das 
Keronische  Glossar,  ist  von  ags.  Einflüssen  ganz  frei. 

Daß  dieAnregungzuderaltsächsischenBibeldichtung: 
zum  Heliand  und  zur  Genesis,  von  der  angelsächsischen  geist- 
lichen Dichtung  ausgegangen  ist,  war  längst  bekannt;  es  ist 
durch  die  Arbeiten  von  Grüters,  Über  einige  Besiehungen  zwischen 
altsächsischer  und  altenglischer  Dichtung  (Bonner  Beiträge  zur  Anglistik 
17,1;  1905),  und  Grau,  Quellen  und  Venvandf schaffen  der  älteren 
germ.  Barstellungen  des  Jüngsten  Gerichts  (Studien  z.  engl.  Phil.  31, 
S.  199  ff.;  1908),  im  einzelnen  genauer  nachgewiesen  worden.  Braune 
(PBB.  43,  380)  vermutet,  daß  auch  der  Dichter  des  ahd.  Muspilli  An- 
regungen von  dem  ags.   Crist  III  erhalten  habe. 

15 


Aber  alle  diese  Beziehungen  zu  der  angelsächsischen  Sprache  und 
Dichtung  haben  mehr  gelehrten,  literarischen,  schriftmäßigen  Charakter 
und  lassen  keinen  Schluß  auf  Beeinflussung  der  lebenden  althochdeut- 
schen Sprache  zu.  Namentlich  die  angelsächsischen  Elemente  in  den 
althochdeutschen  Glossaren  haben  nur  ein  papiernes  Leben  geführt  und 
sind  nicht  etwa  als  wirkliche  Fremdwörter  aufzufassen.  Rein  literarische 
ags.  Fremdwörter  gibt  es  weder  im  Althochdeutschen  noch  im  Altnieder- 
deutschen, weil  es  keine  altdeutsche  Übersetzungsliteratur  nach  ags.  Vor- 
lagen gab.  Heliand  und  altsächsische  Genesis  sind  wohl  dureh  ags. 
Muster  angeregt,  aber  nicht  aus  dem  Angelsächsischen  übersetzt,  wie 
man  wohl  gemeint  hat,  und  enthalten  deshalb  keine  ags.  Lehnwörter, 
während  um.gekehrt  der  Verfasser  der  ags.  Genesis  B  bei  der  Über- 
tragung aus  dem  Altsächsischen  auch  Fremdwörter  wie  liearra  '  Herr', 
Wcer    wahr'  u.  a.  mit  herübergenommen  hat. 

Dagegen  hat  das  Angelsächsische  in  vorliterarischer  Zeit  tatsächlich 
einmal  einen  lebendigen  Einfluß  auf  die  deutsche  Sprache  ausgeübt. 
Durch  die  Missionstätigkeit  der  Angelsachsen,  die  durch 
Wilfriths  Predigt  bei  den  Friesen  678  eingeleitet  wurde,  in  der  Wirk- 
samkeit des  Bonifaz  in  der  ersten  Hälfte  des  8.  Jahrhunderts  ihren 
Höhepunkt  und  mit  der  Ernennung  V\^illehads  zum  Bischof  von  Bremen 
787  ihren  Abschluß  erreichte,  sind  zahlreiche  christliche  Lehn- 
wörter aus  dem  Angelsächsischen  ins  Althochdeutsche 
eingedrungen,  von  denen  einige  noch  heute  zu  unserm  häufigst  ge- 
brauchten Sprachgut  zählen.  Dies  in  zweifelloser  Weise  festgestellt  zu 
haben,  ist  das  Verdienst  von  W.  Braunes  methodisch  und  inhaltlich 
gleich  bedeutsamer  Abhandlung  ÄUhocJideutsch  und  Angelsächsisch  (PBB. 
43,361,  besonders  38lff.;   1918). 

Schon  vor  dem  Auftreten  der  angelsächsischen  Mis- 
sionare in  Mitteldeutschland  waren  christliche  Sendboten  in 
Süddeutschland  und  am  Rhein  erfolgreich  tätig  gewesen  und 
hatten  eine  Reihe  von  christlichen  Ausdrücken  im  alt- 
hochdeutschen Wortschatz  eingebürgert.  Mit  dieser  älteren 
süddeutschen  Gruppe  christlich-kirchlicher  Wörter  trat  nun  die  im  8.  Jahr- 
hundert von  den  Angelsachsen  in  Mitteldeutschland  eingeführte  in  Wett- 
bewerb. Aus  dem  Kampf  der  beiden  konkurrierenden  Gruppen  gingen 
meist  die  süddeutschen  Ausdrücke  als  Sieger  hervor,  weil 
sie  im  Sprachgebrauch  des  oberdeutschen  und  rheinisch  -  fränkischen 
Gebiets  schon  so  gefestet  waren,  daß  die  angelsächsischen  Missionare  in 
deutscher  Rede  sie  nicht  umgehen  konnten.  So  ergab  sich  schließlich 
eine  einheitliche  hochdeutsche  christliche  Terminologie,  in  der  das  süd- 
deutsche Element  das  Übergewicht  hatte.  Braune  zeigt  an  einer  Reihe 
von  Beispielen,  wie  dieser  Kampf  zwischen  der  älteren,  süddeutschen 
und  der  unter  angelsächsischem  Einfluß  stehenden  mitteldeutschen  oder 
fuldaischen  Schicht  im  einzelnen  verlaufen  ist. 

In  einigen  Fällen  waren  süddeutsch-fränkische  Ausdrücke  schon  so 
fest  eingebürgert,  daß  jede  angelsächsische  Konkurrenz  ausgeschlossen 
war.     So  bei  dem  Lehnwort  ahd.  Jcrüzi  'Kreuz'  aus  lat.  cräcem,  gegen- 

16 


über  ags.  röd  und  gedlga,  galga.  Ahd.  moto  bedeutet  nur  ^ Rute',  gdlgo 
nur  "Galgen'.  —  Völlig  fest  waren  auch  abd.  toufi"Va,\xfe,  toufen'idivSen', 
gegenüber  ags.  fulwiht,  fulluM  bzw.  fuhvian,  fullian]  ferner  ahd.  higiJit 
'Beichte',  hijelian  'beichten'  gegenüber  ags.  andetting  und  anäettan.  — 
Auch  ahd.  opfar,  opfaron,  ein  altes,  vor  600  aufgenommenes  Lehnwort 
aus  lat.  operäri,  hat  dem  ags.  offrian  aus  lat.  offerre  gegenüber  stand- 
gehalten; schon  Tatian  hat  ohpliar.  —  Etwas  stärkere  Spuren  hat  ags. 
gödspel  'Evangehum'  hinterlassen,  das  als  ahd.  gofsiiel  nicht  nur  bei 
Tatian  und  Isidor,  sondern  auch  in  Oberdeutschland  auftritt;  doch  hat 
es  sich  auf  die  Dauer  gegen  das  Fremdwort  ahd.  evangclio  nicht  halten 
können.  —  Die  von  den  ältesten  christlichen  Sendboten  in  Süddeutsch- 
land geprägten  Ausdrücke  für  die  spezifisch  christlichen  Begriffe  'Er- 
barmen', "Trost'  und  'Demut'  haben  sich  erst  nach  längerem  Kampf  gegen 
die  von  den  angelsächsischen  Missionaren  eingeführten  Bezeichnungen 
durchsetzen  können:  ahd.  harmhers,  irharmen  (Lehnübersetzungen  von 
lat.  'misericors,  misereri')  siegten  über  ags.  müdheort,  mütsian]  ahd. 
tröst,  frösfjan  über  ahd.  fluöbara,  ßuoblren,  as.  frohra,  froXyrean,  die  nach 
dem  Vorbild  von  ags.  fröfor,  frefran  christlich  umgeprägt  waren;  das 
ahd.  Adjektiv  theomuoti,  deomuoti,  das  nach  Braune  (S.  397)  ursprüng- 
lich "dienstwillig,  dienstbereit'  bedeutete  und  durch  die  ältere  süddeutsche 
Kirchensprache  in  christlichem  Sinne  zu  "demütig'  umgedeutet  war,  ver- 
drängte die  von  den  angelsächsischen  Missionaren  nach  dem  Muster 
ihres  eapmöd,  eapmede  christianisierten  Ausdrücke  ahd.  odmuotig,  as.  üd- 
mudi,  die  wie  jenes  ursprünglich  "mit  leichtem  Sinn',  dann  'mit  mildem 
Sinn,  wohlgesinnt'  bedeuteten. 

Während  bei  den  bisher  genannten  Begriffen  die  oberdeutschen 
Ausdrücke  durchgedrungen  sind,  hat  bei  einer  andern  Gruppe  umgekehrt 
die  angelsächsich-fränkische  Bezeichnung  gesiegt.  Zur 
Wiedergabe  des  christlich-ethischen  Begriffs  der  Heiligkeit,  des  lat. 
'sanctus'  und  "sacer',  fand  das  Christentum  zwei  gemeingerm.  Wörter 
verwandten  Sinnes  vor,  die  nur  wenig  umgedeutet  zu  werden  brauchten: 
got.  iveilis  und  liailags.  Urgerm.  '^-unhaz  war,  wie  ags.  weoli,  wlg "  Götter- 
bild' und  anord.  i^e,  as  ivih  "Tempel'  zeigen,  ein  heidnisches  Kultwort 
mit  der  Bedeutung  'den  Göttern  geweiht'.  Urgerm.  ^haila^as  bedeutete 
"unverletzlich',  wie  das  Stammwort  ^liailas  und  besonders  der  Sinn  von 
anord.  heilagr  in  der  Rechtssprache  beweist.  Von  den  beiden  Wörtern 
liegt  offenbar  ^tvihas  dem  christlichen  Begriff  "sanctus,  sacer'  näher, 
und  dies  ist  auch  sowohl  im  Gotischen  wie  in  der  älteren  süddeutschen 
Kirchensprache  im  christlichen  Sinne  umgedeutet  worden.  Im  Alt- 
nordischen und  Angelsächsischen  aber  war  *iviJias  ausgestorben  und  durch 
*liaila7,as  ersetzt;  es  hat  nur  in  anord.  ve  "Tempel'  und  vigja  "consecrare', 
in  ags.  iveoJi,  ivlg  'Götterbild',  tveofod  'Altar'  aus  ^tvih-heod  'heiliger 
Tisch',  fuhvian  'taufen'  aus  * ful-tvihan,  tviglere  "Wahrssiger,  Zauberer' 
seine  Spuren  hinterlassen.  Im  Angelsächsischen  stand  also  nur  liälig 
(ne.  holy)  zur  Verfügung,  und  dies  ist  denn  auch  von  Anfang  an  zur 
Wiedergabe  von 'sanctus'  benutzt  worden.  Das  davon  abgeleitete  Verbum 
ludgian    (ne.   hallow)   bedeutet   sowohl  ' sanctificare ,   heiligen'  als   auch 

Wissenschaftliclie  Forschungsberichte  IX,  2 

17 


'consecrare,  weihen'.  —  Durch  die  ags.  Missionare  kam  nun  in  der 
ersten  Hälfte  des  8.  Jahrhunderts  die  christhche  Anwendung  von  Jiälig 
nach  Deutschland,  wo  soM'ohl  tvih  wie  heilag  vorhanden  waren.  Von 
Fulda,  dem  Mittelpunkt  der  ags.  Mission  in  Hessen  und  Thüringen,  hat 
sich  die  christianisierte  Gebrauchsweise  von  heilag  zunächst  nach  Rhein- 
franken,  dann  in  der  zweiten  Hälfte  des  9.  Jahrhunderts  auch  nach 
Oberdeutschland  und  Niederdeutschland  verbreitet  und  das  ältere  ivih 
verdrängt,  wobei  der  viel  gebrauchte  Ausdruck  der  lieilego  geist  jeden- 
falls hauptsächlich  zu  ihrer  Ausbreitung  beigetragen  hat.  Auch  das 
Verbum  ahd.  tviheti  wurde  im  Sinne  von  '  sanctificare '  durch  heüagön 
ersetzt  und  hat  sich  nur  in  der  Bedeutung  'consecrare*  als  iveihen  bis 
ins  Nhd.  erhalten.  Das  Adjektiv  tvih  lebt  heute  nur  noch  in  den  festen 
Verbindungen  Weihnachten  (mhd.  diu  iv'ihe  naht,  zen  wihen  nahten), 
Weihrauch  und  in  bayrischen  Ortsnamen  wie  Weihenstephan,  Weihen- 
zeil fort. 

Mit  der  Wiedergabe  des  lat.  'sanctus'  ist  die  von  lat.  'spiritus', 
griech.  '' 7TvEvi.ia  wegen  der  überragenden  Rolle  des  'spiritus  sanctus'  im 
christlichen  Dogma  eng  verknüpft.  Der  Seelenglaube  war  bei  allen 
Germanen  schon  in  der  Urzeit  entwickelt,  und  so  gibt  es  ein  gemein- 
germ.  Wort  für  'Seele':  got.  saiwala,  ags.  säwol,  ahd.  sela]  der  ab- 
straktere Begriff  der  höheren  Seelenkräfte  aber,  die  wir  heute  als  'Geist* 
bezeichnen,  fehlte  ihnen  in  vorchristlicher  Zeit.  Die  Entsprechung  von 
^ Ttvevfxa,  Spiritus'  ist  infolgedessen  bei  den  altgerm.  Völkern  verschieden: 
die  Goten  haben  ahma  'Sinn,  Verstand'  (zu  ahd.  a/ito 'Meinung',  ahtön 
'  beachten'),  die  ältere  süddeutsche  Kirchensprache  übersetzt  den  griech. - 
lat.  Ausdruck  wörtlich  mit  üttini  'Atem,  Hauch',  ebenso  das  Altnordische 
mit  andi  'Atem'.  Das  Angelsächsische  greift  auf  das  Wort  gast  zurück, 
das  Braune  in  sehr  ansprechender  Weise  mit  ags.  gastan  'schrecken', 
ne.  ghastly  'schrecklich',  aghast  'erschrocken,  bestürzt'  zusammenstellt 
und  als  'Schreckbild,  ghost,  Geistererscheinung'  deutet.  Die  christliche 
Umprägung  des  Worts  ist  von  England  nach  Deutschland  gekommen, 
wo  geist  zur  Bezeichnung  der  erscheinenden  Seele  eines  Verstorbenen 
schon  vorhanden  war  und  sich  ohne  weiteres  der  christlichen  Anwendung 
fügte,  geist  hat  dann  das  obd.  rdum  rascher  und  gründlicher  verdrängt 
als  heilig  das  ältere  ivih\  statt  der  iviho  ätum  findet  sich  wiederholt  der 
tviho  heist,  bis  sich  schließlich  der  heilago  geist  allgemein  durchsetzt. 

Noch  früher  und  gründlicher  ist  der  ags.  Name  des  Osterfestes 
auf  dem  ganzen  hochdeutschen  Sprachgebiet  durchgedrungen.  Für 
Ostern  haben  die  meisten  germanischen  wie  auch  alle  romanischen 
Völker  das  jüdische  pascha  aus  der  lat.  Kirchensprache  entlehnt:  got. 
paslia,  as.  päscha,  mnd.  pasche,  paschedach,  westf.  päshe,  mfrk,  pösche, 
püschdaag,  mndl.  paeschdach,  atries.  pascha,  anord.  päsicar  (aus  dem 
AltsächsischenJ,  dän.  paaske,  schwed.  paslc.  Nur  das  Englische  und  das 
Hochdeutsche  haben  statt  dessen  einen  einheimischen  Ausdruck:  ags. 
eastre,  ahd.  ostra,  meist  als  Plural  gebraucht:  ags.  öastron,  ahd.  ostoron, 
östarün.  Dieses  Auftreten  desselben  Namens  in  zwei  Sprachgebieten, 
die    durch   das  weite  ;>rtsc//a  -  Gebiet   vöHig  voneinander  getrennt   sind, 

18 


kann  nicht  auf  Zufall  beruhen.  Beda  (De  Temporum  Ratione  o.  13; 
s.  Kluges  Ags.  Lesebuch)  berichtet,  der  April  habe  seinen  ags.  Namen 
Eostiirmonatli  nach  einer  Göttin  JEostrae  erhalten,  der  man  in  diesem 
Monat  Feste  gefeiert  habe,  und  nach  ihr  sei  auch  das  christhche  Oster- 
fest (paschale  tempus)  benannt.  Braune  hält  an  der  Richtigkeit  dieser 
seit  Weinhold  mehrfach  bezweifelten  Angabe  fest.  Er  meint  (S.  416), 
das  heidnische  Frühlingsfest  sei  auch  bei  den  hochdeutschen  JStämmen 
zu  der  Zeit,  als  die  ags.  Missionare  zu  ihnen  kamen,  noch  wohlbekannt 
gewesen,  und  sie  hätten  deshalb  den  ags.  Osternamen  ohne  weiteres 
übernommen.  In  den  dazwischenliegenden  Gebieten  der  Niederfranken, 
Friesen  und  Sachsen,  sowie  auch  bei  den  Skandinaviern,  habe  man  das 
heidnische  Fest  nicht  mehr  gekannt,  sonst  hätte  man  sich  auch  hier 
wohl  der  christlichen  Terminologie  der  Nachbarn  angeschlossen. 

Ein  Gegenstück  zu  dem  englisch  -  deutschen  Osternamen  erblickt 
Braune  in  der  angelsächsisch- nordischen  Benennung  des  Weihnachts- 
festes. Lat.  (dies)  natalis,  nafivitas,  die  Grundlage  der  Benennungen 
des  Christfestes  in  den  romanischen  und  keltischen  Sprachen,  hat  sich 
bei  den  Germanen  nicht  eingebürgert.  Der  alte  süddeutsche  Ausdruck 
WeiJmacJiten  (s.  oben  S.  18)  hat  sich  seit  dem  15.  Jahrhundert  auch 
in  Norddeutschlaud  ausgebreitet  und  ist  heute  in  Deutschland  der  herr- 
schende Name  des  Festes.  Die  bodenständige  niederdeutsche  Benennung 
desselben  scheint  'Christtag,  Christnacht'  gewesen  zu  sein:  mnd.  Kers- 
dach,  Kersnacht,  köln.  Kreßdaag  u.  a.  Der  holländische  Ausdruck  ist 
'Christmesse':  mndl.  Kersmisse,  nndl.  Kersmis.  Letztere  Bezeichnung 
kommt  seit  dem  11.  Jahrhundert  auch  in  England  auf:  erster  Beleg 
1021  Cristes-messe  in  Hs.  D  der  Sachsenchronik,  ne.  Christmas.  Der 
ältere  ags.  Name  für  Weihnachten  aber  ist  geol  oder  geohhol  (ne.  ytde), 
das  in  anord.  jöl,  schwed.  dän.  jul  wiederkehrt.  Es  bedeutete  ursprüng- 
lich 'Mittwinter,  Wintersonnenwende',  sodann  das  heidnische ' Mittwinter- 
fesf .  Bei  den  Angelsachsen  wurde  der  Name  auf  das  Christfest  über- 
tragen, und  diese  christhche  Umprägung  wurde  unter  ags.  Einfluß  von 
den  Skandinaviern  übernommen.  Im  Deutschen  war  das  entsprechende 
ahd.  *geJial  nicht  mehr  vorhanden,  weshalb  das  ags.  geol  hier  keinen 
Anklang  fand. 

Auch  das  Wort  'Heide'  im  Sinn  von  'gentilis,  ethnicus,  paganus' 
verdanken  wir  nach  Braune  den  Angelsachsen.  Ich  habe  das  viel  um- 
strittene Wort  im  Anschluß  an  Braunes  Ausführungen  kürzlich  in  der 
Braune  -  Festschrift  (Aufsätze  z.  Sprach-  u.  Literaturgesch. ,  Dortmund 
1920,  S.  27  ff.)  zusammenfassend  behandelt  und  bin  zu  folgenden  Er- 
gebnissen gekommen.  Zu  idg.  *Icoitom,  germ.  ^haipa  n.  'Wildland, 
Heide',  das  als  y'ö-Stamm  in  got.  haipi,  ahd.  heida,  ags.  häp  vorliegt, 
bestand  eine  gemeingerm.  Ableitung  *haipana0,  "^haipinaz,  ^haipnas, 
die  wir  in  ahd.  keidan,  ags.  Kcepen,  got.  haipns  usw.  haben.  Ihre  ur- 
sprüngliche Bedeutung  war  'Heideleute,  Wildnisbewohner',  dann  'Wilde, 
Barbaren'.  Bei  der  Christianisierung  der  Angelsachsen  wurde  das  Wort 
zum  Ausdruck  des  Begriffs  'ethnicus,  gentilis'  verwandt.  In  Ober- 
deutschland hatte  sich  in  der  älteren  Bekehrungsepoche  vom  4. — 7.  Jahr- 


hundert  zunächst  ethniciis],  kirchenlat.  ennicus  als  Fremdwort  in  der 
Gestalt  von  ahd.  innizzi  als  Benennung  der  Nichtchristen  eingebürgert. 
Im  Zeitalter  der  angelsächsischen  Missionstätigkeit  wurde  es  durch  das 
unter  ags.  Einfluß  christlich  umgeprägte  obd.  Iteidan  vordrängt.  Die 
christliche  Umprägung  dieses  altgermanischen  Worts  bei  den  Nieder- 
deutschen, Friesen  und  Skandinaviern  steht  gleichfalls  unter  dem  Ein- 
fluß der  angelsächsischen  Mission. 

Auch  nichtkirchliche  Ausdrücke  sind  jedenfalls  durch  die 
angelsächsischen  Missionare  verbreitet  worden.  Ich  hatte  schon  im 
Reallexikon  (I  349 f.)  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  die  Wieder- 
gabe von  lat.  litera  als 'Buchstabe'  bei  den  Angelsachsen  entstanden 
und  von  ihnen  mit  dem  Christentum  den  Deutscheu  und  Skandinaviern 
übermittelt  worden  sei.  Braune  findet  den  Gedanken  ansprechend  und  stellt 
seinerseits  die  bemerkenswerte  These  auf,  daß  auch  das  Wort  'deutsch' 
im  völkischen  Sinne  (mlat.  theodiscus,  theofiscus,  ahd.  dmtisJc)  angel- 
sächsischen Ursprungs  sei.  Er  denkt  (S.  413),  wie  vor  ihm  Dove, 
an  den  Kreis  um  Bonifaz  als  den  Ursprungsort  des  Namens,  da  sich 
bei  den  angelsächsischen  Missionaren  zuerst  das  Bedürfnis  nach  einer 
Gesamtbezeichnung  für  die  deutschen  Einzelsprachen  geltend  machen 
mußte.  Er  weist  darauf  hin,  daß  die  Angelsachsen  schon  in  ihrer 
Heimat  außer  dem  Substantiv  gepeode  n.  'Sprache'  auch  ein  Adjektiv 
peodisc  'volkstümlich'  hatten,  und  daß  sie  auf  Grund  desselben  für  die 
verschiedeneu  deutschen  Mundarten  die  zusammenfassende  Bezeichnung 
theodisca  lingua  einführten,  die  auf  deutschem  Boden  als  Ausdruck  der 
kirchlichen  lateinischen  Umgangssprache  zuerst  788  in  den  Lorscher 
Annalen  belegt  ist.  Zur  Stütze  von  Braunes  Vermutung  sei  hier  noch 
bemerkt,  daß  schon  das  eo  des  kirchenlat.  theodisca  den  angelsächsischen 
Ursprung  verrät ;  ferner  sei  auf  eine  Stelle  in  einer  ags.  Originalurkunde 
von  843  hingewiesen,  wo  fheodisce  'in  der  Volkssprache'  bedeutet: 
„unus  singularis  silva  ad  hanc  eandem  terram  pertinens,  quem  nos  theo- 
disce  snad  norainamus"  (Gray  Birch,  Cartul.  Sax.  II,  S.  18,  Nr.  442  = 
Sweet  Oldest  Engl.  Texts  25).  Nach  Bi'aunes  Darlegungen  scheint  es 
in  der  Tat  sicher,  daß  das  deutsche  Volk  seinen  Namen  den  Eng- 
ländern verdankt. 

Auf  den  übrigen  Inhalt  von  Braunes  wichtiger  Abhandlung  ein- 
zugehn,  muß  ich  mir  versagen.  Es  sei  nur  angedeutet,  daß  er  noch 
über  die  Herkunft  jeuer  älteren  Schicht  christlicher  Wörter  in  .Süd- 
deutschland handelt:  über  die  Bedeutung  der  Rheinlinie  für  die  Über- 
mittlung lateinischer  und  griechischer  Kulturwörter  an  die  westgermani- 
schen Völker  und  über  gotische  Einflüsse  aufs  Althochdeutsche. 

4.  Einfluß  des  Lateins  und  des  Christentums  auf  den  alt- 
englischen Wortschatz 

Über  den  Einfluß  des  Lateins  auf  den  altenglischen  Wortschatz  ist 
Pogatschers   klassisches   Buch  Zier  Lautlehre  der  griechischen,  latei- 

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nischen  und  romanischen  Lehmvorte  im  Altenglisclien  (1888)  immer  noch 
die  grundlegende  Abhandlung.  Wichtige  Nachträge  dazu  lieferten  Sie- 
vers  in  seinem  Dekanatsprogramm  Zum  angelsächsischen  VoJcalismus 
(Leipzig  1900)  und  Luick  in  seinem  Aufsatz  Zu  den  lateinischen  Lehn- 
wörtern im  Alt  englischen  (Arch.  f.  N.  Spr.  126,  35;  1911).  Während 
Pogatscher  nur  zwischen  volkstümlichen  und  gelehrten  Entlehnungen 
unterschieden  hatte,  teilte  Sievers  die  letztern  weiter  in  gelehrte  Lehn- 
wörter,  die  auf  Grund  der  jeweils  üblichen  gelehrten  Aussprache  des 
gesprochenen  Kloster-  und  Schullateins  sich  in  der  mündlichen  Ver- 
kehrssprache eingebürgert  haben,  und  in  rein  literarische  Fremdwörter, 
die  ausschließlich  an  Schriftbilder  ohne  feste,  traditionelle  Aussprache 
anknüpfen.  Er  wie  auch  Luick  erörterten  besonders  die  Betonung  und 
Quantitierung  der  gelehrten  Entlehnungen,  wobei  sie  vielfach  zu  andern 
Ergebnissen  gelangten  als  Pogatscher.  Eine  vortreffliche  knappe  Dar- 
stellung des  Vokalismus  der  lateinischen  Lehnwörter  aller  Arten  gibt 
Luick  in  seiner  Histor.  Grammatih  §  210 ff.  Über  die  geschichtliche 
und  kulturgeschichtliche  Bedeutung  der  älteren  lateinischen  Lehnwörter 
im  Alteoghschen  habe  ich  im  14.  Kapitel  meines  Buchs  Waldbäume 
und  Kidturptlansen  im  germanischen  Altertum  (1905)  gehandelt. 

Neuerdings  hat  Otto  Funke  in  einer  etwas  unpraktisch  angelegten, 
aber  wertvollen  Arbeit  die  gelehrten  lateinischen  Lehn-  und  Fremd- 
ivörter  in  der  altenglischen  Literatur  von  der  Mitte  des  10.  Jahrhunderts 
bis  um  das  Jahr  1066  einer  gründlichen  Prüfung  unterzogen  (Halle, 
Niemeyer,  1914).  Der  Blütezeit  der  klassischen  Studien  in  England  im 
Zeitalter  Aldhelms  und  Bedas  wurde  durch  die  Däneneinfälle  ein  jähes 
Ende  bereitet.  Die  hochfliegenden  Pläne  Alfreds  des  Großen,  der  seinem 
Volk  die  wertvollsten  Schätze  der  lateinischen  Literatur  in  englischen 
Übersetzungen  zugänglich  machen  wollte,  erlitten  infolge  der  Wieder- 
aufnahme der  Wikingerzüge  das  gleiche  Schicksal.  Ein  neuer,  nach- 
haltiger geistiger  Aufschwung  begann  erst  mit  der  kirchlichen  Ke- 
formbewegung,  die  Erzbischof  Dunst  an  von  Canterbury,  Bischof 
vEthelwold  von  Winchester,  Bischof  Oswald  von  Worcester  und  ihre 
Mitarbeiter  nach  dem  Vorbild  der  Reformbestrebungen  des  französischen 
Bllosters  Fleury  seit  960  ins  Werk  setzten.  Diese  Reformära,  auf  die  Funke 
im  3.  Kapitel  seines  Buchs  ausführlich  eingeht,  hub  mit  der  Einführung  der 
Benediktinerregel  an,  die  sehr  bald  ins  Englische  übertragen  wurde,  und 
erreichte  um  lUOO  in  der  Wirksamkeit  iElfrics  und  Wulfstans  ihren  li- 
terarischen Höhepunkt.  Sie  führte  zu  einer  Neubelebung  der  Latein- 
kunde, wenn  auch  längst  nicht  in  dem  Maße  wie  im  7.  und  8.  Jahr- 
hundert. Das  Ziel  der  Reformbewegung  des  10.  Jahrhunderts  war  kein 
wissenschaitliches,  sondern  ein  praktisches:  die  sittlich-religiöse  Hebung 
des  Priesterstands  und  des  ganzen  Volks.  Deshalb  wurde  die  Landes- 
sprache zur  kirchlichen  Literatursprache  erhoben.  Alfreds  Tradition 
wurde  fortgesetzt:  eine  lange  Reihe  von  Übersetzungen  und  Interlinear- 
versionen entstanden  in  dieser  Epoche.  Dazu  kamen  jetzt  religiöse  und 
wissenschaftliche  Originalwerke  in  englischer  Prosa  in  immer  zunehmen- 
der Zahl,  die  sich  freilich  in  Stoff  und  Ideen  durchweg  an  ältere  Vor- 

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bilder  der  klassischen  und  patristischen  Literatur  anlehnten.  Nur  selten 
bediente  man  sich  des  Lateins  zu  literarischen  Zwecken;  noch  seltner, 
vielleicht  nur  im  Verkehr  mit  ausländischen  Geistlichen ,  wurde  es  als 
mündliche  Umgangssprache  verwandt.  Die  Verkehrssprache  auch  der 
geistlichen  Kreise  in  dieser  Zeit  war  das  Englische. 

Aber  während  die  meisten  lateinischen  Ausdrücke,  welche  die  Ein- 
führung des  Christentums  im  7.  Jahrhundert  mit  sich  brachte,  durch 
einen  großzügigen  Sprachschöpt'ungsprozeß  ins  Englische  übertragen  und 
so  volkstümlich  gemacht  worden  waren,  wurden  jetzt  zahllose  lateinische 
Wörter  auf  gelehrtem  Wege  mehr  oder  weniger  unverändert  übernommen. 
In  dieser  Ära  der  Klosterreform  undÜbersetzungsliteratur 
des  10.  und  11.  Jahrhunderts  ist  die  Mehrzahl  der  gelehrten 
Entlehnungen  aus  dem  Latein  ins  Altenglische  einge- 
drungen. Funke  scheidet  sie,  ähnlich  wie  Sievers,  in  Fremdwörter, 
die  die  lateinische  Flexion  beibehalten,  und  Lehnwörter,  welche  die 
altenglische  Flexion  annehmen,  wozu  noch  eine  Mittelstufe  kommt, 
bei  denen  der  Nominativ  lateinische  Foi'm  hat,  die  andern  Kasus  aber 
altengHsche  Flexion  zeigen  (S.  VIL  44.  158). 

Zahlreiche  dieser  gelehrten  Entlehnungen  gehören  dem  religiösen 
Gebiet  an.  Es  sind  Ausdrücke  des  Klosterlebens,  wie  cäinhd '^  Mönchs- 
versammlung,  Kapitel  ,  glüria,  nodern  '  Abendpsalm,  Nachtmette',  jirim 
'Morgensang,  -gottesdienst';  oder  Bezeichnungen  für  kirchliche  Ein- 
richtungen und  Gebräuche,  yf'ie  altüre,  caZ/c  '  Kelch,  Becher ',  cliör,  credo, 
-a,  predican  '  predigen',  stole  'Stola,  Priestergewand'  u.  a.,  oder  für 
geistliche  Rangstufen :  gräd  '  Rang',  deric,  cänonic,  decan,  diaconus,  lector, 
presbyfer.  —  Eine  zweite,  zahlreiche  Gruppe  sind  wissenschaftliche 
Ausdrücke.  Die  Schule  oder  Grammatik  lieferte :  casus,  dedinian, 
declinung,  f erstem  'Verse  machen',  nieter,  scolu,  scolere,  sott  'töricht. 
Tor'.  Die  Medizin:  Cancer,  -or,  plaster,  temprian  'mischen,  mäßigen'. 
Besonders  zahlreich  sind  die  Pflanzennamen:  agrimonie,  hctonice,  caul, 
laur,  märuhie,  por,  quinquefoUe,  säßne.  —  Eine  dritte  Gruppe  sind  rein 
literarische  Ausdrücke,  die  vornehmlich  der  Bibel  entnommen 
wurden,  wie:  angel,  angelic,  anticrist,  arc(e) ,  cämel,  ceder-(heam),  flc- 
(xppel,  -heam,  -trtow  u.  a.  (Funke  108 — 110). 

Manche  dieser  gelehrten  Lehn-  oder  Fremdwörter  trafen  dabei  auf 
ältere  volkstümliche  Entlehnungen  desselben  Etymons,  so  angel  -  engel, 
arc-earc,  calic-celc,  cleric-cliroc,  coriander  -  cellendre,  lätin-lmden;  seltner 
auf  ältere  gelehrte  Lehnwörter,  wie  altäre- alter.  —  Andre  trafen  auf 
ältere  Übersetzungen  des  latein.  Etymons,  wie:  haptista-  ftdhihtere,  cantic- 
lofsong,  confessor-andcttere,  evangelista-godspellere,  passio-pröwung,  pro- 
cGsso—gmhegang ,  pr  opheta  -  ivitega ;  oder  auf  sonstige  synonyme  Aus- 
drücke: ampidla-ffft,  cämel- olfend,  paradisus-neorxnaivang  (F.  136  ff.;. 
Hierher  stellen  sich  auch  die  lateinischen  Monatsnamen  Janua- 
rius,  Fehruarnis  usw.,  die  vom  10.  Jahrhundert  an  in  der  literarischen 
Sprache  fast  ausschheßlich  herrschend  werden  (F.  147).  —  Einige  schon 
vorhandene  Lehnwörter  nehmen  in  dieser  Zeit  eine  neue  Bedeutung 
an,  so  cäpdid,  das  als  'Kapitel  eines  Buchs'  schon  bei  Alfred  vorkommt, 

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aber  jetzt  auch  '  Mönchskapiter  oder  den  Ort  dieser  Mönchsversamm- 
lung bezeichnet  (F.  149). 

Funke  unterwirft  diese  gelehrten  Lehnwörter  in  bezug  auf  Betonung, 
Vokalquantität,  Flexion  und  Wortbildung  einer  eingehenden  Untersuchung. 
Für  die  Beurteilung  ihrer  Laut-  und  Akzentverhältnisse  ist  offenbar  eine 
genaue  Kenntnis  der  Aussprache  des  damaligen  Kirchenlateins  von  grund- 
legender Wichtigkeit.  Funke  widmet  deshalb  das  1.  Kapitel  seines  Buchs 
einer  Erörterung  der  Beziehungen  zwischen  Hochlatein  und  Vulgärlatein, 
zwischen  Latein  und  Französisch.  Im  Anschluß  daran  gibt  er  auf  Grund 
der  Quaestiones  Grammatieales  des  Abbo  von  Fleury,  der  auf  Ein- 
ladung des  Erzbischofs  von  York  zwischen  980  und  988  die  Kloster- 
schule zu  Ramsey  leitete,  eine  Darstellung  der  Akzent-  und  Quantitäts- 
verhältnisse sowie  des  Konsonantismus  des  Klosterlateins  im  10.  Jahr- 
hundert. Diese  Schrift,  die  Abbo  für  seine  englischen  Schüler  schrieb, 
zeigt  uns  nach  Funkes  Darlegungen,  daß  die  Aussprache  des  damaligen 
Klosterlateins  stark  vom  Französischen  beeinflußt  war,  während  man  sich 
im  übrigen  in  den  klösterlichen  Lateinschulen  auf  die  grammatischen 
Lehren  des  Donat  und  Priscian  und  auf  die  Metrik  des  Horaz  uüd  Vergil 
stützte.  J  ellin  ek  hat  in  der  Braune-Festschrift  in  seinem  Beitrag  ^t(r 
Äusspraelie  des  Lateinischen  im  Mittelalter  (Aufsätze  z.  Sprach-  u.  Lit.- 
Gesch.  11  ff.;  1920)  Funkes  Schlußfolgerungen  aus  Abbos  Schrift  einer 
beachtenswerten  Kritik  unterzogen. 

Das  2.  Kapitel  von  Funkes  Buch,  das  den  nur  für  den  Anfang  zu- 
treffenden Titel  „Die  Kriterien  gelehrter  Entlehnung"  führt,  behandelt 
in  der  Hauptsache  die  Akzent-  und  Quantitätsverhältnisse. 
Hinsichtlich  der  Wurzel  vokale  lateinischer  zweisilbiger  Wörter  kommt 
Funke  (S.  52)  zu  dem  gleichen  Ergebnis  wie  Luick  (Hist.  Gramm. 
§  218,  1):  das  romanische  Gesetz,  wonach  kurze,  betonte  Vokale 
in  freier  Stellung  seit  dem  6.  Jahrhundert  gelängt  werden, 
gilt  im  allgemeinen  auch  für  die  lateinischen  Lehnwörter  im  Altenglischen ; 
daher  ae.  gräd,  scül,  cöc,  stöl,  sön,  chör  =  vlglat.  grüdus,  schola,  cöcus, 
stola,  sönus,  chorus,  für  klasslat.  gradus,  scJiola,  coquiis,  stola,  sonus, 
cJiorus.  Aber  vielfach  wurde  unter  gelehrtem  oder  kelti- 
schem Einfluß  die  hochlateinische  Kürze  in  der  Aussprache 
des  mittelalterlichen  Schullateins  wiederhergestellt  und  kehrt  dann 
zum  Teil  auch  in  der  altenglischen  Aussprache  wieder:  neben  ae.  scöl 
steht  scohi,  neben  stöl  stole,  neben  söt  '  Tor,  töricht'  sot(t).  Alfric  sagt 
in  einer  bemerkenswerten  Stelle  seiner  Grammatik  (ed.  Zapitza  S.  2), 
auf  die  Funke  (S.  51)  hinweist:  viele  Leute  sprächen  Silben,  die  metrisch 
kurz  seien,  wie  das  a  in  pater  und  malus,  nach  britischem  Vorbild  auch 
in  Prosa  kurz,  während  doch  die  Prosa  an  die  metrischen  Gesetze  nicht 
gebunden  sei ;  er  selber  ziehe  eine  gedehnte  Aussprache  pcder,  mcdiis  vor. 

Für  Funkes  Erörterung  über  die  Quantität  der  dreisilbigen 
Wörter  ist  es  verhängnisvoll,  daß  er  Luick s  oben  erwähnten  wich- 
tigen Aufsatz  Zu  den  laf.  Lehnwörtern  im  ÄUenglischen  übersehen  hat. 
Nach  Luick  (S.  39)  bewahren  die  lat.  Proparoxytona  bei  früher 
volkstümlicher    Entlehnung    die    lat.    Quantität    des    Ton- 

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Vokals:  rädic,  iigle,  cliroc  nach  lat,  ^rädica  für  rädicem,  tegula,  dericus; 
bei  jüngerer  gelehrter  Entlehnung  hingegen  erhalten  sie 
nach  Maßgabe  der  inzwischen  üblich  gewordenen  Aussprache  des  La- 
teins durchaus  Kürze:  also  nicht  nur  calic  nach  lat.  calicem,  sondern 
auch  clcric,  predicap,  -tan,  huter e,  lilie,  fifele  'Spange^  gegenüber  lat. 
dericus,  praedicat,  hüiynim,  lilium,  flbula.  —  Auch  Sievers'  einschlägige 
Abhandlung  Zum  amjelsädisisdien  Vokalismus  wird  von  Funke  nur  in 
einem  Nachtrag  kurz  behandelt,  weil  sie  ihm  während  der  Drucklegung 
seiner  Arbeit  nicht  zugänglich   gewesen  sei  (S.  X)! 

Im  Anschluß  an  eine  Besprechung  von  Funkes  Buch  hat  F.  Hütten- 
brenner (Anglia  Beibl.  28,  38)  nochmals  ausführhch  über  die  Akzen- 
tuierung und  Quantitierung  der  Fremdnamen  in  der  ae.  Diclitung  ge- 
handelt. Er  kommt  dabei  zu  Ergebnissen,  die  zum  Teil  sowohl  von 
Sievers'  wie  von  Funkes  Aufstellungen  abweichen,  —  ein  Beweis  für 
die  Vieldeutigkeit  der  stofflichen  Unterlage. 

Was  die  Betonung  betrifft,  so  beweist  m.  E,  die  stabende  Ver- 
wendung von  Fremdwörtern  wie  cometa,  cristallus,  istoria,  psulterium, 
reliquias,  nnguentum,  ysopon,  hdsiliscan  im  Alliterationsvers,  daß  man 
alle  gelehrten  Lehnwörter  und  Fremdwörter  beim  Gebrauch  in  der  ge- 
sprochenen Rede  der  heimischen  Anfangs  beton  ung  anzupassen  sich 
bemühte. 

Von  einer  zusammenhängenden  Behandlung  der  Lautlehre  der 
gelehrten  Entlehnungen  im  Altenglischen  hat  Funke  leider  abgesehen. 
„  Die  Lautlehre  muß  dabei  ganz  zurücktreten ",  sagt  er  S.  IX.  Nach 
der  gründlichen  Erörterung  der  Aussprache  des  Klosterlateins  im  1.  Ka- 
pitel versteht  man  nicht,  warum  er  gerade  diesen  wichtigen  Abschnitt 
übergangen  hat.  So  bleibt  es  dem  Leser  überlassen,  sich  aus  den  Fest- 
.stellungen  über  die  Aussprache  des  Klosterlateins  seine  Schlüsse  für  die 
Lautung  der  altenglischen  Lehnwörter  zu  ziehen. 

Hinsichtlich  der  Flexion  der  gelehrten  Entlehnungen  bei  ihrem 
übertritt  ins  Altenglische  kommt  Funke  (S.  13o)  zu  dem  Ergebnis,  „daß 
im  großen  und  ganzen  alle  lateinischen  Stäaime  mit  Ausnahme  derer 
auf  -a  der  ae .  a  -  Deklination  zufallen,  während  die  lat.  -a-Stämme  sich 
in  die  ae .  schwache  Flexion  einreihen".  Er  zieht  daraus  mit  Recht  den 
Schluß,  daß  in  der  zweiten  Hälfte  des  10.  Jahrhunderts  im  Altenglischen 
nur  mehr  zwei  Flexionstypen  wirklich  lebenskräftig  waren: 
die  germanische  «-Deklination  und  die  schwache  Flexion.  Es 
sind  dieselben  beiden  Typen,  die  sich  noch  bis  ins  Mittelenglische  lebendig 
erhalten  haben.  — 

Mit  dem  Einfluß  des  Lateins  hängt  der  des  Christentums  auf 
den  altenglischen  Wortschatz  eng  zusammen.  Einen  recht  willkommenen 
Beitrag  zur  Kenntnis  desselben  liefert  die  Abhandlung  von  Albert 
K  eiser,  The  Inßuence  of  Cliristianity  on  tJie  Vocahulary  of  Old  English 
Foetry  (Univ.  of  Illinois  Studies  in  Lang,  and  Lit.  5,  1.  2;  Urbana  1919). 
Der  Verfasser  will  darin  für  das  Altenglische  das  tun,  was  R.  von  Rau- 
mer (1845)  für  das  Althochdeutsche,  B.  Kahle  (1890  u.  1901)  für 
das  Altnordische   geleistet   haben.     Er  setzt   ein,    wo  Mac  Gillivray 

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in  seiner  weitschweifigen  Arbeit  Tlie  Influence  of  Christianity  on  tlie 
Vocahulary  of  Old  English  (Part  I,  1^*  Half;  1902)  stecken  geblieben 
war.  Aber  im  Unterschied  von  Mac  Gillivray  beschränkt  sich  Keiser 
auf  den  poetischen  Wortschatz  der  Angelsachsen,  den  er  mit  sorgsamer 
Gründlichkeit  möglichst  vollständig  behandelt.  In  der  Anordnung  des 
Stoffs  schließt  er  sich,  wie  Kahle  und  Mac  Gillivray,  an  die  Einteilung 
Raumers  an.  Eine  kurze  Einleitung  unterrichtet  über  den  kulturgeschicht- 
lichen Hintergrund.  Wortlisten  am  Schluß  der  Abhandlung  verzeichnen 
die  ausschließlich  poetischen  Wörter  (fast  durchgehends  Komposita),  die 
lateinischen  Lehnwörter  und  die  hybriden,  aus  klassischen  und  einhei- 
mischen Elementen  zusammengesetzten  Bildungen. 

5.    Norwegische  Siedlungen  in  Nordwest-England 

Die  nordischen  Seeräuber,  die  seit  der  Mitte  des  8.  Jahrhunderts 
die  Britischen  Inseln  heimsuchten,  w^aren  teils  Norweger,  teils  Dänen. 
Im  allgemeinen  haben  die  Dänen  vornehmlich  die  Ostküste  Englands 
verheert,  seit  850  in  immer  größeren  Scharen  sich  dauernd  dort  nieder- 
gelassen und  allmählich  auch  das  Hinterland  erobert,  während  die  Nor- 
weger hauptsächlich  Schottland  mit  den  vorgelagerten  Inseln,  Irland 
und  die  Westküste  von  England  heimsuchten.  839  gründete  der  Nor- 
weger Thorgisl  (air.  Turges)  auf  Irland  das  erste  Wikingerreich  im 
Westen.  Von  hier  wurden  Raubfahrten  einerseits  nach  der  Westküste 
Frankreichs,  anderseits  nach  den  gegenüberliegenden  Küstenstrichen 
Englands  unternommen.  Vorübergehend  sind  freilich  auch  Dänen  bis 
nach  Irland  vorgedrungen  und  haben  den  Norwegern  die  Herrschaft 
über  die  Insel  streitig  gemacht.  (Über  die  Wikinger  fahrten  vgl. 
Alex.  Bugges  Artikel  'Wikinger'  in  meinem  Reallexikon  §  12  0".) 

Die  Skandinavier,  die  sich  im  Nordwesten  Englands 
ansiedelten,  waren  der  allgemeinen  Annahme  zufolge  Norweger.  Eine 
Prüfung  der  Ortsnamen  bestätigt  diese  Vermutung  im  wesentlichen. 
Sichere  sprachliche  Ortsnaraenkriterien  für  westnordischen 
Ursprung  sind  die  Lehnwörter  me.  houth  'Bude'  aus  awnord.  hüä; 
gegenüber  aonord.  höp,  ferner  gill  'Schlucht,  enges  Tal'  aus  awnord. 
gil,  und  scide  'Hütte'  aus  awnord.  shäli^  die  beide  im  Ostnordischen 
fehlen,  Kriterien  für  ostnordischeu  Ursprung  sind  me.  höth 
'Bude'  und  in  gewissen  Grade  thorp  'Dorf.  Eine  Prüfung  der  skan- 
dinavischen Ortsnamen  in  Nordwest- England  auf  Grund  dieser  Kriterien 
ergibt,  daß  Cumberland  und  der  angrenzende  Teil  von  Nord-Lancashire 
ganz  oder  überwiegend  von  Norwegern,  Westmorland  und  Süd-Lanca- 
sbire  teils  von  Norwegern,  teils  von  Dänen  kolonisiert  wurden.  Die 
Norweger  scheinen  durchweg  von  Westen  her  zur  See  gekommen,  die 
Dänen  von  Osten  durchs  Land  vorgedrungen  zu  sein. 

Die  Norweger  Nordwest-Englands  sind  nach  der  gewöhn- 
lichen, sehr  wahrscheinlichen  Annahme  aus  den  Wikingerkolonien 
Irlands,  der  Insel  Man  und  der  Hebriden  eingewandert, 
wo  sie  längere  Zeit  in  engster  Berührung  mit  einer  in  mancher  Hinsicht 

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höher  zivilisierten  keltischen  Bevölkerung  gestanden  hatten.  Diese  Be- 
ziehungen der  Skandinavier  zu  den  irisch-schottischen  Kelten  haben 
deutliche  Spuren  in  der  altnordischen  Sprache,  Literatur  und  Kunst 
hinterlassen,  während  umgekehrt  auch  das  Irische  und  Manx  zahlreiche 
skandinavische  Lehnwörter  aufgenommen  haben.  Die  frühesten  nordi- 
schen Lehnwörter  im  L'ischen  düriten  nicht  vor  820 — 30  aufgenommen 
sein,  und  um  dieselbe  Zeit  etwa  ist  der  Beginn  des  irischen  Einflusses 
auf  die  Sprache  der  Skandinavier  anzusetzen;  aber  größere  Bedeutung 
gewinnt  diese  Einwirkung  erst  mit  der  dauernden  Niederlassung  der 
Skandinavier  in  L-land  um  840.  Wenn  nun  die  Einwanderung  in  Nord- 
westengland, wie  wir  aus  einem  irischen  Zeugnis  schließen  können,  um 
1)00  ihren  Anfang  nahm ,  so  waren  die  meisten  dieser  Einwanderer 
offenbar  schon  in  keltischen  Landen  geboren,  viele  werden  keltische 
Mütter  gehabt  haben,  und  alle  werden  in  Sprache  und  Kultur  stark 
vom  Keltentum  beeinflußt  gewesen  sein. 

Literarische  Denkmäler  der  ehemaligen  skandinavischen  Bewohner 
Nordwest-Englands  sind  uns  nicht  erhalten ;  lediglich  die  Namen  in  den 
Urkunden,  vor  allem  die  Ortsnamen,  geben  uns  ein  Mittel  an  die  Pland, 
uns  eine  ungefähre  Vorstellung  von  der  Eigenart  ihrer  Sprache  zu  machen. 
Eine  systematische  Untersuchung  des  keltischen  Einflusses  auf  die  Orts- 
und Personennamen  des  nordwestlichen  Englands  und  ihrer  Bedeutung 
für  die  Siedlungsgeschichte  hat  Eilert  Ekwall  in  einer  sehr  inter- 
essanten Studie:  Scandinavians  and  Celts  in  the  NortJmest  of  England 
(Lunds  Universitets  Ärsskrift  NF.  Avd.  1,  Bd.  14,  Nr.  27 ;  Lund,  Gleerup, 
1918)  unternommen. 

Ekwall  beschäftigt  sich  im  Hauptteil  seiner  Abhandlung  mit  eigen- 
tümlichen Kompositionsbildungeu  wie  KirJqmtrick,  Kirkundrews,  KirJc- 
michael,  Kirkosivald  'Patrickkirchen'  usw.,  JBriggethorfin  '  Thorfinsbrück', 
Gümorvill  'Morvills  Schlucht',  bei  denen  das  Bestimmungswort  hinter 
dem  Grundwort  steht,  während  sonst  in  allen  germanischen  Sprachen 
die  umgekehrte  Anordnung  Regel  ist;  engl.  Chrisfclmrch,  Peterhorough, 
d.  Faidinzelle,  Sehaldshnlcli  usw.  Derartige  I  n  v  e  r  s  i  o  n  s  k  o  m  p  o  s  i  t  a , 
wie  Ekwall  sie  kurz  nennt,  enthalten  in  ihrem  ersten  Element  ein  Appel- 
lativum  wie  Kirche,  Brücke,  Insel,  Tal,  Schlucht,  Hag  u.  dergl,  im 
zweiten  meist  einen  Personennamen:  den  Namen  des  Schutzheiligen  einer 
Kirche  oder  des  ehemahligen  Besitzers  eines  Guts,  seltner,  wie  in  Tern- 
merran  'der  Sumpf  am  Merran',  einen  Orts-  oder  Flußnamen. 

Zusammengesetzte  Ortsnamen  dieser  Art  sind  im  englischen  Nord- 
westen ungemein  häufig.  Das  erste  Element  ist  meist  ein  skan- 
dinavisches Wort,  wie  heck  'Bach'  (anord.  hckkr),  houth  'Bude' 
(awnord.  hüä),  fit  'niedrige  Wiese  am  Fluß'  (awnord. //7),  gill  'Schlucht, 
enges  Tai'  (awnord.  gil),  höhn  'Flußniederung,  Werder'  (awnord.  hohnr 
'Insel'),  tarn,  me.  tern  'Sumpf  (awnord.  tiorn).  Auch  Jcirk  und  hrig 
hält  Ekwall  für  skandinavische  Formen  (awnord.  kirkia,  hryggia),  da 
nach  seiner  Äleinung  k  und  g  vor  i,  j  in  allen  eughschen  Dialekten  zu 
tS  bezw.  d^  assibiliert  wurden  (S.  48,  A.  3.  4).  —  Zweifellos  englisch 
ist  nur  croff  'eingezäuntes  Grundstück,  Hag*  in  Crofthathoc  und  Croft- 

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morris.  —  Keltische  Wörter  als  erste  Elemente  sind  gleichfalls  selten; 
außer  air.  cros  'Kreuz'  (in  Cr oscr in  'Grins  Kreuz'),  das  als  hross  früh- 
zeitig ins  Altnordische  übernommen  wurde,  liegen  nur  ein  paar  zweifel- 
hafte Fälle  vor. 

Dieses  Vorherrschen  nordischer  Elemente  in  den  Grundwörtern  der 
nordwestenglischen  Ortsnamen- Komposita  zeigt,  daß  das  Volk,  das  diese 
Ortsnamen  schuf,  eine  skandinavische  Sprache  redete.  Und  Dialekt- 
kriterien wie  houth,  gill,  scäle  beweisen,  daß  es  eine  westnordische 
Sprache,  also  jedenfalls  Norwegisch  war. 

Aber  das  Nebeneinander  von  keltischen  (goideüschen)  und  nordi- 
schen Namen  in  den  Bestimmungswörtern,  den  zweiten  Bestandteilen 
der  Komposita,  lehrt  uns,  daß  die  Sprache  dieser  Skandinavier  einen 
starken  goidelischen  Einschlag  hatte.  Eine  derartige  Durch- 
dringung mit  goidelischen  Elementen  kann  aber  nicht  in  England  ent- 
standen sein,  wo  die  unmittelbare  Berührung  mit  einer  Bevölkerung 
goidelischen  Stammes  fehlte;  sie  ist  nur  erklärlich,  wenn  diese  Skan- 
dinavier aus  keltischen  Ländern  des  Westens  kamen,  wo 
sie  bereits  in  innige  Berührung  mit  solchen  Völkern  getreten  waren. 

Die  wenigen  englischen  Elemente  in  den  Inversionskompositis  gehen 
auf  die  alten  anglischen  Bewohner  zurück,  die  zur  Zeit  der  skandinavi- 
schen Einwanderung  in  Nordwestengland  saßen. 

Die  Inversionskomposita  der  nordwestenglischen  Ortsnamen  sind 
keine  Neuschöpfungen  der  skandinavischen  Besiedler  des  Landes.  Die 
Stellung  des  Bestimmungsworts  nach  dem  Grundwort  ist  in  germanischen 
Ortsnamen  etwas  durchaus  Ungewöhnliches,  und  noch  auffallender  ist, 
daß  das  zweite  Element  nicht,  wie  man  erwarten  sollte,  im  Genitiv 
steht,  sondern  unflektiert  ist.  Höchstwahrscheinlich  beruhen  diese 
Inversionskomposita  auf  keltischem  Einfluß,  und  zwar  auf 
goidelischem,  nicht  britischem,  da  eindeutig  britische  Elemente  in 
ihnen  nicht  nachweisbar  sind. 

Im  Urkeltischen  wurden  die  Komposita  nach  denselben  Grund- 
sätzen wie  im  Germanischen  und  in  andern  indogermanischen  Sprachen 
gebildet,  d.  h.  das  Bestimmungswort  wurde  vor  das  Grundwort  gestellt, 
so  in  gall.  Ortsnamen  wie  Lugdumim,  Rigomagus  u.  a.  Auch  in  histori- 
schen Zeiten  sind  diese  Bildungen  noch  übhch,  besonders  mit  adjek- 
tivischen Bestimmungswörtern,  wie  Noviodunum.  Aber  daneben  kamen 
frühzeitig  Bildungen  auf,  in  denen  das  Grundwort  voran  und  das  Be- 
stimmungswort nachgestellt  wurde,  letzteres,  sofern  es  ein  Substantiv 
war,  im  Genitiv.  Es  ist  derselbe  Typus,  der  in  lat.  Campus  Martis 
(oder,  mit  nachgestelltem  Adjektiv,  Campus  Martins)  vorliegt.  Dies  ist 
in  historischen  Zeiten  bei  weitem  die  häufigste  Kompositions- 
bildung in  den  keltischen  Sprachen;  sie  ist  durchaus  die  Regel, 
wenn  das  Bestimmungswort  ein  l^ersonen-  oder  Ortsname  ist.  In  den 
britischen  Sprachen  ist  der  Genitiv  frühzeitig  verloren  gegangen ,  und 
das  nachgestellte  Bestimmungswort  zeigt  infolgedessen  keine  Flexion. 
In  den  goidelischen  Sprachen  blieb  der  Genitiv  lebendig,  aber  im  Iri- 
schen unterscheidet  er  sich  vom  Nominativ  in  der  Regel  nur   dadurch, 

27 


daß  der  Endkonsonant  durch  die  später  abgefallene  Genitivendung 
palatalisiert  wurde.  Dieser  geringfügige  Unterschied  wurde  wohl  von 
den  Skandinaviern  unbeachtet  gelassen,  und  sie  bildeten  ihre  Inversions- 
komposita, wie  die  Briten,  mit  nachgestellten  flexionslosen  Bestimmungs- 
wörtern. 

Nordische  Inversionskomposita  sind  nicht  auf  das  nordwestliche 
England  beschränkt ;  sie  finden  sich  auch  in  den  andern  Ländern  des 
Westens,  wo  Skandinavier  sich  angesiedelt  hatten,  so  in  Irland,  auf  der 
Insel  Man,  auf  den  Hebriden,  im  südwestlichen  Schottland  und  auf  den 
Shetlands-Inseln. 

Den  Ursprung  der  skandinavischen  Inversionskomposita  denkt 
sich  Ekwall  mit  Recht  so,  daß  zunächst  das  erste  Element  goi- 
delischer  Namen  einfach  übersetzt  wurde,  während  das  zweite, 
das  meist  einen  Namen  enthielt,  unverändert  blieb.  So  ist  Holm-Tatricli 
in  Irland  und  auf  Man  eine  Übersetzung  von  Inish -Patrick  (ir.  Inis- 
Padraicc  'Insel  des  Patrick^),  und  auf  der  Ilebrideninsel  Skye  finden 
wir  gäl.  Kilcrist  'Kirche  Christi'  einerseits  durch  Kirhclirist,  anderseits 
durch  CJirisfAshirlc  wiedergegeben.  Gerade  die  Namen  mit  kirk  sind 
wohl  vielfach  Übersetzungen  älterer  goidelischer  Namen  mit  7«7 'Kirche'. 
Von  da  bis  zur  Bildung  selbständiger  nordischer  Inver- 
sionskomposita war  dann  nur  ein   Schritt. 

Die  keltischen  Inversionskomposita  haben  den  Hauptton  auf 
dem  zweiten  Element:  kymr.  Carmdrthen,  Carnärvon,  ir.  Kilddre, 
gäl.  Künidrnock,  Inverness,  AberdJen.  Das  Gleiche  gilt  in  der  Regel 
von  den  skandinavischen  Nachbildungen :  Kirkpdtrick,  Kirkosivald,  Gil- 
cdnibon. 

Die  Inversionskomposita  gehören  sicher  zu  den  ältesten  skandinavi- 
schen Ortsnamen  in  diesem  Gebiet.  Aber  auch  nach  der  normannischen 
Eroberung  waren  solche  Bildungen  noch  raöghch,  wie  der  Name  Croft- 
morris,  me.  Croftmores  zeigt,  der  in  seinem  zweiten  Teil  den  normanni- 
schen Namen  Maurice  'Moritz'  enthält.  Die  Zeit  von  9  00  —  1 1  0»0 
dürfte  also  die  Ursprungszeit  dieser  nordwestenglischen  Inversions- 
komposita gewesen  sein. 

So  bestätigt  Ekwall  auf  Grund  der  Ortsnamenforschung  die  schon 
von  Historikern  ausgesprochene,  aber  nicht  genügend  begründete  Ver- 
mutung, daß  die  nordwestenglischen  Grafschaften  Cumberland,  West- 
morland,  Lancashire  etwa  von  900  an  durch  Norweger  besiedelt  wurden, 
die  vorher  in  Irland  oder  auf  andern  Inseln  des  Westens  ansässig  ge- 
wesen waren  und  in  enger  Berührung  mit  keltischer  Kultur  gestanden 
hatten. 

6.  Der  alte  Londoner  Dialekt 

Von  keinem  mittelenglisehen  Dialekt  hatte  man  bisher  so  wenig 
sichere  Kenntnis  wie  von  der  Londoner  Mundart  in  der  Zeit  vor  Chaucer. 
Zwar  war  Morsbach  in  seinem  grundlegenden  Buch  Über  den  Ur- 
sprung  der   neuenglischen  Schriftsprache  (1888)   auf  Grund    des   Laut- 

28 


Stands  der  im  Tower  aufbewahrten  Proklamation  Heinrichs  III.  von 
1258  und  der  älteren  Londoner  Urkunden  zu  dem  Ergebnis  gekommen, 
daß  die  Londoner  Sprache  ursprünglich  ein  südlicher,  genauer  südöst- 
licher, und  zwar  sächsischer  Dialekt  gewesen  sei,  der  später  vom  Mittel- 
land beeinflußt  wurde,  bis  schließlich  der  mittelländische  Sprachcharakter 
völlig  überwog  (S.  161  ff.).  Aber  es  fehlte  bislang  an  einer  breiteren 
Basis,  auf  der  man  ein  zuverlässiges  Gebäude  des  Altlondoner  Dia- 
lekts hätte  errichten  können.  Diese  unentbehrhche  Unterlage  suchen 
zwei  neuere  Arbeiten  zu  liefern. 

Ernst  Dolle  in  seiner  Schrift  Zur  Sprache  Londons  vor  Chaucer 
(Studien  z.  engl.  Philol.  32;  Halle  1913)  wandelt  im  wesentUchen  in  den 
Bahnen  seines  Lehrers  Morsbach.  Er  stützt  seine  Untersuchungen  auf 
einige  spätaltenglische  Urkunden  aus  der  Zeit  von  1066 — 1150,  auf  die 
Proklamation  Heinrichs  III.  von  1258  und  auf  die  fünf  Träume  des 
Adam  Davy,  Wappenherolds  von  Stratford  atte  Bowe,  über  Eduard  II. 
(1307 — 1327).  Er  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  ältesten  Londoner 
Urkunden  „in  den  wesentKchsten  Punkten  die  Züge  der  westsächsischen 
Schriftsprache  der  Übergangszeit",  aber  „mit  mannigfachen  mundart- 
lichen, namentlich  südostsächsischen  Elementen  durchsetzt"  erkennen 
lassen  (S.  81).  Dieser  „südöstlich-sächsische  Charakter  der  älteren  Sprache 
Londons  ist  noch  in  der  Proklamation  vom  Jahre  1258  im  wesent- 
lichen erhalten,  v/enngleich  hier  schon  mittelländische  Laute  und  Formen 
einzudringen  anfangen.  Im  14.  Jahrhundert  gewinnt  der  anglische  Ein- 
fluß so  sehr  die  Oberhand,  daß  fortan  die  Londoner  Sprache  ein  vor- 
wiegend mittelländisches  Gewand  trägt,  das  sie  bis  auf  den  heutigen 
Tag  behalten  hat"  (S.  82).  Es  wird  aus  Dölies  Darstellung  nicht  klar, 
in  welcher  Grafschaft  oder  welchen  Grafschaften  er  sich  den  Hauptsitz 
dieses  „  südlich-sächsischen  "  bzw.  „  südostsächsischen  "  Dialektes  (S.  90) 
denkt,  der  den  Grundstock  für  die  Londoner  Sprache  abgegeben  haben 
soll.  Aber  da  er,  wie  Morsbach,  ausdrücklich  von  dem  „sächsischen 
Süden"  (S.  82)  spricht,  dürfte  er  Sussex,  Surrey  und  Middlesex  im 
Auge  haben. 

Neue  Pfade  schlägt  W.  Heuser  in  seiner  belangreichen  Programm- 
arbeit AlÜondon,  mit  'besonderer  Berüchsiclitigung  des  Dialekts  (Jahresber. 
d.  Realgymn.  Osnabrück  1914)  ein.  Er  bezweifelt  zunächst  (S.  20),  daß 
der  in  der  königlichen  Kanzlei  hergestellte,  zur  Versendung  an  alle 
Grafschaften  bestimmte  Erlaß  von  1258  tatsächlich  die  Londoner  Volks- 
sprache darstelle,  und  betont,  daß  die  handschriftliche  Überlieferung  der 
Verse  des  Londoners  Adam  Davy  wahrscheinlich  gar  nichts  mit  der 
Hauptstadt  zu  tun  habe,  so  daß  sich  nur  die  Reime  als  Dialektkriterium 
verwerten  lassen.     Zudem  seien  beide  Texte  sehr  wenig  umfangreich. 

Die  zahllosen  Londoner  Urkunden  sind  leider  in  dem  älteren  Ab- 
schnitt der  mittelenglischen  Periode  meist  lateinisch,  später  auch  fran- 
zösisch geschrieben;  die  ersten  englischen  Urkunden  setzen  erst  1375, 
also  in  Chaucers  Zeit,  ein.  Aber  in  dem  Ungeheuern  Namenmaterial 
jener  lateinischen  und  französischen  Urkunden  und  sonstiger  Quellen- 
werke, ihren  zahllosen  Personen-,  Orts-  und  Straßennamen,    haben  wir 

29 


ein  wichtiges  Hilfsmittel  zur  Feststellung  der  alten  Londoner  Mundar*- 
Es  ist  das  Verdienst  Heusers,  dasselbe  in  der  genannten  Arbeit  zuerst 
für  die  Dialektforschung  nutzbar  gemacht  zu  haben.  Leider  hat  er 
dabei  Dölles  Arbeit,  deren  Resultate  mit  den  seinigen  teils  in  Überein- 
stimmung, teils  in  Widerspruch  stehn,  unbeachtet  gelassen. 

Durch  eine  Vergleichung  der  Sprache  der  Urkundensammlungen 
von  London  und  Essex  kommt  Heuser  zu  dem  wichtigen  Ergebnis,  daß 
London  als  alte  Hauptstadt  von  Essex  zum  ostsächsischen 
Dialektgebiet  gehörte.  Als  Hauptmerkmale  dieses  Dialekts 
stellt  er  die  folgenden  auf: 

1)  Ae.  ce  jedes  Ursprungs  wird  ostsächs.  ä,  während  die 
andern  Mundarten  dafür  einen  offenen  oder  geschlossenen  e  -  Laut  haben ; 
z.  B.  s^rä^ 'street*,  tnäd  'mead';  häth'^hea.th\  c?äwe 'clean',  sä  'sea',  das 
besonders  in  zahlreichen  Personennamen  auftritt,  u.  a.  Bis  1300  herrscht 
ä  entschieden  vor;  doch  treten  daneben  frühzeitig  e- Formen  auf,  die 
von  1300  an  ä  allmähhch  zurückdrängen. 

2)  Der  i-Umlaut  von  a  vor  Nasalen  erscheint  als  a,  das 
auf  ae.  ce  zurückweist  gegenüber  gemeinae.  e.  Z.  B.  imny  'peny',  fan 
'  ien\  dane  (sie.  dene)  'Tal',  ivanden  'sich  wenden',  Thamis  'Thames' 
u.  a.  (Vgl.  auch  Morsbach  Me.  Gr.  §  108,  A.  1.)  Daneben  e- Formen, 
die  im  14.  Jahrhundert  herrschend  werden. 

3)  Die  Gruppe  germ.  -ald  erscheint  ostsächs.  als  -eld  (aus  ae. 
-eald):  eld  'old',  chcld  'cold',  iveld  'Weald'.  Mittelländ.  -öld  (aus  ae. 
ald)  gelangt  erst  nach  1375  in  London  zur  völligen  Herrschaft. 

4)  Die  normale  Entsprechung  von  ae.  y  (/-  Umlaut  von  rc) 
ist  in  Essex  und  London  in  der  älteren  mittelengl.  Zeit  e, 
das  schon  bei  Beginn  der  Periode  durchaus  herrscht:  crepel  (ae.  crypel 
'cripple'),  2^et  {2ie.pyt  'pit'),  melle  (ae.  myleti  'milF).  Der  Übergang 
von  y  zu  e,  der  in  Kent  um  900  einsetzt  (s.  oben  S.  10),  hat  sich  also 
offenbar  noch  in  spätae.  Zeit  über  die  benachbarten  Grafschaften  aus- 
gebreitet. Wortformen  wie  hesy,  Jcessen,  lest,  dent  bei  Chaucer,  die  man 
früher  für  Kentizismen  hielt,  werden  deshalb  von  Heuser  mit  Recht  als 
Nachklänge  der  älteren  Londoner  Volksaussprache  aufgefaßt.  Doch  be- 
gegnen neben  e  von  Anfang  an  u  und  i:  hregge-  hrugge-  hrigge,  in  London 
häufiger,  in  Essex  seltner;  schließlich  siegen  die  i- Formen.  Nur  in  hüll 
(ae.  hyll  '  hiir)  und  -bury  {sie.byrig,  dat.  v.  hurg)  überwiegt  in  London 
u  und  wird  bald  absolut  herrschend;  in  -hury  hat  es  sich  in  der  Schrei- 
bung bis  heute  erhalten,  hüll  ist  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  durch 
h.ill  ersetzt  worden.  Essex  hat  in  beiden  Wörtern  e,  aber  u  in  hruge 
'  Brücke*. 

5)Ae.  eoistostsächs.  le  neben  e:  lief-Uf  (ae.  Uof),  ried  (ae.  hreod 
'reed'),  fliet  (aq.  feot). 

Alle  diese  Merkmale  des  ostsächsischen  bzw.  Londoner  Dialekts 
findet  Heuser  in  den  sogen.  Mittelkentt sehen  Evangelien,  jener  im 
12.  Jahrhundert  entstandenen  modernisierten  Abschrift  der  westsächsi- 
schen Bibelübersetzung,  und  in  dem  um  1200  geschriebenen  religiösen 
Traktat   Vices  and   Viriues   wieder,  die  er   deshalb   für  die   ältesten 

30 


Londoner  Sprachdenkmäler  bält  (S.  34.  46f.  60).  Ferner  möchte 
er  die  Versromanzen  Arthoiir  and  Merlin  und  King  Alisaumler,  sowie 
die  Novellensamralung  TJie  Seven  Sages  nach  London  verlegen  (S.  60  f.). 
Dagegen  kommt  Wyld  (Essays  and  Studies  by  Members  of  the  Engl. 
Assoc.  6,  133;  1920)  zu  dem  Ergebnis,  daß  der  Text  von  Vices  and 
Vertues  nicht  in  London,  noch  in  Middlesex,  sondern  sehr  wahrschein- 
lich in  Nordost-Essex,  in  der  Gegend  von  SafFron  Waiden,  ge- 
schrieben wurde. 

Ein  Schüler  Luicks,  Otto  Strauß,  hat  seitdem  in  seiner  Disser- 
tation über  Die  Sprache  der  mittelenglischen  Predigtsammlung  in  der 
Handschrift  B.  IL  52  des  Trinity  College,  Cambridge  (Wiener  Beiträge 
45 ;  1916)  nachgewiesen,  daß  auch  der  um  1200  schreibende  letzte  Schreiber 
dieser  irühmittelenglischen  HomiHensammlung  dem  ostsächsischen 
Dialekt  angehörte.  Er  schreibt  ä  für  ae.  m,  e  neben  i  für  ae.  y,  le  für 
ae.  eo,  e  für  ae.  ea  vor  Id  (s.  Strauß  135  u.  39). 

Nach  Luick  (Hist.  Gr.  §  362,  A.  4)  hat  sich  der  ostsächsische 
Lautwandel  von^  zu  ä  vor  oderumllOOvollzogen;  an  der 
Verdumpfung  des  ae.  ä  zu  5  nahm  dies  neu  entstandene  ä  nicht  mehr  teil. 

Heuser  ist  noch  in  den  oben  (S.  7 ff.)  bekämpften  Anschauungen 
von  den  Stammesdialekten  befangen.  Indem  er  der  Ausdehnung 
des  eigentümlichen,  der  gemeiuenglischen  Entwicklung  widersprechenden 
tib-^rgangs  von  ae.  ^  zu  ä  nachgeht,  kommt  er  zu  dem  Ergebnis,  daß 
dieses  „südöstl.  ä  nur  in  bestimmten  Grafschaften  auftritt,  welche  mit 
Essex  und  Middlesex  ein  zusammenhängendes  Gebiet  nördlich  der 
Themse  bilden"  (S.  37).  Dies  ä- Gebiet  umfaßt  die  Grafschaften 
Essex,  Middlesex,  Hertford,  Bedford,  Huntingdon  und 
vielleicht  auch  Cambridgeshire  (S.  37).  Heuser  meint  nun  (S.  37): 
„Der  Umstand,  daß  die  Verbreitung  des  südöstl.  a  genau  an  den  Grenzen 
von  East-Anglia  Halt  macht,  legt  die  Vermutung  nahe,  daß  wir  es  hier 
mit  einem  spezifisch  ostsächsischen  Kriterium  zu  tun  haben,  im 
Gegensatz  zu  dem  AngHscheö  ebenso  wie  zum  Westsächsisch- Ken  tischen. 
Dann  aber  würde  die  landläufige  Ansicht  falsch  sein,  daß  Hertford, 
Bedford,  Huntingdon  anglischen  Sprachcharakter  haben,  den  man  be- 
kanntlich dem  ganzen  Ostmittellande  —  außer  Essex  —  zuschreibt." 
Daß  dieser  Lautübergang  im  alten  Essex  wurzelt,  ist  wohl  richtig.  Aber 
aus  dem  ostsächsischen  Grundcharakter  dieses  Lautwandels  läßt  sich 
keineswegs  schheßen,  daß  jenes  ganze  ä-  Gebiet  alter  sächsischer  Stammes- 
boden sein  müsse ;  er  kann  sich  sehr  wohl  von  sächsischem  auf  benach- 
bartes anglisches  Gebiet  ausgebreitet  haben.  Daß  der  Wandel  „genau 
an  den  Grenzen  von  East-Anglia  Halt  macht ",  ist  nicht  richtig :  er  greift, 
wie  Heuser  S.  41  und  43  selbst  zugibt,  auch  nach  Suffolk  über;  und 
von  Middlesex  aus  ist  er  südlich  der  Themse  außer  nach  Surrey  (4  Fälle) 
vereinzelt  (in  2  Fällen)  auch  nach  Kent  vorgedrungen  (S.  42). 

Aber  Heuser  möchte  nicht   nur   die   oben   genannten  Grafschaften, 
sondern  den  größten  Teil  des  Ostmittellands  überhaupt  dem  sächsischen 
^prachgebiet  zuweisen.    Er  stützt  sich  dabei  auf  eine  interessante  Beob- 

31 


s 


achtung  über  die  Verbreitung  zweier  Flurnamen:  der  ae.  femi- 
ninen ?('-!Stänime  oyi'^d  'Wiese'  und  hJ's  'Weide'  (Gen.  mädtve,  Icfstve). 
Nach  Heusers  Feststellung  (S.  37.  42 — 45)  sind  diese  beiden  Ausdrücke 
in  me.  Zeit  im  ganzen  Süden  und  im  südlichen  Mittelland  (von  Glouc. 
bis  Essex)  in  der  Form  onede,  östl.  mädc,  und  lese,  östl.  läse,  dagegen 
im  ganzen  West-  und  Nordmittelland  (von  Heref.  und  Worc.  über  Lanc. 
nach  Line),  sowie  in  Cambr.  und  Ostanglia  in  der  Form  medwe  und 
Icsive  verbreitet,  während  die  zentralen  Grafschaften  schwanken:  Northp. 
und  besonders  Hunts,  bevorzugen  medc  (neben  mäde),  lese,  Warw.  medive, 
leswe  ^).  Heuser  meint  nun,  daß  das  ganze  mittelländische  mede-,  lese- 
Gebiet  „sächsischen  Sprachcliarakter  hatte  und  nicht  anglischen,  daß 
also  eine  Grundanschauung  der  me.  Grammatik  irrig"  sei  (S.  38).  Aber 
er  fügt  selbst  zögernd  hinzu :  „  Ob  auch  die  alte  historische  Überlieferung, 
daß  die  Angeln  das  mittlere  England  besiedelt  haben?  Das  ist  eine 
ganz  andere  Sache,  denn  es  ist  ja  durchaus  möglich,  daß  die  spät  und 
dünn  besiedelten  mittleren  Graliächaften  des  alten  Merciens  die  über- 
legene Sprache  und  Kultur  der  Ost-  und  Westsachsen  angenommen  haben/' 
Nein,  aus  der  Verbreitung  dieser  beiden  Flurnamenformen  ergibt  sich 
keineswegs,  daß  die  Mittelangeln  die  sächsische  Sprache  als  Ganzes  an- 
genommen, sondern  nur,  daß  die  in  Südengland  gebräuchlichen  Formen 
jener  Wörter  sich  bis  weit  ins  Mittelland,  verbreitet  hatten.  Erstrecken 
sie  sich  doch  auch  bis  nach  Suffolk  hinein  (Heuser  41).  —  Auch  te  für 
ae.  eo  (in  ried,  ae.  hreod)  greift  übrigens  nach  Suffolk  über  (S.  41). 

Mit  Unrecht  versucht  man  immer  wieder,  auf  Grund  der  Verbrei- 
tung solcher  sprachlicher  Einzelerscheinungen  nicht  bloß  Dialektgebiete, 
sondern  sogar  alte  Stammesgrenzen  festzulegen.  In  Wahrheit  handelt 
es  sich  hier  überall  nur  um  geographische  Verbreitungskurven 
einzelner  Laut-  und  Wort  formen,  die  sich  in  den  seltensten 
Fällen  genau  miteinander  decken.  So  deckt  sich  z.  B.  das  südöstl.  Gebiet 
von  ä  für  '7'  durchaus  nicht  mit  dem  gleichfalls  südöstl.  Gebiet  von  e 
für  y :  Kent  hat  e,  aber  nicht  ä,  Hunts,  umgekehrt  «,  aber  nicht  e.  Auch 
das  Gebiet  des  ä  und  des  a  vor  Nasal  decken  sich  nicht:  Hunts,  kennt 
das  a  vor  Nasal  nicht. 

7.  Der  Übergang  zur  Gemeinsprache 

Morsbach  hat  in  seinem  schon  erwähnten  Buch  Uher  den  Ur- 
sprung  der  neuengli selten  Schriftsprache  (1888)    überzeugend   dargetan, 

1)  Die  Doubl etten  me.  viede - medive  {ne.mead-meadou-)  und  me.  lese-lesnc 
galten  bisher  allgemein  für  flexivische  Doppelformen :  me.  werfe  (ne.  mead)  uud  me. 
lese  wurden  al.s  Fortsetzungen  der  altengl.  Nominative ,  me.  med/ce  (ue.  meadoic)  und 
me.  kswe  als  Fortsetzungen  der  altengl.  Akkusativo  angesehen.  Emerson  hat  kürz- 
lich (MLNotes  35,  147;  Murch  1920)  nachgewiesen,  daß  auch  mede  (mcad)  und  lese 
auf  alte  Akkusative  zurückgehn,  und  zwar  auf  analogische  Neubil- 
dungen nach  der  ö-Deklination,  die  schon  in  altengl.  Zeit  eingetreten  waren : 
ae.  7nml  -  mfrde,  Itps-läse  nach  är-äre,  nirdl  -  ncrdle.  Emersous  Beobachtung,  daß  die 
me.  Formen  durchweg  mede,  lese,  nicht  med,  les  lauten,  wird  durch  Heusers  Beleg- 
material bestätigt. 

32 


daß  die  Wiege  der  heutigen  englischen  Schriftsprache  in  der  Hauptstadt 
stand.  Aber  diese  Londoner  Gemeinsprache  kennt  nichts 
mehr  von  den  erwähnten  auffallenden  ostsächsischen  Eigen- 
tümlichkeiten der  alten  Londoner  Volksmundart.  Chaucer  im  letzten 
Drittel  des  14.  Jahrhunderts  hat  nur  noch  e  für  y  in  größerem  Umfang 
bewahrt.  Die  andern  ostsächsischen  Eigentümlichkeiten  sind  im  Lauf 
des  14.  Jahrhunderts  sämtlich  geschwunden,  und  auch  e  für  tj  ist  um 
1400  fast  ganz  durch  i  verdrängt. 

Heuser  erklärt  dieses  Schwinden  der  ostsächsischen  Formen  in  der 
Hauptsache  durch  Vordringen  des  „Westsächsischen"  (S.  49 ff.);  aber 
dieser  beliebte  alte  Stammesausdruck  ist  zu  unbestimmt,  da  er  sowohl 
südliche  wie  südmittelländische  Bezirke  umiaßt.  Es  handelt  sich  hier  im 
allgemeinen  wohl  um  einen  Einfluß  der  westlich  an  Middlesex  angren- 
zenden Gebiete  des  süd hohen  Mittellands.  Die  Verdrängung  von  ostsächs. 
-eld  durch  -pld  aber  wie  auch  die  von  ostsächs.  müde  durch  medowe', 
ne.  meadow  kann  nur  vom  angiischen  Mittelland  ihren  Ausgang  genommen 
haben  (s.  oben  S.  32);  auf  welchem  Wege  dies  geschah,  müßte  wohl 
noch  näher  untersucht  werden. 

Zur  Erklärung  des  Schwankens  zwischen  e,  u,  i  für  ae.  y 
im  Londoner  Dialekt  und  der  schließUchen  Verdrängung  des  an- 
gestammten südöstl.  e  durch  i  sieht  Heuser  von  der  Annahme  eines  Ein- 
dringens des  i  aus  dem  halbdänischen  Norden  oder  Nordostmittelland, 
wo  reines  i  frühzeitig  zur  völligen  Herrschaft  gelangt  war,  ab,  weil  dafür 
jede  verbindende  Brücke  fehlt.  Er  erklärt  sich  den  Kampf  zwischen  u 
und  i,  der  nach  den  Untersuchungen  von  Wyld  und  Brandl  in  den 
ganzen  mittleren  und  südheheu  Grafschaften  beobachtet  werden  kann, 
vielmehr  aus  einer  allgemein  vorhandenen  spontanen  Neigung 
zur  Entrundung,  die  auch  in  dem  südöstl.  Übergang  von  y  zu.  e 
zum  Ausdruck  gelangt,  und  die  auf  dem  größten  Teil  des  übrigen  Sprach- 
gebiets schließlich  zum  Sieg  des  i  führte.  Diese  spontane  Neigung  zur 
Entrundung  des  y  zu  i,  die  nach  Luick  (Hist.  Gr.  §  287)  auf  einem 
großen  Teil  des  Sprachgebiets  schon  im  10.  und  11.  Jahrhunderts  er- 
folgte, hat  im  Lauf  der  mittelengl.  Zeit  jedenfalls  immer  weitere  Kreise 
gezogen.  Heuser  meint  nun  (S.  52),  das  dialektische  östliche  e  in  London, 
sei  durch  das  von  Westen  eindringende  gemeinengl.  y  allmählich  zurück- 
gedrängt, und  dieses  sei  dann  zu  i  entrundet  worden.  So  werde  die 
relative  Schwäche  von  u  in  London  und  sein  rasches  Verschwinden  ver- 
ständlich ;  auch  die  Herrschaft  von  u  in  Imll  und  hury,  wo  der  gerundete 
Laut  durch  die  konsonantische  Umgebung  erhalten  wurde,  stehe  dann 
nicht  mehr  als  Anomalie  da,  sondern  als  der  erste  Sieg  des  westlichen 
Lauts. 

Den  ausgesprochen  mittelländischen  Charakter  der  Schriftsprache, 
der  allmählich  immer  stärker  wurde,  erklärt  Heuser  zum  Teil  aus  der 
Lage  der  Hauptstadt  auf  dem  Nordufer  der  Themse:  der  Londoner 
Dialekt  und  wohl  der  ostsächsische  überhaupt  habe  von 
Anfang  der  me.  Periode  an  einen  mittelländischen  Grundzug 
gezeigt,  so  z.  B.  in  der  strengen  „  Erhaltung  des  -n  der  Endungen,  welche 

"Wissenschaftliche  Forschiinjiis'berichte  IX.  3 

33 


die  Vices  und  Virtues  mit  Orm  wie  mit  Genesis  und  Exodus  gemein 
haben"  (S.  54).  Für  die  Beseitigung  der  speziell  ostsächsi- 
schen Dialektmerk  male  sei  der  Umstand  bedeutsam  gewesen,  daß 
London  an  der  Berührungsstelle  des  Ostsächsischen  und 
Westsächsischen  lag,  der  beiden  wichtigsten  Dialektformen,  welche 
die  ae.  Schriftsprache  fortsetzten ,  während  die  eigenartige ,  allväterliche 
Mundart  des  ebenfalls  benachbarten  Kent,  südlich  der  Themse,  dem 
hauptstädtischen  Dialekt  gegenüber  in  merkwürdiger  Abgeschlossenheit 
verharrte.  Nur  die  Form  isen  (in  iscnmongere)  hat  London  mit  Kent 
gemein.  Der  besondere  Charakter  Londons  als  Residenzstadt  und  Han- 
delszentrale, als  Sammelpunkt  des  Adels  und  der  Geistlichkeit,  der  bür- 
gerlichen und  abenteuerlichen  Elemente  aus  ganz  England  aber  hat  nach 
Heuser  die  sprachliche  Entwicklung  in  rascher  Bewegung  gehalten.  So 
habe  sich  durch  einen  natürlichen  Auslese-  und  Entwick- 
lungsprozeß in  der  Hauptstadt  von  selber  allmählich  eine  fei- 
nere städtische  Aussprache  herausgebildet,  indem  unter  der 
Führung  der  höheren  Schichten  die  alten  dialektischen  Eigenheiten  ab- 
gestoßen und  das  Lebenskräftigste  von  allen  Seiten  aufgenommen  wurde 
(S.  49.  55).  Hierdurch,  nicht  durch  eine  allmählich  südwärts  dringende 
„Anglisierung",  erklären  sich  gewisse  nördliche  Züge  der  Schriftsprache, 
die  sich  um  1400  bereits  zu  einem  ausgeglichenen  Verkehrsmittel  ersten 
Ranges  entwickelt  hatte.  Mitten  in  die  Zeit  dieses  Läuterungsprozesses 
sei  dann  durch  Schicksalsfügung  der  große  Londoner  Chaucer  getreten, 
der  dieser  aus  praktischen  Bedürfnissen  erwachsenen  Gemeinsprache  von 
vornhereio  den  Charakter  einer  allbeherrschenden  Literatursprache  ge- 
sichert habe  (S.   56). 

Die  letztere,  auch  sonst  weitverbreitete  Auffassung,  daß  Chaucer  die 
Londoner  Gemeinsprache  zur  Literatursprache  erhoben  und  ihr  dadurch 
zum  Siege  verholfen  habe,  wird  durch  eine  gründliche  und  tüchtige  Unter- 
suchung eines  Schülers  von  Luick,  Friedrich  Wild,  über  Die  spnicli- 
lichen  Eigentümlic-liheiten  der  wichtigeren  Chaucer-Handschriften  und  die 
Sprache  Chaucers  (Wiener  Beiträge  44 ;  1915)  widerlegt.  Wild  konnte 
Pleusers  Feststellung  des  ostsächsischen  Charakters  der  alten  Londoner 
Sprache  nicht  mehr  verwerten.  Er  knüpft  an  Morsbachs  und  DöUes 
Ergebnisse  an,  daß  die  Einwohner  Londons  ursprünglich  ein  sächsisches 
Patois  sprachen,  daß  aber  im  Lauf  des  14.  Jahrhunderts  mehr  und  mehr 
mittelländische  Bevölkerungselemente  in  London  eindrangen  und  die 
]\Iundart  der  Hauptstadt  umgestalteten.  Er  vergleicht  nun  die  Sprachen 
der  wichtigeren  Chaucer-Handschriften  mit  dem  Lautstand  der  Reime, 
worin  des  Dichters  eigne  Aussprache  zutage  tritt,  und  er  erkennt,  daß 
die  Sprache  der  Handschriften  außerhalb  der  Reime  ebenso 
wie  die  der  Londoner  Urkunden  einen  jüngeren  Typ  darstellt 
als  die  Sprache  der  Reime.  Wild  zieht  daraus  den  Schluß,  daß 
Chaucer  ebenso  wie  die  Hof  kreise  noch  das  altmodische  sächsische 
Patois  sprach,  das  nur  geringe  mittelländische  Elemente  enthielt,  wo- 
gegen die  jüngere  Generation  eine  stärker  mittelländisch  getarbte  Sprache 
redete. 

31 


Zur  Erklärung  dieser  Veränderung  des  hauptstädtischen  Idioms  weist 
Wild  darauf  hin,  daß  die  Pest  der  Jahre  1361,  1369,  1375  und  der 
Aufstand  Wat  Tylers  1381  wahrscheinlich  einen  großen  Teil  der  Be- 
völkerung Londons  hinwegrafften,  während  anderseits  der  darauffolgende 
wirtschaftliche  Aufschwung  zahlreiche  Personen  aus  dem  benachbarten 
Mittellaud  in  die  Hauptstadt  lockte.  Dadurch  vollzog  sich  im  Londoner 
Dialekt  ein  großer  Umschwung,  der  in  den  seit  etwa  1384  einsetzenden 
Londoner  Urkunden  schon  klar  hervortritt,  während  die  Sprache  Chaucers, 
die  wohl  in  den  sechziger  und  siebziger  Jahren  bereits  vollständig  aus- 
gebildet war  und  sich  von  späteren  Einflüssen  freihielt,  noch  die  älteren 
Formen  hat. 

In  den  uns  erhaltenen  Chaucer-Handschriften,  deren  älteste  erst  nach 
1420,  also  mehrere  Jahrzehnte  nach  des  Dichters  Tod,  entstanden  sind, 
haben  die  Schreiber  die  altmodischen  Formen  in  großem  Umi'ang  durch 
die  jüngeren,  zu  ihrer  Zeit  geltenden  ersetzt;  aber  die  Reime  konnten 
sie  nicht  ändern,  und  diese  bezeugen  die  konservative  Sprechweise  des 
Dichters. 

Der  Londoner  Sprache  wurde  also  nicht  durch  die  Sprache  der 
Chaucer-Handschriften  ihr  Weg  vorgezeichnet,  nicht  durch  einen 
einzelnen  wurde  der  englischen  Schriftsprache  ihr  Gepräge 
verliehen,  sondern  die  jüngere  Londoner  Gemeinsprache 
ist  erst  sekundär  in  die  Manuskripte  der  Chaucerschen 
Dichtungen  eingedrungen. 

8.   Die  heutige  Umgangssprache 

Als  Henry  Sweet  1885  sein  Elementarbucli  des  gcsproclienen 
Englisch  herausgab,  bediente  er  sich  für  seine  phonetischen  Transskrip- 
tionen der  ihm  geläufigen  gebildeten  Londoner  Aassprache,  aber  es  lag 
ihm  fern,  damit  eine  mustergültige  Norm  für  das  beste  Englisch  aufzu- 
stellen; er  wollte  nur  ein  getreues  Abbild  des  von  Gebildeten,  und  in  erster 
Linie  von  ihm  selbst,  gesprochenen  Englisch  geben.  Trotzdem  wurde 
sein  Buch  als  vermeintlicher  Versuch,  das  Londoner  Englisch  als  Muster 
der  Gebildetensprache  hinzustellen,  bald  heftig  angegriffen.  1899  ver- 
öffentlichte Lloyd  sein  Northern  English,  worin  er  sich  zu  Sweet  in 
bewußten  Gegensatz  stellte.  Auch  er  wollte  zunächst  seine  eigne  Aus- 
sprache wiedergeben;  aber  das  Englisch,  das  er  schrieb,  war  nicht  das 
Sweetsche  Südenglisch,  sondern  die  Sprache  der  Gebildeten  Nordeng- 
lands zwischen  Birmingham  und  Durham.  In  verschiedenen  Aufsätzen 
betonte  er  nachdrücklich  die  Überlegenheit  der  nördlichen  Aussprache. 
Seitdem  ist  die  Idee  von  der  Überlegenheit  des  Nordenglischen  immer 
allgemeiner  durchgedrungen  und  wiederholt  von  bekannten  englischen 
Phonetikern,  Dichtern  und  Schriftstellern  öffentlich  ausgesprochen  worden. 

In  einem  Aufsatz  über  Northern  English  or  London  English  as 
the  Standard  Prommciation  (Anglia  38,  405;  1914)  hat  Zachrisson 
diese  Ansprüche  des  Nordenglischen  vom  sprachgeschichtlichen  und  pho- 
netischen Standpunkt  aus  einer  eindringenden  Kritik  unterworfen.     Er 

3* 

85 


weist  an  der  Hand  einer  Reihe  von  Zeugnissen  nach,  daß  das  Londoner 
Englisch  im  Lauf  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  die  Literatursprache 
wurde  und  diese  Stellung  seitdem  behauptet  hat.  Schon  damals  scheint 
man  in  den  Provinzen  begonnen  zu  haben,  das  Londoner  Englisch  nicht 
nur  in  der  Schrift,  sondern  auch  beim  Sprechen  nachzuahmen.  Im  16. 
und  17.  Jahrhundert  setzte  sich  das  Londoner  Enghsch  auch  in  der 
Umgangssprache  immer  mehr  durch.  Wahrscheinlich  wurde  es  mehr  in 
großen  Städten  als  in  kleinen  Provinzialorten.^gesprochen.  Im  18.  Jahr- 
hundert muß  es  als  mustergültige  Umgangssprache  aligemein  anerkannt 
gewesen  sein,  da  es  von  Orthoepisten  aus  allen  Gegenden  Englands  ge- 
lehrt wird  Provinzielle  Aussprachen,  die  sich  von  der  Mustersprache 
unterschieden,  wurden  als  minderwertig  angesehen.  Das  Nordenglische 
ist  somit  nur  ein  Ableger  des  Englisch  der  Hauptstadt.  Die  These  von 
seiner  Überlegenheit  hat  nach  Z.  keine  historische  Berechtigung. 

Aber  selbst  wenn  man  zugibt,  daß  das  Londoner  Englisch  einstmals 
das  beste  und  reinste  Englisch  war,  und  daß  das  Nordenglisch  nur  eine 
Abart  der  hauptstädtischen  Gemeinsprache  ist,  so  könnte  doch  vielleicht 
jemand  behaupten,  daß  diese  reine  Form  des  Englischen  sich  eben  im 
Nordenglischen  unverfälscht  erhalten  habe,  während  sie  in  dem  modernen 
Londoner  Englisch  durch  die  Cockney- Vulgarismen  der  niederen  Klassen 
entstellt  wurde.  Das  Nordenglische  stelle  einen  einheitlichen  Typus  dar 
und  sei  dem  Londoner  Englisch  phonetisch  überlegen.  Zachrisson  sucht 
auch  diesen  Einwand  zu  entkräften,  wobei  er  sich  auf  Untersuchungen 
von  Lloyd  und  Wyld  und  besonders  auf  einen  „extremely  interesting 
and  valuable  article'^  von  Schröer  über  Das  Problem  und  die  Dar- 
stellung des  Standard  of  „SpoJcen  English"  (GRM.  4;  1912)  stützt.  Er 
kommt  zu  (ioni  Ergebnis  (S.  430),  daß  die  Vorstellung  von  der  Über- 
legenheit des  Nordenglischen  auch  phonetisch  unberechtigt  sei;  denn  seine 
phonetische  Eigenart  gehe  nicht  bloß  auf  das  alte  Londoner  Englisch 
zurück,  sondern  entstamme  noch  einer  Menge  andrer  Ursachen:  dia- 
lektischen, orthographischen  Einflüssen  usw. 

Das  Londoner  Englisch  brauche  deshalb  seinen  gerechten,  ange- 
stammten Anspruch,  als  das  mustergültige  Englisch  angesehen  zu  werden, 
nicht  aufgeben.  Es  sei  der  Urquell  aller  Formen  der  Gebildetensprache 
in  den  Provinzen;  es  übe  immer  noch  einen  bedeutenden  Einfluß  auf 
das  Provinzialenglisch  aus.  und  es  scheine  auch  einheitlicher  im  Typus 
zu  sein  als  das  Nordenglische. 

9.  Weltsprach-Dialekte  und  Welt -Gemeinsprache 

Aber  die  Frage  nach  einer  mustergültigen  Norm  für  das  beste 
Englisch  muß  jetzt,  wo  England  ein  ^^'eltreich,  die  englische  Sprache 
eine  Weltsprache  geworden  ist,  von  einem  höheren  Gesichtspunkt  als 
dem  intern  englischen  betrachtet  werden.  1  )urch  den  Weltkrieg  haben 
sich  die  englischen  Kolonien  zu  selbständigen  Nationen  erhoben,  die  sich 
mit  dem  Mutterland  zu  einer  'Commonwealth  of  Nations  called  the 
British  Empire'  vereinigt  haben.    Sie  werden  bald  auch  hinsichtlich  der 

36 


Sprache  ihre  Gleichbereclitigung  geltend  machen.  Die  älteste  Tochter, 
die  sich  politisch  bereits  vor  140  Jahren  von  der  Mutter  loslöste,  be- 
ginnt in  neuster  Zeit  auf  literarischem  und  sprachlichem  Gebiet  schon 
trutzig  ihr  Haupt  zu  erheben  und  eigne  Wege  zu  wandeln. 

In  einem  groß  angelegten,  kühnen  Entwurf  hat  H.  L.  Mencken, 
vielleicht  der  begabteste  und  zukunfti'eichste  unter  den  jüngeren  ameri- 
kanischen Kritikern,  TJie  American  Language  darzustellen  versucht 
(l.  Aufl.  1919,  2.  erweiterte  Aufl.  1921;  New  York,  Alfred  A.  Knopf). 
Wie  der  Titel  sagt,  nimmt  er  für  das  Englisch,  das  in  Nordamerika 
gesprochen  wird,  den  Rang  einer  selbständigen  Sprache  in  Anspruch. 
Das  ist  sicher  sensationell  übertrieben:  so  weit  ist  die  Differenzierung 
des  amerikanischen  Englisch  von  der  Muttersprache  noch  nicht  vor- 
geschritten. Aber  daß  das  Englische  auf  amerikanischem  Boden  im 
Lauf  der  Jahrhunderte  und  namentlich  in  neuster  Zeit  ein  kräftige 
dialektische  Eigenart  entwickelt  hat,  die  sich  sowohl  im  Wortsciiatz  wie 
in  der  Aussprache  und  Grammatik  kundgibt  und  auch  dem  Laien  viel- 
fach in  die  Augen  springt,  kann  nicht  bezweifelt  werden.  Und  wer 
dennoch  daran  zweifeln  sollte,  daß  das  amerikanische  Englisch  eine  durch- 
aus eigenkräftige  Abart  der  englischen  Spraahe  darstellt,  dem  wird  das 
ungeheuer  reiche,  von  Mencken  gesammelte  Material  die  Augen  öffnen. 
Gewiß  ist  es  nicht  schwer,  vom  sprachwissenschaftlichen  Standpunkt  an 
dem  Buch  Kritik  zu  üben  und  Ausstellungen  zu  machen;  aber  dem 
eigentlichen  Wert  des  Werkes  wird  dadurch  kein  Abbruch  getan.  Es 
ist  Menckens  Verdienst,  auf  Grund  jahrelanger  Sammlungen  und  For- 
schune;en  zum  erstenmal  eine  umfassende  Darstellung  der  Entwicklung 
und  Eigenart  des  Englisch  in  den  Vereinigten  Staaten  gegeben  zu  haben. 
Die  Ursprünge  und  das  Wachstum  des  amerikanischen  Dialekts,  seine 
Unterschiede  von  der  Muttersprache  im  Wortschatz,  in  der  Aussprache, 
Schreibung,  Formenlehre,  Syntax  und  Namengebung,  die  in  ihm  wirken- 
den Tendenzen,  die  wechselseitigen  Beziehungen  und  Beeinflussungen 
des  britischen  und  amerikanischen  Englisch  und  die  Zukunftsaussichten 
beider  werden  in  anziehender  Weise  besprochen  und  kritisiert.  Die  Dar- 
stellung ist  immer  frisch  und  lebendig.  Es  ist  ein  Buch,  das  nicht  nur 
dem  Schriftsteller  und  Gebildeten  im  allgemeinen,  sondern  auch  dem 
Sprachforscher  eine  Fülle  von  interessantem  Stoff  und  von  anregenden 
Bemerkungen  bietet. 

Von  den  übrigen  Teilen  des  englischen  Sprachgebiets  außerhalb 
Großbritanniens  hat  besonders  das  irische  Englisch  eine  Reihe  merk- 
würdiger Besonderheiten  aufzuweisen.  Sie  sind  von  James  M.  Clark 
in  einer  interessanten,  populär  geschriebenen  Studie  ül)er  The  Vocabulary 
of  Anglo-lrish  (Wiss.  Beilage  d.  17.  u.  18.  Jahresber.  d.  Handelshoch- 
schule St.  Gallen;  1915/16  u.  1916/17)  zusammengestellt.  Die  Schrift 
bietet  mehr,  als  der  Titel  erwarten  läßt.  Der  Verfasser  entwirft  zu- 
nächst eine  allgemeine  Charakteristik  des  Anglo-Irischen  und  schildert 
die  Eigenarten  der  Aussprache,  des  Akzents  und  der  Grammatik.  Dann 
geht  er  zum  Y/ortschatz  über  und  handelt  nacheinander  iiber  keltische 
Lehnwörter;  über  Relikte  aus  älterer  Zeit,  die  in  der  heutigen  englischen 

37 


Gebildetensprache  untergegangen  sind  und  höchstens  noch  in  englischen 
oder  schottischen  Dialekten  leben;  über  nordenglische  oder  schottische 
Dialektwörter,  die  niemals  schriftsprachlich  waren;  endlich  über  Slang 
und  Neubildungen. 

Der  fortschreitenden  Differenzierung  der  Dialekte  der  englischen 
Weltsprache  arbeitet  der  zunehmende  Weltverkehr  mit  seiner  völker- 
mischenden und  ausgleichenden  Tendenz  entgegen.  Die  Ausbildung  der 
Dialekte  wird  in  den  verschiedenen  Gebieten  der  angelsächsischen  Welt 
vornehmlich  in  den  bodenständigen  untern  Schichten  der  Bevölkerung 
vor  sich  gehn,  während  unter  den  beweglicheren  obern  Schichten  sich 
eine  übernationale  angelsächsische  Gemeinsprache  ausbilden  wird.  Bei 
der  Prägung  dieser  englischen  Weltgemeinsprache  werden  auch  die  Do- 
minions und  vor  allem  die  Vereinigten  Staaten  ein  gewichtiges  Wort 
mitzureden  haben.  Ob  dabei  das  Londoner  Englisch  den  Grundton  ab- 
geben wird,  ist  immerhin  fraglich.  Die  jetzigen  Gemeinsprachen  der 
Gebildeten  in  den  Vereinigten  Staaten  und  den  britischen  Dominions  haben 
jedenfalls  nicht  das  Londoner  Idiom  als  hauptsächliche  Grundlage.  Unter 
diesen  Umständen  ist  es  auch  fraglich,  ob  in  dem  Kampf  zwischen  Nord- 
und  Südenglisch  innerhalb  Großbritanniens  dem  letztern  uneingeschränkt 
die  Zukunft  gehört.  Die  Verhältnisse  haben  sich  in  dem  Zeitalter  des 
Weltkriegs  und  Weltverkehrs  gegen  früher  doch  etwas  verschoben. 


II.   Wo  r  t  k  u  n  d  e 

1.  Lexikographie 

Das  große  Oxforder  historische  Wörterbuch  der  englischen  Sprache, 
A  New  Englisli  Dictionary  on  HistoHcal  Principles,  hat  durch  den 
Tod  seines  Begründers  und  Hauptleiters  Sir  Jafnes  Murray  am 
26.  Juli  1915  einen  schweren  Verlust  erlitten.  Mit  einem  großartigen 
Organisationstalent,  einer  streng  philologischen  Gelehrsamkeit  und  einem 
gesunden  Urteil  für  seine  Autgabe  ausgerüstet  wie  kein  zweiter,  hat 
er  das  große  Werk  durch  drei  Jahrzehnte  mit  eisernem  Fleiß  und  be- 
wundernswerter Aufopferung  geleitet.  Mit  erstaunlicher  Pünktlichkeit 
erschien  jedes  Vierteljahr  eine  Lieferung,  die  in  engem  Druck  auf 
großem  Format  eine  Fülle  von  Stoff  vereinigte.  Und  wenn  es  dem 
ehrwürdigen  Mann  mit  dem  langen  weißen  Bart  nicht  mehr  vergönnt 
gewesen  ist,  sein  Lebenswerk  vollendet  zu  sehen,  so  war  doch  die  Fort- 
führung so  gut  vorbereitet,  und  die  weitere  Leitung  befand  sich  in  so 
bewährten  Händen,  daß  er  die  Feder  mit  der  sichern  Zuversicht  auf 
baldige  Fertigstellung  des  Ganzen  aus  der  Hand  legen  konnte.  W^enn 
auch  nicht  mehr  ganz  mit  der  gleichen  Regelmäßigkeit  wie  früher,  ist 
das  große  Werk  doch  auch  nach  Murrays  Tode  trotz  Krieg  und  allem 
mit  festen  Schritten  in  den  bewährten  13ahnen  weiter  gegangen.  Von 
Oktober  1914  bis  Juli  1921  sind  die  folgenden  Lieferungen  erschienen: 

38 


Speech — Sqtioyle  von  W.  A.  Craigie;  St—Styx  von  Henry  Bradley; 
Su — Ssmihite  von  C.  T.  Onions;  Trinh — Tzirid  von  Sir  James  A. 
H.  Murray,  JJ — Unforseeahle  von  W.  A.  Craigie;  V — Vyiver  von 
W.  A.  Craigie;  W — Wasli  von  Henry  Bradley;  X — Zyxt  von 
C.  T.  Onions.  Es  bleibt  jetzt  nur  noch  die  Arbeit  an  den  Buchstaben 
U  und  W  durchzuführen,    dann    ist  das  monumentale  Werk  vollendet. 

Ein  andres  großes  lexikalisches  Unternehmen  ist.  kürzlich  nach  fast 
vierzigjähriger  Arbeit  (1882 — 1921)  abgeschlossen  worden:  Bosworth- 
T oller,  An  Änglo-Saxoti  Didionary  (ÖKi'ovd,  Ciavendon  Press).  1916 
erschien  der  zweite,  1921  der  dritte  und  letzte  Teil  des  „Supplement". 
Damit  liegt  nun  diese  umfassende  Sammlung  des  angelsächsischen  Wort- 
schatzes vollendet  vor  uns.  Sie  ist  ja  nicht  gleichwertig  in  allen  ihren 
Teilen;  der  erste,  noch  von  Joseph  Bosworth  besorgte  Abschnitt 
(etwa  von  Ä — F)  war  schon  zur  Zeit  seines  Erscheinens  nicht  ganz 
auf  der  Höhe  der  sprachwissenschaftUchen  Forschung  und  in  der  An- 
ordnung des  Stoffs  zeigten  sich  verschiedene  Mängel,  die  dem  Fortsetzer, 
Prof.  T.  Northcote  Toller,  seine  Arbeit  erschwerten.  Aber  Toller 
hat  dann  alles  getan,  um  in  den  weiteren  Lieferungen  den  heutigen 
wissenschaftlichen  An t orderungen  zu  entsprechen,  und  im  Nachtrag  hat 
er  die  Lücken  des  Hauptwerks  unter  Ausnutzung  aller  ihm  zugäng- 
lichen Quellen  nach  Möglichkeit  auszufüllen  sieh  bemüht.  Mit  Befriedi- 
gung darf  er  auf  den  Abschluß  dieses  seines  Lebenswerks  schauen, 
das  noch  auf  lange  hinaus  die  unschätzbare  Grundlage  für  alle  For- 
schungen auf  dem  Gebiet  der  angelsächsischen  Sprache  und  Literatur 
bilden  wird. 

Ein  kleineres  angelsächsisches  Wörterbuch  hat  während  des  Kriegs 
eine  2.  Auflage  erlebt:  John  R.  Clark  Hall,  Ä  Concise  ÄngJo-Saxon 
Dicfionary  for  the  Use  of  Students  (Cambridge,  Univ.  Press,  1916). 
Der  ersten  Auflage  hafteten  zahlreiche  Mängel  an,  so  daß  das  Buch 
gegen  Henry  Sweet' s  The  Süidenfs  Dictionary  of  Anglo-Saxon  (Ox- 
ford 1897)  nicht  aufkommen  konnte.  Hall  ist  redlich  bestrebt  gewesen, 
diese  Mängel  in  der  2.  Auflage  zu  beseitigen,  und  da  er  außerdem  die 
Zahl  der  aufgenommenen  Wörter  erheblich  vermehrt  und  viele  derselben 
durch  knappe  Quellenangaben  belegt  hat,  wird  man  in  Zukunft  das 
Buch  zur  Benutzung  durch  die  Hand  der  Studenten  unbedenklich 
empfehlen  können. 

Zur  Sammlung  des  mittelenglischen  Wortschatzes  ist  in  den 
letzten  beiden  Jahrzehnten  nichts  von  Belang  geschehen.  Mätzners 
Mittelenglisches  Wörterbuch,  dessen  13.  und  letzte  Lieferung  (bis  mis- 
hileven^  Berlin,  Weidmann)  1900  herauskam,  hat  keinen  Fortsetzer 
gefunden.  Das  einzige  vollständige  mittelengUsche  Wörterbuch,  das  uns 
zur  Verfügung  steht,  ist  immer  noch  Stratmann's  3liddle  English  Dic- 
tionary in  der  Neubearbeitung  von  Henry  Bradley  (Oxford  1891); 
aber  das  ist  sehr  wenig  reichhaltig. 

Auf  dem  Gebiet  der  neuenglischen  Lexikographie  ist  es  sehr  zu 
begrüßen,  daß  das  vortreffliche  Wörterbuch  von  Grieb-Schröer  mit 
seinen  ausführlichen  Bedeutungserklärungen,    seinen   zuverlässigen  Aus- 

39 


sprachebezeichnuiigen  und  knappen  etymologischen  Hinweisen,  das  auf 
unerfreuliche  Weise  lange  Zeit  vom  Markt  verschwunden  war,  durch 
den  Mentor- Verlag  (Berlin- JSchöneberg)  jetzt  wieder  zugänglich  ist.  Es 
gibt  kein  Wörterbuch  mittlerer  Grolle,  das  man  so  angelegentlich  wie 
dieses  seinen  Studenten  empi'ehleri  kann.  Einen  knappen  Auszug  daraus 
hat  uns  Schröer  in  seinem  Neuenglischen  Ausspraclieivörterhuch  (Heidel- 
berg 1913)  besorgt. 

2.  Etymologie 

Kluge-Lutz,  English  Etymology  (Straßburg  1898),  lange  Zeit 
das  einzige  neuere  in  Deutschland  erschienene  etymologische  Wörterbuch 
der  englischen  Sprache,  hat  neuerdings  in  Ferd.  Holthausens  kleinenr 
Etymologischen  Wörterbuch  der  Englischen  Sprache  (Leipzig,  ßernh. 
Tauchnitz,  1917)  einen  Konkurrenten  erhalten.  Holthausens  Buch  ist 
einerseits  viel  reichhaltiger  als  Kluge-Lutz,  da  es  auch  die  Lehnwörter 
in  groliem  Umfang  heranzieht;  anderseits  wird  der  Titel  des  Buchs 
manchen  enttäuschen,  der  etwa  genauere  Angaben  über  die  etymologi- 
schen Verwandtschaftsverhältnisse  der  Wörter,  wenn  auch  nur  in  dem 
knappen  Ausmaß  der  Bemerkungen  bei  Kluge-Lutz  oder  in  Skeat's 
Concise  Etymological  Dictionary  of  the  English  Language  (New  Edition, 
Oxf  1901),  darin  suchen  wollte.  Holthausen  gibt  nur  die  alt-  oder 
mittelenglische  Grundform  und  bei  Lehnwörtern  das  unmittelbare  Stamm- 
wort an.  Außerdem  verzeichnet  er  bei  jedem  Wort  die  Aussprache, 
allerdings  meist  nur  durch  knappen  Hinweis  auf  Betonung  und  Aus- 
sprache des  Wurzelvokals.  Dann  werden  die  Hauptbedeutungen  auf- 
geführt. Daß  die  etymologischen  Angaben  durchweg  zuverlässig  und 
auf  der  Höhe  der  heutigen  Forschung  sind,  braucht  bei  der  Hingabe, 
mit  der  sich  Holthausen  seit  Jahren  der  etymologischen  Forschung  ge- 
widmet hat,  kaum  besonders  betont  zu  werden. 

3.  Bedeutungslehre 

Grein  und  Toller  haben  sich  in  ihren  großen  lexikalischen 
Werken  um  die  Sammlung  und  Erklärung  des  angelsächsischen  Wort- 
schatzes die  größten  Verdienste  erworb(^n.  Aber  jeder,  der  sich  ein- 
gehender mit  angelsächsischen  Texten  befaßt  hat,  wird  wohl  öfter  das 
Gefühl  gehabt  haben,  daß  hinsichtlich  der  schärferen  Festlegung  der 
Bedeutung  gewisser  Wörter  doch  noch  manches  zu  tun  übrig  bleibt, 
und  daß  nicht  selten  die  Auffassung  wichtiger  Stellen  von  der  Deutung 
eines  Wortes  abhängt. 

Einen  bedeutsamen  Beitrag  in  dieser  Hinsicht  liefert  Levin  L.  Schü- 
cking  in  seinen  Untersuchungen  mr  Bedeutungslehre  der  angelsächsischen 
Dicldersprache  (Heidelberg  1915).  Schücking  betont,  daß  vor  allem 
die  Grenze  zwischen  dem  poetischen  und  dem  prosaischen  Wortgebrauch 
viel  schärfer  zu  ziehen  sei,  als  es  bisher  meist  geschehen  ist.  Er  will 
zeigen,  „daß  erst  die  Berücksichtigung  des  allgemeinen  Stilcharakters 
und  der  sich  aus  ihm  ergebenden  Grundsätze  für  die  Wortwahl  in  einer 

40 


so  regelfesten  und  stilisierten  Kunstsprache  zur  richtigen  Deutung  des 
einzelnen  Ausdrucks  führen  kann*'.  Die  Sprache  der  Prosa  könne  viel- 
fach nur  für  die  Ansetzung  der  Grundbedeutung  eines  Worts  in  Frage 
kommen.  Die  Wortbedeutung  im  Mittelenglischen  könne  wegen  des 
gänzlichen  Abbruchs  der  Tradition  und  des  Wandels  im  Stilcharakter 
kaum  herangezogen  werden,  in  andern  Dialekten,  wie  dem.  altsächsi- 
schen und  altnordischen,  viel  mehr  als  etymologische  Anhaltspunkte 
zu  suchen,  bleibe  gleichfalls  in  schwierigen  Fällen  immer  gewagt.  Unsere 
Aufgabe  müsse  daher  sein,  die  innere  Form  jener  ausgebildeten  Kunst- 
sprache der  angel.'^ächsischen  Dichter  aus  sich  heraus  zu  begreifen,  die 
Anschauungsweise  des  Sprechenden  nach  Möglichkeit  zu  erfassen  und 
von  ihr  bei  der  Deutung  der  einzelnen  Worte  oder  Ausdrücke  auszu- 
gehn  (S.  Vf.).  Zur  Ermittlung  der  zugrunde  liegenden  Anschauung  ge- 
lange man  durch  die  Parallelen,  die  grade  in  der  angelsächsischen  Dichtei'- 
sprache  so  ungemein  zahlreich  sind,  und  die  Grundbedeutung  eines  Worts 
sei  nur  durch  die  genaue  Untersuchung  und  den  Vergleich  aller  in  Frage 
kommenden  Stellen  zu  ermitteln  (S.  VI). 

Schücking  stellt  fest,  daß  enge  anpaäas  keineswegs  'enge  Einzel- 
wege', daß  earm  nicht  eigentlich  'arm',  hliä  gewiß  nicht  überall  'Klippe', 
mist  offenbar  nicht  'Nebel'  und  mör  nicht  'Moor',  noch  auch  stanboga 
'Steinbogen'  heißt.  Diese  Nachweise,  die  an  und  für  sich  oft  unerheb- 
lich erscheinen,  gewannen  dadurch  an  Bedeutung,  daß  teilvveise  mit  ihnen 
„eine  Reihe  vöüig  irriger  Vorstellungen  über  den  Inhalt  und  den  Ge- 
dankengang angelsächsischer  Gedichte  beseitigt  werden  können"  (S.  VII). 
Die  Untersuchungen  über  die  Örtlichkeit  des  Grendelsees  z.  ß.  mit  ihren 
Schlußfolgerungen  betreffs  der  Komposition  des  Beoivulf,  die  archäo- 
logische Betrachtungsweise  von  Stjerna  mit  ihren  Schlüssen,  die  behauptete 
Abhängigkeit  der  Exodus  vom  Beoiüulf  hängen  im  Grunde  von  dem 
Bedeutungsansatz  einiger  bisher  nicht  genügend  auf  ihren  Sinn  hin  ge- 
prüfter Wörter  {mor,  stanboga,  enge)  ab. 

Von  solchen  Erwägungen  aiisgehend,  hat  Schücking  eine  große  An- 
zahl von  Wörtern  auf  ihre  poetische  Bedeutung  hin  einer  erneuten 
Prüfung  unterzogen,  und  auf  Grund  derselben  hat  er  für  über  300  Stellen 
in  zahlreichen  angelsächsischen  Dichtungen,  vor  allem  im  Beoivulf,  neue, 
von  den  bisher  üblichen  abweichende  Erklärungen  aufgestellt.  Sowohl 
die  von  ihm  gegebenen  Bedeutungsansätze  wie  die  daraus  gefolgerten 
Schlüs.^e  über  die  Erklärung  poetischer  Stellen  und  die  Auffassung  der 
betreff'enden  Szenen  oder  ganzen  Gedichte  werden  manchmal  Wider- 
spruch erfahren ;  das  verringert  aber  nicht  die  Bedeutung  dieser  Unter- 
suchungen, die  voll  anregender  Vorschläge  sind. 

Von  sonstigen  semasiologischen  Monographien  ist  zunächst  eine  umfang- 
reiche Abhandlung  von  H.  O.  Schwabe  zu  nennen:  Tlie  Semanlic  Deve- 
lopment of  Words  for  Eat'mg  and  Drinhing  in  Germanic  (Linguistic 
Studies  in  Germanic  1;  Chicago  1915).  Die  Absicht  des  Verfassers  ist, 
„to  trace  the  development  in  meaning  of  the  idea  'consume  by  eating 
and  drinking',  as  represented  in  the  Germanic  dialects".  Aber  von 
einer  Bedeutungsentwicklung  der  Ausdrücke  für  den  Begriff" '  Essen  und 

41 


Trinken'  ist  in  der  Arbeit  wenig  zu  spüren.  Sie  besteht  lediglich  in 
einer   mechanischen    Aneinanderreihung    von    zahllosen    Ausdrücken   für 

*  Essen  und  Trinken'  ohne  jeden  verbindenden  Text,  nur  gruppenweis 
zusamraengeordnet  und  mit  Überschriften  wie  '  EatV^ood:  Feed,  Eat', 
*Partake  of  a  Certain  Article  of  Food',  'Pasture:  Feed,  Graze,  Eat' 
usw.  versehen.  Auch  eine  lautliche  Behandlung  der  Ausdrücke  ist  nicht 
weiter  versucht.  Der  Wert  der  Arbeit  besteht  in  der  fleißigen  Samm- 
lung eines  gewaltigen  Materials,  und  in  dieser  Hinsicht  hat  sie  ihre 
unleugbaren  Verdienste. 

Auf  einem  ganz  andern  Niveau  wissenschaftlicher  Durcharbeitung 
des  Stoffs  steht  eine  Studie  von  Karl  Brugmann,  Z^«"  Wortsippe'' alt' 
(PBBeitr.  43,  2,  310;  1918),  sowie  Zivei  sprachliche  Aufsätze  zur  etymo- 
logischen und  semasiologischen  Forschung  von  Herbert  Petersson 
(Lund   1917),    von    denen    der   erste  „Die  idg.   Wurzeln  ^)er-  und  Jcer- 

*  sprühen,  spritzen'  und  ihre  Ableger '',  der  zweite  „"ishd.  bald,  geschwind 
und  schnclV'  behandelt.  Alle  drei  Abhandlungen  sind  bis  ins  einzelnste 
durchdacht  und  sind  auch  für  die  englische  Etymologie  und  Semasio- 
logie von  erheblichem  Belang. 

4.  Synonymik 

Das  beste  Buch  über  englische  Synonymik  ist  Gustav  Krüger s 
Synoyiymili  und  Wortgehrauch  der  englischen  Spraclie  (Dresden  u.  Leipzig, 
1.  A.  1897,  2.  A.  1910,  3.  A.  1920);  es  bildet  den  ersten  Teil  seiner 
Schivier igkeiteu  des  Englischen,  das  als  Gesamtwerk  weiter  unten  gewür- 
digt werden  wird.  Auf  1081  Seiten  ist  hier  ein  gewaltiger  Stoff  zusammen- 
getragen und  unter  2227  alphabetisch  geordneten  deutschen  Stichwörtern 
verarbeitet.  Das  Buch  verfolgt  keine  sprachgeschichtlichen ,  sondern 
rein  praktische  Zwecke.  Daher  ist  von  Etymologie  und  historischer 
Synonymik  ganz  abgesehen;  es  wird  nur  der  heutige  Sprachgebrauch 
festgestellt.  Dabei  wird  auf  knappe,  klare  Definition  besonderes  Gewicht 
gelegt;  alles  Phrasenhafte,  wie  es  sich  in  Crabb's  English  Synonyms  und 
andern  älteren  Werken  vielfach  breit  macht,  wird  grundsätzlich  gemieden. 
Der  Wortgebrauch  wird  durch  zahlreiche  Beispiele  erläutert,  leider  ohne 
Verfassernamen  und  Belegstellen.  In  einem  Anhang  ist  eine  Zusammen- 
stellung stamm-  und  sinnverwandter  englischer  Wörter  angefügt, 
gleichfalls  in  alphabetischer  Ordnung.  Ein  ausführliches  Register  er- 
schließt den  reichen  Inhalt  dieses  wertvollen  Buchs. 

Auszüge  hieraus  sind  Krügers  Englische  Synonymik.  Mittlere 
Ausgäbe  (ebd.,  1.  A.  1912,  2.  A.  1919)  und  Die  wichtigsten  sinnverwandten 
Wörter  des  Englischen  (1911).  Beide  sind  kritische  Auslesen  für  Unter- 
richtszwecke: die  zweite  ist  eine  kleine  Schulsynonymik,  die  erste  soll 
Studierenden  und  Seminaristen  als  Einführung  in  die  Synonymik  dienen. 

Während  Krügers  Bücher  die  englischen  Synonyma  vom  Stand- 
punkt des  Deutschen  aus  betrachten,  ist  das  Werk  des  Holländers 
J.  H.  A.  Günther,  English  Synonyms  cxplained  and  illustraied  (Gro- 
ningen,  J.  B.  Wolters,  1.  A.  1904,  3.  A.  1917),  in  engüscher  Sprache  und 

42 


vom  englischen  Gesichtspunkt  aus  geschrieben.  Von  vereinzelten  Hin- 
weisen auf  das  Holländische  abgesehen,  gibt  es  keine  Übersetzungen, 
sondern  nur  Umschreibungen  und  vor  allem  eine  Fülle  von  Beispielen 
aus  der  Literatur  der  letzten  50  Jahre  zur  Erläuterung  des  Gebrauchs 
der  sinnverwandten  Ausdrücke.  In  dieser  ausgiebigen  Beispielsaramlung 
liegt  der  Hauptwert  des  Buchs.  Leider  werden  bei  den  Beispielen  nur 
die  Namen  der  Schriftsteller,  nicht  die  genaueren  Belegstellen  angeführt, 
so  daß  eine  Nachprüfung  unmöglich  ist.  Ein  Deutscher  wird  im  all- 
gemeinen Krügers  Synonymik  den  Vorzug  geben,  weil  darin  der  ße- 
grifFsurafang  der  sinnverwandten  deutschen  und  englischen  Ausdrücke 
vergleichend  erörtert  und  gegeneinander  abgegrenzt  wird,  was  der 
schärferen  Erfassung  der  Wortbegriffe  in  beiden  Sprachen  zugute  kommt. 
Aber  das  Buch  Günthers,  der  den  Standpunkt  des  Ausländers  außer 
acht  läßt  und  über  englische  Synonyma  so  schreibt,  wie  ein  Engländer 
darüber  schreiben  würde,  ergänzt  Krügers  Werk  in  erfreulicher  Weise 
und  kann  auch  von  Deutschen  neben  jenem  mit  Vorteil  benutzt  werden, 
zumal  beim  Unterricht  zur  Einübung  von  Definitionen  in  der  Fremd- 
sprache. 

Im  Gegensatz  zu  Günthers  Buch  ist  Clemens  Klöppers  Eng- 
lische Synonymik  und  Stilistik  (Breslau  1907)  wieder  vom  deutschen 
Standpunkt  geschrieben.  Die  Anordnung  ist,  wie  bei  Krüger,  alphabetisch 
nach  deutschen  Stichwörtern.  Die  Folge  davon  ist  natürlich,  daß  unter 
manchen  Stichwörtern  englische  Ausdrücke  zusammengestellt  werden, 
die  für  den  Engländer  keine  Synonyma  sind.  Unter  Geist  z.  B.  führt 
Klöpper  auf:  mind,  spirit,  intelhct,  genius,  ghost,  spedre.  Bei  Günther 
wird  man  unter  mind  vergebens  nach  ghost  und  spedre  suchen;  er  er- 
örtert nur  den  Unterschied  von  mind  und  spirit.  Krüger  stellt  in  seiner 
großen  Synonymik  in  reichlich  regelloser  Ordnung  mind,  spirit,  sprite, 
ghost,  deverness  nebeneinander,  in  seiner  mittleren  Ausgabe  nur  mind, 
spirit,  ghost.  Es  ist  jedenfalls  gut,  wenn  schon  der  Anfänger  darauf 
hingewiesen  wird,  daß  engl,  ghost,  die  etymologische  Entsprechung  von 
deutsch  Geist,  nur  den  Sinn  von  '  Gespenst'  hat,  also  den  ursprünglichen 
Sinn  des  Wortes  beibehält,  während  die  intellektuelle  Bedeutung  durch 
mind  oder  spirit  wiedergegeben  wird.  Klöpper  befolgt  mit  Recht  den 
Grundsatz,  daß  die  beste  und  kürzeste  Definition  eines  enghschen  Worts 
die  Übersetzung  durch  den  passendsten  deutschen  Ausdruck  ist;  nur 
im  Notfall  bedient  er  sich  der  Umschreibung,  die  für  den  Engländer 
das  einzige  Mittel  zur  Begrifi"serklärung  synonymer  Ausdrücke  der 
eignen  Sprache  ist.  Klöppers  Synonymik,  die  sich  am  ehsten  mit  der 
mittleren  Ausgabe  von  Krügers  Werk  vergleichen  läßt,  obschon  sie  nicht 
ganz  so  reichhaltig  ist,  kann  recht  wohl  neben  diesem  benutzt  werden.  — 
Die  beigefügte  ziemlich  ausführliche  Stilistik,  in  der  die  Eigenarten 
des  englischen  Stils  im  Unterschied  vom  deutschen  erörtert  werden, 
erhöht  noch  die   selbständige  Existenzberechtigung    von  Klöppers  Buch. 

Ein  eigenartiges  Werk  ist  AUen's  Synonyms  and  Antonyms  (^eyf 
York  und  London  1920),  von  F.  Sturges  Allen,  dem  Herausgeber 
von  Webster''s   Neiv  International  Didionary.     Es   ist   ein  Wörterbuch 

43 


von  482  Seiten,  in  dem  die  Fremdwörter  stark  vorherrschen,  und  ist 
in  erster  Linie  für  den  praktischen  Gebrauch  durch  Juristen,  Schrift- 
steller, Geistliche,  Geschäftsleute  usw.  bestimmt,  die  sich  über  die  Be- 
deutung eines  seltneren  oder  die  Bedeutungsschattierungen  eines  be- 
kannten Worts  unterrichten  oder  rasch  eine  Anzahl  synonymer  Ersatz- 
wörter  dafür  bei  der  Hand  haben  wollen.  Der  Verfasser  gibt  deshalb 
'unter  jedem  Stichwort  die  nächstliegenden  Ersatzwörter,  eventuell  mit 
kurzer  Andeutung  ihrer  Gebrauchsweise,  ob  archaisch,  bildlich,  formell, 
affektiert  usw.  Hat  ein  Wort  mehrere  Bedeutungen,  so  führt  er  für 
jede  derselben  die  Synonyma  an,  was  in  den  gewöhnlichen  Synonymiken 
fast  nie  geschieht.  Am  Schluß  jedes  Artikels  oder  jeder  Unterabteilung 
gibt  er  zu  weiterer  Klarstellung  des  Begriffs  des  betreffenden  Ausdrucks 
sein  Antonym,  sein  Gogenwort ,  soweit  ein  solches  vorhanden  ist.  Be- 
sondere typographische  Hilfsmittel  und  Anordnung  erhöhen  die  Über- 
sichtlichkeit des  Buchr..     Ein  Beispiel  möge  das  Gesagte  erläutern: 

beauty  n.  1.  loveline.ss,  loveliliead  {rare\  formosity  (archaic),  pulchritiide  (rare), 
liistre;  spec.  g'loiy,  prettiness  (beauty  ivühout  dignity).  Antonyms:  see 
ugliiicss,  deformity.  —  2.  belle,  fair  lady,  fair  one;  spec.  belliboue  (obs.). 
Antonyms:  see  liag. 

Aliens  Buch  gibt  auf  knappstem  Raum  eine  konzentrierte  Fülle  von 
Belehrung,  ist  hervorragend  praktisch  angelegt  und  wird  auch  deutschen 
Lehrern  und  Studierenden  gute  Dienste  tun. 


III.    Namenkunde 
1.    Personennamen 

Eine  populäre  Einführung  in  das  Studium  der  englischen  Personen- 
namen ist  das  Buch  von  Ernest  Weekley,  Tlie  liomance  of  Names 
(London  1914).  Der  Verfasser  plaudert  in  unterhaltendem  Ton  über 
die  verschiedenen  Arten  von  Familiennamen,  wie  sie  ihm  im  Londoner 
Adreßbuch,  in  den  Zeitungen  oder  auf  den  Straßen  begegneten.  Er 
versteht  es,  zwischen  zu  gelehrter  und  zu  oberflächlicher  Darstellung 
die  richtige  Mitte  zu  halten,  bespricht  in  anregender  Weise  die  Ent- 
stehung der  Familiennamen  und  weiß  den  Leser  nicht  nur  für  seinen 
Gegenstand  zu  interessieren,  sondern  ihm  auch  die  Schwierigkeiten  und 
Klippen  der  Namendeutung  zu  Geraüte  zu  führen. 

Über  Nordische  Fersonennamen  in  England  in  alt-  und  frühmittel- 
enfjlischer  Zeit  hat  Erik  Björkman  gehandelt  (Halle  1910).  Diese 
Abhandlung  sowie  die  sich  daran  anreihenden  Beiträge  Zur  englischen 
Namenhunde  (1912)  führten  zu  einer  Kontroverse  zwischen  dem  Ver- 
fasser und  R.  E.  Zachrisson,  der  sie  in  seinen  Notes  an  English  Per- 
sonal Names  (Studier  i  Modern  Spräkvetenskap  G,  271  —  29ö;  Upsala 
1917)  einer  scharfen  Kritik  unterzog,  worauf  Björkman  in  einer  An- 
zeige   dieser   Notes   (Angl.  Beibl.  28,  225;    Aug.   1917)    und    in    eiiiem 

44 


Artikel  Za   den   englischen  Bei-   und  Spottnamen   (ebd.  28,  207;   Juli 
1917)  antwortete. 

Während  Björkman  die  englischen  Namen  skandinavischer  Herkunft 
behandelte,  untersuchte  einer  seiner  Schüler,  Thorvald  Forssner, 
die  Continental- Germanic  Personal  Na)nes  in  England  in  Old  and 
3ßddle  English  Times  (Diss.  üppsala  1916).  Die  nützliche  Arbeit  be- 
steht in  der  Hauptsache  aus  einer  alphabetischen  Zusammenstellung  der 
in  Betracht  kommenden  kontinentalgermanischen  Namen  mit  Belegen 
und  Erörterungen.  In  der  Einleitung  werden  die  politischen  und  kom- 
merziellen Beziehungen  zwischen  England  und  dem  Festland  im  Früh- 
mittelalter, die  urkundlichen  Zeugnisse  für  kontinentale  Siedler  und  Nieder- 
lassungen, sowie  die  wichtigsten  Tatsachen  der  englischen  Kii  chengeschichte, 
die  für  die  Untersuchung  von  Belang  sind,  aufgeführt.  In  einem  Schluß- 
wort werden  die  Hauptkriterien  für  kontinentalgermanische  Personen- 
namen in  England  besprochen. 

Ein  andrer  Schüler  des  inzwischen  verstorbenen  schwedischen  Ge- 
lehrten, Mats  Redin,  hat  uns  in  seinen  Studies  an  Uncomjwnnded 
Personal  Nantes  in  Old  English  (Diss.  Uppsala  1919)  eine  gründliche 
und  wertvolle  Zusammenstellung  und  Untersuchung  der  einfachen  alt- 
englischen Personennamen  aus  der  Zeit  bis  1066  geliefert.  Er  beschränkt 
sich  auf  das  einheimische  Namenmaterial  und  nimmt  nur  solche  Namen 
auf,  die  selbständig  vorkommen ;  Personennamen  als  erste  Glieder  von 
Ortsnamen  werden  nicht  berücksichtigt. 

Unzusammengesetzte  Namen  können  entweder  verkürzte  Formen 
zusammengesetzter  Namen  oder  ursprüngliche  Kurzformen  ohne  daneben 
stehende  Vollnamen  sein.  Erstere  sind  Kosenamen  (Hypokorismen), 
die  aber  später  nicht  selten  den  ursprünglichen  Namen  verdrängen  und 
als  selbständige  Namen  benutzt  werden.  Kosenamen  sind  entweder 
End-  oder  Anfangskosenamen ,  je  nachdem  ob  das  erste  oder  zweite 
Glied  des  Vollnamens  abgestoßen  ist.  Wegen  der  germanischen  Anfangs- 
betonung sind  Anfangskosenamen  in  den  germanischen  Sprachen  bei 
weitem  die  häufigsten.  Zur  Bildung  eines  Kosenamens  wird  das  ur- 
sprüngliche  Namensglied  gewöhnlich  durch  eine  Kose- Endung  erweitert. 
In  den  germ.  Sprachen  werden  in  der  Regel  die  Suffixe  -an  und  -ja 
dazu  verwandt.  Außerdem  werden  gern  sekundär  noch  Diminutiv- 
suffixe angehängt:  im  Altenglischen  vorzugsweise  l-  und  Ä;-Suffixe.  Eine 
weitere  Eigentümlichkeit  der  Kosenamen  in  allen  idg.  Sprachen  ist  das 
häufige  Auftreten  von  geminierten  Konsonanten  (S.  XXX  ff.),  zum  Teil  im 
Wechsel  mit  einfachen,  z.  B.  ae.  Eada  —  Eadda,  Tuna  —  Tunna,  JBica  — 
Sicca,  die  zum  größten  Teil  sicher  nicht  auf  schlechter  Schreibung 
beruhen,  sondern  Aussprachen  mit  kurzem  und  langem  Konsonanten 
darstellen.  Da  dieselbe  Erscheinung  in  allen  idg.  Sprachen  auch  bei 
Lallwörtern  und  Lallnamen  auftritt,  wie  sie  kleine  Kinder  zur  Bezeich- 
nung für  sich  selbst  oder  für  andre  Personen  bilden  {inamma,  pappa 
usw.),  so  mögen  die  Kurznamen  teilweise  aus  Lallnamen  entstanden 
sein,   indem   letztere  in  familiärer  Redeweise   auch   zur  Benennung  Er- 

45 


wachsener  statt  ihres  wirklichen  Namens  gebraucht  und  dann  als  selb- 
ständige Namen  auf  andre  Personen  übertragen  wurden.  Man  hat 
ferner  darauf  hingewiesen,  daß  Konsonantenverdoppelung  in  den  germ. 
Sprachen  besonders  häufig  in  Benennungen  für  runde,  plumpe  Gegen- 
stände auftritt,  zunächst  für  leblose  Dinge,  dann  aber  auch  für  Tiere 
und  menschliche  Wesen,  z.  B.  fläm.  halbe  'Schwellung',  schwed.  habhe 
'kleiner  Knabe,  Kind'  (S.  XXXIII).  Die  Erklärung  dieser  spontanen 
Gemination  ist  umstritten.  Man  sucht  sie  jetzt  gern  in  psychologischen 
Gründen,  indem  man  in  diesen  Wörtern  Ausdrücke  intensiven  Gefühls 
oder  Interesses  auf  selten  des  Sprechers  erblickt.  Manche  Kurznamen 
mit  geminierten  Konsonanten  werden  wohl  auf  derartige  Ausdrücke  zu- 
rückgehn;  vgl.  den  altengl.  Namen  Bahha.  In  andern  Fällen  beruht 
die  Gemination  der  Kurznamen  sicher  auf  einer  Assimilation  zwischen 
dem  Endkonsonanten  des  ersten  Gliedes  des  Vollnamens  und  dem  An- 
fangskonsonanten des  zweiten.  Z.  B.  Wulfsian  konnte  nach  Redins 
Meinung  (S.  XXXV  f.)  entweder  einen  Kosenamen  Wulfa  oder  Wuffa 
ergeben ,  Tidgar  entweder  Tida  oder  Tidda.  Die  Assimilation  und 
Gemination  ist  nur  fakultativ,  ist  nur  eine  Tendenz.  So  stammt  die 
in  altengl.  unzusammengesetzten  Namen  auftretende  Konsonantenver- 
doppelung wahrscheinlich  aus  verschiedenen  Quellen ;  aber  die  verschie- 
denen Ursachen  haben  zusammengewirkt,  der  Gemination  einen  gewissen 
hypokoristischen  Wert  zu  verleihen  (S.  XXXVI). 

Der  Hauptteil  von  Redins  Arbeit  besteht  aus  dem  Verzefchnis  der 
von  ihm  gesammelten  einfachen  Namen  mit  Belegen  und  dazu  gehörigen 
Erörterungen.  Er  teilt  sein  Material  nach  der  Stammbildung  in  fünf 
formale  Gruppen:  I.  Starke  Namen:  masc.  Beorn,  Wine,  Hörn,  Brun, 
Hun,  Lull;  fem,  Badu,  Hüd,  Hwatu,  Eafu.  II.  Schwache  Namen: 
masc.  Beorna,  Diidda,  Lulla,  Hwita,  Huna;  fem.  Gode,  Rune,  Lidle. 
III.  Namen  auf  -i(-e),  alle  masc:  Godi,  Ini,  Baede,  Lidle.  III.  Dimi- 
nutiva:  Duddel,  Hiddila;  Hivituc,  Baduca.  IV.  Namen  auf  -ing:  Ad- 
ding,  Bruning,  Billing. 

Die  Gesamtzahl  der  von  Redin  gesammelten  selbständigen  uneusammen- 
gesetzten  Personennamen  aus  altengl.  Zeit  ist  736.  Davon  kommen  79 
sowohl  mit  einfachem  als  auch  mit  doppeltem  inlautendem  Konsonanten 
vor.  Von  694  Namen  sind  301  als  Kurzformen  aus  belegten  zusammen- 
gesetzten Namen  entstanden;  bei  393  Namen  fehlen  entsprechende  Kom- 
posita. Es  sind  also  durchaus  nicht  alle  unzusammengesetzten  Namen 
im  Altenglischen  als  Kurzformen  zusammengesetzter  zu  erklären.  Fälle, 
wo  ein  Vollname  und  ein  daraus  gebildeter  Kurzname  zur  Bezeichnung 
der  gleichen  Person  belegt  sind,  gibt  es  im  Altengl.  nur  sehr  wenige. 
In  den  meisten  unzusammengesetzten  Namen,  die  keine  Kurznaraen 
sind,  haben  wir  wahrscheinlich  ursprüngliche  Beinamen  verschiedener 
Art  zu  erblicken.  Der  Gebrauch  von  Spottnamen  war  bei  den  Angel- 
sachsen nicht  so  häufig  wie  bei  den  Skandinaviern.  Ihre  Zunahme 
gegen  Ende  der  altengl.  Periode  ist  wahrscheinlich  auf  skandinavischen 
und  normannischen  Einfluß  zurückzuführen. 


46 


2.  Völkernamen 

Über  englische  Völkernamen  ist  verhältnismäßig  wenig  gearbeitet 
worden.  Um  so  dankbarer  begrüßen  wir  die  Darstellung  der  Geschichte 
einer  bestimmten  Gruppe  dieser  Namen,  die  uns  Gösta  Langen  feit 
in  seiner  tüchtigen  Dissertation  über  Toj)onymics  or  Derivations  froni 
Local  Names  in  English  (Uppsala  1920)  gibt.  Sie  ist  gleichfalls  aus 
der  Schule  Björkmans  hervorgegangen.  Unter  Topo'nymika  (nach 
Analogie  von  „Patronymika"  gebildet)  versteht  Langenfeit  Ableitungen 
aus  Namen  von  Orten,  Gauen,  Ländern  zur  Bezeichnung 
der  Einwohner,  Tiere,  Produkte  derselben.  Es  ist  ein  rein 
grammatischer  Ausdruck,  der  die  Zugehörigkeit  des  Trägers  eines  solchen 
Namens  zu  einer  bestimmten  Örtlichkeit  bezeichnet,  einerlei  ob  dieser 
Träger  ein  Mensch,  eine  Maus,  ein  Mineral  oder  eine  Handelsware  ist. 
Aber  in  erster  Linie  ist  unter  Toponymika  doch  eine  bestimmte,  klar 
urarissene  Gruppe  von  Völkernamen  zu  verstehen.  Für  Völkernaraen, 
die  nicht  diesem  Typ  angehören,  gebraucht  Langenfeit  den  wenig  glück- 
lich gewählten  Ausdruck  Demonymika,  während  er  die  beiden  Arten 
unter  dem  Obernamen  Ethnonymika  zusammenfaßt.  Nhd.  Schott- 
länder, ScJilesiviger,  Berliner,  ne.  Holländer,  Nonvegian,  Roman  wären 
also  Toponymika,  nhd.  Schotte,  Schwahe,  ne.  Didch,  Siviss  wären  Demo- 
nymika. 

Langenfeit  verfolgt  die  Geschichte  der  englischen  Toponymika  in 
vier  zeitlich  gegliederten  Abschnitten  aus  dem  Urgermanischen  durch 
das  Altenglische  und  Mittelenglische  bis  zur  Gegenwart.  Er  ordnet 
sein  reich  belegtes  Namenmaterial  innerhalb  der  vier  Perioden  nach  den 
für  Toponymika  charakteristischen  Ableitungssuffixen  und  Kompositions- 
gliedern und  macht  mehrfach  statistische  Zusammenstellungen  über  ihr 
zeitliches  Auftreten   und  ihre  Häufigkeit. 

Im  ersten  Kapitel  stellt  er  fest,  daß  die  verschiedenen  germanischen 
Dialekte  bei  der  Bildung  von  Toponymika  bestimmte  Suffixe  und  Kom- 
position sglieder  bevorzugen.  Während  dem  Altnordischen  Toponymika 
auf  -seti  oder  -hceme  ganz,  auf  -verjar  so  gut  wie  ganz  fehlen,  sind 
im  Altenglischen  -sTetan,  -wäre  und  -Ji^me  die  ältesten  und  häu- 
figsten Kompositionselemente  für  Toponymika.  Von  toponymischen  Ab- 
leitungssuffixen ist  im  Altenglischen  das  häufigste  -i,  seltner  ist  -a,  noch 
seltner  -n.  Feste  Regeln  über  die  Bildung  der  Toponymika  lassen  sich 
nicht  aufstellen:  die  Suffixe  -a,  -i,  -n  werden  unterschiedslos  durch- 
einander gebraucht.  Derselbe  Völkername  schwankt  in  den  gleichen 
Texten  zwischen  -i-,  -a-  und  -w-Stamm:  Swäfe  —Stvcefas,  Crece — Crecas, 
Bnrgende  —  Burgendan,  Longheardas — Longbeardan.  Aber  in  der  Stamm- 
bildung der  Toponymika  und  Demonymika  ist  ein  bemerkenswerter 
Unterschied:  erstere  sind  überwiegend  -/'-  und  -ri-Stämme,  letztere  vor- 
wiegend -a-Stämme.  Und  das  Häufigkeitsverhältnis  der  toponymischen 
zu  den  demonymischen  Völkernamen  ist  wie  3 :  2.  Toponymika  auf 
-ing  fehlen  in  der  ältesten  Zeit  vollständig;  sie  erscheinen  erst  in  der 
zweiten  Hälfte   des    9.  Jahrhunderts.      Ihre    zunßhmende   Beliebtheit   im 

47 


10.  Jahrh.  (Cantware  —  Centingas,  Middelliäme  —  Middelhamminge)  beruht 
wahrscheinlich  auf  skandinavischem  Einfluß.  Das  Öuifix  -isc  tritt  zu- 
erst 905  in  dem  Toponymikon  Centisc  (da  Centiscan)  auf,  aber  erst 
nach  1000  wird  es  häufiger.  Es  wird  in  Fremdnamen  gebraucht,  wohl 
unter  Hterarischem  Einfluß  als  Entsprechung  tür  lat.  -iciis  bei  Über- 
setzung klassischer  oder  biblischer  Namen,  wird  dann  aber  auch  auf 
einheimische  Namen  übertragen.  —  Das  häufigste  Kompositionsghed  für 
Toponymika  in  älterer  Zeit  ist  -saian  oder  -s^te.  Auch  -ivare  ist  sehr 
häufig  und  wird  sowohl  für  Ableitungen  von  einheimischen  Ortsnamen 
als  auch  von  fremden  Orts-  und  Ländernamen  gebraucht.  Während 
-scetan  in  der  Regel  auf  kleinere  Ortlichkeiten  beschränkt  ist  und  nie 
mit  politischer  Nebenbedeutung  auftritt,  erscheint  -ivare  umgekehrt  gerade 
zur  Bezeichnung  von  Stämmen  und  Völkern  als  politischer  Körper- 
schaften (Cantware,  Bönnvare).  Das  Wort  man  wird  im  AltengUschen 
noch  nicht  für  toponymische  Zwecke  gebraucht. 

Im  Früh  mittelenglischen  erfuhren  die  altenglischen  Topo- 
nymika einen  gründlichen  Wandel.  Die  Suffixe  verloren  ihren  sema- 
siologischen  Yv'ert  und  verschwanden.  Ableitungen  von  heimischen  Orts- 
namen fehlen  vollständig.  Die  Kornpositionsglieder  -srctan  und  -ivare 
waren  schon  im  Spätaltenglischen  verfallen.  Im  Frühmittelenglischen 
hört  auch  -ing  auf,  ein  lebendes  Suffix  zu  sein.  Nur  ~isc  lebt  als  -ish 
weiter  und  verrät  Zeichen  von  Produktivität.  Aber  wirklich  lebendige 
Mittel  zur  Bildung  von  Toponymika  hat  die  Übergangszeit  nicht,  oder 
sie  bildete  toponymische  Ausdrücke  durch  Vorsatz  von  of  vor  den 
Ortsnamen. 

Erst  in  der  eigentlichen  mittelenglischen  Periode  entstehen 
neue,  lebenskräftige  toponymische  Suffixe.  Außer  -ish,  das  für  topo- 
nymische Zwecke  im  späteren  Mittelenglischen  weniger  gebräuchlich  ist, 
treten  jetzt  drei  Lehnsuffixe:  afrz.  -ien,  lat.  -ian  und  lat.  -on,  in  den 
Vordergrund.  Alle  drei  hängen  eng  zusammen  und  wechseln  bei  den- 
selben Namen  miteinander,  z.  B.  It(dien,  Italian ,  Italyon.  Sie  fallen 
am  Ende  der  Periode  in  -ian  zusammen.  Auch  das  nindl.  (flämische) 
-er  dringt  ein,  wird  zwar  für  heimische  Namen  noch  nicht  häufig  ge- 
braucht, aber  gewinnt  an  Boden.  Eine  Zeitlang  scheint  es,  als  ob  das 
zentralfrz.  Suffix  -ais  (Fraunceis ,  Cormvaleys,  Londreis)  sich  im  Eng- 
lischen einbürgern  werde,  aber  es  behauptet  sich  nur  kurze  Zeit  im 
14.  Jahrh.  Komposita  mit  -man  nehmen  zu;  sie  werden  nicht  nur  in 
Zusammensetzungen  mit  Adjektiven  auf  -ish  gebildet  (Englishman, 
Frenscheman,  Scottishman),  sondern  im  15.  Jahrh.  auch  mit  Orts-  oder 
Ländernamen  als  erstem  Element  (Chesshireiuan,  Sufjollceman,  Ireland- 
man,  Calaisman).  Außerdem  sind  auch  toponymische  Bildungen  mit 
of  so  häufig  wie  vorher:  tnen  of  Macedony.  Von  altengl.  Suffixen  außer 
-ish  und  -man  haben  sich  keine  Spuren  mehr  erhalten. 

Im  Frühneuenglischen  wird  im  Gefolge  der  Renaissance  der 
französische  Einfluß  durch  den  lateinischen  zurückgedrängt:  das  Suifix 
-ian  siegt  über  -ien.  Anderseits  zeigt  das  mndl.  Lehnsuffix  -er  jetzt  die 
Neigung,  auch  in  heimische  Bildungen  einzudringen.     Man  muß  in  dieser 

48 


Zeit  zwischen  gelehrten  und  volkstümlichen  Toponymika  unterscheiden: 
Namensformen  wie  Icelandlan,  Netherlandian ,  Laplandian  tragen  das 
klassische  Gepräge  auf  der  Stirn;  sie  werden  später  in  germ.  Bildungen 
auf  -er  geändert.  Dagegen  ist  der  Geltungsbereich  der  beiden  Bildungen, 
wie  Langenfeit  treffend  bemerkt,  ein  verschiedener:  Völkernamen  auf 
-ian  sind  auf  keine  bestimmte  Gegend  der  Erde  beschränkt,  während 
Toponymika  auf  -er  vorzugsweise  von  germanischen  Ländernamen  ge- 
bildet werden  und  früher  häufiger  waren  als  jetzt. 

An  eine  Erörterung  der  neuenglischen  Entwicklung  hat  Langen- 
feit sich  nicht  herangewagt,  weil  er  der  Ansicht  war,  sein  Material  sei 
„selected  too  hap-hazardly",  um  allgemeine  Schlüsse  zu  gestatten  (S.  V). 

Dagegen  hat  er  sein  Buch  inzwischen  durch  zwei  weitere  Abhand- 
lungen ergänzt.  In  einem  Aufsatz  On  tlie  Origin  of  Tribal  Names  in 
der  Wiener  ethnographischen  Zeitschrift  Anthropos  (14 — 15,  S.  295 — 313; 
1919 — 1920)  erörtert  er  das  Problem,  wie  primitive  Völker  im  all- 
gemeinen ihre  Namen  bilden,  und  kritisiert  die  darüber  aufgestellten 
Theorien.  Und  in  einem  Aufsatz  über  Sematological  Differences  in  the 
Tojxynymical  Word-Group  (Engl.  Stud.  55,  26 — 39;  1921)  erläutert  er 
die  verschiedenen  Bedeutungsschattierungen  und  Begriffsentwicklungen 
der  Toponymika. 

/  3.    Ortsnamen 

Auf  dem  Gebiet  der  englischen  Ortsnamenforschung  ist  in  den 
letzten  beiden  Jahrzehnten  eine  rege  Forschertätigkeit  entfaltet  worden. 
Nach  einem  naheliegenden,  wenn  auch  mehr  äußerlichen  Einteilungs- 
prinzip hat  man  die  wissenschaftliche  Aufarbeitung  des  englischen  Orts- 
namenmaterials nach  Grafschaften  unternommen.  Skeat,  der 
Nestor  der  etymologischen  Forschung,  machte  1901  mit  seinen  Place- 
naviies  of  Camhridgeshire  den  Anfang.  Dann  folgten  in  den  Jahren  vor 
dem  Kriege  Bearbeitungen  der  Ortsnamen  der  folgenden  Grafschaften : 
Staffordshire  (durch  Duignan  1902),  Huntingdonshire  (Skeat  1904), 
Hertfordshire  (Skeat  1904),  Worcestershire  (Duignan  1905),  Bedfordshire 
(Skeat  1906),  Wiltshire  (Ekblom  1907),  West  Riding  of  Yorkshire 
(Moorman  1910),  Berkshire  (Skeat  1911  und  im  gleichen  Jahr  Sten- 
ton),  Lancashire  (Wyld  and  Hirst  19  il),  Oxfordshire  (Alexander  1912), 
Warwickshire  (Duignan  1912),  Gloucestershire  (Baddeley  1913),  Lan- 
cashire (Sephton  1913),  Nottinghamshire  (Mutschmann  1913),  South- 
West  Yorkshire  (Goodall  1913,  revised  edition  1914),  Suffolk  (Skeat 
1913).  In  unsrer  Berichtsperiode  von  1914 — 1920  sind  noch  die  folgen- 
den Werke  erschienen:  R.  G.  Roberts,  The  Place-names  of  Siissex 
(Cambridge  1914),  W.  J.  S  e  d  g  e  f  i  e  1  d ,  The  Place-names  of  Cumherland 
and  Westmorland  (Manchester  1915),  B.  Walker,  The  Place-names 
of  Derhi/shire  (Derbyshire  Arch.  and  Nat.  Hist.  Soc.'s  Journal  36 ; 
1914 — 1915),  A.  T,  Bannister,  The  Place-names  of  Herefordshire 
(1916),  C.  E.  Jackson,  The  Place-names  of  Diirham  (1916)  und 
Allen  Mawer,  The  Place-names  of  Northutnherland  and  Durham 
(Cambr.  1920,  mit  ausführlicher  Bibliographie).  Die  große  Mehrzahl 
Wissenschaftliche  Forschnngsberichte  IX.  4 

49 


der  englischen  Grafschaften  ist  damit  erledigt;  Berkshire,  Lancashire 
und  Durham  sind  sogar  doppelt  behandelt. 

Dazu  kommen  noch  ein  paar  allgemeinere  Werke  über  die  Orts- 
namen von  Schottland  (von  J.  B.  Johnston  1903),  Wales  (Morgan  1912), 
England  und  Wales  (J.  B.  Johnston  1915).  Ferner  Spezialarbeiten 
über  die  Ortsnamen  einiger  schottischer  Grafschaften:  Shetlands- Inseln 
(Jakobsen  1901),  Ross  und  Cromarty  (Watson  1904),  Elgin  (Matheson 
1905),  Argyll  (Gillies  1906). 

Die  Arbeiten,  soweit  sie  mir  bekannt  geworden,  sind  sehr  ver- 
schieden sowohl  im  Umfang  als  auch  in  der  Anlage  und  Ausführung. 
Den  einen  Verfasser  interessieren  die  Ortsnamen  nur  nach  der  etymo- 
logischen Seite,  der  andre  benutzt  sie  zu  grammatischen,  insbesondere 
lautgeschichtlichen  und  dialektischen  Zwecken,  der  dritte  verwertet  sie 
für  die  Siedlungsgeschichte.  Arbeiten  über  allgemeinere  sprachUche  oder 
historische  Probleme  der  ortsgeschichtlichen  Forschung,  wie  wir  sie  in 
Langen  feit's  Toponymics  (oben  S.  47  ff.)  oder  Ekwall's  Scandl- 
navians  and  Celts  in  the  North- West  of  England  (S.  25)  kennen  lernten, 
liegen  bis  jetzt  wenig  vor.  Es  war  auch  wohl  nötig,  daß  zunächst  das 
gesamte  Ortsnamenmaterial  gesammelt  und  kritisch  gesichtet  wurde,  bevor 
man  an  Monographien  über  Einzelprobleme  herantreten  konnte. 

Hinsichtlich  der  Sammlung  des  Materials,  der  Belege,  der  örtlichen 
Aussprache  der  Namen  usw.  bleibt  freilich  immer  noch  viel  zu  tun,  und 
es  ist  sehr  zu  begrüßen,  daß  Professor  Allen  Mawer,  der  verdienst- 
liche Bearbeiter  der  Ortsnamen  von  Northumberland  und  Durham,  jetzt 
Nachfolger  Wylds  auf  dem  Lehrstuhl  für  englische  Sprachwissenschaft 
an  der  Universität  Liverpool,  den  Plan  einer  Ortsnamensammlung 
größten  Umfangs  gefaßt  und  sich  kürzlich  (Anfang  1922)  mit 
einer  Aufforderung  zur  Mitarbeit  an  weiteste  Kreise  gewandt  hat. 

4.    Sonstige  Namen 

Für  die  Erforschung  des  medizinischen  und  naturwissenschaftlichen 
Wortschatzes  mittelenglischer  Zeit,  vor  allem  für  Krankheitsnamen 
und  Pflanzennamen,  bieten  Herbert  Schöfflers  wichtige  Bei- 
trüge zur  mittelenglischen  Medimiliteratur  (Halle  1919)  reiche  Ausbeute. 
Der  erste  Teil  des  Buchs,  „Lexikographische  Studien  zur  mitteleng- 
lischen Medizin",  ist  in  erster  Linie  als  Nachtrag  zum  Netv  English 
Dictionary  gedacht.  So  erklärt  sich  nicht  nur  die  alphabetische  An- 
ordnung der  medizinischen  Ausdrücke,  sondern  auch  die  fragmentarische 
Art  der  Darstellung  und  das  Fehlen  von  Erklärungen  seltner  Wörter, 
wodurch  der  Verfasser  die  Lektüre  des  Buchs  nicht  gerade  erleichtert 
hat.  Die  vSammlung  enthält  viele  Wörter,  die  im  NEJ).  entweder  ganz 
fehlen,  oder  für  die  Schöffler  frühere  oder  ergänzende  Belege  bieten 
kann.  Zu  manchen  Artikeln  gibt  er  interessante  sprachliche  oder  sacli- 
liche  Ausführungen.  Auch  der  zweite  Teil  des  Buchs,  der  eine  Aus- 
gabe der  Practica  phisicalia  des  Magister  Johannes  von  Burgund  mit 
ausführlicher    Einleitung   enthält,    ist    nicht   bloß  für  die  Geschichte  der 

50 


mittelalterlichen  Medizin  in  England,  sondern  auch  für  den  medizinischen 
Wortschatz  des  Mittelenglischen  ergebnisreich.  Er  wird  durch  ein  um- 
fängliches Register  erschlossen,  in  das  der  Verfasser  in  dankenswerter 
Weise  auch  den  Inhalt  von  F.  Heinrichs  registerlosem  Mittelenglischem 
Medisinhucli  (Halle  1896)  verarbeitet  hat.  Ein  erfreuhcher  Zug  des 
Buchs  von  Schöffler  ist  die  gleichmäßig  gute  Behandlung  der  sprach- 
lichen und  sachlichen  Seite  des  Stoffs. 

Über  Münznamen  hat  H.  O.  Schwabe  in  seiner  Arbeit  Ger- 
manic  Coin-names  (Mod.  Phil.  13,  583;  14,  105.  611;  1916—1917) 
aus  allen  Perioden  der  germanischen  Sprachen  wertvolles  Material  zu- 
sammengetragen und  im  Hinblick  auf  die  Herkunft  der  Namen  gruppen- 
weis  geordnet.  Leider  beschränkt  der  Verfasser  sich  auch  hier,  wie  in 
seiner  oben  (S.  41  f.)  besprochenen  Arbeit  über  die  Ausdrücke  für  Essen 
und  Trinken,  auf  eine  trockne  Aneinanderreihung  etymologischer  Formen 
ohne  verbindenden  Text  und  ohne  tieferes  Eingehen  auf  das  Sachliche. 

Wie  solche  Münznamenstudien  wissenschaftlich  vertieft  und  frucht- 
bar ausgestaltet  werden  könnein,  zeigt  in  mustergültiger  Weise  Edward 
Schröder  in  seinem  Aufsatz  über  Sterling  (Hansische  Geschichtsblätter 
1917,  S.  1 — 22)  und  in  seinen  Studien  zu  den  deutschen  Münznamen 
(Z.  f.  vergl.  Sprachf.  48,  241 — 275),  wo  er  über  Ffenning,  Schilling  und 
Schatz  handelt.  Man  braucht  diese  tiefschürfenden  Aufsätze  nur  mit 
den  entsprechenden  nüchternen  etymologischen  Notizen  bei  Schwabe 
(XXI  19  Sterling,  XVII  9  Pfennig,  XVIII  4  Schilling,  I  1  Schatz)  zu 
vergleichen,  um  zu  erkennen,  wie  unendlich  viel  Interessantes  und  An- 
regendes durch  Vertiefung  in  Geschichte  und  Münzkunde  aus  solchen 
Nameustudien  herauszuholen  ist.  Es  ist  ein  besonderes  Verdienst  Schrö- 
ders, daß  er  durch  seine  Ausführungen  über  die  Geschichte  des  Namens 
Sterling  der  schon  des  Akzents  wegen  unmöglichen  Österling- Hypothese 
endgültig  den  Boden  entzogen  und  sie  mit  der  Herleitung  von  Sterling 
aus  griech.-Iat.  stater  durch  eine  einleuchtendere  Erklärung  ersetzt  hat. 

Über  germanische  Farbennamen  liegt  eine  recht  verdienstliche 
Münsterer  Dissertation  von  Ernst  Schwentner  vor:  JEine  sprach- 
geschichtliche Untersuchung  über  den  Gebrauch  und  die  Bedeutung  der 
altgermanischen  Farhenhezeichnungen  (Göttingen  1915,  E.  A.  Huth). 
Merkwürdigerweise  hat  der  Verfasser  aber  das  Buch  von  Francis 
A.  Wood,  Color-Names  and  their  Congeners  (Halle  1902)  übersehen, 
in  dem  eine  reiche  Fülle  von  Farbenbezeichnungen  zusammengetragen 
ist,  allerdings  mit  derselben  mechanischen  Aneinanderreihung  etymo- 
logischer Namensformen  wie   in  den    genannten  Arbeiten  von  Schwabe. 

IV.  Schrift  und  Schreibung 

Eine  umfassende  Gesamtdarstellung  der  Geschichte  der  englischen 
Schrift  und  Schreibung  fehlt.  Eine  kurze,  willkommene  Übersicht  gibt 
Luick  in  der  Einleitung  zu  seiner  Historischen  Grammatik  (I  S.  75 
bis  92;  1914). 

4* 

51 


1.  Ursprung  der  Runenschrift 

Über  die  Herkunft  der  altgermanischen  Runenschrift  trägt  Otto 
V.  Friesen  in  einer  umfangreichen  Abhandlung  in  Hoops'  BeallexiJcon 
d.  germ.  Alterhimslc.  (1918)  eine  neue,  bahnbrechende  Ansicht  vor. 

Die  ältesten  germanischen  Runeninschriften  treten  im  3.  Jahrhundert 
n.  Chr.  in  dem  Gebiet  vom  Schwarzen  Meer  bis  Dänemark  auf,  das 
damals  von  Ostgermauen  (Goten  usw.)  beherrscht  wurde.  Die  west- 
germanischen Runeninschriften  sind  durchweg  jünger. 

Die  herrschende  Theorie  über  die  Entstehung  der  Runenschrift  war 
bisher  die  von  L.  Wim m er  {I)ie  Runenschrift,  1887).  Er  hat  den 
überzeugenden  Nachweis  geführt,  daß  die  Runenschrift  aus  einem  süd- 
europäischen Alphabet,  entweder  dem  lateinischen  oder  griechischen,  her- 
zuleiten ist.  Er  hat  ferner  nachgewiesen,  daß  das  älteste  Runenalphabet 
in  dem  geraeingermanischen  24 typigen,  nicht,  wie  andre  meinten,  in 
dem  16  typigen  nordischen  zu  erblicken  ist.  Wimmer  leitete  die  Runen 
aus  der  lateinischen  Kapitalschrift  der  Kaiserzeit  ab.  Abweichungen  der 
Runen  von  ihren  lateinischen  Vorbildern  erklärte  er  aus  der  Technik 
der  Runenschrift  und  andern  Faktoren.  Die  römische  Kapitalschrift  ist 
nach  Wimmer  wahrscheinlich  durch  gallische  Vermittlung  nach  Süd- 
deutschland gelangt;  hier  seien,  so  vermutet  er,  zuerst  Runen  in  Gebrauch 
gewesen,  obwohl  die  erhaltenen  süddeutschen  Runeninschriften  nicht  so 
alt  sind  wie  die  in  Ost-  und  Nordeuropa  gefundenen. 

Wimmers  Theorie  wurde  von  Salin  in  seinem  Werk  über  Die 
altgermanische  TlerornamenfiJc  (1904)  bekämpft.  Salin  weist  nach,  daß 
sich  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  im  Norden  und  Nordwesten  des  Schwarzen 
Meers  nach  klassischen  Vorbildern  eine  eigentümliche  germanische  Kultur 
ausbildete,  die  um  200  schon  nordwärts  bis  zur  Ostsee  vorgedrungen 
war.  Von  hier  breitete  sie  sich  einerseits  nach  Skandinavien,  ander- 
seits nach  Nordwestdeutschland  und  Holland  aus.  In  diesem  Kulturkreis 
treten  zuerst  die  Runen  auf  Die  Verbindungen  zwischen  dem  Schwarzen 
Meer  und  der  Ostsee  hören  nach  350  auf.  Dagegen  erlebt  die  Kultur 
in  Hannover  und  den  Nachbarländern  eine  originelle  Weiterbildung.  Von 
hier  setzt  vor  450  ein  Strom  übers  Meer  nach  England  über,  ein  andrer 
bewegt  sich  rheinaufwärts  zu  den  Alpen  und  der  obern  Donau.  Mit 
diesen  Kulturwellen  sind  auch  die  Runen  aus  Nordwestdeutschland  nach 
England  und  Süddeutschland  gelangt. 

Was  Salin  auf  Grund  archäologischer  Tatsachen  vermutet  hatte, 
wurde  durch  v.  Friesens  runologische  Untersuchungen  in  seiner  Schrift 
Om  JlimsJcriftens  härJcomst  (1906)  und  in  revidierter  und  vollkommnerer 
Gestalt  in  dem  genannten  Artikel  des  Reallexikons  (1918)  bestätigt.  An- 
knüpfend an  einen  Vortrag  von  S.  Bugge  (1898)  weist  v.  Friesen  nach, 
daß  die  Runen  bei  den  Goten  am  Schwarzen  Meer  um  200 
n.  Chr.  entstanden  sind,  wo  seit  etwa  100  n.  Chr.  sich  italische  und 
griechische  Bildung  begegneten.  Die  Runen  sind  in  der  Haupt- 
sache aus  dem  griechischen  Alphabet  entlehnt,  aber  mit  Bei- 
mischung  einiger    lateinischer   Zeichen.     Sowohl    die  griechische 


als  auch  die  lateinische  Unterlage  der  Runen  war  eine  Kursivschrift, 
d.  h.  die  Schrift  des  Geschäftslebens.  Die  Runenschrift  ist  also  höchst 
wahrscheinlich  auf  volksmäßigem,  nicht  auf  gelehrtem  Wege  entstan- 
den. Aber  da  sie  urspünglich  nur  für  Inschriften  verwandt  wurde,  ist 
sie  von  den  Goten  zu  einer  epigraphischen  Schrift  umgewan- 
delt worden,  wenn  sie  nicht  vielleicht  auf  griechische  und  lateinische 
Kursivinschriften  auf  Wänden,  Holz  und  Metall  zurückgeht,  v.  Friesen 
bespricht  in  seinem  Artikel  eingehend  die  Herleitung  der  einzelnen  alt- 
germanischen Runenzeichen. 

Auf  westgermanischem  Gebiet  treten  die  Runen  in  zwei  Haupt- 
formen auf:  1.  der  anglofriesischeii,  in  Friesland  und  besonders  in  Eng- 
land; 2  der  deutschen,  von  der  Rheinprovinz  bis  nach  Ungarn.  Beide 
entstammen  dem  24  typigen  Alphabet  der  Ostgermanen.  Das  deutsche 
Alphabet  hat  die  24  Zeichen  bewahrt,  das  anglofriesische  hat  es  durch 
neue  Runen  erweitert.  Beiden  geraeinsam  ist  die  /i-Rune  mit  zwei  Quer- 
stäben (l=:|),  während  sie  in  dem  ost-  und  nordgermanischen  Alphabet 
nur  einen  Querstab  hat  (H)- 

V.  Friesen  stellt  in  seinem  Artikel  die  wichtigsten  friesischen,  eng- 
lischen und  deutschen  Zeugnisse  für  die  Runenschrift  zusammen  und 
bespricht  im  Anschluß  daran  die  Zeichen,  Lautwerte,  Namen  und  Ge- 
schichte der  einzelnen  westgermanischen  Runen.  Bemerkenswert  ist,  daß 
er  (S.  22)  die  berühmten  angelsächsischen  Runenkreuze  von  Bewcastle 
und  Ruthwell,  weil  sie  zwei  jüngere  Runenzeichen  verwenden,  frühestens 
um  900  ansetzt. 

2.  Anglonormannische  Einflüsse  auf  die  englische  Schreibung 

a)  Verschiedene  vokalische  und  konsonantische 
Schreibungen 

Mehrere  Forscher  haben  sich  in  den  letzten  Jahren  mit  der  Frage 
des  Einflusses  der  anglonormannischen  Schreibung  auf  die  englische  befaßt. 

Willy  Schlemilch,  ein  Schüler  Morsbachs,  handelt  im  zweiten 
Kapitel  seiner  Beiträge  zur  Sprache  und  Orthographie  spätaltengl.  Sprach- 
denkmäler der  Übergangszeit  1000  — 1150  (Studien  z.  engl.  Phil.  .34; 
1914)  über  „ Anglofranzösische  Schreibungen".  Er  stellt  fest,  daß  die 
ersten  Spuren  des  anglofranzösischen  Einflusses  auf  die  Schrei- 
bung des  Englischen  sich  um  1100  bemerkbar  machen,  daß  dieser 
Einfluß  aber  bis  1150  keine  erhebliche  Rolle  spielt  (S.  60).  An 
Einzelheiten  sei  folgendes  bemerkt,  a)  Vokalische  Schreibungen:  die 
anglofrz.  Schreibung  tt  für  ae.  festes  und  unfestes  ^  tritt  zuerst  um  1100 
auf;  anglofrz.  o  für  w  zuerst  zwischen  1130  und  1150:  Tantöne,  Overtön, 
döne  (dune)-,  o  für  ae.  m  erst  nach  1150:  louie,  loiiede.  b)  Konsonan- 
tische Schreibungen :  das  Zeichen  ch  für  den  assibilierten  ae.  Laut  c  [^^J 
bürgert  sich  nur  langsam  ein;  manche  Denkmäler  in  der  ersten  Hälfte 
des  12.  Jahrhunderts,  die  sonst  zum  Teil  schon  französischen  Einfluß 
zeigen,  kennen  es  noch  gar  nicht;   erst  von  1150  an  wird  es  häufiger. 

53 


Dagegen  tindet  sich  die  Schreibung  u  für  stimmhaftes  ae.  f  =  \v]  ge- 
legentlich schon  in  spätae.  Zeit,  wo  franz.  Einfluß  noch  nicht  in  Frage 
kommt;  Schlemilch  denkt  hier  an  lateinischen  Einfluß;  so  in  der  Hs.  A 
der  Benediktinerregel  um  1100:  (üiien,  zedrcued,  fröuer,  Jdäue  u.  a. 
W.  V.  d.  Gaaf  (Neophil.  5,  138;  1920)  führt  Belege  der  Schreibung  u 
=  [v]  aus  ^Elfrics  und  Wulfstans  Homilien,  aas  den  jüngeren  Texten 
der  Sachsenchronik  u.  a.  an;  er  glaubt,  daß  hier  der  frühste  Fall  eines 
Einflusses  der  französischen  Schreibung  auf  die  englische  vorliege. 

b)  Schreibung  ou 

In  einer  fleißigen  und  nützlichen  Monographie  behandelt  Hans 
Marcus  Die  Schreibung  'ou'  in  fnihmittelenglischen  Handschriften 
(Berlin  1917),  über  deren  Aussprache  und  Entstehung  die  Ansichten 
weit  auseinandergehn.  Die  Schreibung  ou  konnte  im  Mittelengl.  offen- 
bar eine  Reihe  von  Aussprachen  bezeichnen,  wie  die  Weiterentwicklung 
ins  Neuenglische  beweist.  Marcus  stellt  folgende  sechs  Gruppen  auf: 
1 .  m  e.  ou  =  n  e.  [au] :  a)  ne.  Jiouse  <^  ae.  hüs ;  b)  ne.  hound  <(  anord. 
hüinn;  c)  ne.  croivn  <^anglonorm.  coroune\  d)  ne.  hough  <ae.  &ö^;  e)  ne. 
hound  <ae.  gebunden.  —  2.  me.  ou  =  ne.  [a]  in  anglonorm.  Lehn- 
wörtern wie  couple,  double,  troid)le.  —  3.  me.  om  =  ne. [ö]  in  heimischen 
Wörtern  mit  den  Lautgruppen  ae.  -oM,  -öht  oder  südl.  -älit,  wo  sich  im 
Mittelengl.  ein  u  als  Gleitlaut  entwickelte:  ne.  bought  <^ae.  hoJite,  broughf 
<^bröhte,  ought  <^ähte.  —  4.  me.  om  .-=  ne.  [ö"]  aus  ae.  -og,  -öw  und 
südl.  -äg,  -äw:  ne.  bow  <^ae.  boga,  grow  ^gröivan,  oivn  ^ägen,  blow 
<^bläwan.  —  5.  me.  om  =  ne.  \utv]  in  me.  satzunbetontem  yoti,  through.  — 
6.  me.  ou  =  ne.  [ö"  oder  d]  in  unbetonten  Silben,  wie  borough,  nar- 
row  u.  a.     (Marcus  gibt  hier  fälschlich  die  ne.  Aussprache  [ii\  an.) 

Zuerst  findet  sich  ou  gegen  Ende  des  12.  Jahrhunderts  bei  heimi- 
schen Wörtern  der  4.  Gruppe,  wie  blouive,  touward,  fouiver\  da  in  der- 
selben Hs.  auch  zwischen  a  und  w  ein  u  eingeschoben  wird  (blamven, 
iknauiven),  handelt  es  sich  hier  offenbar  um  einen  fakultativen  Gleit- 
laut. Es  folgt  in  den  ersten  Jahren  des  13.  Jahrhunderts  Gruppe  1^  mit 
vereinzeltem  nou.  Bei  den  beiden  Schreibern  der  älteren  La:^amon-Hs. 
um  1225  ist  die  Schreibung  ou  auch  für  fast  alle  übrigen  Klassen  bereits 
nachweisbar.     Zuletzt  stellt  sich  ou  für  [li]  in  Klasse  2  ein. 

Die  me.  öm- Schreibung  zeigt  sich  demnach  zuerst  um  1200  in  W^ör- 
tern  heimischer  Herkunft  als  eingeschobener  Gleitlaut  zwischen  o  und  w. 
Im  Altfranzösischen  erscheinen  die  ersten  ou  aus  lat.  u,  ö,  au,  ol,  ul 
vereinzelt  schon  in  den  ältesten  Denkmälern  des  9  bis  10.  Jahrhunderts, 
auch  hier  wohl  zunächst  mit  diphthongischem  Charakter.  Erst  im  13.  Jahr- 
hundert rückte  in  kontinentalen  Hss.  das  07i,  dessen  Aussprache  mono- 
phtongisch  geworden  war,  in  die  Stelle  des  u,  das  auf  dem  Wege  zu  ii 
war,  ein.  Dagegen  ist  die  Schreibung  ou  in  anglonormannischen  Hand- 
Bchriften  bis  1250  ganz  selten  und  wird  erst  später  häufiger.  „Man 
wird  somit  schwerlich  behaupten  können",  meint  Marcus  (S.  142),  „die 
me,  Schreibung  ou  sei  schlankweg  aus  Frankreich  entlehnt  worden.  Sie 
mag  in  beiden  Ländern  wohl  um  die  gleiche  Zeit  aufgetreten  sein." 

54 


Auf  die  Durchführung  der  Schreibung  ou  in  den  einzelnen  Gruppen, 
ihre  Bedeutung  als  Kriterium  für  Quantität  und  auf  ihre  Aussprache  in 
me.  Zeit  kann  hier  nicht  näher  eingegangen  werden  (s.  Marcus  S.  143  ff.). 
Des  Verfassers  Ergebnisse  sind  nicht  durchweg  überzeugend,  aber  immer- 
hin beachtenswert,  und  seine  Materialsammlung  ist  wertvoll. 

c)  Schreibung  ie 
Über  den  Ursprung  und  die  Ausbreitung  der  neuenglischen  Schrei- 
bungen ie  und  ea  handelt  W.  van  der  Gaaf  in  seinen  stoff-  und  belang- 
reichen  Notes  on  English    Orthograpliij  (Neophilologus  5,  133  u.  333; 
1920). 

Im  Anglonormannischen  ist  afrz.  ie  zu  e  und  ie  zu  c  geworden.  Die 
Neigung  zu  dieser  Monophthongierung  zeigte  sich  im  normannischen 
Dialekt  schon  auf  dem  Festland;  auf  engUschem  Boden  ist  sie  dann 
durchgeführt  worden.  Die  frühsten  Belege  für  e  aus  ie  finden  sich  im 
Domesday-Buch.  Der  Wandel  der  Aussprache  tritt  in  der  Schreibung 
der  anglonormannischen  Handschriften  mehr  oder  weniger  konsequent 
zutage,  indem  neben  dem  phonetisch  korrekten  e  vielfach  noch  die  ältere 
«e-Schreibung  traditionell  beibehalten  wird.  Auch  im  14.  Jahrhundert 
ist  die  Schreibung  ie  für  e  in  anglonormannischen  Texten  noch  sehr 
gewöhnlich;  da  sie  besonders  häufig  in  Staatspapieren  und  amtlichen 
Urkunden  auftritt,  liegt  hier  vielleicht  nicht  sowohl  traditionelle  Schrei- 
bung als  vielmehr  Einfluß  des  Pariser  Französisch  vor. 

Die  doppelte  Schreibung  vieler  Wörter  mit  ie  oder  e,  wie  clüef — 
chef,  hrief —  href,  von  denen  erstere  historisch,  letztere  phonetisch  korrekt 
ist,  führte  bald  zu  „umgekehrten"  Schreibungen,  indem  ie  statt  e  in 
Wörtern  gebraucht  wurde,  wo  das  ie  historisch  unberechtigt  war,  wie 
anglonorm.  siet  für  set  (^  Septem,  mier  für  nier  (fnatrem;  so  schon  im 
Compiitus  (c.  1113  oder  1119).  Und  in  der  Orthographia  Gallica  im 
13.  Jahrhundert  wird  direkt  die  Regel  aufgestellt,  daß  jedes  betonte  e 
durch  ie  wiederzugeben  sei. 

Anglonormannische  Lehnwörter  mit  altem  ie  werden  im  Mitteleng- 
lischen in  der  Regel  mit  e  oder  ee  geschrieben :  chefe  —  cheef,  ehre  —  cleer. 
Daneben  findet  sich  in  den  gleichen  Texten  bisweilen  auch  ie,  aber  bis 
zum  14.  Jahrhundert  im  ganzen  selten.  Erst  im  15.  Jahrhundert  werden 
Schreibungen  wie  chief,  grief  u.  a.  häufiger.  Sie  beruhen  wohl  teilweise 
auf  dem  zunehmenden  Einfluß  des  Zentralfranzösischen,  wo  sich  ie  in 
der  Aussprache  erhalten  hatte.  Aber  in  chief,  dangier  u.  a.  kann  nur 
traditioneile  Schreibung  vorliegen,  da  ie  nach  [ts]  und  [cU]  auch  im  Zentral- 
französischen  schon  vor  1400  zu  e  geworden  war.  v.  d.  Gaaf  meint 
(S.  137),  daß  der  Wandel  von  me.  e  zu  [i],  der  in  der  zweiten  Hälfte 
des  15.  Jahrhunderts  im  Gange  war,  einen  starken  Einfluß  auf  die  zu- 
nehmende Häufigkeit  der  ie- Schreibungen  im  Englischen  hatte. 

Nach  dem  Muster  der  anglonormannischen  Lehnwörter  wird  schon 
von  etwa  1150  an  auch  in  englischen  Wörtern  bisweilen  für  altes  e 
ein  historisch  unberechtigtes  ie  geschrieben :  fiet  ==  ae.  fet,  quiene  =  ae. 
cwen,  fielde  ==  ae.  feld  u.  a.    Aber  erst  im  15.  Jahrhundert  führt  die  zu- 

55 


m 


nehmende  Häufigkeit  der  Schreibung  ie  in  französischen  Wörtern  auch 
zu  einer  allgemeineren  Anwendung  derselben  in  englischen,  wobei  nach 
V.  d.  Gaaf  gleichfalls  der  Wandel  von  e  zu  [i]  einen  wesentlichen  Ein- 
fluß übte  (Ö.  141). 

Um  15Ü0  war  ie  in  den  meisten  Wörtern,  in  denen  es  heute  ge- 
schrieben wird,  schon  sehr  gewöhnhch  geworden;  aber  noch  weit  bis 
ins  17.  Jahrhundert  hinein  finden  sich  Schreibungen  wie  dieef,  feetid, 
theef  u.  a.  Auch  sonst  kann  man  im  16.  Jahrhundert  fast  bei  allen 
Wörtern  mit  me.  e  sowohl  ie  als  auch  ee  oder  e  als  Wiedergabe  des 
neuen  [t-]  Lauts  finden;  erst  allmählich  im  Lauf  des  Jahrhunderts  trat 
die  heute  noch  herrschende  Scheidung  ein,  die  um  1600  in  der  Haupt- 
sache vollzogen  ist. 

d)Schreibungea 

Beim  Übergang  vom  Altengl.  zum  Mittelengl.  wurde  der  Diphthong 
ea  [=  ccd\  zu  m  monophthongiert,  das  später  in  einen  offnen  e-Laut 
übergingt).  Der  neue  Diphthong  wird  in  Texten  des  12.  Jahrhunderts 
gelegentlich  durch  (ß  wiedergegeben,  besonders  bei  Orrm :  cest,  hrced,  dcef 
u.  a.  Doch  scheint  dies  Zeichen  bald  nach  1220  aus  der  Mode  ge- 
kommen zu  sein.     (Vgl.  auch  die  Ergebnisse  Schlemilchs,  unten  S.  67.) 

Die  meisten  Schreiber  gebrauchten  das  alte  ea  auch  nach  der 
Monophthongierung  zunächst  traditionell  weiter,  und  schon  bald  nach 
1100  wird  es  in  umgekehrter  Schreibung  in  Wörtern  angewandt,  die 
ae.  cß  hatten;  so  bereits  im  späteren  Teil  der  Sachsenchronik  meast, 
fearlice,  liwear,  ivearen,  seagon  u.  a, ;  gelegentlich  auch  für  kurzes  ce: 
heafdon.  Besonders  häufig  sind  diese  umgekehrten  Schreibungen  in  der 
Ancren  Riwle.  Aber  nach  1250  wird  ea  seltner,  und  von  1300  an 
kommt  es  in  einheimischen  Wörtern  nur  noch  ganz  vereinzelt  vor.  Nur 
in  Kent  hat  es  sich  auch  im  14.  Jahrhundert  lebendig  erhalten ;  sowohl 
im  Ayenhit  wie  bei  William   of  Shoreham  ist  es  häutig. 

Erst  im  15.  Jahrhundert  beginnt  die  Schreibung  ea  sich  wieder 
auszubreiten.  Daß  diese  Bewegung  von  Kent  ihren  Ausgang  genommen 
haben  sollte,  ist  nicht  wahrscheinlich,  v.  d.  Gaaf  sucht  nachzuweisen, 
daß  die  Wiedereinfüh  rung  der  Schreibung  ea  in  englischen 
Wörtern  und  ihre  zunehmende  Häufigkeit  im  15-  Jahr- 
hundert auf  anglonor mannischem  Einfluß  beruht. 

Eine  der  Eigentümlichkeiten  des  Anglonormannischen  ist  der  früh- 
zeitige Zusammenfall  von  ai  und  ei,  wohl  in  einen  dazwischenliegenden 
Diphthongen  [cßi],  der  später  (etwa  von  1100  an)  in  manchen  Stellungen  zu 
et'  monophthongiert  wurde.  Zur  Wiedergabe  dieses  Lauts  stand  den 
anglonormannischen  Schreibern  kein  Schriftzeichen  zur  Verfügung;  so 
benutzten  sie  entweder  die  ursprünglichen  Schreibungen  ai  und  ei  weiter, 
oder  sie  gebrauchten  das  lautlich  dem  a;  am  nächsten  stehende  e.  Da- 
neben aber  begannen  sie  (etwa  vom  letzten  Viertel  des  12.  Jahrhunderts 

1)  V.  d.  Gaaf  (S.  143)  scLreibt  „fa  became  [«:]".  Aber  der  erste  Laut  des 
ae.  Diphthongen  ca  war  kein  geschlossenes  f,  sondern  ea  steht  graphisch  für  cea. 

56 


an),  offenbar  unter  englischem  Einfluß,  den  Laut  'te  durch  ea  wiederzu- 
geben, wie  es  damals  englischer  Schreibergebrauch  war.  Und  sie  ver- 
wandten den  Digraph  ca  nicht  bloß  für  altes  ai,  ei,  sondern  auch  für 
^  aus  andern  Quellen.  In  anglonormannischen  Texten  des  14.  Jahr- 
hunderts finden  sich  diese  ea- Schreibungen  häufig  genug,  z.  B.  feate 
'facta',  fear(e)  'facere',  please  'placeat',  ease,  eagle,  seal  u.  a. 

Auch  bei  anglonormannischen  Lehnwörtern  im  Englischen  wird 
das  ce  außer  durch  die  traditionellen  Schreibungen  schon  im  13.  Jahr- 
hundert gelegentlich  durch  ea  wiedergegeben :  me.  eaise,  isealede,  reaisun, 
heast.  Doch  sind  solche  Beispiele  im  13.  und  14.  Jahrhundert  im  ganzen 
noch  spärlich.  Von  14Ü0  an  aber  wird  ea  in  französischen  Lehnwörtern 
immer  häufiger. 

Während  also  ea  von  1250 — 1400  in  englischen  Wörtern  außer 
im  Kentischen  selten  ist,  tritt  es  in  anglonormannischen  Texten  dieser 
Periode  ziemlich  häufig  auf  und  kommt  auch  in  englischen  Texten  bei 
französischen  Lehnwörtern  gelegeintlich  vor.  Ja,  in  manchen  englischen 
Schriften  dieser  Zeit  begegnet  ea  in  französischen  Wörtern  recht  oft, 
während  es  bei  englischen  völlig  fehlt.  Unter  diesen  Umständen  erbhckt 
van  der  Gaaf  in  dem  allmählichen  Wiederauftauchen  des  ea  in  eng- 
lischen Wörtern  im  15.  Jahrhundert  ein  weiteres  Beispiel  des  Ein- 
flusses der  anglonormannischen  Orthographie  auf  die  englische.  Eine 
Schreibergewohnheit,  die  das  Anglonormannische  in  der  zweiten  Hälfte 
des  12.  Jahrhunderts  aus  dem  Englischen  entlehnt  hatte,  wurde  zwei- 
einhalb Jahrhunderte  später  von  da  aus  wieder  auf  das  heimische 
Sprachgut  übertragen,  dem  es  über  ein  Jahrhundert  lang  fast  völlig 
fremd  geworden  war,  während  das  Anglonormannische  es  beibehalten 
hatte.  Doch  ist  ea  in  englischen  Wörtern  auch  im  15.  Jahrhundert 
immer  noch  verhältnismäßig  selten.  Selbst  in  Texten  aus  der  Wende 
des  15.  und  16.  Jahrhunderts  ist  es  meist  auf  französische  Lehnwörter 
beschränkt.  Erst  im  16.  Jahrhundert  bürgert  es  sich  mehr 
und  mehr  ein  und  wird  nun  lauge  Zeit  hindurch  häufiger  äuge  wandt 
als  heutzutage.  Es  scheint  direkt  eine  Modeschreibung  gewesen  zu  sein 
und  nicht  immer  denselben  Laut  bezeichnet  zu  haben,  v.  d.  Gaaf  stellt 
eine  große  Anzahl  von  Wörtern,  nach  lautlichen  Gruppen  geordnet,  zu- 
sammen, die  im  16.  und  17.  Jahrhundert  im  Unterschied  von  der 
heutigen  Orthographie  vielfach  mit  ea  geschrieben  wurden. 

V.  Grammatische  Gesamtdarstellungen 
1.  Historische  Grammatik 

C.  Friedrich  Kochs  Historische  Grammatik  der  englischen  Sprache 
(3  Bde.,  1863 — 69;  2.  Aufl.  1878 — 91),  seiner  Zeit  ein  verdienstvolles 
Werk,  ist  längst  veraltet.  Kaluzas  Historische  Grammatik  der  eng- 
lischen Sprache  (2  Teile,  1900 — Ol  ;  2.,  wesentlich  verbesserte  und  ver- 
mehrte Aufl.  1906 — 07)  ist  weniger  eine  streng  wissenschaftliche  Dar- 
stellung  als    ein   praktisch   angelegtes    Handbuch    für    Studierende    mit 

57 


knapp  gefaßten  Regeln  und  zahlreichen  Beispielen.  Da  der  StoflF  in 
Querschnitten  nach  Perioden  geordnet  ist,  läßt  das  Buch  sich  auch  für 
ein  historisches  Studium  der  alt-  und  mittelenglischen  Grammatik  be- 
quem verwerten. 

H.  C.  Wylds  Ä  Short  Hisforp  of  English  (London,  Murray,  1914; 
ins  Deutsche  übersetzt  von  Mutschmann,  Heidelberg  1919),  das  mehr 
eine  historische  Grammatik  als  eine  Geschichte  der  englischen  Sprache 
enthält,  wurde  bereits  oben  (S.  2)  gewürdigt.  Es  dient  gleichfalls  in 
erster  Linie  den  praktischen  Zwecken  des  Unterrichts  und  behandelt 
nicht  alle  Teile  der  Grammatik  gleich  ausführlich.  Im  Unterschied  von 
Kaluza  hat  Wyld  nur  die  Lautgeschichte  nach  Perioden  gegliedert, 
während  in  der  Formenlehre  die  Geschichte  der  einzelnen  Wortkategorien 
in  ihrer  Entwicklung  aus  dem  Altenglischen  bis  ins  Neuenglische  durch- 
laufend zur  Darstellung  gebracht  wird. 

Eine  umfangreichere,  allen  wissenschaftlichen  Ansprüchen  genügende 
Behandlung  der  historischen  Grammatik  des  Englischen,  von  der  Höhe 
der  modernen  Forschung  geschrieben,  fehlte  bisher.  Niemand  war  besser 
geeignet  zur  Lösung  dieser  schwierigen  Aufgabe  als  Karl  L  u  i  c  k ,  der 
sich  durch  seine  früheren  Arbeiten  als  Autorität  auf  dem  Gebiet  der 
altenglischen,  mittelenglischen,  frühneuenglischen  Grammatik  und  der 
neueren  Dialekte,  sowie  als  gründlichen  Kenner  der  Phonetik  erwiesen 
hatte.  Seine  Historische  Grammatili,  von  der  bisher  6  Lieferungen  er- 
schienen sind  (Leipzig,  Chr.  Herm.  Tauchnitz,  1914 — 21),  soll  zunächst 
die  Laut-  und  Formengeschichte  in  zwei  Bänden  darstellen,  denen  sich 
später  womöglich  ein  dritter  Band  mit  der  Geschichte  des  Satzbaus 
anschließen  wird.  Das  Werk  enthält  eine  vollständige  Zusammenfassung 
der  bisherigen  Forschungsergebnisse  auf  Grund  kritischer  Prüfung,  viel- 
fach durch  neue  Gedanken  vermehrt,  berichtigt,  ergänzt.  Es  gibt  keine 
Quer-,  sondern  Längsschnitte;  es  ist  keine  Regelsammlung  über  den 
Laut-  und  Formenbestand  der  einzelnen  Perioden,  sondern  legt  das 
Hauptgewicht  auf  die  Schilderung  der  charakteristischen  sprachgeschicht- 
lichen Veränderungen  in  möglichst  historischer  Aufeinanderfolge. 
Es  beschreibt  die  Wandlungen,  ihre  zeitliche  Begrenzung,  ihre  Be- 
ziehungen untereinander;  es  sucht  ihren  sprachphysiologischen  Verlauf 
zu  erklären  und  womöglich  auch  die  tieferen  Ursachen  der  Verände- 
rungen zu  ergründen.  Schon  die  vorliegenden  Lieferungen  zeigen,  daß 
wir  es  mit  einer  mustergültigen  Arbeit  ersten  Ranges  zu  tun  haben,  an 
der  kein  Forscher  künftig  wird  vorüber  gehn  können,  und  die  nach 
ihrer  Vollendung  auf  lange  hinaus  die  Grundlagen  für  die  weitere 
Forschung  abgeben  wird.  Wir  werden  auf  Einzelheiten  des  Inhalts 
dieses  bedeutenden  Buchs  im  Verlauf  unsrer  Darstellung  noch  mehrfach 
zurückzugreifen  haben. 

2.  Alt-  und  Mittelenglische  Grammatik 

Auf  dem  Gebiet   der   altenglischen  Grammatik    ist   in   den 
letzten   Jahren   keine   neue,   zusammenfassende    Darstellung    erschienen, 

58 


so  dringend  das  Bedürfnis  danach  ist.  Sievers'  Änglsächsische  Gram- 
matik (3.  Aufl.  1898),  das  klassische  Werk  über  die  altenglische  Laut- 
und  Formenlehre,  das  seit  langem  vergriffen  war,  ist  kürzlich  (1921) 
auf  mechanischem  Wege  unverändert  wieder  abgedruckt  worden,  da 
eine  Neubearbeitung  leider  in  absehbarer  Zeit  kaum  zu  erwarten  ist. 
Auch  der  kurze  Abriß  der  angelsächsischen  Grammatik  von  Sievers 
(zuerst  1895  erschienen)  wird  von  Zeit  zu  Zeit  wieder  neu  abgedruckt 
und  ist  für  deutsche  Studenten  die  beste  Einführung  in  das  Studium 
der  altenglischen  Grammatik.  SokoUs  Lehrbuch  der  AUenglischen 
(angelsächsischen)  Sprache  (Wien,  Hartleben,  o.  J.  [l9ül]),  das  als  Vor- 
stufe zu  Sievers  gedacht  ist  und  dem  Selbstunterricht  dienen  will,  ist 
nicht  ungeschickt  angelegt;  es  nimmt  weitgehende  Rücksicht  auf  die 
historische  Entwicklung,  aber  geht  über  die  Bedürfnisse  des  Anfängers 
erheblich  hinaus  und  ist  zudem,  namentlich  in  der  Lautlehre,  vielfach 
unzuverlässig  (s.  die  ausführliche  Besprechung  von  Bülbring  Anglia 
Beibl.  14,  1;  1903).  Bülbring  ist  leider  1917  gestorben,  ohne  sein 
treffliches  Altenglisches  Elementarblich,  von  dem  1902  die  Lautlehre 
erschien,  vollendet  zu  haben.  Auch  dieses  Buch  greift  weit  über  den 
Rahmen  eines  Elementarbuchs  hinaus:  es  ist  eine  streng  wissenschaft- 
liche, auf  eigne  Forschungen  gegründete  Darstellung  der  altenglischen 
Lautlehre. 

Die  umfangreiche  Old  English  Grammar  von  Joseph  Wright 
und  Elizabeth  Mary  Wright  (Oxford  Univ.  Press  1908),  die  außer 
der  Laut-  und  Formenlehre  auch  ein  sehr  willkommenes  Kapitel  über 
Wortbildungslehre  bringt,  ist  ebenso  wie  die  in  England  oder  Amerika 
erschienenen  altenglischen  Elementarbücher  von  Sweet,  Cook,Bright, 
C.  A.  Smith  und  Wyatt,  deutschen  Studenten  und  Lehrern  unter  den 
heutigen  Verhältnissen  kaum  zugänglich.  Auch  eine  neuere  amerikanische 
Einführung  ins  Altenglische  von  S.  Moore  and  Th.  A.  Knott,  The 
Elements  of  Old  English.  Elementary  Grammar  and  Beference  Grammar 
(Ann  Arbor,  Mich.,  1919),  kommt  für  den  Gebrauch  an  deutschen  Uni- 
versitäten nicht  in  Betracht, 

Ganz  schlimm  ist  es  um  die  mittelenglische  Grammatik 
bestellt.  Eine  erschöpfende,  wissenschaftlichen  Ansprüchen  genügende 
Gesamtdarstellung  derselben  gibt  es  überhaupt  nicht.  Morsbachs 
groß  angelegte  Mittelenglische  Grammatik  ist  nicht  über  die  erste  Liefe- 
rung (Halle  1895)  hinaus  gediehen.  Einen  brauchbaren  Ersatz  für  die 
Hand  des  Studierenden  bietet  einstweilen  der  mittelenglische  Teil  von 
Kaluzas  Historischer  Grammatik  (s.  oben  S.  57 f.).  Ein  neueres  ameri- 
kanisches Buch  von  Samuel  Moore,  Historical  Outlines  of  English 
Phonology  and  Middle  English  Grammar  for  courses  in  Chaucer,  Middle 
English,  and  the  liistory  of  the  English  Language  (Ann  Arbor,  Mich., 
1919),  ist  eine  unsystematische  Verquickung  heterogenen  Stoffs  („The 
Elements  of  Phonetics'^,  „Modern  English  Sounds",  „The  Language 
of  Chaucer",  „The  History  of  Enghsh  Sounds",  „Historical  Develop- 
ment of  Middle  English  Inflections",  „Middle  English  Dialects")  und 
dient  nur  elementaren  Bedürfnissen. 

59 


Unter  solchen  Umständen  ist  es  hoch  erfreulich,  daß  wir  in  der 
3. — 6.  Lieferung  von  Luicks  Historischer  GranimafiJc  (s.  oben  S.  58) 
jetzt  wenigstens  eine  vollständige  Darstellung  der  Geschichte  des  niittel- 
englischen  Vokalismus  haben,  die  allen  Ansprüchen  wissenschaftlicher 
Gründlichkeit  gerecht  wird. 

Sehr  willkommen  ist  auch  die  von  EduardEckhardt  mit  dankens- 
werter Hingebung  bearbeitete  dritte  Auflage  von  ten  Brink,  Chaucers 
Sprache  und  Vershunst  (Leipzig  1920,  Chr.  Herrn.  Tauchnitz).  Über- 
arbeitungen von  Werken  verstorbener  Autoren  sind  immer  undankbare 
Aufgaben,  und  auch  an  dieser  Bearbeitung  wird  der  eine  dies,  der  andre 
das  auszusetzen  haben.  Ln  ganzen  dürfen  wir  jedenfalls  froh  sein,  aus 
der  Hand  eines  gewissenhaften,  tüchtigen  Forschers  eine  wissenschaft- 
lich brauchbare  Neuausgabe  von  ten  ßrinks  klassischem  Werk  über 
die  Sprache  und  Verskunst  des  größten  mittelenglischen  Dichters  er- 
halten zu  haben.  Eine  knappe  Darstellung  des  gleichen  Gegenstands 
bietet  auch  Kaluza  in  seinem  Chaucer- Handbuch  für  Studierende 
(Leipzig,  Bernh.  Tauchnitz,  1919),  das  im  übrigen  eine  gute  und  reich- 
liche Auswahl  aus  den  Werken  des  Dichters  mit  kurzen  Einleitungen 
und  einem  Wörterverzeichnis  enthält. 

In  einem  bemerkenswerten  Aufsatz  über  Soutlt-Eastern  and  South- 
East  Midland  Dialects  in  Middle  English  (Essays  and  Studies  by 
Members  of  the  Engl.  Association  6,  112 — 145;  Oxford  1920)  unter- 
zieht Henry  Cecil  Wyld  auf  Grund  von  21  Kriterien  aus  der  Laut- 
und  Formenlehre  unter  Zuhilfenahme  der  älteren  Ortsnamen  eine  Anzahl 
südostmittelländischer,  kentischer  und  Londoner  Texte  einer  genaueren 
Prüfung,  wobei  er  zu  interessanten  Aufstellungen  kommt.  Zu  bedauern 
ist  nur,  daß  ihm  dabei  die  wichtige  einschlägige  Arbeit  von  Heuser 
(oben  S.  29)  entgangen  ist,  deren  Ergebnis  manche  seiner  Ausführungen 
in  anderm  Licht  erscheinen  läßt.  Namentlich  eine  Auseinandersetzung 
mit  Heuser  über  den  Dialekt  der  Vices  and  Vertues  und  der  übrigen 
Londoner  Denkmäler  (oben  S.  30  f.)  wäre  erwünscht  gewesen. 

3.  Neuenglische  Grammatik 

Für  die  neuenglische  Grammatik  liegen  die  Diu^e  wesentlich  besser 
als  für  die  mittelenglische.  Zunäciist  zwei  ältere  Werke.  Henry  Sweets 
New  English  Gramm ar,  logical  and  historical  (Oxford  1892),  seinerzeit 
das  beste  auf  dem  Gebiet,  ist  auch  heute  noch  wertvoll,  obschon  in 
manchen  Punkten  überholt.  Wilhelm  Horns  Historische  Neuenglische 
(rramniatih  (1.  Teil,  Straßburg  1908)  ist  ein  dankenswerter  erster  Ver- 
such, die  reichhaltigen  neueren  Forschungsergebnisse  in  übersichtlicher, 
praktisch  brauchbarer  Form  zusammenzufassen.  Leider  ist  bisher  nur 
die  Lautlehre  erschienen. 

Ein  groß  angelegtes,  durchaus  originelles  Werk  ist  Otto  J es- 
per sen,  A  Modern  English  Grammar  on  historical  Frinciples.  Bis  jetzt 
liegen  zwei  Teile  davon  vor:  L  Sounds  and  Sjjc/lings  (Heidelberg  1909) 
und  HL  Syntax,    l.  Band  (1914).     Es  vereinigt   in    bewundernswerter 

60 


Weise  Scharfsinn  und  Schöpferkraft  mit  eingehender  Kenntnis  der  histo- 
rischen Grammatik  und  gründlicher  Beherrschung  des  modernen  Eng- 
lisch, dessen  geschichtlicher  Erklärung  das  Werk  letzten  Endes  dienen 
will,  "überall  enthält  es  neue  Beobachtungen,  neue  Beleuchtung  bekannter 
Tatsachen,  neue  Theorien,  die  wohl  manchmal  zum  Widerspruch  heraus- 
fordern, aber  immer  zum  Nachdenken  anregen.  Es  ist  die  beste  wissen- 
schaftliche Gesamtdarstellung  der  neuenglischen  Grammatik,  die  wir 
haben.  Freilich  ist  sie  mehr  für  Vorgeschrittene  als  zur  ersten  Ein- 
führung in  den  Stoff  geeignet. 

Für  Studierende  ist  Eile rt  Ekwa  11s  vortreffliche  Historische  Neu- 
englische  Laut-  zmd  Formenlehre  in  der  Sammlung  Göschen  (1914)  am 
meisten  zu  empfehlen,  die  auf  knappem  Raum  eine  zuverlässige,  klare, 
mit  selbständigem  Urteil  durchgeführte  Darstellung  der  historischen  Laut- 
und  Formenlehre  des  Neuenglischen  mit  vielen  wertvollen  Ergebnissen 
eigner  Forschung  bietet. 

Ein  wichtiges  Hilfsmittel  für  das  Studium  des  älteren  Neuenglisch 
ist  auch  die  Shahespeare-Grammatih  von  W.  Franz  (l.  Aufl.  Halle 
1898 — 1900;  2.,  wesentlich  vermehrte  und  verbesserte  Auflage,  Heidel- 
berg 1909).  Sie  behandelt  die  Schreibung,  Aussprache,  Wortbildung, 
Flexion  und  besonders  ausführlich  den  Satzbau  des  Dichters.  Sie  be- 
ruht auf  langjähriger  Beschäftigung  mit  dem  Gegenstand  und  ist  das 
beste,  was  wir  über  Shakespeares  Sprache  haben.  Nur  für  die  Laut- 
lehre steht  ihm  W.  Victors  Shakes2)eare  Phonology  (Marburg  1906) 
als  wertvolle  Ergänzung  zur  Seite. 

4.  Grammatik  der  heutigen  Gemeinsprache 

Von  älteren  grammatischen  Darstellungen  des  lebenden  Englisch 
tun  Immanuel  Schmidts  Grammatik  der  englischen  Sprache  (7.  Aufl. 
1908)  und  John  Kochs  Wissenschaftliche  Grammatik  der  englischen 
Sprache  (Berlin  1889;  jetzt  Hamburg,  Henri  Grand)  immer  noch  gute 
Dienste. 

Das  umfassendste  deutsche  Lehrbuch  des  heutigen  englischen  Sprach- 
gebrauchs aber  ist  Gustav  Krüger,  Schwierigkeiten  des  Englischen 
(Dresden,  C.  A.  Koch;  1.  Aufl.  1897  —  1904;  2.,  neubearbeitete  Aufl. 
1910  —  19;  3.  Aufl.,  1.  Teil  1920).  Der  etwas  absonderliche  Titel 
wird  dem  reichen  Inhalt  des  Werks  nicht  gelf'echt.  Es  ist  nach  Anlage 
und  Ausführung  allerdings  eine  eigenartige  Schöpfung.  In  seinen  zahl- 
reichen, umfangreichen  Bänden  bietet  es  nicht  nur  eine  Grammatik,  son- 
dern auch  eine  systematische  Darstellung  des  Wortschatzes.  Von  jeder 
historischen  Behandlung  wird  abgesehen;  die  Aufmerksamkeit  ist  ganz 
auf  den  lebenden  Sprachgebrauch  konzentriert. 

Das  Buch  zerfällt  in  der  2.  Auflage  in  vier  Teile.  Auf  den  ersten 
Teil,  der  von  Synonymik  und  Wortgehrauch  handelt,  wurde  oben  (S.  42) 
bereits  hingewiesen.  Der  zweite  Teil,  Syntax  betitelt,  stellt  seinen  Gegen- 
stand „vom  englischen  und  deutschen  Standpunkt"  aus  dar  und  enthält 
außer  der  Satzlehre   auch   „Beiträge    zu  Wortbildung,  Wortkunde  und 

61 


Wortgebrauch".  Er  zerfällt  in  vier  durchpaginierte  Bände  von  2480 
Seiten,  wozu  noch  das  dem  3.  Band  beigegebene  Vorwort  von  XL  Seiten 
und  die  ausführlichen  Inhaltsverzeichnisse  kommen.  Der  1.  Band  des 
zweiten  Teils  (1914)  behandelt  „Hauptwort;  Eigenschaftswort;  Umstands- 
wort; Fürwort";  der  2.  Band  (1915)  das  „Zeitwort";  der  3.  Band 
(1917)  „Frage,  Beifügung,  Übereinstimmung,  Nachdruck,  Satzverbin- 
dung, Stellung,  Verhältniswort,  Gefühlswörter,  Ausrufe,  Schreibung". 
Dazu  kommt  als  4.  ein  besonderer  Registerband  (1907).  Es  ist  keine 
eigentliche  Syntax,  überhaupt  keine  systematisch  angelegte  Grammatik 
im  gewöhnlichen  Sinn,  sondern  eine  eigentümliche  Mischung  von  For- 
menlehre, Wortbildungslehre,  Satzlehre  und  Phraseologie.  Die  Bände 
enthalten  zahlreiche  originelle  Beobachtungen  und  eine  Fülle  wertvollen 
BeispielstofFs,  leider  ohne  die  Belegstellen,  was  zu  bedauern  ist,  weil  ohne 
solche  Nachweise  nicht  beurteilt  werden  kann,  welcher  Periode  der  Beleg 
entstammt,  und  ob  er  einem  erstklassigen  oder  einem  minderwertigen 
Schriftsteller  entnomnien  ist.  Anordnung  und  Druck  des  endlos  gehäuften 
Stoflfs  lassen  oft  die  Übersichtlichkeit  vermissen,  doch  wird  der  Gebrauch 
durch  gute  Inhaltsangaben  und  Kegister  immerhin  erleichtert.  Der  Schlüssel 
zur  Aussprachebezeichnung  genügt  wissenschaftlichen  Ansprüchen  nicht. 

Der  dritte  Teil,  Vermischte  Beiträge  zur  Syntax  (1919),  bringt 
eine  Reihe  anregender  und  belangreicher  Aufsätze  über  Fragen  der  mo- 
dernen Syntax:  z.  B.  über  „Die  Mischfügung  der  eigenschaftwörtlichen 
und  hauptwörtlichen  Zeitwortform",  d.  h.  die  Mischung  von  Partizip  und 
Gerundium  (Excuse  me  [niy]  laughing),  über  das  Gerundium,  über 
Zwischenschiebungen  verschiedener  Art  im  Englischen,  über  mily  too,  I 
meant  to  have  gone,  über  die  Auslassung  des  Relativs,  über  den  Ursprung 
von  Wendungen  wie  I  was  given  the  hook  usw. 

Der  vierte  Teil,  betitelt  ünenglisches  Englisch  (1918),  enthält 
„eine  Sammlung  der  üblichsten  Fehler,  welche  Deutsche  beim  Gebrauch 
des  Englischen  machen",  alphabetisch  nach  Schlagwörtern  geordnet.  In 
dem  Bande  lindet  man  manche  gute  Bemerkungen  und  pädagogisch  wert- 
volle Regeln  über  Einzelheiten  der  Wortbildung,  Synonymik,  Phraseo- 
logie, Stilistik  und  Syntax,  bei  denen  Deutsche  erfahrungsgemäß  gern 
Fehler  machen.  Aber  ein  guter  Teil  des  recht  bunten,  aus  den  eignen 
Lehrerfahrungen  des  Verfassers  erwachsenen  Stoffs  ist  überflüssig,  ein 
andrer  erscheint  unter  Stichwörtern,  wo  man  ihn  nicht  vermutet.  Man 
kann  überhaupt  bezweifeln,  ob  für  eine  derartige  Fehlersammlung  alpha- 
betische Anordnung  die  richtige  ist;  für  manche  Fälle  wäre  sicher  eine 
systematische  Besprechung  nach  grammatischen  oder  sachlichen  Gesichts- 
punkten praktischer  gewesen. 

Eine  dunkle  Seite  des  Buchs  ist  die  grammatische  Termino- 
logie. Bei  der  grundsätzlichen  Bedeutung  der  Sache  mag  hier  mit 
einigen  Worten  darauf  eingegangen  werden.  Krüger  spricht  sich  in 
einem  besondern  Abschnitt  „Zu  den  Fachbezeichnungen  der  Sprach- 
lehre" am  Schluß  des  3.  Bandes  der  Syntax  eingehend  darüber  aus. 
Er  ist  Purist  schärfster  Tonart;  er  sucht  sämtliche  grammatischen  BVemd- 
wörter  durch  deutsche  zu  ersetzen,   und  wenn  dabei  auch  noch  so  un- 

62 


geheuerliche  Bildungen  herauskommen.  Für  Elementarb ücber  läßt  man 
sich  das  gefallen.  Manche  Fremdwörter  machen  den  Schülern  erfahrungs- 
gemäß zuerst  erhebliche  Schwierigkeit,  und  man  versteht  es,  wenn  in 
Elementarschulen  „Wesfall"  für  Genitiv,  „Wemfall"  für  Dativ,  „Eigen- 
schaftswort" für  Adjektiv  gesagt  wird.  Aber  anders  liegt  die  Sache 
doch  bei  Büchern,  die  nicht  eigentlich  Schulbücher,  sondern  Nachschlage- 
werke von  mehr  oder  weniger  wissenschafthchem  Charakter  sind.  Wie 
die  Wissenschaft  selbst,  so  hatte  auch  die  Sprache  der  Wissenschaft 
bisher  einen  internationalen  Grundzug.  Zwar  die  Zeit,  wo  Latein  die 
internationale  Gelehrtensprache  war,  ist  mit  Recht  vorbei.  Zum  Aus- 
druck der  mannichfachen  Begriffe  der  modernen  Wissenschaft  und  der 
Verhältnisse  des  modernen  Kulturlebens  ist  eine  tote  Sprache  ungeeignet. 
Aber  mit  Fug  und  Recht  hat  man  bisher  auf  Grund  des  griechischen 
und  lateinischen  Wortschatzes  zahllose  Neubildungen  von  Ausdrücken 
der  Wissenschaft  und  Technik  geschaffen,  um  sie  den  Vertretern  aller 
modernen  Kulturvölker  leicht  verständlich  zu  machen.  Nicht  alle  diese 
Bildungen  sind  glücklich;  auch  auf  grammatischem  Gebiet  könnten 
manche  Fremdwörter  recht  wohl  durch  bessere  einheimische  ersetzt 
werden,  und  Ausdrücke  wie  „Einzahl",  „Mehrzahl",  „Fürwort"  läßt  man 
sich  neben  Singular,  Plural,  Pronomen  auch  in  wissenschaftlichen  Werken 
gern  gefallen.  Aber  drei  Forderungen  sind  an  alle  Verdeutschungen 
von  Fremdwörtern  zu  stellen:  sie  müssen  klar,  sie  müssen  kurz,  und 
sie  müssen  leicht  auszusprechen  sein.  Diese  Forderungen  werden  aber 
bei  vielen  von  Krügers  Verdeutschungen  nicht  erfüllt;  man  vergleiche 
z.  B.  „hauptwörtliche  Zeitwortform"  mit  Gerundium,  „zeitwörtliche 
Hauptwortform"  mit  Verbalsubstantiv,  „ eigenschaftswörthche  Zeitwort- 
form" mit  Partizip  u.  dgi.  m.  Die  deutsche  Sprache  mit  ihren  starken 
Konsonantenhäufungen  ist  für  solche  Bildungen  weniger  geeignet  als 
die  romanischen  mit  ihren  vorherrschenden  Vokalen.  Vor  allem  aber 
haben  die  Fremdwörter  eines  vor  den  Verdeutschungen  voraus:  aus 
jedem  Hauptwort  lassen  sich  ohne  weiteres  mit  vokalisch  anlautenden 
Suffixen  leicht  auszusprechende  Adjektiva  machen,  wie  „Partizip"  — 
„partizipial".  Im  Deutschen  steht  für  solche  Bildungen  in  erster  Linie 
nur  das  Suffix  -lieh  zur  Verfügung,  wodurch  schwer  aussprechbare 
Wörter  entstehen.  Und  wie  soll  zu  „eigenschaftswörtliche  Zeitwortform" 
das  Adjektiv  gebildet  werden? 

Um  durch  die  häufige  Wiederkehr  seiner  Wortungetüme  sein  um- 
fangreiches Werk  nicht  noch  erhebHch  mehr  anzuschwellen,  hat  Krüger 
seine  Zuflucht  zu  Abkürzungen  genommen,  die  in  großer  Zahl  in  den 
Text  eingestreut  sind.  Aber  diese  Abkürzungen  sind  so  ungewöhnlich 
und  unverständlich,  daß  der  Leser  auf  Schritt  und  Tritt  darüber  stolpert, 
und  daß  die  „Schwierigkeiten",  die  der  Verfasser  in  seinem  Buch  be- 
heben will,  durch  neue  verschlimmert  werden.  Aus  der  großen  Zahl 
solcher  Abkürzungen  seien  nur  einige  herausgehoben :  a.  =  aussagend 
(a.  h.  prädikativ),  Asb.  =  Aussagebestandteil,  Aussagebeiwort  (d.  h.  Prä- 
dikatsnomen), Bf.  =  Besitzfall  (d.  h.  flektierter  Genitiv),  Bff.  =  Befehlform 
(d,  h.  Imperativ),  bg.  E.  =  begleitendes  Eigenschaftswort  (d.  h.  attributives 

63 


Adjektiv),  c.Z.  =  eigenschaftwörtliches  Zeitwort  (Partizip),  f.  Z.  =  ferneres 
Ziel  (Dativobjekt),  Hstgf .  =  Höchstgradforra  (Superlativ),  m.  Z.  =  mittel- 
bares Ziel  (Dativobjekt),  uo.  ob.  =  unterordnendes  Satzbindewort  (Kon- 
junktion), uw.  Ra.  =  umstandswörtliche  (adverbiale)  Redensart,  usw. 
Welcher  Leser  wird  beim  Benutzen  des  Werks  die  Auflösungen  solcher 
Abkürzungen  immer  gegenwärtig  haben? 

Der  Verfasser  hat  dem  Leser  den  Gebrauch  seines  Buchs  nicht 
gerade  leicht  gemacht.  Aber  wir  wollen  darüber  den  wahren  Wert  der 
inhaltreichen  Bände  nicht  aus  den  Augen  verlieren.  Alles  in  allem: 
ein  etwas  ungeschlachtes,  aber  wertvolles  Riesenwerk,  das  als  unentbehr- 
liches Nachsclilagebuch  jedem  Forscher,  Lehrer  und  Studierenden  zur 
Hand  sein  sollte. 

Systematischer  als  bei  Krüger  ist  die  grammatische  Darstellung  des 
lebenden  Englisch  in  der  großen  Grammar  of  Lote  Modern  Etiglish 
des  Holländers  H.  Poutsraa  geordnet.  Das  Werk,  von  dem  bisher 
drei  starke  Bände  erschienen  sind  (P.  Noordhoff,  Groningen,  1904 — 16), 
zerfällt  in  zwei  Teile.  Der  erste  (Part  I)  behandelt  den  Satz,  und  zwar 
im  1.  Abschnitt  (S.  1 — 348;  19o4)  die  Teile  des  einfachen  Satzes  (The 
Elements  of  the  Sentence),  im  2.  (S.  349 — 812;  1905)  das  Satzgefüge 
(The  Composite  Sentence).  Part  II  handelt  von  den  Redeteilen  (The 
Parts  of  Speech).  Der  1.  Abschnitt  des  II.  Teils  erörtert  in  2  Bänden: 
l)  Substantiva,  Adjektiva  und  Artikel  (1914),  2)^^  Pronomina  und  Zahl- 
wörter (1916).  Poutsma  ist  ein  scharfer  Beobachter  und  gi'ündlicher 
Kenner  des  modernen  Englisch.  Sein  Werk  ist  das  Ergebnis  lang- 
jähriger, fleißiger  Forschungen.  Der  hervorstechendste  Zug  desselben 
ist  die  Belegung  der  aufgestellten  Regeln  durch  eine  ungeheure  Menge 
von  Zitaten,  die  teilweise  aus  andern  Grammatiken  und  Wörterbüchern 
entnommen  sind,  in  ihrer  überwiegenden  Mehrzahl  aber  eignen  Samm- 
lungen des  Verfassers  entstammen,  die  er  aus  zahllosen  und  mannig- 
fachen Quellen :  aus  literarischen  und  wissenschaftlichen  Werken ,  Zeit- 
schriften und  Tagesblättern,  zusammengetragen  und  mit  genauen  Nach- 
weisen versehen  hat. 

Poutsmas  Grammar  ist  die  vollständigste  und  beste  deskriptive 
Gesamtdarstellung  der  englischen  Literatur-  und  Umgangssprache  der 
letzten  zwei  Jahrhunderte.  Aber  in  der  Vollständigkeit  liegt  auch  eine 
Schwäche  des  Buchs  begründet.  Es  enthält  manch  überflüssigen  Stoff. 
Unter  dem  Streben  nach  Genauigkeit  und  Vollständigkeit  und  unter  der 
Fülle  der  Beispiele  leidet  die  Übersichtlichkeit.  Eine  stärkere  Hervor- 
hebung des  für  den  Ausländer  Wesentlichen  wäre  wünschenswert.  Das 
Buch  ist  für  Vorgerücktere  bestimmt;  als  Schulbuch  kommt  es  nicht  in 
Betracht.  Aber  für  den  Gebrauch  auf  Universitäten,  sowie  für  jeden, 
der  sich  eindringender  mit  dem  Studium  des  Modernenglischen  befaßt, 
ist  Poutsmas  Werk  ein  wichtiges,  anregendes,  unentbehrliches  Nach- 
schlagebuch. 

Auch  zwei  andre  holländische  Grammatiken  des  heutigen  Englisch, 
gleich  Poutsmas  Buch  in  englischer  Sprache  geschrieben,  seien  der  Be- 
achtung deutscher  Lehrer  und  Studierender  empfohlen. 

64 


J.  H.  A.  G  ü  n  t  h  e  r ,  ^  Manual  of  English  Prommciation  and  Gram- 
mar  for  fhe  Use  of  DutcJi  Stuäents,  dessen  1.  Auilage  fünf  Jahre  vor 
Poutsma  erschien  (Groningen,  J.  B.  Wolters,  1899;  3.  Aufl.  1916),  zer- 
fällt in  zwei  Teile:  1.  eine  phonetisch  begründete  Aussprachelehre  mit 
einem  Eigennamenverzeichnis,  die  zusammen  fast  ein  Drittel  des  Buchs 
einnehmen  ;  2.  die  eigentliche  Grammatik  mit  zahlreichen  Beispielen  aus 
der  neueren  Literatur  unter  Angabe  der  Verfasser,  aber  nicht  der  Beleg- 
stellen. Das  recht  brauchbare  Handbuch  ist  in  der  Hauptsache  deskriptiv 
gehalten  unter  gelegentlicher  Zuhilfenahme  der  historischen  Grammatik. 

Umfangreicher  ist  das  tüchtige  Werk  eines  Schülers  von  Bülbring: 
E.  Kruisinga,  Ä  Handhooh  of  Fresent-Bay  English  (Utrecht,  Ke- 
raink  &  Zoon).  Es  gibt  in  zwei  Bänden  eine  wissenschaftliche  Beschrei- 
bung des  Baus  des  heutigen  Englisch  für  Vorgerücktere.  Von  einer  histori- 
schen Behandlung  des  Gegenstands  ist  abgesehen,  damit  der  Studierende 
sein  volles  Augenmerk  auf  das  heutige  Englisch  richten  kann.  Band  I, 
English  Sounds  betitelt  (l.  Aufl.  19U9;  2.  Aufl.  1914;  3.,  erweiterte  Aufl. 
1919),  gibt  zuerst  eine  allgemeine  phonetische  Grundlage,  dann  eine 
eingehende  Darstellung  der  Aussprache  der  englischen  Laute  und  ihrer 
Wiedergabe  in  der  Schrift,  endlich  Wort-  und  Namenlisten  mit  phone- 
tischer Umschrift.  Band  U,  English  Äccidence  and  Syntax  (1.  Aufl.  1911 ; 
2.,  umgearbeitete  Aufl.  1915;  3.,  überarbeitete  und  stark  vermehrte  Aufl. 
1922),  behandelt  im  ersten  Abschnitt  die  Redeteile.  Bei  jedem  wird  zuerst 
die  Formenlehre,  dann  die  Verwendung  im  Satz  besprochen.  Der  zweite 
Abschnitt  ist  der  Wortbildung,  der  dritte  dem  Satzbau  gewidmet.  Die  Re- 
geln werden  durch  zahlreiche  Beispiele  erläutert.  Die  Belegstellen,  die  in 
der  1.  Auflage  meist  fehlten,  sind  in  der  2.  und  3.  zum  größten  Teil 
hinzugefügt.  Band  HB,  Ä  Shorter  English  Äccidence  and  Syntax  (1912), 
ein  Auszug  aus  dem  vorigen,  ist  speziell  für  Schulen  bestimmt,  gibt  aber 
auch  Studierenden  eine  gute  Übersicht  über  den  grammatischen  Stoff 
in  knapper  Fassung.  In  seiner  Darstellung  der  Formenlehre  unter- 
scheidet sich  Kruisinga  darin  von  den  meisten  deutschen  Grammatikern, 
daß  er  seine  Regeln  zunächst  auf  der  Aussprache  aufbaut  und  erst 
dann  die  Schreibung  behandelt.  Sein  Handbuch  des  heutigen  EngHsch 
ist  eine  wissenschaftliche  Leistung  von  originellem  Wert  und  wird  auch 
deutschen  Anglisten  viel  Anregung  bieten. 

5.  Grammatik  der  heutigen  Dialekte 

Die  neuenglische  Dialektkunde  ist  im  letzten  Jahrzehnt  durch 
mehrere  Arbeiten  aus  Brandls  Schule  kräftig  gefördert  worden :  Jo- 
hannes Sixtus,  Der  SpracJigebrauch  des  DialeJct- Schriftstellers  Frank 
Bohinson  zu  JBowness  in  Westmorland  (Palaestra  116;  Berlin  1912); 
Bruno  Schulze,  Exmoor  Scolding  and  Exmoor  Courtship  (Pal.  19; 
1913);  Willy  Klein,  Der  Dialekt  von  Stokesley  in  Yorhshire,  North- 
Biding  (Pal.  124;  1914);  Theodor  Alb  recht.  Der  Sprachgehrauch  des 
Dialehtdichters  Charles  E.  Benham  mc  Colchester  in  Essex  (Pal.  111; 
1916).  Alle  vier  sind  ähnlich  angelegt.  Erst  berichten  die  Verfasser 
Wissenscliaftliche  Forachungsberichte  IX.  5 

65 


über  ihre  Dialektstudien  an  Ovt  und  Stelle  und  den  Ursprung  ihrer 
Dialektproben;  dann  kommt  die  Transskription  der  granimophonischen 
Aufnahmen  (deren  Platten  zur  Kontrolle  im  Englischen  Seminar  der 
Berliner  Universität  aufbewahrt  werden);  darauf  folgt  eine  Leselehre, 
eine  ausführliche  Lautgeschichte,  dann  außer  bei  Klein  auch  eine  Flexions- 
lehre und  schließlich  die  Zusammenfassung  der  Ergebnisse.  In  den 
Lautgeschichten,  die  ans  Mittelenglische  anknüpfen,  finden  sich  manche 
auch  für  die  allgemeine  englipche  Lautgeschichte  und  die  Schriftsprache 
interesbiante  Ergebnisse,  die  in  den  Schlußübersichten  zusammengestellt 
werden. 

VI.  Lautlehre 
1.   Gesamtdarstellungen  und  Quellenkunde 

Eine  monographische  Gesamtdarstellung  der  englischen  Lautgeschichte 
hat  Henry  Sweet  in  seiner  Histonj  of  Eriglish  Sounds  (Oxford  1888) 
gegeben.  Obwohl  schon  über  dreißig  Jahre  alt  und  in  vielen  Punkten 
durch  die  neuere  Forschung  überholt  und  ergänzt,  ist  das  originelle 
Buch  für  diejenigen,  die  sich  eindringender  mit  dem  Studium  der  eng- 
lischen Lautgeschichte  befassen  wollen,  doch  immer  noch  anregend  und 
wertvoll.  Selbstverständlich  wird  aber  die  Lautgeschichte  auch  in  den 
oben  (S.  57  f.)  besprochenen  Gesamtdarstellungen  der  historischen  Gram- 
matik mehr  oder  weniger  ausführlich  behandelt. 

Beachtenswerte  Untei'suchungen  über  die  Laut  Verhältnisse  in 
der  Übergangszeit  vom  Alt-  zum  Mittelenglischen,  vom 
Anfang  des  11.  bis  zur  Mitte  des  12.  Jahrhunderts,  wo  die  ersten  rein 
mittelenglischen  Denkmäler  auftreten,  gibt  Willy  Schlemilch  in 
seinen  Beiträgen  zur  Sprache  und  Orthographie  spätaltengl.  Sprach- 
denkmäler der  Übergangszeit  (1000 — 1150)  (Morsbachs  Studien  z.  engl. 
Philol.  34;  1914).  Größere  Originalwerke,  die  in  der  gesprochenen 
Sprache  dieser  Zeit  geschrieben  sind,  gibt  es  nicht.  Die  erhaltenen 
Texte  sind  größtenteils  Abschriften  älterer  Vorlagen ;  die  wenigen,  meist 
auf  sächsischem  Boden  entstandenen  Originalwerke  sind  in  der  traditio- 
nellen Schreibweise  abgefaßt.  Doch  flössen  den  Schreibern  unwillkür- 
lich jüngere  Sprachfoimen  unter,  die  den  vorgeschrittenen  Lautstand 
verraten.  Die  Beurteilung  dieser  Mischsprache  ist  oftmals  schwierig,  und 
es  war  keine  leichte  Aulgabe,  die  Ergebnisse  der  zahlreichen,  schon  vor- 
liegenden Einzeluntersuchungen  auf.  diesem  Gebiet  zusammenzufassen, 
kritisch  zu  sichten  und  durch  eigne  Nachprüfungen  und  Forschungen 
zu  einem  Gesamtbild  zu  ergänzen.  Schlemilch  hat  sich  dieser  Aufgabe 
mit  Geschick  unterzogen.  Er  behandelt  allerdings  in  der  Hauptsache 
nur  die  betonten  Vokale;  der  Konsonantismus  wird  nur  nebenbei,  die 
Flexionslehre  gar  nicht  berücksichtigt. 

Die  wichtigsten  Ergebnisse  Schlemilchs,  die  zum  Teil  allerdings 
nur  Bekanntes  bestätigen,  sind  die  folgenden:  1.  In  spätae.  Zeit  (etwa 
um  lOOOj,  im  Kentischen  sogar  schon  in  frühae.  Zeit,  vollzieht  sich 

66 


die  Ausbildung  neuer  Diphthonge  aus  hellem  Vokal  und 
palataler  Spirans:  ceg-cei-ai,  'ceg-'cei-ai,  eg-ei,  eg-ei  (ß.'il).  Die  Schrei- 
bungen schwanken;  zunächst  wird  zwischen  (S^,  ei  vielfach  ein  i  ein- 
:,'esehoben,  später  einfach  ce/,  ai,  ei  geschrieben  ;_z.  B.  äaii,  smd,  mal; 
ceiider,  ceiäer,  eiper,  dei,  Claifüne;  maiz,  mal,  cmzen,  heiie,  keie;  weis, 
pein;  hei^ra,  tweice.  —  2.  Die  altengl.  Diphthonge  ea  und  ea 
werden  in  der  ersten  Hälfte  des  11.  Jahrhs  zu  ce  bezw.  ce 
monophthongiert  (S.  26  u.  36).  Die  Schreibung  schwankt  zwischen 
ea,  ecB,  aa,  ce,  e  :  (saH,  cert,  sweH;  fl^a  ''Floh',  l^f  'Laut';  doch  wird 
meist  die  traditionelle  Schreibung  ea  beibehalten.  —  3.  Die  altengl. 
Diphthonge  eo  und  eo  werden  etwa  um  1150  zu  ö  bzw.  Wi 
monophthongiert  (S.  32. 37. 46)  Die  Schreibung  eo  bleibt  meist  bewahrt, 
doch  treten  daneben  ceo,  cea,  e,  0  u.  a.  auf:  luceoräe  'wert',  Jierte 'Rerz', 
hört  'Hirsch';  h^o  "^sie',  Uafa  'lieb',  ßre  'drei',  hröst  'Brust'.  —  i.  Ae.  ce 
-amt  dem  im  11.  Jahrh.  zu  ce  monophthongierten  ea  wird  seit  110  0 
zu  a  (S.  5.  46):  fast,  water,  fader,  aher.  —  5.  Um  dieselbe  Zeit 
wird  in  einem  Teil  des  Südostens  auch  ae.  'ce  jeglicher  Her- 
kunft zu  ä:  älc,  änig,  ärest,  clünsung ,  liädene,  lärad;  äfre,  däde, 
-präce,  ivüre.  Dieser  Lautwandel  findet  sich  in  der  Hs.  A  der  Gesetze 
Knuts,  sowie  in  drei  Denkmälern  des  Ms.  Harl.  6258  im  Brit.  Museum: 
den  spätae.  Abschriften  des  Herbarium  Apuleii  und  der  Medicina  de 
Quaärupedibus  und  in  dem  Traktat  Peri  Didaxeoji,  die  alle  der  ersten 
Hälfte  des  12.  Jahrh.s  angehören  (Schiemiich  S.  19,  Aum.  1;  72f.  ;  vgl. 
dazu  Delcourt  in  seiner  Ausgabe  der  Iled  de  Quadr.  Angl.  Forsch.  40, 
S.  XXHI,  §  10.  11).  Dieselben  Denkmäler  haben  auch  die  teilweise 
Entrundung  des  g  zu  i  (neben  u  und  seltnerem  e),  sowie  ce  als  *- Um- 
laut von  a  0  gemeinsam.  Schlemilch  spricht  sich  über  die  Heimat  der 
vier  Denkmäler  widersprechend  aus:  S.  20  u.  46  verlegt  er  sie  mit 
Morsbach  in  den  Südosten,  S.  71  weist  er  sie  mit  Schießl  ,,  einem  spät- 
westsächsischen  (nicht  südöstlichen)  Paiois  zu".  Nach  den  oben  (S.  31) 
besprochenen  Untersuchungen  von  Heuser  dürften  sie  in  die  Gegend 
von  Middleses  bis  Essex  gehören,  wo  west-  und  ostsächsische 
EigentümUchkeiten  sich  begegnen.  —  6.  Von  1100  an  beginnt  im 
Süden  die  Verdumpfung  des  ae.  ä  zu  ö;  nach  der  Mitte  des 
Jahrhunderts    wird    sie    häufiger.      Schreibung   o:    nön,    twö ,    hivö.    — 

7.  In  der  ersten  Hälfte  des  12.  Jahrh.s  beginnt  auch  die 
Ausbildung  neuer  Diphthonge  aus  dunkelm  Vokal  -}-  w, 
zuerst   im   Auslaut:    cläu,    säide,   sträu,  peiidöm    'Dienst'  (S.  45f.).  — 

8.  In  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrh.s  beginnt  der  Über- 
gang des  Velaren  Spiranten  3  zu  iv ,  zuerst  belegt  in  den  spä- 
teren Worcester-Denkmälern :  ütlaive;  elbowe,  heretowa,  bowa;  fuwelare 
u.  a.  (S.  44  f).  Dieses  neu  entstandene  w  wird  später  auch  vokalisiert. 
Aber  die  Entwicklung  der  neuen  i- Diphthonge  aus  ae.  hellem  Vokal 
+  palataler  Spirans  setzt  etwa  zwei  Jahrhunderte  früher  ein  als  die 
Entwicklung  der  neuen  «-Diphthonge  aus  dunkelm  Vokal  -j-  velarer 
•Spirans  (S.  41). 

In  seinem    dritten  Kapitel   handelt  Schlemilch    über  Dehnung   aus- 

5* 

67 


lautender  und  inter vokalischer  Konsonanten,  aber  er  unterscheidet  hier 
nicht  schart"  genu{2j  zwischen  wirklicher  Konsonantendehnung  und  bloßer 
Doppelschreibung.  Ich  glaube  mit  Ekwall  (Angl.  Beibl.  26,  'öl: 
Febr.  1915),  daß  man  es  hier  vielfach  mit  einer  rein  graphischen  Er- 
scheinung zu  tun  hat. 

Eine  wichtige  Unterlage  für  die  Erforschung  des  älteren  Neu- 
englischen, insbesondere  der  Aussprache,  bilden  die  Grammatiken 
des  16. —  18.  Jahrhunderts.  Man  hat  ihre  Bedeutung  seit  langem 
erkannt,  und  Alexander  J.  Ellis  hat  in  seinem  monumentalen  Werk 
On  Earhj  English  Pronunciation  (Bd.  1 — 4,  London  1869 — 74)  nicht 
nur  die  Grammatikerangaben  ausgezogen,  sondern  auch  die  übrigen 
literarischen  Zeugnisse  zur  enghschen  Aussprache  vom  14. — 18.  Jahr- 
hundert zusammengestellt  und  kritisch  verwertet.  Sein  Werk  wird  noch 
auf  lange  eine  wichtige  Schatzkammer  für  lautgeschichtliche  Unter- 
suchungen bleiben. 

Aber  in  vielen  Fällen  stellte  es  sich  doch  heraus,  daß  die  Auszüge 
von  Ellis  nicht  genügen,  daß  es  wünschenswert  ist,  auf  die  Quellenwerke 
selbst  zurückzugehn,  die  freilich  heute  oft  schwer  zugänglich  sind.  Man 
schritt  infolgedessen  zu  Neuausgaben,  und  einige  der  alten  Grammatiker 
liegen  heute  bereits  in  guten  Neudrucken  vor.  Besondere  Verdienste 
hat  sich  in  dieser  Hinsicht  R.  Brotanek  mit  seiner  Sammlung  Neu- 
drucke frühneuenglischer  Grammatiken  (Halle,  Niemeyer,  1905  ff.)  er- 
worben, von  der  bis  jetzt  sieben  Bände  erschienen  sind.  Mit  dem  Wieder- 
abdruck dieser  alten  Grammatiken  muß  eine  Kritik  ihrer  gegenseitigen 
Abhängigkeit  und  ihrer  Bedeutung  als  originaler  Quellen  für  unsre  Er- 
kenntnis des  frühneuenglischen  Sprachzustands  Hand  in  Hand  gehn. 
Besonders  von  ihren  Ausspracheregeln  ist  festzustellen,  inwieweit  sie  auf 
selbständiger  Beobachtung  des  lebenden  Sprachgebrauchs  beruhen  oder 
aus  älteren  Grammatiken  übernommen  sind.  Manche  dieser  Sprach- 
bücher sind  in  geradezu  schamloser  Weise  von  nachfolgenden  Autoren 
ausgeraubt  worden,  und  namentlich  die  späteren  Grammatiken  aus  dem 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  sind  nur  mit  größter  Vorsicht  als  Original- 
quellen zu  verwerten. 

Eine  kritische  Bibliographie  der  älteren  Sprachlehren,  wie  die  Ro- 
manisten sie  seit  1890  in  Stengels  Chronologischem  Verzeichnis  fran- 
zösischer Grammatiken  haben,  ist  für  die  Anglisten  ein  dringendes 
Bedürfnis.  Hoffentlich  wird  uns  Brotanek  bald  die  von  ihm  in  Aus- 
sicht genommene  Quellenkunde  der  frühneuenglischen  Lautgeschichte 
schenken,  die  diese  Lücke  ausfüllen  soll.  Einstweilen  müssen  wir  dank- 
bar alle  Beiträge  begrüßen,  die  geeignet  sind,  uns  jenem  Ziel  näher  zu 
führen,  so  Zachrissons  Notes  on  some  Early  English  and  French 
Grammars  (Angha  Beibl.  25,  245;  1914)  mit  Hinweisen  auf  einige 
bisher  unbekannte  oder  nicht  genügend  ausgeschöpfte  Quellen  der  früh- 
neuenglischen Aussprache  und  beachtenswerten  Darlegungen  über  das 
Abhängigkeitsverhältnis  verschiedener  älterer  Grammatiker. 

Übrigens  bieten  nicht  nur  die  einheimischen,  sondern  auch  die 
älteren   ausländischen   Grammatiken    des   Englischen    vielfach    wichtige 

68 


Anhaltspunkte  zur  Beurteilung  der  zeitgenössischen  englischen  Aussprache. 
Namentlich  französische,  aber  auch  deutsche  und  skandinavische  Gram- 
matikerzeugnisse hat  man  zu  diesem  Zweck  mit  Erfolg  herangezogen. 
Die  ältesten  schwedischen  Werke  über  englische  Aussprache  hat 
A.  Gabrielson  in  seiner  Abhandlung  The  earliest  Sivedish  Worhs  on 
English  Pronunciatmi  fbefore  1750)  (Studier  i  Modern  Spräkvetenskap 
VI,  1,  Uppsala  1917)  kritisch  zusammengestellt.  Theo  Spira,  ein 
Schüler  W.  Horns,  hat  in  einer  wertvollen  Gießener  Preisarbeit  Die 
englische  Lautenüvicklung  nach  französischen  Grammatiker- Zeugnissen 
von  Bellet  (1580)  bis  Siret  -  Poppleton  (1815)  mit  behutsamer  Kritik 
untersucht  und  für  die  Lautgeschichte  nutzbar  gemacht  (Straßburg  1912; 
Quellen  u.  Forsch.  115). 

Andre  Gießener  Dissertationen  der  letzten  Jahre,  gleichfalls  aus  der 
Schule  Horns  hervorgegangen,  haben  die  Kritik  und  lautgeschichtliche 
Verwertung  englischer  Grammatiken  des  18.  Jahrhuunderts 
zum  Gegenstand.  Karl  L.  Kern  behandelt  Die  englische  Lautent- 
wicJchmg  nach  "^  JRight  Spelling^  (1704)  und  anderen  Grammatiken  um 
1700  (Darmstadt,  Druck  von  K.  F.  Bender,  1913),  Christian  Müller 
Die  englische  LatttentivicMung  nach  Lediard  (1725)  und  anderen  Gram- 
matikern (ebenda  1915),  Hans  Stichel  Die  englische  Aussprache 
nach  den  Grammatiken  Peytons  (1756,  1765)  (ebenda  1915),  Engel- 
bert Müller  endlich  die  Englische  Lautlehre  nach  James  Elphinston 
(1765,  1787,  1790)  (Heidelberg  1914;  Anglist.  Forsch.  43).  Mit  Recht 
hat  Hörn  in  diesen  Monographien  die  englische  Aussprache  des  18.  Jahr- 
hunderts genauer  erforschen  lassen,  die  bislang  bei  der  Behandlung  der 
historischen  Lautlehre  des  Neuenglischen  ungebührlich  vernachlässigt 
war.  Die  Arbeiten  sind  mit  Sorgfalt  und  umsichtiger  Kritik  ausgeführt, 
und  besonders  die  von  Stichel  und  die  umfangreiche  Abhandlung  von 
Engelbert  Müller  kommen  zu  wertvollen  Ergebnissen.  Die  Dissertation 
von  Christian  Müller  hat  eine  ausführliche  und  belangreiche  Kritik  durch 
Zachrisson  (Angl.  Beibl.  28,68 — 82;  1917)  erfahren;  darin  ist  be- 
sonders die  Bemerkung  (S.  72)  von  Interesse,  daß  die  Ausspracheregeln 
des  Deutschen  Lediard  in  seiner  Grammatica  Anglicana  Critica  von 
1725  auf  selbständige  Beobachtung  gegründet  zu  sein  scheinen,  und 
daß  Lediard  unsre  zuverlässigste  und  wertvollste  Autorität 
über  die  Aussprache  im  Anfang  des  1  8.  Jahrhunderts  ist, 

2.  Vokalismus 

Da  Sievers'  Angelsächsische  Grammatik  (3.  Aufl.  1898)  und 
Bülbrings  Altenglisches  Elementarhuch  (1902)  leider  nicht  mehr  neu 
aufgelegt  und  in  manchen  Punkten  durch  den  Fortschritt  der  Wissen- 
schaft überholt  sind,  ist  es  sehr  erfreulich,  daß  wir  in  den  beiden  ersten 
Lieferungen  von  L  u  i  c  k  s  Historischer  Grammatik  der  englischen  Sprache 
(1914;  s.  oben  S.  58)  jetzt  eine  kritisch  gesichtete  Geschichte  der  alt- 
englischen Sonanten  nach  dem  heutigen  Stand  der  Forschung  besitzen. 
Luick  geht  in  seiner  Darstellung  vom  indogermanischen  Sonantensystem 

69 


aus,  beschreibt  dann  die  Ausbildung  des  urgermanischen  Sonantensystems, 
die  gemeinwestgermanischen  Wandlungen,  die  englisch-nordischen  Überein- 
stimmungen, die  anglofriesischen  Veränderungen,  um  darauf  die  eigent- 
lich altenglischen  Lautvorgänge  in  historischer  Reihenfolge  zu  besprechen. 
Aus  der  Fülle  von  Neuem,  das  uns  in  diesen  Lieferungen  geboten  wird, 
seien  ein  paar  besonders  bemerkenswerte  Punkte  herausgegriffen. 

Den  Wechsel  des  Wurzelvokals  in  ae.  hudon  'boten'  —  hoden 
'geboten',  hoda  'Bote',  in  Imlpon  'halfen'  —  holpen  'geholfen',  wiirpon 
'warfen'  —  ivorpen  'geworfen',  gülden  'gülden'  —  gohV Gold'  erklärt  man 
gewöhnlich  durch  die  Wirkung  des  a- Umlauts.  Nach  dieser  Annahme 
wurde  urgerm.  u  zu  o,  wenn  in  der  nächsten  Silbe  ein  a-,  e-,  o-Laut 
stand:  hoden,  liolpen,  worpen  aus  '^buctanaz,  '•^'hulpanaz,  Hvurpanaz,  gold 
aus  *zulpa\  dagegen  blieb  u  bewahrt  vor  Nasal  +  Konsonant,  sowie 
vor  i,  j,  u  der  Folgesilbe:  Kunden  'gebunden'  aus  '■'' bundanaz ,  gylden 
mit  Umlaut  aus  älterem  ^-'giildm,  hudon,  Imlpon,  iviirpon  aus  älterem 
hudim,  htdpun,  wurpim.  Dem  gegenüber  ist  Luick  (§  77,  Anm.  4) 
geneigt,  sich  der  von  Bremer  (Idg.  Forsch.  26,  148;  1909)  ent- 
wickelten Auffassung  anzuschließen.  Danach  ist  jedes  idg.  u  sowie 
das  u  aus  idg.  l,  r  m,  n  urgerm.  zu  o  geworden,  und  dieses 
0  wurde  um  den  Beginn  unsrer  Zeitrechnung  vor  Nasal 
-{-  Konsonant,  vor  i,  j,  u  der  Folgesilbe,  im  Angelsäch- 
sischen auch  in  labialer  Umgebung  und  vor  einfachem 
Nasal,  wieder  zu  u,  während  sonst  das  o  bewahrt  bheb;  also  ae. 
hunden,  gylden,  liycgan  'denken',  duru  'Tür',  hidpon,  ivurpon,  wie?/" Wolf, 
^^mo>* 'Donner',  aber  dar  'Tor'  aus  urgerm.  ""^cifora,  hören  'geboren'  aus 
'*bo)'anaz,  holpen  aus  ^'liolpanaz,  doJiter  aus  *doliter,  nosu  aus  *nosö, 
wo  0  überall  in  urgerm.  Zeit  aus  älterem  ^t  entstanden  war.  Gegen 
Bremers  Auffassung  spricht  die  Tatsache,  daß  die  germ.  Eigennamen 
von  den  klassischen  Schriftstellern  überwiegend  mit  u  geschrieben  wer- 
den: Gidones,  Puigii,  Burgundiones ,  Burcana,  Teutohtcrgiensis  usw., 
und  daß  das  Gotische,  außer  vor  r,  h,  tv,  durchweg  u  hat.  Für  seine 
Auffassung  spricht,  daß  in  zahlreichen  Lehnwörtern  lat.  o  zu  w  ge- 
worden ist:  \3ii.  pondo  zu  got.  ae.  pund,  ahd.  pfunt\  lat.  montem  —  ae. 
mtmt]  lat.  monasterium  über  monisterium  zu  ae.  mynster\  lat.  coquina, 
vglat.  cocma  —  ae.  cycene,  ahd.  chuhhina  usw.  Aber  die  Entsprechung 
lat.  nonna  —  ae.  nunne,  ahd.  mmna  zeigt,  daß  dieser  Übergang  nicht 
nur  im  1.  Jahrh.,- sondern  auch  noch  zur  Zeit  der  Christianisierung, 
also  nach  60Ü,  möglich  war. 

Auch  hinsichtlich  der  Entwicklung  von  wgerm.  a  im  Altengl. 
vertritt  Luick  eine  von  der  gewöhnlichen  abweichende  Auffassung. 
Man  nahm  bisher  an,  daß  germ.  a  in  geschlossener  Silbe  allgemein,  in 
offener  nur  vor  e  der  Folgesilbe  zu  cc  geworden,  vor  folgendem  dun- 
keln Vokal  aber  erhalten  geblieben  sei:  dccg ,  dceges,  dccge.  dceg ,  aber 
dagas,  daga,  daguni,  dagas.  Luick  ist,  teilweise  im  Anschluß  an  Sweet, 
SokoU  und  Wyld,  der  Meinung  (§  116  u.  161  f.),  daß  wgerm.  a  (außer 
vor  Nasalen  und  in  minderbetonten  Silben)  zunächst  überall  zu  cc 
aufgehellt   worden   sei,    und   daß   es    erst   später   vor   duukelm 

70 


Vokal  gemein  englisch  wieder  zu  a  wurde;  also  s««<e?  'klein', 
J5«i5  'daß',  glced  'froh',  ste/''k5taL';  /^ecZer  'Vater',  ucBgl  'Nagel',  cecer 
'Acker,  ivcestm  'Wachstum',  lirccfn  'Rabe';  aber  später  faran  'fahren', 
talu  'Erzählung',  macian  'machen'  (aus  ^macöjcm),  sadol  'Sattel';  lappa 
'Lappen',  crahha  'Krabbe',  hahhan  'haben',  assa  'Esel;  tvascan  'waschen' ; 
a2Jplci  'Äpfel'.  Die  Allgemeingültigkeit  der  Aufhellung  des  a  zu.  ce 
wird  durch  die  Brechung  und  den  «*- Umlaut  von  a  zu  ea  (d.  h.  aa) 
und  durch  die  Kontraktion  von  a  -\-  a  oder  a  zu  ea  wahrscheinlich 
gemacht. 

Auch  das  wgerm.  lange  ä  ist  urenglisch  allgemein  zu  a 
geworden,  das  sich  im  Kentischen  und  Anglischen  noch 
in  vorliterarischer  Zeit  weiter  zu  e  verengte:  Tel,  el  'Aal', 
slä'p,  slep  'Schlaf,  Ifütan,  letan  'lassen',  haron,  herun  'trugen',  m^g,  nieg 
'Verwandter',  Dieses  urengl.  ^  wurde  im  Westsächsischen 
später  vor  dunkelm  Vokal  der  Folgesilbe  wieder  zu  ä,  wenn 
Liquida,  Labial  oder  Guttural  dazwischen  stand:  on  sälum 
'im  Glück',  dat.  plur.  zu  sc&l',  geära  aus  *yfl>'« 'einst';  slüpol  'schläfrig'; 
mägas,  -a,  -um,  plur.  zu  mä^g  'Verwandter  .  Doch  wurde  das  ^  viel- 
fach analogisch  aus  verwandten  Formen  wieder  eingeführt,  namentlich 
in  der  Flexion:  sl^jmn,  ni^gas  und  stets  ISäron,  iv^ron,  stäilon,  hrcecon 
im  plur.  praet.  Im  Kentischen  und  Anglischen  kommen  ä- Formen  nur 
ganz  vereinzelt  vor.  Zur  Stütze  von  Luicks  Ansicht,  daß  das  ä  in 
mägas,  Icigon  usw.  erst  sekundär  wieder  aus  ce  entstanden  ist,  möchte 
ich  auf  das  alte  Lehnwort  str^t  =  ahd.  sträza,  ndl.  straat  hinweisen. 
Wäre  das  wgerm.  ä  in  mägas,  läpim  vor  dem  dunkeln  Vokal  unver- 
ändert erhalten  geblieben,  so  hätte  auch  das  in  urags.  Zeit  aufgenom- 
mene lat.  sträta  über  ^' straf u  zu  *strät  führen  müssen,  nicht  aber  strat 
ergeben  können. 

Nicht  unerwähnt  möchte  ich  lassen,  daß  nach  einer  noch  unver- 
veröffentlichten ,  mündUch  mitgeteilten  Auffassung  von  Sievers  bei 
diesen  und  ähnlichen  Vokalveränderungen  der  Gegensatz  von  Steigton 
und  Fallton  der  Silben  bedeutungsvoll  ist.  Danach  trat  die  Auf- 
hellung von  a  zu  CO  nur  in  Steigtonsilben  ein ;  in  Falltonsiiben  blieb  a 
bewahrt;  doch  erfolgte  vielfach  Ausgleich  nach  der  einen  oder  andern 
Seite.  Ahnlich  ist  es  bei  andern  vokalischen  Veränderungen.  Wenn 
diese  Auffassung  von  Sievers  sich  als  richtig  erweisen  sollte,  so  müßten 
viele  Regeln  der  Lautlehre,  auch  in  seiner  eignen  angelsächsischen  Gram- 
matik, neu  formuliert  werden. 

Die  Brechung  von  wgerm.  a  zu  ae.  ea  wird  von  Büibring 
(Altengl.  Elementarb.  §  130,  A.  1.  2)  so  erklärt,  daß  das  wgerm.  a  im 
frühsten  Urenglisch  außer  vor  Nasalen  allgemein  zu  einem  palatalen  a 
wurde.  Dieses  palatale  a  habe  sich  in  unbeeinflußter  Stellung  später 
weiter  zu  es  entwickelt,  während  es  vor  folgenden  Velarlauten  und  den 
später  brechenden  Konsonanten  einstweilen  als  a  bewahrt  blieb.  Dann 
habe  es  sich  von  neuem  gespalten,  indem  es  vor  brechenden  Konsonanten 
zu   au  wurde,   vor   folgenden  Velarvokalen   aber   als    a   erhalten  blieb. 

71 


Der  kurze  Diphthong  au  habe  sich  dann  genau  so  wie  der  alte  germ. 
Diphthong  au  weiter  entwickelt  und  ea  ergeben.  Aber  in  Fällen  wie 
wgerm.  '''2^arruk  ' Fferch'  und  *2aZ/ö  'Galle',  wo  das  a  unter  dem  dop- 
pelten Einfluß  eines  dunkeln  Konsonanten  und  dunkeln  Vokals  steht, 
wäre  die  Entwicklung  eines  palatalen  a  bei  der  Auffassung  Bülbrings 
undenkbar.  Wenn  diese  trotzdem  zu  ae.  pearroc,  tjeaUa  gebrochen 
wurden,  so  setzt  das  offenbar  zunächst  die  von  Luick  angenommene 
spontane  Aufhellung  von  a  zu  cc  voraus.  Ich  stimme  in  der  Erklärung 
des  Brechungs-ea  völlig  mit  Luick  überein,  welcher  (§  133.  140)  meint, 
daß  die  Annahme  eines  palatalen  a  nicht  genügt,  daß  vielmehr  der  Aus- 
gangspunkt hier  ebenso  wie  bei  eo  und  io  ein  heller  Laut,  d.  h.  ce  ge- 
wesen sei.  Das  Wesen  der  Brechung  besteht  in  der  Entwicklung 
eines  dunkeln  Übergang slauts  zwischen  einem  hellen  Vokal 
((5P,  e,  i)  und  einem  dunkeln  Konsonanten  (h,  r,  l,  w).  Der 
Ubergangslaut  erscheint  nach  cc  als  a,  nach  e  und  i  als  o:  ealita  'acht', 
earm  'arm',  ea/(?'alt';  /eo/i 'Vieh',  M;eor^aw 'werfen',  weo^c«?^ 'melken'; 
niiox  (aus  *miohs)  'Mist',  nordh,  hiorde  'Hirte'.  Die  Entwicklungs- 
reihe des  Brechungs -  ea  war  wahrscheinlich :  a-a'-ceo-  (Pm,  das  dann  der 
Einfachheit  halber  ea  (statt  aea)  geschrieben  wurde. 

Auch  bei  der  Erklärung  der  Diphthongierung  von  wgerm.  a  zu 
ae.  ea  in  Fällen  wie  ealu  'Bier',  /iea/bc 'Habicht'  u.  a.  haben  wir  von 
ce,  nicht  a  auszugehn  (s.  Luick  §  231).  Man  bezeichnete  diese  Diph- 
thongierung bisher  je  nach  der  Natur  des  Folgevokals,  der  die  Diph- 
thongierung erzeugt,  als  u-,  o-,  a  oder  ä- Umlaut.  Aber  da  die  Wir- 
kung dieser  Vokale  die  gleiche  ist,  spricht  Luick  besser  einheitlich  von 
Velarumlaut.  Freilich  ist  auch  dieser  Ausdruck  nicht  ganz  eindeutig, 
da  man  in  Erinnerung  an  den  Palatalumlaut  darunter  auch  die  um- 
lautende Einwirkung  folgender  velaren  Konsonanten  verstehen  könnte. 
Überhaupt  ist  der  Ausdruck  „Umlaut"  für  diese  Erscheinung  eigent- 
lich unzutreffend.  Sie  hat  mit  dem  i- Umlaut  nur  das  gemein,  daß  es 
sich  bei  beiden  um  die  Beeinflussung  eines  Vokals  durch  den  Vokal 
der  Folgesilbe  handelt.  Aber  das  Ergebnis  dieser  Beeinflussung  ist  beim 
altenglischen  Velarumlaut  nicht  eine  Umlautung,  sondern  eine  Diph- 
thongierung des  Wurzelvokals:  die  Entwicklung  eines  dunkeln  Nach- 
schlags hinter  einem  hellen  Wurzelvokal  durch  den  Einfluß  eines  dunkeln 
Vokals  der  Folgesilbe:  ealu,  heoran  'tragen',  liomu  'Glieder'.  In  dieser 
Beziehung  ist  der  Velarumlaut  ein  Seitenstück  zur  Brechung:  in  beiden 
Fällen  haben  wir  es  mit  der  Beeinflussung  eines  hellen  Vokals  durch 
einen  folgenden  dunkeln  Laut  zu  tun ;  bei  der  Brechung  liegt  Kontakt-, 
bei  dem  Velarumlant  Fernwirkung  vor.  In  beiden  Fällen  wird  die 
dunkle  Färbung  des  Folgelauts  vorweggenommen;  es  handelt  sich  also 
um  eine  Velarprolepsis.  Bei  der  Brechung  ist  der  verdumpfen  de  Laut 
ein  Konsonant,  beim  Velarumlaut  ein  Vokal.  Man  würde  also  richtiger 
von  konsonantischer  und  vokalischer  velarer  Brechung 
oder  Velarprolepsis  sprechen.  Bei  ea  führt  der  Einfluß  des  folgenden 
Velars  dann  teilweise  zu  einem  völligen  Schwund  des  hellen  Lauts,  d.  h. 
zu  einem  richtigen  Velarumlaut  (ws.  healdan  —  angl.  haldan). 

72 


Umgekehrt  äußerte  sich  die  Einwirkung  eines  i  auf  vorhergehendes 
ö,  ü  im  Urenglischen  nach  einer  scharfsinnigen  Vermutung  von  Sievers i) 
zunächst  zum  Teil  in  Gestalt  einer  i  -  Epenthese,  die  bei  Beda  in  Namens- 
formen wie  Coin-,  Oidil-  zutage  tritt.  Erst  später  sind  die  so  ent- 
standenen Diphthonge  zu  reinen  Palatalvokalen  (oe-e  bzw.  y)  umgelautet 
worden.  Hier  trat  also  zunächst  pal atale  Brechung  oder  Paiatal- 
prolepsis  und  dann  erst  voller  ^-U miaut  ein. 

Von  Einzelabhandlungen  zur  altenglischen  Lautlehre  sei  eine  Ber- 
liner Dissertation  von  Hermann  Kügler  über  ie  und  seine  Parallel- 
formen im  Angelsächsischen  (Berlin,  Mayer  &  Müller,  1916)  erwähnt, 
die  das  Auftreten  dieses  Lauts  und  seiner  dialektischen  Entsprechungen 
eingehend,  wenn  auch  nicht  erschöpfend,  behandelt.  Die  Ergebnisse  der 
LTntersuchung  dieses  verwickelten  Problems  sind  recht  bunt  und  nicht 
gerade  übersichtlich  geordnet. 

In  einem  beachtenswerten  Artikel  Old  English  eo,  ea,  eo(w),  ea(tü), 
~(Eiv  in  Middle  and  New  English  (JEGPh.  14,  499;  Oct.  1915)  polemisiert 
Francis  A.  Wood  gegen  die  entsprechenden  Kegeln  in  Jespersens 
Modern  English  Graimnar.  Die  Arbeit  bringt  eine  wertvolle  Material- 
sammlung, und  der  Verfasser  trifft  mit  seinen  Schlüssen  zum  Teil  sicher 
das  Richtige;  aber  anderseits  lassen  sich  gegen  manche  seiner  Aufstel- 
lungen Einwendungen  erheben.  Die  mittelengl.  Schreibungen  sind  viel- 
fach mehrdeutig.  Die  ungewöhnlichen  lautlichen  Entwicklungen,  die 
den  Gegenstand  des  Aufsatzes  bilden,  hätten  zu  völliger  Klarstellung 
der  Einzelheiten  und  zu  gesicherter  Aufstellung  allgemeiner  Regeln  einer 
gründlicheren  Erörterung  bedurft,  und  eine  erneute,  umfassendere  Be- 
handlung des  Problems  wäre  wünschenswert. 

Eine  umfangreiche  Abhandlung  von  R.  E.  Zach  rissen  über  Pro- 
nunciation  of  English  Voivels  1400 — 1700  (Göteborg  1913)  fällt  zwar 
vor  den  in  diesem  Forschungsbericht  behandelten  Zeitraum,  ist  aber  so 
wichtig  für  die  frühneuenglische  Lautgeschichte,  daß  ihre  Hauptergeb- 
nisse hier  nicht  übergangen  werden  dürfen.  Zachrisson  sucht  die  Ent- 
wicklung der  englischen  Vokale  in  unbeeinflußter  Stellung  von  1400  bis 
1700  festzustellen.  Er  stützt  sich  dabei  einerseits  auf  die  Orthographie 
englischer  Originalbriefe  des  15.  Jahrhunderts,  anderseits  auf  die  Aus- 
spracheregeln der  Grammatiker  des  16. — 18.  Jahrhunderts,  wobei  er 
außer  den  von  Engländern  verfaßten  Grammatiken  vornehmlich  eine 
Reihe  englischer  und  französischer  Sprachlehren  berücksichtigt,  die  von 
flüchtigen  Hugenotten  in  England  geschrieben  wurden.  Mit  den  Schlüssen, 
zu  denen  er  auf  Grund  dieses  Materials  kommt,  folgt  Z.  den  Bahnen, 
die  vor  ihm  bereits  Jespersen  in  seiner  Ausgabe  von  John  Hart's 
Pronunciafion  of  English  (1569  and  1570)  und  in  seiner  Modern  English 
Grammar  eingeschlagen  hatte.  Er  setzt  sich  in  Gegensatz  zu  allen 
älteren  Forschern,  wie  Sweet,  Victor,  Kluge,  Luick,  Hörn,  Ekwall,  Bro- 

1)  Nach  mündlicher  Mitteiking  im  Sommer  1921.  Vgl.  auch  M.  Förster, 
Kelt.  Wortgut  im  Emjl.  120  (1921),  der  mit  Recht  darauf  hinweist,  daß  die  Beob- 
achtung von  Sievers  die  lautliche  Eutwicilunf;  der  air.  Lehnwörter  drui  '  Zauberer' 
und  stoir  'historia'  zu  ae.  dry  und  ster  verständlicher  macht. 

73 


tanek  u.  a.,  die  sich  melir  oder  weniger  unbedingt  auf  das  von  EUis  in 
seinem  Werk  On  Early  English  Pronunciation  (s.  oben  S.  68)  gesammelte 
Material  verlassen  hatten.     Seine  Hauptergebnisse  sind  die  folgenden. 

Die  meisten  früheren  Forscher  nehmen  als  feststehende  Tatsache  an, 
daß  die  „kontinentale"  Aussprache  der  englischen  Vokale  sich  größten- 
teils durch  das  16.  und  17.  Jahrhundert  erhalten  habe.  Diese  Ansicht 
stützt  sich  lediglich  auf  die  Zeugnisse  einiger  frühneuenglischer  Ortho- 
episten.  Aber  die  Orthographie  der  englischen  Briefe  des  15.  Jahr- 
hunderts und  das  Zeugnis  der  französischen  Grammatiker  weist  in 
schroffem  Gegensatz  hierzu  auf  vorgeschrittnere  Ausspracheformen  hin. 
Dieser  Widerspruch  erklärt  sich  dadurch,  daß  die  englischen  Orthoepisten 
durch  theoretische  Erwägungen  irregeführt  wurden:  sie  verwechseln  be- 
ständig Laute  und  Buchstaben,  Diphthonge  und  Digraphen,  und  manche 
von  ihnen  empfehlen  in  ihren  Werken  theoretische  Ausspracheformen, 
die  an  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  der  Zeit  keinen  Rückhalt 
finden.  Bei  näherem  Zusehen  erweist  sich  keine  der  Angaben,  die  als 
unfehlbare  Zeugnisse  für  kontinentale  Ausspracheformen  angeführt  worden 
sind,  als  völlig  stichhaltig. 

Eine  sorglältige  Prüfung  der  orthographischen  und  orthoepistischen 
Zeugnisse  führt  nach  Z.  vielmehr  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  heutige 
englische  Aussprache  erheblich  weiter  zurück  datiert,  als 
man  gewöhnlich  annimmt.  Die  Lautwandlungen,  denen 
die  heutige  gemein  englische  Aussprache  ihr  charakteri- 
stisches Gepräge  verdankt,  hatten  schon  im  15.  Jahrhundert 
begonnen.  Ja,  die  Anfänge  der  großen  ,, Vokalverschie- 
bung" (Aufhellung  des  ä,  Reduktion  von  ai,  ou,  ati,  Übergang  von  e  zu  l, 
V'On  ö  zu  '«,  Diphthongierung  von  -7  und  u)  datieren  wahrschein- 
lich bis  in  die  letzte  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  zurück. 
Die  Aussprache  des  elisabethanischen  Englisch  muß  der  des  heutigen 
Englisch  sehr  ähnlich  gewesen  sein.  Die  heutige  Aussprache 
stand  im  großen  und  ganzen  schon  um  1700  fest. 

Von  einem  Eingehen  auf  die  Einzelergebnisse  dieser  belangreichen 
Abhandlung  und  einer  kritischen  Stellungnahme  muß  hier  abgesehen 
werden.  Zachrissons  Darlegungen  sind  jedenfalls  so  beachtenswert,  daß 
alle  künftigen  Darsteller  der  neuenglischen  Lautgeschichte  Stellung  dazu 
nehmen  müssen.  Teilweise  haben  sie  das  bereits  getan.  In  einer  nach- 
träglichen Contfibution  to  the  History  of  the  early  New  English  Pro- 
nunciation (Engl.  Stud.  52,  299;  1918)  setzt  sich  Zachrisson  mit  einer 
Kritik  Ekwalls  in  den  Englischen  Studien  (49,  279)  auseinander,  und 
Ekwall  hat  ihm  im  55.  Band  derselben  Zeitschrift  (S.  396;  1920)  ge- 
antwortet. 

Wichtig  für  die  englische  Lautgeschichte  ist  ferner  eine  Abhand- 
lung von  Eduard  Eckhardt  über  Die  ncuenglische  Verkürzung  langer 
l^onsilbenvoJcalc  in  ahgeleiteten  und  zusammengesetzten  Wörtern  (Engl. 
Studien  50,  199;  1916).  Es  gibt  im  heutigen  Enghsch  zahlreiche  Wort- 
paare wie  souih  —  southern,  nation  —  national,  wise  —  wisäom;  tivo  — 
twopence,  holy  —  holiday,  house  —  hushand,  white  —  tvhitsuntide,  wo   das 

74 


Grundwort  langen  Vokal  hat,  während  die  damit  gebildeten  Ableitungen 
oder  Zusammensetzungen,  die  um  eine  oder  mehrere  Silben  länger  sind 
als  ihr  Grundwort,  kurzen  Tonvokal  aufweisen.  Gewöhnlich  wird  die 
Verkürzung  in  loisdom,  hushand,  whitsuntiäe  und  ähnlichen  Fällen  aus 
der  auf  den  langen  Vokal  folgenden  Doppelkonsonanz  erklärt.  Aber 
die  Verkürzung  ist  auch  in  soutJiern,  national,  twopence,  holiday  usw. 
eingetreten,  wo  nur  einfache  Konsonanz  vorliegt.  Eckhardt  meint  nun, 
daß  hinsichtlich  der  Verkürzung  doch  kaum  ein  grundsätzlicher  Unter- 
schied anzunehmen  sei  zwischen  soutliern  und  ivisdom,  twopence  und  hus- 
hand, holiday  und  whitsunüde.  Die  Doppelkonsonanz  könne  also  als 
Grund  der  Verkürzung  in  ivisdom,  htishand,  whitsunüde  nur  in  zweiter 
Linie  in  Betracht  kommen ;  ihre  eigentliche  Ursache  müsse  eine  andre 
sein,  und  zwar  dieselbe  wie  in  soutliern,  national,  tiüopence,  holiday. 

Und  den  eben  vorgeführten  Fällen,  wo  (abgesehen  von  dem  Fremd- 
wort nation)  das  Grundwort  schon  im  Altenglischen  langen  Vokal  hatte, 
seien  grundsätzlich  gleichzustellen  solche,  in  denen  ein  ursprünglich 
kurzer  Tonvokal  im  Grundwort  während  der  neuengl.  Periode  gelängt 
wurde,  während  er  in  dem  um  eine  oder  mehr  Silben  längeren  abge- 
leiteten oder  zusammengesetzten  ^Wort  seine  ursprüngliche  Kürze  be- 
wahrte. Es  sind  Fälle  wie  ne.  päss  vb.  aus  me.  passe  gegenüber  ne. 
pässage,  ne.  err  aus  me.  erre  gegenüber  ne.  errant,  ne.  troll  gegenüber 
tröllop  u.  a.  Die  Verkürzung  eines  ursprünglich  langen  Tonvokals  in 
southern,  wisdom,  twopence,  holiday,  hushand,  ivhitsuntide  und  die  Er- 
haltung des  ursprünglich  kurzen  Tonvokals  in  passage,  errant,  trollop 
müsse  im  Grunde  auf  die  gleiche  Ursache  zurückgeführt  werden. 

Bevor  er  an  die  Feststellung  dieser  eigenthchen  Ursache  jener  Er- 
scheinung geht,  gibt  Eckhardt  zunächst  eine  umfassende,  wertvolle  Über- 
sicht über  das  einschlägige  Material :  die  Vokalverkürzung  in  abgeleiteten, 
in  zusammengesetzten  Wörtern  und  in  der  Flexion.  Die  Ursache  der 
Verkürzung  aber  findet  er  in  einem  Lautgesetz,  das  schon  von  Jes- 
persen  angedeutet  worden  ist.  In  seinem  Lehrhuch  der  Phonetik 
(2,  Aufl.,  §  12.22;  vgl.  auch  Elementh.  d.  Phonef.  ebd.)  stellt  der  dänische 
Gelehrte  als  wichtiges  Quantitätsgesetz  die  Tatsache  fest,  „daß  der 
Redende  das  Tempo  beschleunigt,  wenn  er  sich  bewußt  ist, 
daß  er  eine  lange  Laut  reihe  zu  sprechen  hat  (die  am  liebsten 
'in  einem  Zuge'  gesprochen  werden  soll)'".  Dies  Gesetz  erklärt  nach 
Jespersen  die  schon  von  Rask  gemachte  Beobachtung,  daß  der  Vokal 
in  einem  einsilbigen  Wort  länger  ist  als  in  einem  zweisil- 
bigen, ferner  die  Bemerkung  von  Sweet,  daß  der  Diphthong  in  tail 
länger  ist  als  in  tailor,  und  die  von  Sievers,  daß  das  a  in  Zahl  länger 
ist  als  das  in  zahle  und  dieses  länger  als  das  in  zahlende.  Jespersen 
weist  auch  schon  darauf  hin,  daß  in  diesem  Quantitätsgesetz  der  Grund 
zu  der  Verkürzung  des  Tonvokals  in  englischen  Kompositis  wie  hus- 
hand gegenüber  house,  ivaistcoat  gegenüber  ivaist  zu  suchen  sei.  Es 
könne  als  allgemeine  Regel  aufgestellt  werden,  daß  beim  Beschleunigen 
des  Tempos  die  langen  Laute  mehr  leiden  als  die  kurzen,  indem  ihre 
Dauer  sich  mehr  derjenigen  nähere,  die  die  kurzen  gewöhnlich  haben. 

75 


Eckhardt  führt  diese  Gedanken  weiter  aus  (§  149  ff.).  Im  allge- 
meinen bleibe  ein  langer  Vokal  am  ehsten  eihalten  in  einem  einsilbigen 
Wort.  Wird  dies  Wort  bei  gleichbleibendem  Akzent  durch  eine  Ab- 
leitungssilbe oder  durch  Zusammensetzung  zwei-  oder  gar  mehrsilbig, 
so  trete  leicht  Verkürzung  ein.  „Die  Silbenzahl  ist  somit  ein 
die  Quantität  des  Vokals  der  Tonsilbe  beeinflussender 
Faktor,  und  zwar  für  die  Verkürzung  dieses  Vokals  der  wichtigste, 
wenn  auch  keineswegs  der  einzige"  (§  149).  Es  bestehe  in  der  Sprache 
ein  unbcAvußt  wirkendes  Streben,  die  Rede,  auch  die  prosaische,  in 
Sprechtakte  zu  gliedern  und  „diese  Sprechtakte,  wenn  die  Silbenzahl 
es  erlaubt,  mit  gleicher  oder  wenigsteris  annähernd  gleicher  Dauer  zu 
sprechen".  Aus  dieser  Neigung  zum  Ausgleich  der  Sprechtakte  ergebe 
sich  weiter  „das  Streben,  die  Sprechdauer  eines  um  eine  oder  mehrere 
Silben  längeren  Wortes  gegenüber  der  seines  kürzeren  Grundwortes 
möglichst  wenig  zu  verändern.  Da  nun  das  längere  Wort  aus  mehr 
Lauten  besteht  als  das  kürzere,  wird  die  Sprechdauer  der  einzelnen 
Laute  im  längeren  Worte  verkürzt.  Diese  Verkürzung  erstreckt  sich 
naturgemäß  eher  auf  die  Vokale  als  auf  die  Konsonanten,  weil  jene  ja 
überhaupt  viel  leichter  der  Kürzung  oder  auch  der  Dehnung  unter- 
liegen ;  am  ehesten  aber  wird  von  der  Verkürzung  ein  langer  Vokal 
betroffen". 

Diese  von  Jespersen  und  Eckhardt  vertretene  Auflassung  von  der 
Hauptursache  der  Vokal  Verkürzung  gewinnt  eine  starke  Stütze  durch 
die  Arbeit  von  Ernst  A.  Meyer  über  Englisclie  Lautdauer  (Uppsala 
und  Leipzig  1903),  auf  die  Eckhardt  hinweist.  Mayer  hat  die  Laut- 
dauer im  Englischen  zum  erstenmal  durch  einen  besonders  dazu  kon- 
struierten, sinnreichen  Apparat  experimentell  zu  bestimmen  versucht  und 
ist  dabei  zu  dem  wichtigen  Ergebnis  gekommen,  daß  ein  Vokal  in 
einem  zweisilbigen  Wort  eine  beträchtlich  kürzere  Laut- 
dauer hat  als  der  gleiche  Vokal  im  entsprechenden  ein- 
silbigen Wort. 

Eckhardt  setzt  sich  mit  seiner  Erklärung  der  Vokalverkürzung  in 
Gegensatz  zu  der  Auffassung,  die  Luick  in  seinen  Beiträgen  zur  eng- 
lischen Grammatik  III  (Angl.  20,  335  ff. ;  1898)  über  die  Quantitäts- 
veränderungen  der  englischen  Tonvokale  entwickelt  hat.  Luick  stellt 
drei  Normaltypen  der  Quantitäten  von  Tonsilben  auf  (S. 336): 
1.  das  einsilbige  Wort  ist  normalerweise  langsilbig,  und  zwar 
besteht  es  entweder  aus  kurzem  Vokal  und  langem  Konsonanten  (ae. 
hed(d)  oder  aus  kurzem  Vokal  und  zwei  Konsonanten  (ae.  widf)  oder 
aus  langem  Vokal  und  kurzem  Konsonanten  (ae.  tvis)]  2.  beim  zwei- 
silbigen Wort  besteht  die  Tonsilbe  entweder  aus  kurzem  Vokal 
und  kurzem  Konsonanten  (ae.  drincan)  oder  aus  langem  Vokal 
in  offner  Silbe  (tvceroti)]  3.  das  dreisilbige  Wort  hat  normaler- 
weise einen  kurzen  Tonvokal  in  offner  Silbe  (ae.  adesa  oder 
heofones).  „Alle  großen  Quantitätsveränderungen  ergeben  sich  aus  dem 
(natürlich  unbewußten)  Streben,  diese  Normalmaße  zu  erreichen."  "VS'o 
die  Vokalquantität   dem   Normalmaß   bereits   entspricht,   „tritt   bei   der 

76 


Weiterentwicklung  dieser  Formen  keine  Quantitätsveränderung  ein.  Die 
Silben  aber,  welche  diese  Maße  nicht  haben,  werden  so  weit  als  mög- 
lich auf  sie  gebracht,  teils  durch  Längung,  teils  durch  Kürzung"  (Angl. 
20,  336  f.). 

Eckhardt  setzt  sich  mit  dieser  Quantitätstheorie  Luicks  auseinander 
(S.  272 — 75).  In  bezug  auf  die  dreisilbigen  Wörter  stimmt  er  Luicks 
Schema  rückhaltlos  zu;  dagegen  meint  er,  daß  die  zahlreichen  neuengl. 
zweisilbigen  Ableitungen  und  Zusammensetzungen  nach  dem  Typus  ^  x 
(Wörter  wie  pleasant,  lüeasure,  notJiing,  twopence,  threepence  usw.)  sich 
mit  Luicks  Normalraaß  der  zweisilbigen  Wörter  schlecht  vereinigen 
lassen. 

Eckhardt  nimmt  für  sein  Verkürzungsprinzip  die  Geltungskraft 
«ines  Lautgesetzes  in  Anspruch  (S.  275).  „Daß  dies  Lautgesetz 
in  so  zahlreichen  Fällen  durchbrochen  erscheint,  beruht  au£  dem  Ein- 
fluß eines  ihm  entgegenwirkenden  Prinzips,  nämlich  der  Ana- 
logie nach  dem  lang  vokaligen  Grundwort.  Oft  sind  beide 
Faktoren  gleich  stark,  so  daß  Doppelformen  entstehen,  eine  kurzvokalige 
lautgesetzliche,  und  eine  langvokalige  analogische.  Wenn  beide  nur 
ungefähr  gleich  stark  sind,  bilden  irgendwelche  sonstigen,  die  Verkürzung 
oder  die  Erhaltung  der  Länge  begünstigenden  Nebenumstände  gleichsam 
das  Zünglein  an  der  Wage,  wodurch  die  Entscheidung  nach  der  einen 
oder  nach  der  anderen  Richtung  herbeigeführt  wird"  (S.  275  f.).  So 
wird  die  Verkürzung  begünstigt  durch  die  Stellung  des  Tonvokals  vor 
Doppelkonsonanz  (ivise  —  ivisdom ,  clean  —  cleanli/ ,  break  —  hveakfast), 
durch  Isolierung  des  abgeleiteten  oder  zusammengesetzten  Worts  gegen- 
über seinem  Grundwort  in  der  Form  (cäse — cäsual,  aber  fäte  —  fätal\ 
düJce  —  dücJiess,  aber  count  —  countess)  oder  in  der  Bedeutung  (dine  — 
dinner,  holy  —  holiday),  durch  die  größere  Silbenzahl  (dime  —  climate, 
aber  grade — graduate)  und  durch  die  Schwere  der  Ableitungssilbe. 
Dagegen  wird  die  analogische  Länge  begünstigt  durch  engen  etymologi- 
schen Zusammenhang  mit  dem  Grundwort  {eat  —  eafahle)  oder  durch 
die  Natur  bestimmter  Vokale  selbst :  so  widerstrebt  z.  B.  jü,  ü  in  franz. 
oder  lat.  Lehnwörtern  der  Verkürzung,  während  a  ihr  leichter  erlieg 
(üse  —  üsiial  neben  cäse  —  cäsual). 

Das  letzte  Wort  über  dieses  schwierige  Quantitätsproblem  ist  jeden- 
falls noch  nicht  gesprochen.  Im  54.  Band  der  Englisclien  Studien 
(S.  117;  1920)  hat  Eckhardt  in  einem  Aufsatz  Zur  Quantität  offener 
Tonvokale  im  Neuenglischen  sich  zu  brieflichen  Einwänden  Luicks  ge- 
äußert, und  im  gleichen  Band  (S.  177)  verteidigt  Luick  aufs  neue  den 
von  ihm  vertretenen  Standpunkt.  Aber  Eckhardt  hat  jedenfalls  das 
Verdienst,  in  seiner  gründlichen  Abhandlung  nicht  nur  ein  umfangreiches 
Material  gesammelt  und  eingehend  erörtert,  sondern  auch  das  ganze 
Problem  von  neuem  aufgerollt  und  kritisch  beleuchtet  zu  haben. 


77 


3.   Konsonantismus 

a)  Palatalisierung 

Die  schwierige  Frage  der  Palatalisierung  des  altengl.  c 
ist  in  den  letzten  Jahren  in  zwei  voneinander  unabhängigen  Arbeiten 
behandelt  worden. 

Die  Marburger  Dissertation  von  Hermann  Le}'-,  Der  Lautivert 
des  altengl.  e  (1914),  gibt  eine  recht  willkommene  Übersicht  über  die 
mannigfache  Behandlung  des  viel  umstrittenen  Problems  seit  Kask  und 
Jakob  Grimm,  trägt  aber  in  ihrem  selbständigen  Teil  wenig  zur  För- 
derung der  Frage  bei  und  ist  in  ihrer  Hauptthese,  daß  die  Palatalisie- 
rungen  des  Englischen  und  Friesischen  ein  Erbteil  aus  der  indogermani- 
schen Urzeit  seien,  daß  wir  in  ihnen  die  direkte  Weiterentwicklung  der 
indogerm.  palatalen  Verschlußlaute  zu  erblicken  hätten,  verfehlt. 

Sehr  viel  wertvoller  ist  die  Göttinger  Dissertation  von  Olga  Ge- 
venich  über  Die  englische  Palatalisierung  vort  Je  zu  c  im  Lichte  der 
englischen  Ortsnamen  (Morsbachs  Stud.  z.  engl.  Phil.  57;  Halle  1918). 
Nach  der  bisher  sehr  verbreiteten,  wenn  nicht  herrschenden  Ansicht  be- 
stand in  der  Behandlung  des  altengl.  palatalen  k  (geschrieben  c)  ein 
grundsätzlicher  Unterschied  zwischen  den  süd-  und  nordhumbrischen 
Mundarten:  w^ährend  im  Südhumbrischen  palatales  Je  durch  Jcj,  Jcjr  zu  ts 
assibiliert  wurde  (cJiurcJi,  cliester,  -lüicli),  sei  es  im  Nordhumbrischen  als 
palataler  Verschlußlaut  bewahrt  geblieben  (JiirJi,  casfer,  -iviclS).  Fräulein 
Gevenich  führt  nun  auf  Grund  eines  sehr  reichhaltigen,  aus  den  Ur- 
kunden zusammengetragenen  Ortsnamenmaterials  den  Nachweis,  daß  die 
Assibilierung  von  /<;  zu  ts  nicht  nur  im  ganzen  Südhumbrischen  (mit 
Einschluß  von  Süd  -  Lancashire  und  der  Südwestecke  des  West  Riding 
von  Yorkshire)  eingetreten  ist,  sondern  daß  sie  sich  auch  nördlich  des 
Humber,  und  zwar  gerade  in  den  beiden  nördlichsten  Grafschaften: 
Durham  und  Northumberland ,  nachweisen  läßt.  Schon  ein  andrer 
Morsbach- Schüler,  Cornelius,  hatte  auf  das  Vorkommen  von  c/i-Namen 
in  diesen  Grafschaften  (z.  B.  CliesivicJc,  EacJitvicJc  in  Nhb.)  hingewiesen. 
Frl.  Gevenich  vermehrt  das  Beweismaterial.  Aus  Durham  liegen  nur 
spärliche  Beispiele,  wie  CJiilton  und  Namen  auf  -ehester  vor;  reicher  ist 
das  Material  aus  Northumberland:  Cliarlton,  CJiesters,  CJiirton,  DitcJiburn 
u,  a.  Im  größten  Teil  von  Yorkshire,  in  Cumberland  und  Westmorland 
dagegen  fehlen  c/i- Formen  gänzlich;  auch  Nord -Lancashire  liefert  nur 
unsichere  Fälle.  Wie  ist  das  Fehlen  von  cA- Formen  in  diesen  Graf- 
schaften zu  erklären?     Trat  die  Assibilierung  hier  nicht  ein? 

Frl.  Gevenich  sucht  zu  beweisen,  daß  das  Fehlen  des  c7i-Lauts  in 
diesen  nördlichen  Grafschatten  nicht  das  Ergebnis  einer  dialektischen 
Sonderentwicklung  ist,  sondern  daß  die  altenglischen  Palatale  in  phonetisch 
gleicher  Umgebung  sich  auf  dem  ganzen  englischen  Sprachgebiet  ein- 
heithch  entwickelten,  und  daß  die  Assibilierung  sich  über  ganz 
England  erstreckte.  Ihr  Fehlen  in  gewissen  nordengli- 
schen Gebieten  erklärt  sich  nach  der  Verfasserin  durch  skan- 
dinavischen Einfluß.     Sie  weist  nach,   daß    nicht   nur  Namen  mit 

78 


dl  in'  Gegenden  nördlich  des  tlumber,  sondern  daß  umgekehrt  Namen 
mit  niclitassibiliertem  Je  auch  in  südhumbrischen  Gebieten  auftreten, 
und  daß  sie  in  ihrer  Verbreitung  und  Dichte  in  weitgehendem  Maß  mit 
der  Verbreitung  und  Dichte  der  gesamten  nordischen  Namen  in  Eng- 
land Schritt  halten.  Sie  zeigt,  daß  die  außerordentlich  zahlreichen  7c- 
Wörter  —  mit  wenigen,  besonders  zu  erklärenden  Ausnahmen  —  sämt- 
lich im  altnordischen  Wortschatz  enthalten  waren  und  somit  höchst 
wahrscheinlich  als  skandinavische  Lehnwörter  aufzufassen  sind,  was  bei 
einer  Anzahl  dieser  Namen  durch  spezifisch  nordische  Laute  und  Kom- 
positionsglieder zweifelsfrei  bewiesen  wird.  Die  im  Assibilationsgebiet 
versprengten  Ä;-Namen  seien  danach  ebenfalls  als  nordisch  anzusprechen. 
In  manchen  Fällen  wurden  englische  Wörter  mit  ch  von  den  Skandinaviern 
umgebildet,  indem  der  ihnen  ungeläufige  engl.  c/i-Laut  durch  das  ent- 
sprechende skand.  h  ersetzt  wurde.  Die  Wiederherstellung  des  /i;-Lauts 
trat  nur  in  denjenigen  Gebieten  ein,  wo  Skandinavier  Träger  der  eng- 
lischen Sprache  waren.  Damit  ist  der  bisherigen  dialektischen  Scheidung 
in  ein  südliches  cJi-  und  ein  nördliches  ^'-Gebiet  nach  der  Überzeugung 
der  Verfasserin  der  Boden  entzogen. 

Diese  Ergebnisse  von  Frl.  Gevenichs  Arbeit  sind  höchst  belang- 
reich, wenn  auch  die  Beweisführung  im  einzelnen  nicht  überall  einwand- 
frei ist.  Ekwall  hat  in  einer  sehr  beachtenswerten  Besprechung  des 
Buchs  (Angl.  Beibl.  30,  221  fF.;  Aug.  1919)  auf  verschiedene  Mängel 
der  Beweisführung  hingewiesen.  Er  meint,  daß  das  Ortsnamenmaterial 
allein  zum  Nachweis  der  allgemeinen  Assibilierung  nicht  ausreicht.  Auch 
Ekwall  ist  der  Ansicht,  daß  die  Assibilierung  gemein- 
englisch ist;  aber  er  stützt  diese  Ansicht  in  erster  Linie  auf  die  Tat- 
sache, daß  in  den  ältesten  mitteleng  1.  Denkmälern  des 
Nordens,  von  denen  einige  sicherlich  aus  Yorkshire  stammen,  Wörter 
wie  chidey  cliild,  cheap,  cheeJc,  chicJcen,  lecJie,  lorecche  u.  a.  regelmäßig 
Assibilation  aufweisen.  Wäre  k  in  diesen  Wörtern  im  größten 
Teil  von  Yorkshire  lautgesetzlich,  so  wäre  es  nicht  schon  um  1300  unter 
südhumbrischem  Einfluß  durch  ch  ersetzt  worden. 

Frl.  Gevenichs  Ansicht,  daß  auch  das  h  in  caster  nordischen  Ur- 
sprungs sei,  lehnt  Ekwall  ab,  weil  anord.  liasfali,  womit  sie  operiert, 
ein  roman.  Lehnwort  sei,  das  den  Skandinaviern  der  Wikingerzeit  noch 
unbekannt  war;  und  ae.  ceaster  hätte  skand.  *Jcester,  nicht  ^Jcaster  er- 
geben müssen.  Ekwall  meint,  daß  man  zur  Erklärung  von  ne.  caster 
auf  die  ae.  Form  ccester  zurückzugehen  habe,  die  für  das  Südnord- 
humbrische  anzusetzen  ist.  Er  ist  der  Ansicht,  daß  urengl.  c  vor  cc 
zwar  palatalisiert  wurde,  daß  aber,  wenn  ce  undiphthongisch  blieb,  keine 
Assibilierung  des  c  eintrat.  Er  stellt  deshalb  die  Regel  auf,  daß  die 
Assibilierung  im  Anlaut  nur  vor  vor  i,  e  und  i-,  e-Diph- 
thongen,  nicht  aber  vor  cc  eintrat. 

b)  Dissimilation,  Assimilation  und  Metathese 
Zu    den   interessantesten    Spracherscheinungen    gehören    die   gegen- 
seitigen Beeinflussungen  der  Laute  eines  Worts.     Man  kann  bei  diesen 

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Erscheinungen  nach  der  Stelhmg  der  sich  beeinflussenden  Laute  Kon- 
takt- und  Fernwirkungen,  nach  dem  Wesen  und  den  Ursachen  der  Be- 
einflussungen physiologische  und  psychologische  Einwirkungen  unter- 
scheiden. Die  Kontaktwirkungen ,  d.  h.  die  gegenseitige  Beein- 
flussung von  Lauten,  die  sich  unmittelbar  berühren,  sind  vorwiegend 
phy  siologi scher  Natur.  Es  gehören  hierher  im  Englischen  der  Ein- 
fluß der  Nasale  auf  vorhergehende  Vokale,  die  altenglischen  Brechungen 
und  Palatalisierungen,  der  Einfluß  von  tv  auf"  folgende,  von  l  und  r  auf 
vorhergehende  Vokale  usw.  Die  Fern  Wirkungen  anderseits  sind 
vorwiegend  psychologischer  Art.  Bei  ihnen  beruht  die  Verände- 
rung eines  Lauts  nicht  auf  der  lautphysiologischen  Beeinflussung  durch 
einen  unmittelbar  benachbarten,  sondern  auf  einer  psychologischen  Ein- 
wirkung durch  einen  entfernteren  Laut  über  dazwischen  stehende  hinweg. 
Hier    liegt    kein  Lautwandel,    sondern    ein    plötzlicher  Lautwechsel  vor. 

Die  physiologischen  Wirkungen  der  Laute  aufeinander,  die  als 
kombinatorischer  Lautwandel  dem  spontanen  gegenüberstehn,  sind  längst 
bekannt.  Sie  sind  für  jede  Sprache  und  jede  Sprachperiode  verschieden, 
und  ihre  Gesetze  werden  seit  langem  studiert.  Erst  in  neuerer  Zeit  hat 
man  sich  mit  den  psychologischen  Lautveränderungen  intensiver  be- 
schäftigt. Im  Mittelpunkt  des  Interesses  stehn  hier  die  Erscheinungen 
der  Dissimilation,  Assimilation  und  Metathese.  Die  Ursachen  dieser  drei 
Spracherscheinungen  sind  freilich  nicht  durchweg  psychologischer  Natur. 
Alle  drei  können  sowohl  bei  unmittelbar  benachbarten  als  auch  bei 
entfernter  stehenden  Lauten  auftreten,  und  ihre  Ursachen  und  ihr  Zu- 
standekommen sind  dementsprechend  verschieden:  Kontaktassimilationen 
usw.  sind  vorwiegend  physiologisch,  Fernassimilationen  usw.  vorwiegend 
psychologisch  bedingt. 

Mit  der  Einteilung,  dem  Verlauf  und  den  Ursachen  jener  drei 
Lauterscheinungen  haben  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  eine  Reihe  von 
Forschern  beschäftigt.  Paul,  Wundt,  Grammont,  Meringer,  Wechßler, 
Oertel,  Meillet,  Brugmann  u.  a.  haben  sie  von  verschiedenen  Gesichts- 
punkten aus  untersucht  und  ihre  Erkenntnis  wesentlich  gefördert.  Eine 
neuere,  eingehende  Abhandlung  von  Ernst  Schopf,  Die  konsonanti- 
schen Fernwirhungen :  Fern-Dissimilation,  Fern- Assimilation  und  Meta- 
tliesis  (Güttingen  1919),  nimmt  zu  diesen  früheren  Untersuchungen 
kritisch  Stellung  und  bietet,  von  der  Vulgärsprache  in  den  lateinischen 
Inschriften  der  römischen  Kaiserzeit  ausgehend,  eine  gründliche  und  all- 
seitige Darstellung  des  Problems. 

Die  prinzipiellen  Erörterungen  im  ersten  Teil  des  Buchs  haben  all- 
gemein sprachwissenschaftliches  Interesse.  Der  Verfasser  handelt  zunächst 
von  der  Einteilung,  Definition  und  Terminologie  der  Fernwirkungen. 
Dabei  kommt  er  zu  der  zweifellos  richtigen  Feststellung,  daß  zu  den 
Ferndissimilationen  nicht  nur  Lautveränderungen  wie  peregrinusy 
peleyrinus,  sondern  auch  Fälle  von  vollständiger  Lautauslassung 
wie  castrorumy castot^um  zu  rechnen  sind,  und  daß  umgekehrt  zu  den 
Fernassimilationen  nicht  nur  Lautveränderungen  wie  jnirulentus} 
pitlulentus,  sondern  auch  Lautzufügungen  wie  Octobrcs}  Octr obres 

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gehören.  Sowohl  Fernassimilationen  als  auch  Ferndissimilationen  können 
entweder  regressiv  oder  progressiv  verlaufen.  In  ersterem  Falle 
wirkt  ein  folgender  Laut  auf  einen  vorhergehenden  zurück,  in  letzterem 
wirkt  umgekehrt  der  frühere  auf  den  späteren  ein.  Die  Fernraetathese 
ist  entweder  eine  reziproke,  die  gegenseitige  Umstellung  zweier  Laute, 
oder  eine  einseitige,  die  einfache  Versetzung  eines  Lauts  an  eine 
andre  Stelle  des  Worts. 

Schopf  teilt  demgemäß  die  drei  Gruppen  von  Fernwirkungen  in 
folgender  Weise  ein: 

A.  Ferndissimilation.  L  Dissimilatorischer  Lautwechsel. 
1.  Regressiv.  Typus  x  —  x)y  —  x:  'peregvinusy  pelegrinus.  2.  Pro- 
gressiv. Typus  X  —  x)x  —  y:  Belial}  Beliar. —  II.  Dissimilatorischer 
Lautschwund.  1.  Regressiv.  Typus  x  —  x )  o  ■ —  x :  castrorum }  casto- 
rum.     2.  Progressiv.     Typus  x  —  x)x  —  o:  crehvescoy creheseo. 

B.  Fernassimilation.  I.  Assimilatorischer  Lautwechsel. 
1.  Regressiv.  Typus  y  —  x)x  — x:  ])iiriilentns)> pululentus.  2.  Pro- 
gressiv. Typus  X  —  y)x  —  x:  Menelavos  }  Menielavos.  —  II.  Assimi- 
latorischer Lautzuwachs.  1.  Regressiv.  Typus  o  —  x)x  —  x:  Oc- 
tohresy  Odrohres.  2.  Progressiv.  Typus  x  —  o)x  —  x:  perpefuus} 
perpertuus. 

C.  Fernumstellung  (Metathese).  I.  Reziproke  Metathese 
mit  zusammenhängendem  Lautwechsel  an  zwei  Stellen:  veligio^  lerigio, 
reliquiae)>leriqniae,  crustliim  (=  crustulum)  ' Backwerk ')  c^M.s^^z«m, 
*corulnus  (von  corulus  ' Haselstaude' )co?^fr>^MS.  —  IL  Einseitige 
Metathese,  wobei  ein  Laut  an  eine  andre  Stelle  des  Worts  versetzt 
wird,  also  Lautschwund  an  der  einen  Stelle  mit  entsprechendem  Laut- 
zuwachs an  der  andern  Stelle  verbunden  ist.  1.  Regressiv.  Typus 
o  —  x)x  —  o:  Pancratius}  Prancatius.  2.  Progressiv.  Typus  x  —  o) 
o  —  x:  crocodilus}  cocodrüus. 

Im  weiteren  Gang  seiner  Arbeit  untersucht  Schopf  die  psychologi- 
schen Ursachen,  das  Wesen  und  den  Verlauf  der  verschiedenen  Fern- 
wirkungen, die  lautlichen  Bedingungen  des  dissimilatorischen  Wechsels, 
die  Frage,  in  welche  andern  Konsonanten  der  dissimilierte  Laut  über- 
gehen kann,  und  anderes.  Dabei  setzt  er  sich,  teils  zustimmend,  teils 
ablehnend,  mit  den  Ansichten  von  Merioger,  Grammont,  Brugraann, 
Meillet,  Hoffmanu-Kreyer  u.  a.  auseinander.  Der  zweite  Teil  des  Buchs 
bringt  zahlreiche  Beispiele  für  die  konsonantischen  Fernwirkungen  aus 
den  Inschriften  der  römischen  Kaiserzeit,  die  besonders  ergiebig  für  diese 
Lauterscheinungen  sind.  Das  Buch  von  Schopf  ist  reich  an  Anregungen. 
Es  wird  die  Grundlage  für  weitere  Untersuchungen  über  den  Gegen- 
stand bilden.  Eine  zusammenfassende  Behandlung  der  Assimilation, 
Dissimilation  und  Metathese  im  Englischen   wäre  sehr  erwünscht. 

Willkommene  Ansätze  dazu  bietet  Ernst  Schwentner  in  einem 
kurzen  Aufsatz  Zur  Metathesis  im  GermaniscJien  (PBBeitr.  ,  4.3,  113; 
1917).  Er  behandelt  nicht  nur  die  Fern  Versetzung,  sondern  auch  die 
Kontaktversetzung,  wobei  auch  das  Englische  ausgiebig  berücksichtigt 
wird.      Leider  ist   die   Verarbeitung  und   Anordnung   des   reichhaltigen 

Wissenschaftliche  Forschungsberichte  IX.  6 

81 


Stoflfs  zum  Teil  zu  mechanisch  gehalten ;  es  soll  im  folgenden  eine  etwas 
abweichende  Gruppierung  versucht  werden. 

Die  Kontaktversetzung  ist  namentlich  im  Angelsächsichen 
eine  ungemein  häufige  Erscheinung.  Es  kommen  dabei  in  erster  Linie 
die  Laute  r,  l,  n,  s  in  Frage;  aber  die  Art  der  Versetzung  ist  bei  r 
einerseits,  bei  l,  n,  s  anderseits  verschieden,  was  Schwentner,  wie  üba'igens 
auch  andre  vor  ihm,  unbeachtet  läßt.  Bei  der  r- Metathese,  der 
weitaus  häufigsten  in  allen  indogermanischen  Sprachen,  handelt 
es  sich  um  einen  Wechsel  des  r  mit  einem  Vokal,  wobei  das  r 
bald  vor,  bald  hinter  dem  Vokal  erscheint;  z.  B.  ahd.  and.  hros,  nhd. 
ross:  ae.  hors,  ne.  horse\  ae.  ferse:  ne.  fresh\  ae.  forst:  ne.  frost\  ae.  heorld: 
ne.  hriglU\  ae.  cearcian  (neben  cracian):  ne.  crack\  ae. pridda:  ne.  third; 
ne.  forma  'der  erste':  friima  'Anfang';  ae.  hurnc,  -n:  ahd.  hrunno,  nhd. 
hrunncn.  —  Bei  l  ist  dieser  Wechsel  mit  Vokal  sehr  selten;  im  Eng- 
lischen scheint  er  überhaupt  nicht  vorzukommen. 

Bei  der  l-,  n-  und  s- Metathese  anderseits  handelt  es  sich  um 
den  Wechsel  mit  einem  Konsonanten:  ae.  seil  und  seid  'Sitz'; 
ae.  gyrdisl  und  gyrdels  '  Gürtel' ;  —  ae.  pegn  und  peng  '  Degen,  Gefolgs- 
mann';  ae.  cläinsian  und  cläsnian  'reinigen';  —  ae.  üscian,  ne.  ash: 
ae.  äcsian,  ne.  vulg.  ax ;  ae.  wcesp,  ne.  ivasp :  ae.  waps. 

Fernversetzungen  kommen  in  den  altgermanischen  Sprachea 
nur  ganz  vereinzelt  vor;  sie  treten  erst  in  neuerer  Zeit  häufiger  auf 
i;nd  sind  zum  Teil  absichtliche,  oft  komische  Bildungen. 

Ein fa che  Fernversetzungen,  wie  in  lat.  cocodrilus  für  cro- 
codilus,  sind  im  Englischen  sehr  selten.  Ein  Fall  von  einseitiger  re- 
gressiver Metathese  nach  dem  Typus  Pancratiusy  Prancatius  liegt  vor 
in  ae.  gyrstandag  für  älteres  giestran-,  gystrandag ,  ne.  yesterday  (von 
Schwentner  nicht  erwähnt).  Dagegen  haben  wir  es  in  nhd.  gerstern  für 
gestern,  dial.  quarderstein  für  quaderstein  und  in  ahd.  wirdar  für  widnr 
'wider',  die  Schwentner  im  Anschluß  an  Brugmann  hierher  stellt,  nicht 
mit  einer  Metathese,  sondern  mit  einer  Pro le  pse,  einer  Vorwegnahme 
des  r  der  Folgesilbe  zu  tun,  wobei  dieses  r  nicht  versetzt  wird,  sondern 
erhalten  bleibt  ^).  Es  ist  ein  Fall  von  assimilatorischem  Lautzuwachs 
nach  Schopf  (Typus  Octohres}  Octrohres).  Die  Beispiele  gyrstandag  für 
gystrandtrg  und  gerstern  für  gestern  zeigen  zugleich,  wie  nahe  Fern- 
metathese und  Fernassimilation  sich  manchmal  berühren. 

Fernumstellungen  oder  reziproke  Fernversetzungen, 
von  H.  Schröder  „Schüttelförmen"  genannt,  sind  Lautumstellungen  wie 
in  ndl.  halceljauw  für  Jcaheljaiiiv,  die,  wenn  sie  in  Verbindung  mit  dem  Reim 
auftreten,  die  komische  Wirkung  der  heute  sehr  beliebten  „Schüttelreime" 
erzeugen.  Schon  in  altgermanischer  Zeit  kommen  Fernumstellungen 
einige  Male  vor,  z.  B.  ae.  ticcen,  ahd.  zichin:  ahd.  Icizzin,  anord.  Iciä, 
ne.  1dd\  ae.  dlor,  alr,  ne.  (dder,  ahd.  cl'ira:  ahd.  erila,  nhd.  erle-^  me. 
tihelen,  ne.  ticMe:  ae.  citelian,  ahd.  cJiiz^ilön,  mhd.  nhd.  kitzeln]  got.  akeid, 


1)  Diese  Worte  waren  geschrieben,   bevor   mir   das  Bucli  von  Schopf   bekannt 
wurde,  mit  dem  icii  mich  in  der  Auffassung  dieser  Erscheinung  somit  begegne. 

82 


ae.  eC(SfZ.^[(aus  lat.  acetum):   mnd.  ettik,   ndl.  ediJc,  ahd.  ez^ih,  nhd.  essig 
aus  *atecum).     Vielleicht  ist  auch  me.  2^oU,  ne.  mnd.  nnd.  mndl.  nndl. 
pot  gegenüber  mnd.  dop,  äoppe,  mhd.  nhd.  topf  hierher  zu  stellen. 

Eine  Anzahl  Fälle  von  Ferndissim  ilation  und  Fernassi- 
milation  im  Englischen  trägt  W.  Hörn,  Engl.  Stud.  54,  69  (1920), 
zusammen.  Die  meisten  sind  den  Dialekten  entnommen.  Von  schrift- 
sprachlichen Beispielen  für  Ferndissimilation  seien  die  folgenden 
erwähnt,  ae.  ^«jjor  '  Docht,  Wachskerze',  ne.  taper  'Wachskerze'  ist 
schon  von  Kluge  richtig  als  Dissimilation  aus  "^papmr,  lat.  papyrus 
erklärt  worden,  das  in  einigen  romanischen  Dialekten  die  Bedeutung 
'Docht'  hat.  Das  Mark  der  Papyruspflanze  wurde  als  Docht  benutzt.  — 
Für  den  Übergang  von  afrz.  raenson  (nfrz.  rangon),  me.  ransoun  in  me. 
ne.  ransom  'Lösegeld'  (mit  m  schon  seit  1350)  und  von  afrz.  randon, 
me.  randoun  "Ansturm,  Gewalt'  in  ne.  af  random  'aufs  Geratewohl' 
(mit  m  seit  dem  16.  Jahrb.),  den  Jespersen,  Mod.  Engl.  Gramm.  I  2.  414, 
unerklärt  gelassen  hatte,  nimmt  Hörn  mit  Recht  Dissimilation  an.  Ebenso 
erklärt  sich  me.  venim,  ne.  venom  'Gift'  gegenüber  afrz.  nfrz.  venin, 
lat.  venenum,  das  Hörn  nicht  erwähnt;  nur  kommt  hier  schon  im  Alt- 
französischen neben  venin  auch  venim  vor.  Eine  dritte  afrz.  Nebenform 
velin  zeigt  Dissimilation  des  ersten  n\  ähnlich  ital.  veleno  und  mit  r 
prov.  vere,  katal.  veri  u.  a.  (s.  Meyer-Lübke,  Et.  V/b.,  S.  701).  —  In 
dem  ne.  fingrini,  fingram  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 'eine  Art  Wolle' 
aus  frz.  ißn  grain  liegt  wohl  nicht  Assimilation  des  auslautenden  Kon- 
sonanten an  den  anlautenden  vor,  wie  Hörn  (S.  74)  meint,  sondern 
Dissimilation  des  zweiten  n  gegen  das  erste.  —  Die  ae.,  nndl.,  nfränk. 
Nebenform  sivegel  zu  ae.  swefl,  mnd.  sivevel,  nndl,  zivafel,  nnd.  siväwel, 
schwed.  swafvel,  ahd.  sweval,  sicebal,  nhd.  schwefel  erklärt  Hörn  (S.  73) 
wohl  zutreffend  durch  dissimilatorischen  Übergang  des  zweiten  labialen 
Spiranten  in  g.  Nur  wird  aus  dem  o  zunächst  nicht  ein  palataler  (wie 
er  sagt),  sondern  ein  velarer  Spirant  geworden  sein.  Die  gleiche  Dissi- 
milation liegt  nach  Hörn  in  ae.  tiviiva  )  tiviga  'zweimal'  und  lat.  papaver 
zu  ae.  popceg,  ne.  poppy  'Mohn'  vor. 

4.  Phonetik  und  Aussprache  des  heutigen  Englisch 

Kenntnis  der  Grundgsesetze  der  Phonetik  ist  für  alle  Sprach- 
forschung unerläßliche  Voraussetzung.  Zur  Einführung  in  das  Studium 
dieser  Wissenschaft  kann  Otto  Jespersens  Memenfarhuch  der  Pho- 
iietiJi  (Leipzig  1912)  wärmsteus  empfohlen  werden.  Es  ist  ein  Auszug 
aus  des  Verfassers  größerem  Lehrbuch  der  Phonetik  (3.  Aufl.,  Leipzig 
1920).  Wer  sich  eiogehender  mit  dem  Gegenstand  beschäftigen  will, 
nehme  dies  geistvolle  Buch  selbst  zur  Hand.  Auch  aus  Wilhelm 
Victors  wertvollen  Elementen  der  Phonetik  des  Detitschen,  Englischen 
und  Französischen  (6.  Aufl.,  Leipzig  1914 — 1915)  wird  er  reiclie  An- 
regung und  Belehrung  schöpfen. 

Von  andrer  Seite  als  die  eben  genannten  Gelehrten  tritt  G.  P  a  n  - 
concelli-Calzia   in   seiner    Einführung    in   die   angeicandte  Phonetik 

6* 

83 


f  Berlin  1914)  an  den  Stoff  heran.  Das  reich  ilhistrierte  Buch  will  dem 
angehenden  Sprachforscher  nach  den  Methoden  der  experimentellen 
Phonetik  eine  unmittelbare  Anschauung  von  der  Entstehung  der  Laute 
vermitteln.  Ein  andrer  experimenteller  Phonetiker,  Alfred  Ehrentreich, 
hat  seine  Wissenschaft  in  den  Dienst  einer  konkreten  Frage  der  neu- 
englischen Lautlehre  gestellt.  In  seiner  Abhandlung  Zur  Quantität  der 
Tonvolittle  im  Modern- Englischen  (Pal.  133;  Berlin  1920)  kom.mt  er 
auf  Grund  experimenteller  Untersuchungen  zu  dem  Ergebnis,  daß  die 
übliche  Einteilung  der  Vokale  in  Längen  und  Kürzen  ein  veraltetes 
Überbleibsel  der  historischen  Grammatik  sei.  „Die  Quantitätserschei- 
nungen des  NeuengHschen  zeugen  für  Tendenzen,  die  die  alte  Einteilung 
in  Längen  und  Kürzen  hinfällig  machen"  (S.  108).  An  ihre  Stelle  sind 
zwei  neue  Begriffe  zu  setzen:  einerseits  der  Stimmabsatz,  der  entweder 
allmählich  oder  rasch  sein  kann,  anderseits  die  Zweigipfligkeit,  bei  der 
sich  drei  Formen:  qualitative,  intensive  und  melodische  Zweigipfligkeit, 
unterscheiden  lassen. 

In  der  Verwertung  der  wissenschaftlichen  Phonetik  für  den  Unter- 
richt in  der  Aussprache  des  heutigen  Englisch  war  seinerzeit  Henry 
Sweets  Elementarhuch  des  Gesprochenen  Englisch  (Oxford  u.  Leipzig 
1885;  2.  Aufl.  1887)  bahnbrechend,  indem  es  einerseits  eine  knappe, 
phonetisch  begründete  Darstellung  der  Grammatik  (Lautlehre,  Formen- 
lehre, Syntax),  anderseits  eine  Anzahl  Texte  mit  phonetischer  Umschrift 
und  phonetischem  Glossar  gab. 

Denselben  Zwecken  dient  A.  C.  Dunstans  Englische  Phonetik  mit 
Lesestüclcen,  2.  Auflage  besorgt  von  Max  Kaluza  (Berlin  1921,  Samm- 
lung Göschen),  ein  recht  brauchbares  Büchlein.  Auch  W.  A.  Craigie, 
The  Prommciation  of  English  (Oxford  1917),  will  dem  ausländischen 
Studenten  die  Erlernung  der  englischen  Aussprache  erleichtern,  nur  daß  er 
an  Stelle  der  phonetischen  Umschreibung  ein  System  diakritischer  Zeichen 
zur  Andeutung  der  Aussprache  verwendet. 

Eine  Sammlung  von  Übungssätzen  mit  phonetischer  Umschrift  zu 
Ausspracheübungen  bietet  M.  L.  Annakin  in  seinen  Exercises  in 
English  Prommciation  (Halle  1920).  Für  jeden  einzelnen  Laut  werden 
zwanzig  solcher  Übungssätze  geboten.  Die  Aussprache  ist  die  normale 
südenglische.  Das  Buch  wird  sicher  zur  Einübung  der  englischen  Aus- 
sprache im  Unterricht  gute  Dienste  tun.  Zur  Einführung  in  die  heutige 
Umgangssprache  aber  scheint  mir  immer  noch  das  treffliche  Büchlein 
von  True  und  Jespersen,  Spoken  English  (Leipzig,  O.  R.  Reisland), 
mit  seinen  frisch  aus  dem  Leben  entnommenen  Gesprächen  eins  der 
besten  Hilfsmittel  zu  sein. 

Ein  zuverlässiges  Nachschlagebuch  in  Fragen  der  modern-englischen 
Aussprache  ist  Arnold  Schröers  Neuenglisches  Atissprachcivörterbuch 
(Heidelberg  1913).  Es  verwendet  zur  Aussprachebezeichnung  dieselbe 
leicht  verständliche  Transskription,  deren  der  Verfasser  sich  schon  in 
seiner  Neubearbeitung  von  Griebs  Englisch  -  Deutschem  Wörterbuch 
(Stuttgart  1894 — 1898)  bedient  hatte.  Ein  originelles  und  in  seiner 
Art    verdienstliches  Werk    ist   Ä  Phonetic   Dictionary    of   the   English 

84 


Language  von  Hermann  Michaelis  und  Daniel  Jones  (Hannover 
1913).  Es  ist  der  zweite  Band  von  Michaelis'  „Sammlung  phonetischer 
Wörterbücher"  und  gibt  die  Stichwörter  in  Lautschrift  nach  den  Regeln 
der  International  Phonetic  Association.  Daß  das  Buch  ein  unbedingt 
zuverlässiger  Ratgeber  in  allen  Fragen  der  englischen  Aussprache  ist, 
dafür  bürgt  schon  der  Name  von  Daniel  Jones  auf  dem  Titelblatt. 
Aber  die  Anordnung  nach  Stichwörtern  in  phonetischer  Lautschrift 
scheint  mir  ein  Mißgriff.  Wenn  jemand  sich  über  die  Aussprache  eines 
englischen  Worts,  die  ihm  unbekannt  ist,  unterrichten  will,  so  wird  er 
doch  lieber  nach  einem  Wörterbuch  wie  das  Schröersche  greifen,  das 
die  Stichwörter  in  gewöhnlichen  Typen  und  dahinter  die  phonetische 
Umschrift  gibt,  als  mit  dem  Suchen  in  einem  phonetisch  geordneten 
Wörterbuch  unnötig  Zeit  verlieren. 

Ein  sehr  wichtiges,  bisher  leider  arg  vernachlässigtes  Kapitel  des 
Sprachunterrichts  schneiden  H.  Klinghardt  und  G.  Klemm  in 
ihren  Übungen  im  encilischen  Tonfall  (Oöthen  1920)  an.  Die  theoretische 
Grundlage  dieses  Buchs,  die  Aufführung  der  Mittel  zur  Darstellung  des 
Tonfalls,  die  Anordnung  und  Zusammenstellung  der  Übungen  und  die 
Auswahl  der  Texte  stammt  von  Klinghardt.  Seine  Mitarbeiterin,  Frau 
Gerdrude  Klemm,  die  in  Manchester  als  Kind  deutscher  Eltern  geboren 
wurde,  hat  die  Darstellung  der  Stimmbewegung  geprüft.  Mit  vollem 
Recht  weist  Klinghardt  in  seinem  Vorwort  auf  die  Wichtigkeit  von 
Übungen  in  der  richtigen  Intonierung,  im  korrekten  Tonfall  einer 
fremden  Sprache  hin.  Nach  allgemeinen  Bemerkungen  über  logische 
und  sentimentale  Sprechweise,  über  Tonfall  und  Lautbildung,  über  Lehr- 
barkeit  und  Erlernbarkeit  des  Tonfalls,  nach  einer  vergleichenden  Zu- 
sammenstellung des  englischen,  schwedischen,  deutschen  und  französi- 
schen Tonfalls,  handelt  er  über  das  Wesen  des  Sprechtakts,  auf  dem 
sich  seine  ganze  Lehre  vom  Tonfall  aufbaut.  Dann  spricht  er,  unter 
Anlehnung  an  Daniel  Jones,  über  den  „ebenen  Nachdruck"  (level  stress) 
im  Englischen.  Daran  schließen  sich  ausführliche  Auseinandersetzungen 
über  die  Eigenart  des  engUschen  Tonfalls  mit  graphischen  Darstellungen. 
Den  zweiten  Teil  des  Buchs  nehmen  die  mit  diakritischen  Zeichen  ver- 
sehenen Übungen  im  englischen  Tonfall  ein.  Das  Buch  sei  der  Be- 
achtung der  Lehrer  und  Studierenden  angelegentlichst  empfohlen. 

VII.  Formenlehre 
1.  Substantiv 

a)  Grammatisches  Geschlecht 

Die  Geschichte  des  grammatischen  Geschlechts  im  Eng- 
lischen hat  durch  Morsbach  in  seiner  grundlegenden  Abhandlung  über 
Grammatisches  und  psychologisches  Geschlecht  im  Englischen  (Berlin 
1913)  in  ihren  Hauptzügen  eine  abschließende  Darstellung  erfahren. 
Einen  wertvollen  Nachtrag  dazu  liefert  Nikolaus  von  Glahn  in 
seiner  Heidelberger  Dissertation  Zur  Geschichte  des  grammatischen  Ge- 

85 


schlechfs  im  MiUeleiujlisclien  vor  dem  völligen  Erlöschen  des  aus  dem  Ält- 
emjlischen  crcrhten  Zustandes  (Anglist.  Forsch.  53 ;  Heidelberg  1918).  Der 
Verfasser  gibt  im  ersten,  allgemeinen  Teil  seiner  Arbeit  einen  zusammen- 
fassenden Überblick  über  die  Geschichte  des  grammalischen  Geschlechts 
im  Mittelenglischen  bis  zum  Aufhören  des  aus  dem  Altenglischen  er- 
erbten Zustande,  wobei  er  sich  teils  auf  die  Forschungen  seiner  Vor- 
gänger, vor  allem  Morsbachs,  teils  auf  die  Ergebnisse  seiner  eignen 
Untersuchungen  stützt.  Er  weist  zunächst  auf  den  fundamentalen  Gegen- 
satz zwischen  dem  Verhalten  des  Altenglischen  und  des  Neuenglischen 
gegenüber  dem  grammatischen  Geschlecht  der  Substantiva  hin :  während 
im  Altenglischen  in  der  Hauptsache  die  drei  Kategorien  der  gram- 
matischen Genera:  des  Maskulinums,  Femininums  und  Neutrums, 
herrschen,  kommen  in  der  neu  englischen  Schriftsprache  im  großen 
und  ganzen  die  drei  Kategorien  des  natürlichen  Geschlechts: 
männlich,  weiblich,  geschlechtslos,  voll  zur  Geltung.  Auch  hinsichtlich 
der  granmiatischen  Mittel  zum  Ausdruck  des  Genus  besteht  ein 
erheblicher  Unterschied  zwischen  Alt-  und  Neuenglisch.  Während  die 
Kennzeichnung  des  grammatischen  Geschlechts  eines  Substantivs  im  Neu- 
englischen auf  die  Personal-  und  Possessivpronomina  beschränkt  ist,  er- 
folgt sie  im  Altenghschen  auf  verschiedenerlei  Weise  durch  die  Flexions- 
formen, und  zwar  zum  Teil  schon  durch  die  Flexionsendungen  der 
Substantiva  selbst,  zum  Teil  durch  den  Singular  der  zugehörigen  Pro- 
nomina (Artikel,  Demonstrativa,  Personalia  und  Relativa),  endlich  durch 
die  Flexion  der  zugehörigen  Adjektiva.  Im  Mittelenglischen  er- 
fuhren diese  Mittel  zur  Kennzeichnung  des  Genus  erhebliche  Einschrän- 
kungen. Infolge  der  Nivellierung  der  vollen  Endvokale  zu  -e  entfiel 
schon  im  Frühmittelenglischen  in  vielen  Fällen  die  Genusbestimmung 
durch  die  Flexionsendung  des  Substantivs  selbst.  In  der  Adjektivflexion 
ist  das  Vordringen  der  schwachen  Form,  die  bereits  im  Altenglischen 
ziemlich  charakterlos  war,  von  größter  Bedeutung.  Aber  auch  die 
Flexion  des  starken  Adjektivs  wird  frühzeitig  zerrüttet.  Als  Relativ- 
pronomen dient  seit  dem  12.  Jahrh.  in  immer  zunehmenden  Maße  das 
einheitliche  pcet,  pat,  ohne  Rücksicht  auf  Genus,  Numerus  und  Kasus. 
Artikel  und  Demonstrativpronomen  dagegen  bewahren  noch  längere  Zeit 
in  größerem  Umfang  ihre  geschlechtigen  Formen  und  dienen  als  Stützen 
des  grammatischen  Geschlechts.  Aber  nach  und  nach  werden  auch  bei 
ihnen  die  genusunterscheidenden  Formen  immer  stärker  eingeschränkt, 
bis  sie  ebenfalls  vereinheitlicht  werden.  Personal-  und  Possessivprono- 
mina aber,  die  einzigen,  die  —  aus  logischen  Gründen  —  ihre  ver- 
schieden-geschlechtigen  Formen  bis  ins  Neuenglische  gerettet  haben, 
genügten  allein  nicht  zur  Erhaltung  des  grammatischen  Geschlechts  der 
Substantiva. 

Der  Verfall  der  Flexion  führte  zunächst  in  zahlreichen  Fällen  zum 
Genuswechsel  der  Substantiva,  wobei  der  Einfluß  der  Flexionsformen, 
der  Auslautsgestaltung,  sowie  Reim-  und  Begrifl'sassoziationen  für  die 
Richtung  des  Wechsels  maßgebend  waren.  Aber  durch  die  beständige 
Zunahme    des   Gebrauchs    der    geschlechtig    indifferenten   Formen    von 

86 


Artikel,  Demonstrativ  und  Adjektiv  mußte  allmählich  die  Tradition|des 
überlieferten  persönhchen  Geschlechts  unpersönlicher  Substantiva  immer 
mehr  erschwert  werden,  und  mit  den  genusunterscheidenden  formalen 
Merkmalen  ging  schließlich  auch  das  Gefühl  für  das  grammatische  Ge- 
schlecht verloren.  „Mit  dem  Verfall  der  rein  äußeren  Unterlagen,  an 
die  das  Genus  geknüpft  war",  sagt  Morsbach  (S.  9),  war  „die  Neu- 
tralität aller  Substantiva,  die  keine  geschlechtigen  Lebewesen  bezeich- 
neten, gegeben."  An  die  Stelle  des  Genuswechsels  trat  der  völlige 
Genusschwund.  Den  Wörtern  für  geschlechtslose  Objekte  schließen  sich 
dabei  auch  die  Tiernamen  an,  soweit  das  Tier  lediglich  als  Vertreter 
der  Gattung,  nicht  als  geschlechtliches  Individuum  bezeichnet  wird. 

Der  Schwund  des  grammatischen  Geschlechts  ist  in  den 
verschiedenen  Dialekten  zu  verschiedener  Zeit  erfolgt.  Die  ersten  Spuren 
einer  Umwälzung  der  alten  Genusverhältnisse  in  der  Richtung  auf  das 
Neuenglische  sind  imNordhumbrischen  schon  in  der  zweiten  Hälfte 
des  10.  Jahrh.s  erkennbar,  wie  Lindelöf  nachgewiesen  hat.  Etwas  länger 
hat  sich  das  grammatische  Geschlecht  im  Mittelland  erhalten;  doch 
tritt  in  dem  nordostmittelländischen  Orrnmlum  um  1200  der  heutige 
Stand  schon  offen  zutage:  in  der  ganzen  umfangreichen  Dichtung  sind 
nur  noch  fünf  Fälle  von  Substantiven  mit  persönlichem  Genus  belegt. 
Am  zähsten  bewahrt  der  Süden,  der  hier  wie  in  andern  Sprach- 
erscheinungen konservativer  ist  als  der  Norden,  die  Mannigfaltigkeit  der 
alten  Genera,  allerdings  mit  dialektischen  Unterschieden.  Im  Süd- 
westen hat  sich  die  Umwälzung  zwischen  1200  und  1250  vollzogen: 
bei  Lai^amon  (um  1205)  ist  das  grammatische  Geschlecht  noch  erhalten; 
in  der  Ancren  Riwle  (um  1225)  ist  die  Neutralisation  schon  ziemlich 
vorgerückt;  um  1250  werden  die  unpersönlichen  Substantiva  im  all- 
gemeinen schon  ungeschlechtig  gebraucht.  In  den  Denkmälern  des 
Südostens,  die  von  Glahn  im  zweiten  Teil  seiner  Arbeit  genauer 
untersucht,  ist  das  grammatische  Geschlecht  um  diese  Zeit  noch  intakt. 
Erst  im  AijenUte  (1340)  setzt  die  Neutralisation  ein;  doch  weist  die 
weit  überwiegende  Mehrzahl  der  Fälle  auch  hier  noch  persönhches  Ge- 
schlecht der  unpersönlichen  Substantiva  auf  Gegen  Ende  des  14.  Jahr- 
hunderts aber  zeigt  der  Kenter  Gower  keine  Spur  mehr  vom  gramma- 
tischen Geschlecht  im  alten  Sinn.  Um  1400  ist  somit  die  Neu-- 
tralisierung  der  Substantiva  in  ganz  England  durchgeführt. 

b)  Genitiv-  und  Pluralbildung 

Über  Die  Ausbreitung  des  fleldierten  Geniiivs  auf  -s  im  31ittel- 
emßisclien  hat  vor  längerer  Zeit  ein  Schüler  von  mir,  Otto  Knapp, 
in  einer  Heidelberger  Dissertation  gehandelt  (abgedruckt  Engl.  Stud.  31, 
20;  1902).  Der  Ursprung  des  Genitivs  mit  o/' kommt  in  einer  wich- 
tigen Abhandlung  von  George  O.  Curme,  Tlie  Development  of  the 
Annlytic  Genitive  in  Germanic  (Mod.  Philology  11,  145  u.  289;  Okt. 
1913  und  Jan.  1914)  zur  Erörterung.  Beide  Arbeiten  liegen  weiter 
zurück  und  können  hier  nur  gestreift  werden. 

87 


Dagegen  ragt  eine  wertvolle  Kieler  Dissertation  von  Eduard 
Roedler  über  Die  Ausbreitung  des  a- Plurals  im  Englischen  (Erster 
Teil  1911  als  Disseri,  zweiter  1916  in  Angl.  40,  420  erschienen),  die 
auf  Anregung  Holthausens  entstanden  ist,  mitten  in  den  hier  behandelten 
Zeitraum  hinein  und  mag  bei  der  Wichtigkeit  des  Gegenstands  ein- 
gehender besprochen  werden.  Sie  folgt  in  ihrer  Anlage  und  der  Aus- 
wahl der  untersuchten  Texte  in  der  Hauptsache  dem  Vorbild  von  Knapp. 
Unter  kritischer  Verwertung  der  Ergebnisse  von  Roedlers  Untersuchungen 
läßt  sich  die  Ausbreitung  des  s-Plurals  in  ihren  Hauptzügen  folgender- 
maßen darstellen. 

Das  Altenglische  kennt  bei  Beginn  der  literarischen  Überliefe- 
rung eine  große  Mannigfaltigkeit  von  Pluralbildungen:  1.  Eine 
der  häutigsten  ist  von  Anfang  an  die  auf  -«s,  die  ursprünglich  in  der 
maskulinen  «-Deklination  zu  Hause  ist  ('cvulfas,  herigas,  hyllas,  hearivas). 
Sie  wurde  schon  in  vorliterarischer  Zeit  auf  die  meisten  langsilbigen 
maskulinen  «-Stämme  (ivyrmas)  übertragen,  die  im  Nom.  und  Akk.  Singl. 
nach  dem  Abfall  der  Endung  —  vom  Umlaut  des  Wurzelvokals  ab- 
gesehn  —  den  r<- Stämmen  völlig  glichen.  In  frühliterarischer  Zeit  griff 
der  «s-Plural  auch  auf  die  langsilbigen  maskulinen  t«-Stämme  (pornas), 
die  kurzsilbigen  maskulinen  i- Stämme  (ivinas),  den  r- Stamm  fader 
{fad[e]ras),  die  einsilbigen  7id- Stämme  (fcondas,  freondas)  über,  denen 
später  die  zweisilbigen  ^«fZ- Stämme  (Jietiendas,  seit  Alfred)  und  andre 
konsonantische  Stämme  (Jicdepas ,  monpas)  folgten.  Dieser  masku- 
line as-Plural,  der  somit  schon  zu  altenglischer  Zeit  in  kräftigem 
Vordringen  war,  ist  der  Ausgangspunkt  der  heutigen  engli- 
schen Pluralbildung  auf  -s,  -es  [-s,  -,?,  -iz\  geworden. 

2.  Sehr  häufig  und  lebenskräftig  ist  sodann  der  an -Plural  der 
schwachen  Substantive  aller  drei  Geschlechter  (naman,  kmgan,  cagan) ; 
doch  hat  er  sein  Gebiet  in  älterer  Zeit  zunächst  nicht  wesenthch  erweitert. 

3.  Recht  häufig  ist  auch  eine  Pluralbildung  auf  -a.  Sie  findet 
sich  bei  den  zahlreichen  femininen  ö- Stämmen  ilära,  hrycga,  gierda, 
mcbdiva,  oft  im  Wechser  mit  -e,  das  ursprünglich  dem  Akk.  Plur.  zukam) 
und  bei  den  i^-Stämmen  (suna,  felda  neben  feldas;  dura,  lianda).  Im 
Anschluß  an  die  ö-Stämme  bilden  später  auch  die  femininen  /-Stämme 
ihren  Plural  auf  -a  (hyda). 

4.  Ein  Plural  auf  -u  aus  urgerm.  -ö  ist  der  neutralen  «-Deklination 
eigen;  er  findet  sich  bei  den  einsilbigen  «-Stämmen  mit  kurzer  Wurzel- 
silbe [colli),  bei  den  zweisilbigen  «-  und  /«-Stämmen  mit  langer  Wurzel- 
silbe (Jieaf[o]du,  ric^iju,  ivcstennu)  und  bei  den  ?<;a-Stämmen  (scaru,  treoivu). 

5.  Einen  endungslosen  Plural  haben  die  einsilbigen  neutralen  «- 
und  ;■«- Stämme  mit  langer  Wurzelsilbe  (word,  ct/n[n])  und  ein  paar 
zweisilbige  konsonantische  Stämme  {hoiep,  mönap). 

6  Ein  Plural  auf  -e  aus  älterem  -i,  der  ursprünghch  die  t- Deklination 
kennzeichnet,  kommt  nur  bei  den  kurzsilbigen  Maskulinen  und  den 
langsilbigen  Femininen  dieser  Klasse  in  älterer  Zeit  noch  gelegentUch 
vor  (wine,  hene).  Bei  langsilbigen  Maskulinen  ist  er  auf  Völkernamen 
(Engle,  Seaxe)  und  ein  paar  andre  Wörter  (leode,  ielfe)  beschränkt.    Sonst 


dringt   bei    den    maskulinen  ^-Stämmen   allgemein  die  Endung  -as,   bei 
den  femininen  -a  durch  (s.  oben  unter  1   u.   3). 

7.  Einen  Plural  aut'  -rti  zeigen  die  Reste  der  alten  neutralen 
s-Stämme  (lat.  gener d),  bei  denen  das  s  westgerm.  zu  r  geworden  ist 
{lanib  —  lanibru,  cild  —  cildru). 

8.  Einen  Plural  mit  Umlaut  des  Wurzelvokals  endlich  bilden 
mehrere  konsonantische  Stämme,  deren  urgerm.  Endung  -iz  aus  idg.  -es 
(griech.  Ttöd-eg  'Füße^)  sich  bei  Kurzsilbigen  als  -e  erhalten  hat  (Jmutu 
—  hnyte) ,  bei  Lang-  und  Mehrsilbigen  aber  abgefallen  ist  {föt  —  fcet, 
fet,  man[n)  —  men(n),  freond  —  friend,  frynd;  hoc  —  hcec,  hec,  gös  — 
gws,  ges). 

Dieser  umgelautete  Plural  hat  sich  bei  einigen  häufig  gebrauch- 
ten Wörtern  als  erstarrte  Bildungsweise  bis  in  die  Gegenwart  be- 
hauptet (feet,  men ;  geese,  niice  u.  a.),  aber  sich  nicht  weiter  ausgebreitet. 

Auch  die  Pluralendung  -rti  der  schon  altenglisch  im  Aus- 
sterben begriffenen  s- Stämme  ist,  im  Gegensatz  zu  der  entsprechenden 
deutschen  Endung  -er,  im  Englischen  nicht  produktiv  gewesen.  Sie 
hat  sich  me.  in  lanihre ,  childre,  ne.  mit  ^-Erweiterung  in  chüdren  er- 
halten. 

Der  endungslose  Plural  der  langsilbigen  Neutra  ist  im  Mittel- 
englischen noch  ziemlich  häufig  (deer,  folk,  hors,  pound,  sheep ,  sivm, 
thing,  yeer)  und  besteht  bei  verschiedenen  dieser  Wörter  bis  heute.  Das 
Gebiet  des  endungslosen  Plurals  hat  sich  in  neuenglischer  Zeit  aus 
andern  Quellen  sogar  bedeutend  erweitert.  Roedler,  der  in  §  14  seiner 
Arbeit  (Angl.  40,  460)  den  Plural  bei  Maßbestimmungen  der  Zeit,  des 
Werts,  der  Ausdehnung  und  des  Gewichts  erörtert,  hat  Ekwalls  um- 
fangreiche Abhandlung  On  tJie  Origin  and  History  of  tlie  Unchanged 
Plurcd  in  English  (Lunds  Universitets  Arsskrift,  N.  F.  Afd.  1,  Bd.  8,  3 ; 
1912)  nicht  mehr  benützt. 

Bei  den  übrigen  Pluralbildungen  treten  schon  in  spätae.  Zeit 
erhebliche  Verschiebungen  und  Ausgleiche  zutage,  im  Norden 
mehr  als  im  Süden.  Als  lebenskräftig  erweisen  sich  in  der  altengl. 
Periode  im  wesentlichen  nur  drei  von  den  acht  Pluralbildungen: 
die  auf  -as,  -an  und  -u,  wozu  im  Nordhumbrischen  noch  eine  weit 
verbreitete  Pluralendung  auf  -a,  -o  kommt. 

1.  Das  -M  der  Neutra  (wofür  spätae.  auch  -a,  -o,  -e)  zeigt  die 
Neigung,  sich  auf  sämtliche  neutralen  a-Stämme  auszu- 
breiten, vor  allem  auf  die  ursprünglich  endungslosen  Langsilbigen: 
spätws.  hänu,  landii\  spätnordh.  hüso,  -a,  londo.  Im  Mittelland  behaupten 
sich  die  endungslosen  Formen  kräftiger. 

2.  Das  -as  der  Maskulina  greift  weiter  um  sich,  nament- 
lich im  Nordhumbrischen.  a)  Es  erfaßt  die  kurzsilbigen  maskulinen 
M-Stämme:  spätws.  sunas,  ivudas.  b)  Es  beginnt,  im  Mittelland  und 
mehr  noch  im  Norden  der  Endung  -u  die  Herrschaft  über  die  Neutra 
streitig  zu  machen:  Peterb.  Chron.  hüses,  mynsteras,  -es;  nordh.  nestas 
neben  nesto,  godspellas,  -es  neben  -a ,  ricas  neben  rico,  -u,  -e.  c)  Im 
Nordhumbr.  dringt   die   Endung    -as  auch  in  das  Gebiet  der  Feminina 

89 


[ö-,  i-  und  kons.  Stämme)  ein:  castras  neben  -a,  -e,  hurgas.  d)  Auch 
die  »«-Stämme  schließen  sich  im  Nordhumbr.  nach  lautgesetzHchem  Ab- 
fall des  -n  teilweise  der  Pluralbildung  auf  -as  an;  stearras  neben 
sfeorra,  -it. 

3.  Anderseits  tritt  bei  maskulinen  «-Stämmen  neben -as  im  Nord - 
humbrischen  bisweilen  eine  Pluralendung  -a,  -o  auf:  Idüfa,  -o 
neben  lildfas,  gästo  neben  güstas.  Sievers  (Ags.  Gr.  237,  A.  2)  erblickt 
darin  die  schwache  Endung  mit  abgefallenem  -n\  Roedler  (S.  18)  hält 
es  für  das  Nächstliegende,  „Schwankungen  nach  der  Flexion  der  Neutra 
anzunehmen,  die  durch  die  Unsicherheit  im  Gebrauch  des  grammati- 
schen Geschlechts  möglich  gemacht  wurden".  Ich  möchte  vielmehr 
darauf  hinweisen,  daß  sich  im  Nordhumbrischen  bei  der  neutralen  «-De- 
klination, bei  der  femininen  ö- Deklination  und  bei  der  schwachen  De- 
klination durch  lautlichen  Zusammenfall  eine  einheitliche,  sehr  häufige 
Pluralbildung  auf  -a,  -o,  -u  entwickelt  hat,  die  mit  der  sich  ausbreiten- 
den Maskulinendung  -as  im  Kampfe  liegt  und  in  den  oben  angeführten 
Fällen  tatsächlich  in  die  Reihen  der  Maskulina  eingedrungen  ist.  Der 
Lautwert  dieser  Endung  war  wohl  ein  offner,  dumpfer,  o-  oder  M-artiger 
Vokal,  der  im  Lauf  des  11.  Jahrhunderts  allmählich  in  [3],  geschrieben 
e,  überging. 

4.  Im  Mittelland  und  Süden  dringt  in  spätae.  Zeit  die  schwache 
Pluralendung  -aii,  -en  viefach,  wenn  auch  noch  nicht  in  bedeuten- 
derem Umfang,  in  die  andern  Dekhnationsklassen  ein:  scipan,  sc'iran, 
Nortliymhran,  sunan. 

Nach  Abschwächung  der  vollen  Endvokale  zu  -e  im  11.  Jahrhundert, 
die  wesentlich  zur  Vereinheitlichung  der  Flexion  beitrug,  schrumpfte 
die  ursprüngliche  Mannigfaltigkeit  der  Pluralendungen  noch  mehr  zu- 
sammen. Von  den  endungslosen  und  umgelauteten  Pluralen  abgesehen, 
blieben  am  Ende  der  altengl.  Periode  (um  1100)  im  Mittel- 
land und  Süden  noch  -es,  -en,  -e,  im  Norden  nur  -esund-e 
als  lebendige  Pluralsuffixe  übrig. 

Die  Entscheidung  in  dem  Kampf  dieser  Endungen  untereinander 
fiel  im  Lauf  der  mittelenglischen  Periode.  Das  wenig  aus- 
drucksvolle -e  war  seinen  Konkurrenten  gegenüber  insofern  im 
Nachteil,  als  es,  zumal  nach  der  allgemeinen  Abschwächung  der  End- 
silbenvokale, kein  ausschheßhches  Pluralzeichen  war,  da  auch  der  Nom. 
Singl.  in  sehr  vielen  Fällen  auf -c  ausging.  Die  Endungen  -esund-cH 
waren  zweifellos  deutlichere  Mittel  zur  Bezeichnung  des 
Plurals  als  -e,  das  zudem  im  Norden  schon  um  1200,  im  Mittelland 
und  Süden  im  Lauf  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  zu  verklingen  begann. 

Im  Norden  war  der  schließliche  Sieg  des  s- Plurals  eigentlich 
schon  mit  dem  lautgesetzUchen  Schwund  des  auslautenden  -n  im  10.  Jahr- 
hundert entschieden;  denn  nach  dem  Ausscheiden  dieses  gefährlichsten 
Mitbewerbers  hatte  das  -s  dem  -c  gegenüber  leichtes  Spiel.  Das  Ein- 
dringen des  -s  in  die  Feminina  und  die  schwachen  Substantiva,  das 
schon  im  10.  Jahrhundert  kräftig  eingesetzt  hatte  (s.  oben),  wurde 
im  Frühmittelenglischen  vollendet.  Auch  die  laugsilbigen  Neutra  schlössen 

90 


sich  immer  vollzähliger  der  übermächtigen  Bildungsweise  an.  So  kam 
es,  daß  im  Norden  bereits  im  12.  Jahrhundert  der  s-Plural 
in  allen  Deklinationsklassen  durchgedrungen  war.  Ahn- 
lich war  es  im  Nordmittelland ,  wo  im  Orrnmlum  (um  1200)  der 
neuengl.  Standpunkt  ebenfalls  schon  erreicht  war. 

Im  Südmittelland  galt  der  s-Plural  um  1250  zwar  auch  schon 
überall  als  Regel,  doch  begegnen  hier  viel  häufigere  Ausnahmen  als  im 
Norden;  namentlich  die  w-Plurale  haben  sich  nicht  nur  in  erheblichem 
Umfang  behauptet,  sondern  vielfach  sogar  neues  Gebiet  erobert.  Inder 
Londoner  Schriftsprache  ist  der  s-Plural  zur  Zeit  Chau- 
cers  allgemein  durchgeführt.  Die  wenigen  damals  noch  vor- 
handenen Reste  andrer  Pluralbildungen  (endungslose  Plurale  thing,  yeer 
u.  a.)  wurden  im   16.  Jahrhundert  beseitigt. 

Anders  verlief  die  Entwicklung  im  Süden  des  Landes.  Hier  hat 
der  M-Plural  der  schwachen  Deklination  erheblich  an  Geltung  gewonnen 
und  hält  im  14.  Jahrhundert  dem  s-Plural  ziemlich  die  Wage.  Diese 
Ausbreitung  des  «-Plurals  im  Süden  nimmt  ihren  Ausgangspunkt 
von  der  Tatsache,  daß  die  schwachen  Feminina,  wie  vor  ihnen  schon 
die  starken,  im  Singular  die  Endung  -e  verallgemeinerten,  während  sie 
im  Plural  -en  behielten,  und  daß  dann  nach  dem  Muster  der  Feminina 
sämtliche  schwachen  Substantiva  den  Singular  auf  -e,  den  Plural  auf 
-en  bildeten.  Dadurch  wurde  die  Endung  -en  ebenso  wie  -es  ein  charak- 
teristisches Pluralsuffix.  Bald  nahmen  auch  die  starken  Substantiva 
mit  dem  Nom.  Singl.  auf  -e,  soweit  sie  nicht  schon  im  Altengl.  den 
Plural  auf  -as  bildeten,  geschlossen  die  schwache  Pluralendung  -en  an, 
also  sämtliche  Feminina,  sowie  die  kurzsilbigen  maskulinen  /-  und  u- 
Stämme:  talen,  gloven,  tiden,  lionden,  sustren,  hiten,  sunen.  Bedeutsam 
für  den  Wettbewerb  zwischen  -en  und  -es  war  es  auch,  daß  sich  im 
Süden  das  Gefühl  für  das  grammatische  Geschlecht  lange 
lebendig  erhielt.  Dem  ausgesprochen  maskulinen  Suffix  -es  wurde 
der  Eintritt  in  die  Flexion  der  E"'eminina  erschwert,  weil  die  Feminina 
von  den  Maskulinis  und  Neutris  im  Sprachgefühl  reinlich  auseinander 
gehalten  wurden,  während  umgekehrt  das  schwache  Suffix  -en  in  seiner 
Ausbreitung  dadurch  begünstigt  wurde,  daß  es  von  Haus  aus  geschlechts- 
los war  (guman,  tungan,  eagan). 

Nur  die  langsilbigen  Neutra  haben  sich  der  Analogie  der  schwachen 
Substantiva  entzogen  und  von  Anfang  au  den  Anschluß  an  die  s-Plurale 
bevorzugt  (ivordes,  Werkes,  wivcs,  horses),  weil  sie  nicht  nur  in  dem 
endungslosen  Nom.  Sgl.  mit  den  maskulinen  «-Stämmen  übereinstimmten, 
sondern  ihnen  auch  sonst  in  der  Flexion  am  nächsten  standen. 

Es  scheint  somit  in  frühmittelenglischer  Zeit  im  Süden  einmal  die 
Regel  gegolten  zu  haben,  daß  Wörter  auf  -e  im  Nom.  Sgl.  den  Plural 
schwach  bildeten,  während  endungslose  Substantiva  in  der  Mehrzahl  -es 
anfügten. 

Erst  im  13.  Jahrhundert,  als  das  grammatische  Geschlecht  auch  in 
den  südlichen  Dialekten  zu  schwanken  begann,  werden  Pluralbildungen 
auf  -s  unter  den  Femininen  häufiger.    La^amon  A  hat  schon  ^ives,  halles, 

91 


dünes,  meäewes,  höJces,  aber  die  Neubildungen  auf  -en  überwiegen  bei 
weitem.  Es  ist  wohl  kein  Zufall,  daß  unter  den  Femininen,  die  zuerst 
die  Pluralbildungen  auf  -es  annahmen ,  besonders  zahlreiche  laiigsilbige 
sind,  die  sich  im  Nom.  Sgl.  mit  den  IVIaskulinen  berührten.  Sehr  früh 
nahmen  z.  B.  die  Abstrakte  auf  -img  die  Endung  -es  an.  Aber  ver- 
schiedene Klassen  sträubten  sich  hartnäckig  gegen  die  Übernahme  des 
-es.  Erst  als  durch  die  scharf  geschnittene  germanische  Anfangsbetonung 
auch  in  den  südliehen  Mundarten  die  Endungen  immer  mehr  verstümmelt 
wurden,  als  das  -n  endgültig  beseitigt  ward,  als  seit  ]  400  das  auslautende  . 
-e  abfiel  und  im  Zusammenhang  damit  das  grammatische  Geschlecht 
gänzlich  schwand,  gelangte  ders-Plural  auch  im  Süden  zur  all- 
gemeinen Herrschaft.  Aber  während  der  Norden  und  das  nörd- 
liche Mittelland  ihn  schon  in  frühmittelenglischer  Zeit  durchgeführt 
hatten,  während  das  Südmittelland  etwa  im  14.  Jahrhundert  diese  Stufe 
der  Entwicklung  erreichte,  scheint  der  s-Plural  in  der  Volkssprache  des 
Südens  erst  in  neu  englisch  er  Zeit  völlig  durchgedrungen  zu  sein. 
Ein  Einfluß  des  französischen  s- Plurals  auf  die  englische  Plural- 
bildung, wie  ihn  Earle  und  andre  ältere  Forscher  vermuteten,  ist  aus- 
geschlossen ;  denn  einerseits  war  die  Ausbreitung  des  maskulinen  s-Plurals 
auf  die  andern  Geschlechter  und  Deklinationsklassen  im  Nordhumbrischen 
schon  ein  Jahrhundert  vor  der  Normannischen  Eroberung  in  voller  Ent- 
wicklung, und  der  Sieg  der  s-Bildung  vollzog  sich  am  frühesten  (hundert 
Jah»'e  nach  der  Invasion)  grade  im  Norden,  wo  der  französische  Einfluß 
sich  am  geringsten  geltend  machte;  und  anderseits  wai*  in  dem  stärker 
französierten  Süden  in  dieser  Zeit  umgekehrt  die  Pluralbildung  auf  -n 
in  starker  Ausbreitung  begriffen  und  behauptete  sich  dem  -s  gegenüber 
bis  ins  Neuenglische  hinein.  Sogar  zahlreiche  französische  Lehnwörter 
sind  von  der  Pluralbildung  auf  -n  ergriffen  worden.  Die  Ausbreitung 
des  s-Plurals  ist  zweifellos  genau  wie  die  Ausbreitung  des  Genitivs  auf 
-s  eine  ganz  interne  englische  Entwicklung,  für  deren  Verlauf  das  fran- 
zösische Plural-s  ohne  Belang  war. 

2.  Pronomen 

Die  Kieler  Dissertation  von  Otto  Die hn  über  Die  Pronomina  im 
Frühmittelenglischen  (Kieler  Studien  1;  1901)  hat  eine  Ergänzung  er- 
fahren durch  eine  Dissertation  der  Leland  Stanford  University  von 
A.  G.  Kennedy,  The  Pronoun  of  Address  in  Englisli  LiteraUire  of  tlic 
Thirteenth  Century  (Stanford  Univ.,  California,  1915).  Kennedys  Dar- 
stellung beschränkt  sich  auf  das  Personal  ,  Possessiv-  und  Reflexivpro- 
nomen der  zweiten  Person.  Er  hat  die  Literatur  des  1 3.  Jahrhunderts 
mit  peinlicher  Gewissenhaftigkeit  durchgearbeitet  und  ein  reiches  Material 
zusammengetragen.  Aber  seine  Untersuchung  leidet  an  einem  bedauer- 
lichen methodischen  Fehler:  er  wirft  grammatische  Formen  und  bloße 
Schreibungen  durcheinander.  Der  morphologische  Teil  seiner  Arbeit 
ist  nichts  als  eine  Statistik  der  Schreibungen,  die  er  nach  der  Häufig- 
keit des  Vorkommens  ordnet.     Zum  Lautwert,  zur  Erfassung  des  We- 

92 


Sans  der  grammatischen  Form  dringt  er  nicht  durch  und  begeht  auch 
im  einzelnen  manche  Versehen,  die  aus  der  Verwechslung  von  Schreibung 
und  Lautwert  entspringen.  Es  würde  sich  lohnen,  auf  Grund  seines 
wertvollen  Materials  eine  Neubearbeitung  des  Gegenstands  nach  gram- 
matischen Gesichtspunkten  zu  liefern.  An  den  morphologischen  Teil 
reiht  sich  eine  Darstellung  der  syntaktischen  Verwendung  der  Anrede- 
pronomina. Der  interessanteste  Teil  der  Arbeit  ist  der  letzte,  der  über 
das  Auftreten  des  „pluralis  reverentiae^'  oder,  wie  Kennedy  sich  aus- 
drückt, des  „formal  singular"  handelt.  Der  Verfasser  stellt  fest,  daß 
von  1250  an  unter  dem  Einfluß  der  französischen  Hofsprache  der  Ge- 
brauch des  Plurals  statt  des  Singulars  in  der  Anrede  allmählich  auch 
in  die  englische  Literatur  eindringt.  Aber  dieser  Gebrauch  ist  in  der 
zweiten  Hälfte  des  13  Jahrhunderts  noch  ein  recht  sporadischer.  Nur 
in  sehr  seltnen  Fällen  ist  die  formelle  pluralische  Ausdrucksweise  kon- 
sequent durchgeführt,  und  auch  diese  mögen  mehr  oder  weniger  zufällig 
sein.  Meist  sinkt  der  Schreiber  sofort  wieder  in  die  gewöhnliche  Aus- 
drucksweise zurück,  oder  es  handelt  sich  überhaupt  nur  um  ganz  iso- 
lierte Fälle. 

Der  letzte  Teil  von  Kennedys  Arbeit  wird  fortgeführt  durch  eine 
Abhandlung  von  R.  0.  Stidston,  The  Use  of  ' ye  in  ihe  Function  of 
*thou'  in  Middle  JEnglish  Liferature  from  3Is.  ÄuchinlecJc  to  Ms.  Vernon. 
A  Study  of  Grammar  and  Social  Intercourse  in  Fourteenth- Century  Eng- 
land (Stanford  Univ.,  Cahfornia,  1917).  Die  Arbeit  ist  nach  dem  Tode 
des  Verfassers  von  Kennedy  für  den  Druck  hergerichtet  und  mit  einem 
Vorwort  herausgegeben,  Sie  verfolgt  die  Ausbreitung  des  „pronoun  of 
respect"  im  14.  Jahrhundert,  etwa  von  1325 — 75,  unter  Zugrundelegung 
der  handschriftlichen  Überlieferung  der  Literaturwerke.  Die  übliche 
Form  der  Anrede  während  dieser  Periode  ist  noch  durchaus  der  Singular. 
Aber  der  Plural  des  Respekts,  der  in  Frankreich  um  1300  schon  gut 
eingebürgert  war,  gewinnt  im  14.  Jahrhundert  auch  in  England  an  Boden. 
Doch  ist  diese  Höflichkeitsanrede  vornehmlich  auf  die  Angehörigen  der 
obern  Gesellschaftsklassen  beschränkt.  Könige,  Grafen,  Ritter,  Geist- 
liche verwenden  sie  absichtlich,  um  sich  beliebt  zu  machen  oder  um  Er- 
regung zu  beschwichtigen.  Gelegentlich  wird  sie  auch  schon  ohne  Ab- 
sicht als  etwas  Selbstverständliches  gebraucht.  Und  der  Redende  geht 
oftmals  aus  dem  Singular  in  den  Plural  über,  um  sich  formeller  aus- 
zudrücken. Die  untern  Klassen  halten  noch  an  der  alten  Anredeform 
fest,  selbst  wenn  sie  mit  Königen  und  Königinnen  sprechen.  Im  übrigen 
wird  der  Höflichkeitsplural  am  meisten  von  Untertanen  gegenüber  Mit- 
ghedern  des  Königshauses,  von  Kindern  gegenüber  ihren  Eltern,  von 
Untergebenen  im  Gespräch  mit  Vorgesetzten  als  Zeichen  des  Respekts 
angewandt.  Wenn  er  in  der  Unterhaltung  gesellschaftlich  Gleichstehender 
begegnet,  so  wird  in  der  Regel  ein  besonderes  Verhältnis  vorliegen,  das 
den  einen  über  den  andern  erhebt.  Und  wenn  ein  Vorgesetzter  einen 
gesellschaftlich  Tieferstehenden,  oder  wenn  Eltern  ihr  Kind  mit  ye  an- 
reden, so  werden  sie  meist  einen  besondern  Grund  zur  Verwendung 
dieser  respektvollen  Anrede  haben.     Eine  genauere  Darstellung  der  ver- 

93 


schiedenen  Stadien  in  der  zeitlichen  und  räumlichen  Ausbreitung  des 
Gebrauchs  von  tje  statt  thou  vermochte  Stidston  auf  Grund  des  ihm 
vorliegenden  Materials  nicht  zu  geben.  Aber  seine  Zusammenstellung 
ist  ein  interessanter  Beitrag  zur  Geschichte  des  Pronomens  und  der  ge- 
sellschaftlichen Bräuche  im  14.  Jahrhundert. 

3.  Verbiim 

Eine  dänische  Akademieabhandlung  von  Otto  Jespersen  über 
Tid  og  Temims  (Kopenhagen  1914),  die  das  Verhältnis  der  logischen 
Zeitauffasöung  zu  dem  sprachlichen  Ausdruck  dafür  vom  Standpunkt 
der  allgemeinen  Sprachwissenschaft  behandelt,  ist  auch  für  die  englische 
Grammatik  belangreich.  Bemerkenswert  sind  z.  B.  seine  Ausführungen 
über  die  verschiedenen  Arten  des  Präsens:  das  allzeitige  {die  Erde  dreht 
sich  um  ihre  Aclise),  das  zukünftige  {ich  reise  morgen)  und  das  vor- 
zeitige oder  historische  Präsens  (S.  384  fF.).  Weitere  Abschnitte  handeln 
über  das  Perfektum,  die  indirekte  Rede,  Aorist  und  Imperfektum,  die 
englische  Umschreibung  is  ivriting  usw.  Namentlich  die  Erörterungen 
über  die  umschreibenden  Zeitformen,  die  von  englischen  Grammatikern 
„  definite  tenses '',  ,, progressive  forms"  oder  „continuous  tenses*' genannt 
werden,  die  Jespersen  aber  lieber  „erweiterte  Tempora,  expanded  tenses" 
nennen  möchte,  bringen  dem  Anglisten  viel  Interessantes.  Auf  eine 
wichtige,  in  der  Abhandlung  berührte  Frage,  den  Ursprung  des  histo- 
rischen Präsens,  werden  wir    gleich    noch  zurückzukommen  haben. 

Der  Gebrauch  des  Hilfszeitworts  do  beim  Verb  um,  der 
dem  Altenglischen  fremd  und  auch  Chaucer  noch  ungeläufig  ist,  beginnt  im 
15.  Jahrhundert  sich  auszubreiten  und  ist  im  Frühneuenglischen  ungemein 
häufig.  Die  Umschreibung  der  einfachen  Verbform  durch  do  mit  dem 
Infinitiv  wird  im  Zeitalter  Shakespeares  anscheinend  regellos  sowohl  in 
positiven  als  auch  in  P^rage-  und  Verneinungssätzen  gebraucht.  Erst 
gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  setzt  sich  die  heute  geltende  Be- 
schränkung auf  Frage-  und  Verneinungssätze  durch.  In  positiven  Sätzen 
wird  es  heute  nur  noch  selten  und  in  bestimmten  Stellungen  und  Funk- 
tionen gebraucht. 

Die  Gründe  dieser  Verwendung  des  do  sind  noch  in  mancher  Hin- 
sicht ungeklärt,  zumal  im  positiven  Satz.  Einen  neuen,  eigenartigen 
Deutiuigsversuch  unternimmt  Hildegard  Harz  in  ihrer  Arbeit  Die 
Umschreihung  mit  'do'  in  Shakespeares  Prosa  (Neue  Anglist.  Arbeiten, 
hrsg.  von  Schücking  und  Deutschbein,  2;  Cöthen  1918).  Sie  geht  von 
der  Überzeugung  aus,  daß  Shakespeare  die  einfache  und  die  umschriebene 
Verbform  doch  nicht  regellos  verwende.  Im  Anschluß  an  Wundts  Lehre 
vom  neutralen,  subjektiven  und  objektiven  Denken  und  an  Lipps' 
Definition  der  „Einfühlung"  ist  sie  der  Meinung,  daß  das  periphrastische 
do  von  Shakespeare  in  seiner  Prosa  als  Zeichen  objektiven  Denkens, 
und  zwar  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  zur  Bezeichnung  der  „P^infühlung" 
verwandt  werde,  worunter  nach  Lipps  „das  unmittelbare  Erleben  eines 
inneren  Verhaltens  oder  Tuns  in  einem  Objektiven,  nur  von  außen  Ge- 

94 


gebenen",  die  „Objektivierung  meiner  selbst"  zu  verstehen  ist.  Die  Ein- 
fühlung gehört  nach  Lipps  der  menschlichen  Phantasietätigkeit  an.  Die 
„vollkommene"  Einfühlung  verrät  sich  durch  äußere  Bewegungen  des 
Sprechenden,  in  denen  er  sich  mit  dem  gegenüberstehenden  Objekt 
identisch  fühlt,  während  die  „reine"  Einfühlung  in  anders  gearteten 
Bewegungen,  in  Blicken,  Mienenspiel  und  Hand  Bewegungen  zum  Aus- 
druck kommen  kann.  Fräulein  Harz  meint  nun  (S.  5  f.),  in  dieser  Hin- 
sicht müsse  „die  Umschreibung  mit  do  in  Shakespeares  Prosa,  die  die 
Einfühlung  anzeigt,  ein  Wink  für  den  Schauspieler  gewesen  sein,  seine 
Worte  durch  Bewegung  zu  begleiten".  In  eingehender  Untersuchung 
sämtHcher  Fälle  von  Umschreibungen  mit  do  in  Shakespeares  Prosa 
sucht  die  Verfasserin  ihre  Theorie  im  einzelnen  zu  erweisen.  Sie  macht 
dabei  manche  gute  Beobachtung,  und  ihre  Materialsammlung  hat  ihren 
Wert.  Aber  im  übrigen  haben  Ekwall  (Angl,  Beibl.  30,  280;  August 
1919)  und  Franz  (Engl.  Stud.  54,  297  fi.;  1920)  recht,  wenn  sie  in  ihren 
Besprechungen  des  Buchs  den  Erklärungsversuch  der  Verfasserin  als 
gekünstelt  ablehnen. 

Die  Lösung  des  interessanten  Problems  kann  nur  von  einer  viel 
breiteren  Grundlage  aus  erfolgen.  Die  Verbindung  des  Verbums  mit 
dem  Hilfszeitwort  'tun'  findet  sich  in  den  verschiedensten  Sprachen. 
Wenn  die  gewöhnliche  Erklärung  der  Endung  -de  bzv/.  -te  im  schwachen 
Präteritum  richtig  ist,  so  würde  diese  Umschreibung  mit  'tun'  schon 
dem  Urgermanischen  bekannt  gewesen  sein  (lohte  =  'loben  tat').  Jeden- 
falls ist  aber  die  Umschreibung  mit  'tun'  beim  Verbum  in  den  heutigen 
oberdeutschen  Dialekten  ebenso  gewöhnlich  wie  in  den  heutigen  Mund- 
arten des  englischen  Südwestens  (Wright  EDGr.  S.  297).  Auch  im  Alt- 
französischen, besonders  im  Anglonormannischen,  wird  faire  in  ähnlicher 
Weise  gebraucht  (Tobler,  Jahrb.  f.  rom.  und  engl.  Lit.  8,  349;  15,  248; 
Burghardt,  Einfluß  d.  Engl,  auf  d.  Angionorm.  33).  In  allen  diesen 
Fällen  dient  die  Hinzufügung  des  Hilfszeitworts  'tun'  zur  Verstär- 
kung des  Verbalbegriffs  und  damit  zugleich  zur  Belebung  der 
Ausdrucksweise.  Ebenso  ist  die  Hinzufügung  von  gan  'begann' 
zum  einfachen  Verbum  in  mittelenglischen  Dichtungen  zu  beurteilen 
(Hörn  gan  Ms  siverd  gripe  u.  a.).  Auch  die  Bezeichnung  des  Futural- 
begrifFs  durch  shall  und  will,  die  Ersetzung  des  flektierten  Genitivs  und 
Dativs  durch  präpositionale  Bildungen  mit  of  und  to ,  die  Komparation 
durch  more  und  most,  Wendungen  wie  it  is  I  und  andre  Konstruk- 
tionen gehören  in  dasselbe  Kapitel.  Überall  sehen  wir  das  gleiche 
Bestreben,  einen  sprachlichen  Ausdruck  durch  Hinzufügung  von  Hilfs- 
zeitwörtern, Adverbien,  Präpositionen,  Enklytika  u.  dgl.  zu  verstärken,  um 
den  betreffenden  Begriff  kräftiger  und  anschaulicher  zur  Geltung  zu 
bringen.  Bisweilen  verschmelzen  diese  verstärkenden  Formwörter  im 
Verlauf  der  Sprachentwicklung  mit  dem  einfachen  Wort  zu  einer  neuen 
Einheit,  wie  griech.  iui  ys  =  germ.  meJc  'mich',  das  Präteritum  loh-te  u.  a. 

Im  Frühneuenglischen  konnte  die  Umschreibung  mit  do  in  Sätzen 
aller  Art  beliebig  angewandt  werden,  und  der  ursprünglich  verstärkende 
Charakter  mußte  infolge  der  häufigen  Anwendung  bald  wieder  verblassen. 

95 


Wenn  auch  die  verstärkende  Funktion  des  do  oftmals  noch  deutlich 
hervortritt,  so  werden  doch  in  andern  Fällen  einfache  und  umschreibende 
Verbform  ohne  ei*sichtiichen  Unterschied  durcheinander  gebraucht.  In 
der  heutigen  englischen  iSchriitsprache  hat  sich  in  positiven  Sätzen  die 
einfache  Verbform  wieder  durchgesetzt;  die  Verwendung  des  do  ist  hier 
auf  besondere  Fälle  beschränkt,  wo  es  zum  Ausdruck  von  Emphase,  Feier- 
lichkeit, Intensität  des  Affekts,  zur  Hervorhebung  von  Gegensätzen  oder  zur 
Betonung  der  Tatsächlichkeit  und  Wirklichkeit  dient.  In  Frage-  und  Ver- 
neinungssätzen dagegen  hat  die  Umschreibung  mit  do  schon  seit  dem  Ende 
des  17.  Jahrhunderts  die  einfache  Verbform  allgemein  verdrängt,  und  die 
ursprüngliche,  verstärkende  Bedeutung  des  da  ist  hier  ganz  zurück- 
getreten. Deutschsbein  (System  d.  neuengl.  Syntax  S.  79)  und 
P^ranz  (EStud.  54,  298 ff. j  haben  darauf  hingewiesen,  daß  bei  diesem 
allgemeinen  Durchdringen  der  Umschreibung  mit  do  in  Frage-  und  Ver- 
neinungssätzen in  erster  Linie  Rücksichten  auf  Wortfolge  imd  Satz- 
rhythmus maßgebend  gewesen  sind .  Doch  wäre  eine  zusammenfassende, 
großzügige  Behandlung  des  ganzen  Problems  eine  lohnende  Aufgabe. 

Ein  andres  interessantes  Thema,  der  Ursprung  des  historischen 
Präsens,  ist  bislang  auch  noch  nicht  gründlich  untersucht  worden. 
Eine  eingehende  Studie  von  J.  M.  Steadman,  The  Origin  of  the 
Historical  Present  in  English  (Studios  in  Philology  14,  1;  Jan.  1917) 
sucht  dieser  Aufgabe  gerecht  zu  werden.  Das  Schwergewicht  der  Arbeit 
liegt  in  ihrem  ersten  Teil,  der  dem  Vorkommen  des  historischen  Präsens 
in  alt-  und  mittelenglischer  Zeit  gewidmet  ist.  Nach  Erörterung  einer 
Anzahl  zweifelhafter  Fälle  gelangt  der  Verfasser  zu  folgenden  Ergeb- 
nissen. Das  historische  Präsens  ist  dem  Altenglischen  noch 
fremd.  In  den  lateinisch  geschriebenen  Werken  der  Angelsachsen  da- 
gegen (z.  B.  Beda)  ist  es  durchaus  gewöhnlich.  Aber  von  den  angel- 
sächsischen Übersetzern  lateinischer  Werke  wird  die  Wiedergabe  des 
lateinischen  Präsens  historicum  durch  das  altenglische  Präsens  mit  auf- 
fallender Konsequenz  gemieden.  Das  historische  Präsens  erscheint 
im  Englischen  zuerst  um  1200;  gegen  Ende  des  13.  Jahrhunderts 
ist  es  schon  ziemlich  häufig,  und  im  Zeitalter  Chaucers  wird  es  mit  der 
größten  Freiheit  verwandt. 

Im  zweiten  Teil  setzt  Steadman  sich  mit  den  verschiedenen  Theorien 
über  den  Ursprung  des  historischen  Präsens  im  Deutschen  und  Eng- 
lischen auseinander.  Die  von  Grimm,  Mätzner,  Brinkm  ann,  Ein- 
en kel  ausgesprochene  Ansicht,  daß  es  aus  dem  Altfranzösischen  über- 
nommen sei,  lehnt  er  ab.  Über  die  von  Sweet  vertretene  Möglichkeit, 
daß  es  auf  lateinische  Einflüsse  zurückzuführen  sei,  geht  er  kurz  hinweg. 
Jespersen  hatte  in  seiner  oben  (S.  91)  genannten  Schrift  Tal  og 
Tempus  S.  385  ff.  die  Ansicht  geäußert,  daß  das  historische  Präsens  eine 
Ausdrucksweise  der  Umgangssprache  sei,  deren  Fehlen  in  der  alt- 
englischen  Schriftliteratur  sich  dadurch  erkläre,  daß  wir  aus  dieser 
Periode  keine  volkstümlichen  Literaturdenkmäler  erhalten  haben.  Das 
historische  Präsens  aber  wurzele  grade  in  der  volkstümlichen  Dichtung. 
Steadman    gibt   die   Richtigkeit   von   Jespersens    Behauptung,    daß    das 

9G 


historische  Präsens  am  häufigsten  in  der  Umgangssprache  auftrete  und 
wahrscheinlich  auch  in  ihr  entstanden  sei,  im  allgemeinen  zu.  Aber  wenn 
dies  auch  im  allgemeinen  gelte,  so  folge  daraus  noch  nicht,  daß  diese 
Erklärung  auch  für  den  Ursprung  des  historischen  Präsens  im  Eng- 
lischen zutreffe.  Denn  das  Hauptproblem  sei  nicht  das  Erscheinen  des 
historischen  Präsens  im  Mittelenglischen  oder  Mittelhochdeutschen,  sondern 
sein  Fehlen  in  den  älteren  Sprachperioden  und  das  absichtliche  Ver- 
meiden desselben  bei  Übersetzungen  aus  dem  Lateinischen  ins  Alt- 
englische. Steadman  stellt  fest,  daß  nach  seinen  Untersuchungen  das 
historische  Präsens  in  volkstümlichen  und  nichtvolkstümlichen  Dich- 
tungen der  englischen  Literatur  unterschiedslos  verwandt  werde.  Das  von 
ihm  gesammelte  Beweismaterial  stütze  Jespersens  Theorie  über  das 
Fehlen  des  historischen  Präsens  im  Altenglischen  nicht. 

Grimm,  Brinkmann,  Erdmann  und  Sweet  gingen  zur  Er- 
klärung des  Fehlens  des  historischen  Präsens  in  den  älteren  germani- 
schen Sprachperioden  von  der  Tatsache  aus,  daß  das  Präsens  in  Er- 
mangelung eines  Futurums  in  den  altgermanischen  Sprachen  drei 
Funktionen  zu  verrichten  hatte:  es  diente  zum  Ausdruck  allgemeiner 
Wahrheiten,  gegenwärtiger  und  zukünftiger  Handlungen.  Wäre  die 
gleiche  Form  auch  noch  zur  Bezeichnung  vergangener  Ereignisse  ver- 
wandt worden,  so  würden  durch  Häufung  der  Bedeutungen  einer  einzigen 
Verbalform  Zweideutigkeiten  und  Mißverständnisse  entstanden  sein.  Der 
Ursprung  des  historischen  Präsens  sei  deshalb  an  die  Entstehung  eines 
periphrastischen  Futurums  geknüpft.  Erst  nach  Ausbildung  eines  selb- 
ständigen Futurs  konnte  das  Präsens  die  Funktion  eines  Präteritums 
übernehmen. 

Behaghel  lehnte  diese  Theorie  ab,  weil  das  Präsens  in  Wahrheit 
die  futurische  Funktion  bis  auf  den  heutigen  Tag  nicht  völlig  ver- 
loren habe,  also  doch  zur  Bezeichnung  der  drei  verschiedenen  Zeitformen 
dienen  müsse.  Nach  seiner  Ansicht,  die  auch  von  Wilmanns  über- 
nommen wurde,  ist  der  Ursprung  des  historischen  Präsens  im  Germanischen 
mit  den  Aktionsarten  verknüpft.  Es  habe  sich  in  vollem  Umfang  erst 
dann  ausbilden  können,  als  der  alte  Unterschied  der  Verba  perfektiva 
und  imperfektiva  sich  zu  verwischen  begann. 

Steadman  setzt  sich  mit  den  beiden  letzten  Theorien  ausführlich 
auseinander  und  sucht  sie  zu  vereinigen.  Er  weist  darauf  hin,  daß  das 
englische  sliail-  und  ivill-¥\xi\xv  nach  Blackburns  Untersuchungen  (in 
The  English  Future,  Leipzig  1892)  zwischen  1150  und  1200  entstanden 
sei,  während  das  historische  Präsens  erst  von  1200  an  auftrete.  Er 
hält  deshalb  eine  kausale  Verknüpfung  der  beiden  Erscheinungen  für 
wahrscheinhch.  Aber  der  Hauptgrund,  warum  ein  historisches  Präsens 
sich  vor  Ausbildung  des  periphrastischen  Futurs  nicht  entwickeln  konnte, 
sei  nicht  sowohl  darin  zu  suchen,  daß  die  Häufung  der  Funktionen  des 
Präsens  Anlaß  zu  Mißverständnissen  hätte  geben  können,  sondern  viel- 
mehr darin,  daß  das  Präsens  eines  perfektiven  Verbs,  welches  gewöhn- 
lich oder  häufig  die  Zukunft  bezeichnete,  nicht  zum  Ausdruck  einer 
vergangenen  Handlung  gebraucht  werden  konnte. 

Wissenschaftliche  Forschungsbericlite  IX.  7 


Mit  Steadmans  Erklärung  ist  das  letzte  Wort  in  dieser  schwierigen 
Frage  woLI  auch  noch  nicht  gesprochen.  Die  Verhältnisse  werden  im 
Englischen  dadurch  verwickelt,  daß  das  historische  Präsens  auftritt 
nach  der  Ausbildung  des  periph rastischen  Futurs,  nach  der  Verwischung 
des  Unterschieds  zwischen  perfektiven  und  durativen  Verben  durch  den 
Schwund  des  Präfixes  ge-,  und  nach  der  Normannischen  Invasion ,  wo- 
durch eine  Entscheidung  zwischen  den  verschiedenen  Theorien  erschwert 
wird.  Aber  man  mag  sich  zu  Steadmans  theoretischen  Ausführungen 
stellen,  wie  man  will,  die  tataächlichen  Feststellungen  des  ersten  Teils 
seiner  Arbeit  behalten  jedenfalls  ihren  Wert. 

Mit  dem  Gebrauch  von  sJiall  und  will,  should  und  would  im  Futur 
und  Konditional  des  heutigen  Englisch  beschäftigt  sich  Zachrisson  in 
seinen  Studien  über  Grammaücal  CJianges  in  Preserit-Day  English 
(Studier  i  Mod.  Spräkvetenskap  7,  24 ff.;  Uppsala  1920).  Er  zeigt,  daß 
in  der  modernen  Umgangssprache  eine  Neigung  besteht,  /  shall  durch 
/  ivill,  I  shoidd  durch  I  woidd  zu  ersetzen,  und  er  vermutet  mit  Recht, 
daß  hierbei  die  Abkürzungen  /'//,  Fd  eine  Rolle  gespielt  haben,  wo  ^11  und 
\l  aus  der  2.  und  3.  Person  analogisch  auf  die  erste  übertragen 
sind.  Gleichzeitig  dient  dieser  Ausgleich  dem  Streben  nach  Bequem- 
lichkeit und  Vereinfachung,  wobei  die  Sprache  allerdings  die  Möglichkeit 
zum  Ausdruck  der  feinen  Bedeutungsschattierungen  von  sJiall  und  wdl  in 
der  1.  Person  des  Futurums  einbüßt. 

Zachrissons  kleine  Schrift  enthält  noch  eine  Reihe  weiterer  inter- 
essanter Studien  über  grammatische  Wandlungen  im  heutigen  Englisch : 
so  über  die  Verwendung  des  Präsens  zum  Ausdruck  der  Zukunft,  über 
den  flektierten  Genitiv  bei  Sachnamen,  über  eider  und  older ,  über 
Archaismen  in  der  Schriftsprache,  über  grammatische  Veränderungen  in 
der  Vulgärsprache,  über  die  Aufnahme  vulgärer  Konstruktionen  in 
die  Gebildetensprache. 

VIII.  Wortbildungslehre 

Eine  weit  ausholende  Untersuchung  ist  das  Buch  von  Hermann 
H  i  I  m  e  r  über  Schalhiachahmung,  Wortschöpfung  und  Bedeutungswandel 
auf  Grundlage  der  Wahrnehmungen  von  Schlag,  Fall,  Bruch  und  der- 
artigen Vorgängen,  dargestellt  an  einigen  Lautivurzehi  der  deutschen 
und  der  englischen  Sjirache  (Halle  1914).  Ein  erheblicher  Teil  der 
Untersuchung  ist  allgemeinen  Problemen  der  Schallnachahmung,  Wort- 
schöpfung und  des  Bedeutungswandels  gewidmet,  wobei  sich  der  Ver- 
fasser mit  den  Ansichten  von  Wundt,  Paul,  Marty,  Sütterlin  u.  a.  aus- 
einandersetzt. Für  den  Anglisten  sind  vornehmlich  die  spezielleren  Aus- 
führungen über  schallnachahmende  Wortschöpfungen  auf  Grund  der 
Wahrnehmungen  vom  Schlag,  Fall  und  Bruch  und  über  die  durch  Be- 
deutungswandel daraus  entstandenen  Wortgruppen  von  Interesse.  Hilmer 
knüpft  dabei  an  eine  Beobachtung  von  Wedgwood  an,  der  darauf  hin- 
gewiesen hatte,  daß  die  Schallnachahmungen  für  Schlag,  Fall  und  Bruch 

98 


eine  wichtige  Quelle  der  Wortschöpfung  seien.  An  zahlreichen  Bei- 
spielen aus  dem  Englischen  und  Deutschen  weist  Hilmer  nach,  daß  aus 
derartigen  Schallnachahmungen  vielfach  Bezeichnungen  für  Erhöhung, 
Vertiefung,  Körper  u.  dergl.  entstehen.  Wenn  ein  Kind  fällt,  wird  viel- 
leicht ein  Deutscher  humps!,  ein  Amerikaner  lang!  ausrufen.  Diese 
Ausrufe,  die  zunächst  Hloße  Schallnachahmungen  sind,  werden  ohne 
weiteres  auch  zur  Bezeichnung  des  Vorgangs  des  Fallens  und  Auf- 
schlagens  benutzt  in  Wendungen  wie  das  war  ein  schwerer  Bumps. 
Sie  werden  aber  nicht  selten  auch  zur  Benennung  einer  Beule  verwandt, 
die  durch  den  Fall  entstanden  ist  oder  entstehen  kann.  So  wird  man 
vielleicht  zu  dem  Kinde  sagen :  Du  hast  dir  aber  'nen  tüchtigen  Bumps 
geholt]  aus  der  Schallnachahmung  ist  hier  ein  Ausdruck  für  eine  Er- 
höhung geworden.  Die  so  aus  Schallnachahmungen  entstandenen  Aus- 
drücke für  Erhöhung,  Vertiefung,  Körper  u.  dergl.  können  dann  ihrer- 
seits wieder  die  Ausgangspunkte  für  weitverzweigte  Bedeutungswand- 
lungen werden.  Hierher  gehören  Bedeutungsübergänge  wie 'Erhöhung' 
zu  'Haufe,  Bündel,  Büschel',  'Vertiefung'  zu  'Gefäß',  'Körper*  zu 
'Mensch'  (hody  zu  somebody)  und  andre.  Im  dritten  Teil  seiner  Arbeit 
gibt  der  Verfasser  eine  Liste  solcher  schallnachahmenden  V/ortbildungen : 
tap,  pat,  hat,  hacTi,  hnap,  Jcnat,  hnach,  knall,  hiar,  Map,  damp,  hant, 
hanJv,  hang,  plamp,  Mamp,  hump  mit  ihren  lautlichen  Varianten  und  be- 
grifflichen Entwicklungsreihen. 

Hilmer  hat  ein  wichtiges  Problem  in  anregender  und  interessanter 
Weise  behandelt.  Sein  Buch  enthält  eine  Fülle  von  wertvollem  Stoff 
und  guten  Beobachtungen.  Aber  seine  Aufstellungen  sind  mit  Vorsicht 
zu  benutzen ;  seine  etymologischen  Auffassungen  sind  zum  Teil  bedenk- 
lich; seine  Methode  ist  nicht  einwandfrei;  und  wenn  er  S.  159 f.  sein 
Ergebnis  dahin  zusammenfaßt,  daß  „die  weitaus  große  Mehrzahl  der 
ursprünghchen  Benennungen  der  Formvorstellungen  Körper,  Erhöhung 
und  Vertiefung,  sowie  auch  von  einfachen  nackten  Bewegungsvorstel- 
lungen" „auf  der  Nachahmung  des  Schalles  von  Schlag,  Fall,  Bruch  und 
derartigen  Vorgängen"  fuße,  und  daß  „zum  mindesten  Dreiviertel  der 
Ding-,  Eigenschafts-  und  Vorgangsbezeichnungen"  des  Deutschen  und 
Englischen  daraus  entsprungen  seien,  so  zeugt  das  doch  von  einer  starken 
Überschätzung  des  wortbildenden  Einflusses  dieser  Sprachquelle. 

Eine  interessante,  von  den  Sprachforschern  lange  Zeit  wenig  be- 
achtete sprachHche  Erscheinung  sind  die  Mischwörter:  Bildungen, 
die  durch  mehr  oder  weniger  starke  Beeinflussung  und  Vermischung 
sinn-  oder  formverwandter  Ausdrücke  entstehen.  Sie  können  auf  ver- 
schiedene Weise  zustande  kommen,  können  absichtliche  oder  unabsicht- 
liche Bildungen  sein,  können  ihre  Entstehung  zufälligem  Versprechen 
verdanken  oder  als  häufiger  auftretende  Gewohnheitsbildungen  sich  all- 
mählich das  Bürgerrecht  erwerben.  Wenn  jemand  von  einem  jungen 
Mädchen  sagt,  sie  sei  schrecklich  hhdsüchtig,  so  ist  das  eine  unbewußte 
Augenblicksschöpfung  durch  Vermischung  von  hlutarm  und  bleichsüchtig. 
Wenn  ein  englisches  Kind  aus  suspect  und  suppose  eine  Mischform  suspose 
macht,  so  wird  es,  wenn  es  nicht  verbessert  wird,  geneigt  sein,   dieses 

7* 

99 


einmal  gebildete  Wort  sich  dauernd  anzugewöhnen.  Und  Bildungen  wie 
ne.  haffound  'perplex,  bewilder'  aus  haffle  'confüse,  perplex'  und  con- 
found,  von  hohlacious  'bold,  audacious,  irapudent'  aus  bold  und  audacious 
sind  eingebürgerte  englische  Dialektwörter. 

Francis  A.  Wood  hat  in  einem  Aahsitz  Kontamhiafionshildtmgcn 
und  haplologische  Mischformen  (JE.(}Fh.  11,  295;  July  1912)  eine  Liste 
von  246  solcher  Mischwörter  zusammengestellt  Unabhängig  von  ihm 
hat  Louise  Pound  in  ihrer  Schrift  Blends:  their  Relation  to  English 
Word  Formation  (Anglist.  Forsch.  42;  Heidelberg  1914)  die  Mischbil- 
dungen zum  Gegenstand  einer  selbständigen  Untersuchung  gemacht, 
worin  sie  über  die  Eigenart  der  Mischwörter,  ihre  Beziehung  zur  Schrift- 
sprache, ihre  Abgrenzung  gegenüber  andern  Bildungen,  ihre  heutige 
Verbreitung  und  ihre  Klassifizierung  handelt  und  eine  reichhaltige  Liste 
solcher  Mischformen  gibt. 

Wie  die  Misch  Wörter,  so  haben  sich  auch  die  Verkürzungen  und 
Verstümmelungen  von  Wörtern  und  Wortgruppen  der  wissenschaftlichen 
Betrachtung  lange  entzogen.  Abkürzungen  häutig  gebrauchter  Wöi'ter 
kommen  in  allen  Sprachen  und  in  allen  Sprachperioden  vor.  Die  schon 
in  altgermanischer  Zeit  zahlreichen  Kurz-  oder  Koseformen  für  Personen- 
namen gehören  hierher.  Im  Englischen  wurden  Kurzformen  besonders  seit 
der  Restaurationszeit  Mode.  Ihren  Höhepunkt  aber  hat  die  Sucht  nach 
Kürzung  längerer  Wörter  und  Wortgruppen  in  der  Gegenwart  erreicht, 
und  namentlich  der  Weltkrieg  hat  sowohl  im  Deutschen  wie  im  Eng- 
lischen zahllose  Neubildungen  dieser  Art  hervorgebracht. 

Eine  wissenschaftliche  Behandlung  der  Kurzformen  und  Abkürzungen 
war  darum  wohl  eine  lohnende  Aufgabe.  Elisabeth  Wittman  hat 
in  ihrer  Studie  Glipped  Words:  A  Study  of  Back- Formations  and  Cur- 
failments  in  Present-  Day  English  (Dialect  Notes  IV  2,  S.  115  ff.)  den 
Versuch  gemacht,  diese  Aufgabe  zu  lösen.  Sie  liefert  eine  wertvolle 
Sammlung  von  Kurzformen,  aber  ihre  theoretischen  Erörterungen  sind 
unzulänglich.  Schon  die  Abgrenzung  des  Stoff'kreises  ist  inkonsequent. 
Die  Verfasserin  beschränkt  ihre  Untersuchung  auf  bewußte  Abkürzungen ; 
verbale  Bildungen  wie  rove,  peddle,  heg  nach  den  Substantiven  rover, 
pedlar,  heggar  werden  mit  Recht  ausgeschlossen,  weil  sie  „are  due  to  a 
false  conception  of  the  structure  of  the  word  from  which  the  clipping 
was  made,  and  were  feit  to  be  legitimate".  Aber  die  ebenso  gebildeten 
Verba  ank,  hutch,  mote,  tope ,  ush,  hurgle,  huttle  von  anchor,  hutchcr, 
motor,  toper,  usher,  hurglar,  hutler  u.  a.  werden  irrtümlicherweise  zu  den 
Kurzformen  gerechnet.  Auf  die  grade  in  neuster  Zeit  so  unendlich 
verbreitete  Mode  der  Abkürzung  durch  die  Anfangsbuchstaben  längerer 
Wortgruppen  (wie  ABC.  für  Aeraied  Bread  Company,  nhd.  Sipo  für 
Sicherheit^p)oUzei  usw.),  die  doch  auch  hierher  gehört,  wird  überhaupt 
nicht  eingegangen.  Den  Hauptgrund  der  Abkürzungen  erblickt  die 
Verfasserin  im  Anschluß  an  Sunden,  Paul  Passy  u.  a.  mit  Recht  in  dem 
Streben  nach  Ersparnis  von  Zeit  und  Mühe:  Laute  und  Silben  werden 
als  überflüssig  weggelassen,  wenn  der  Sinn  des  Worts  auch  ohne  sie 
klar   ist.     Manche    solcher  Kurzformen    sind   launig   oder   humoristisch. 

100 


Daß  auch  die  Koseformen  der  Personennamen  grundsätzlich  hierher  zu 
stellen  sind,  scheint  der  Verfasserin  entgangen  zu  sein,  wenn  sie  auch 
gelegentlich  einzelne  solcher  Formen,  wie  Micli  für  Michael,  Pat  für 
PatricJi,  in  ihren  Listen  aufführt.  Vor  allem  aber  vermißt  man  eine 
theoretische  Auseinandersetzung  über  das  Verhältnis  der  Abkürzungen 
zum  Akzent  und  über  die  Frage,  welche  Gesichtspunkte  oder  Regeln 
im  einzelnen  für  die  Bildung  der  Abkürzungen  maßgebend  sind.  Kurz- 
formen mit  zurückgezogenem  Akzent,  wie  ad  für  advertisement  oder 
advantage,  con  für  conversation,  conclusion,  condition,  condiictor  u.  a, 
werden  an  verschiedenen  Stellen  behandelt.  So  brauchbar  Miss  Witt- 
mans  Arbeit  als  Stoffsammlung  ist,  für  eine  eingehendere  Untersuchung 
der  Abkürzungen,  die  womöglich  auch  die  Geschichte  dieser  Erschei- 
nung berücksichtigen  müßte,  ist  immer  noch  Platz.  . 

Die  Substantivierung  des  Adjektivs,  Partisips  und  Zahhvortes  im 
AngelsächiscJien  ist  das  Thema  einer  Berliner  Dissertation  von  Walter 
Phoenix  (Berlin,  Mayer  &  Müller,  1918).  Der  Verfasser  beginnt  mit 
allgemeinen  Betrachtungen  über  den  Unterschied  zwischen  Substantiv 
und  Adjektiv  und  über  das  Wesen  der  Substantivierung  im  Neuhoch- 
deutschen und  Neuenglischen.  Er  weist  auf  die  Flüssigkeit  der  Grenze 
zwischen  Substantiv  und  Adjektiv  hin  und  zeigt,  daß  eine  Reihe  von 
Übergangsstufen  langsam  vom  Adjektiv  zum  Substantiv  hinüber  führen. 
Er  unterscheidet:  vorübergehend  substantivierte  Adjektiva  individueller 
oder  genereller  Art,  ständig  substantivierte  Adjektiva  unter  Erweiterung 
des  Adjektivbegriffs  (wie  ein  Verwandter),  Substantiva,  die  von  den 
zugehörigen  Adjektiven  sowohl  in  Flexion  als  auch  im  Begriff  abweichen 
und  als  Substantiva  zu  betrachten  sind  (ein  Junge ,  der  Jünger,  der 
Greis,  das  Gut),  endlich  Substantiva,  bei  denen  das  zugehörige  Adjektiv 
fehlt  oder  nicht  mehr  als  zugehörig  empfunden  wird  (Freund,  Feind, 
Heiland,  Menscli).  Phoenix  spricht  weiter  über  Grenzen  und  Arten  der 
Substantivierung  im  Angelsächsischen,  um  dann  im  Hauptteil  seiner 
Arbeit  die  Substantivierung  in  Beoivulf,  Elene,  Jidiana,  Judith,  Byrhtnoths 
Tod  und  in  den  Annalen  genauer  zu  untersuchen.  Seine  Ausführungen 
geben  in  manchen  Einzelheiten  zu  Bedenken  Anlaß ;  im  ganzen  aber 
ist  die  Arbeit  ein  fördernder  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Substantivierung 
des  Adjektivs. 

Eine  Freiburger  Dissertation  von  Fr.  Herbert  Baumann  über 
Die  AdjeJäivahstraJcta  im  älteren  Westgermanischen  (Freiburg,  Caritas- 
Druckerei,  1914)  will  eine  Darstellung  der  Adjektivabstrakta  in  den 
wichtigsten  Denkmälern  der  westgermanischen  Sprachen  im  8.  und 
9.  Jahrhundert  geben,  ist  aber  ganz  überwiegend  auf  althochdeutsche 
Verhältnisse  eingestellt  und  liefert  hier  wertvolles  Material.  Von  angel- 
sächsischen Literaturwerken  sind  außer  den  wichtigsten  von  Sweets 
Oldest  English  Texts  nur  Beoivulf  und  Genesis  behandelt;  alle  andern 
poetischen  Texte,  sowie  die  Annalen  und  Alfred  der  Große  fehlen. 

Eine  sehr  gründliche,  tüchtige  Arbeit  ist  die  aus  Björkmans  Schule 
hervorgegangene  Upsalaer  Doktorschrift  von  Karl  Knarre,  Nomina 
Agentis  in  Old  English,   Part  I  (Uppsala  Universitets  Arsskrift    1915). 

101 


Der  bisher  im  Druck  vorliegende,  umfangreiche  erste  Teil  bringt  die 
Einleitung  und  die  Abschnitte  über  Nomina  agentis  mit  -l-  und  -end- 
Suftixen.  Der  Verfasser  geht  überall  vom  Indogermanischen  aus.  In 
der  Einleitung  beschäftigt  er  sich,  nachdem  er  sein  Thema  erörtert 
und  umgrenzt  hat,  mit  den  Suffixen,  die  im  Indogermanischen  zur  Bil- 
dung von  Nomina  agentis  dienten,  aber  in  den  germanischen  Sprachen 
und  besonders  im  Altenghschen  in  dieser  Funktion  nicht  mehr  erkennt- 
lich sind.  Er  geht  den  idg.  Bildungen  mit  den  Suffixen  -o,  -i,  -ter,  -t,  -s 
nach,  wobei  er  jedes  der  etwa  in  Frage  kommenden  Wörter  eingehend 
bespricht;  nur  bei  sehr  wenigen  von  ihnen  kann  für  das  Altenglische 
noch  die  Funktion  des  Nomen  agentis  nachgewiesen  werden.  Ich  ver- 
misse hier  ae.  iveard,  ahd.  ivart  'Hüter,  Wächter',  dessen  nhd.  Ent- 
sprechung Wart  in  Tonvart,  Kassemvart  u.  ä.  noch  heute  die  agentische 
Funktion  bewahrt  hat. 

In  dem  ersten  Kapitel,  das  den  ^-Bildungen  gewidmet  ist, 
handelt  Karre  zuerst  wieder  von  den  Wörtern,  bei  denen  die  Funktion 
des  Nomen  agentis  im  Altenglischen  verdunkelt  ist;  sodann  von  denen, 
bei  denen  sie  noch  empfunden  wird.  Er  kommt  zu  dem  Ergebnis,  dalU 
zwar  noch  eine  Reihe  älterer  Wörter  mit  Z-Suffixen  ihren  Charakter  als 
Nomina  agentis  bewahrt  haben,  daß  aber  das  Suffix  seine  Produktivität, 
wohl  infolge  der  starken  Konkurrenz  des  behebten  Lehnsuffixes  -ere, 
verloren  hat.  Nur  in  dem  Wort  forridel  'Vorreiter',  das  einmal  in 
Älfrics  Homilien  zur  Wiedergabe  des  lat.  praecursor  dient,  möchte  er 
eine  Neubildung  Älfrics  nach  dem  Muster  von  forerynel  'Vorläufer* 
erblicken,  das  sonst  als  Übersetzung  von  praecursor  dient,  aber  stets 
nur  mit  Beziehung  auf  Johannes  den  Täufer. 

Das  zweite  Kapitel,  das  den  größten  Teil  des  Buchs  ausmacht, 
ist  der  Besprechung  der  -end-W öriQY  gewidmet.  Beträchtlichen  Raum 
nimmt  hier  eine  Untersuchung  der  Flexion  ein,  um  festzustellen,  ob  die 
betrefi'enden  Wörter  wirklich  Substantiva  sind  oder  adjektivischen  oder 
verbalen  Charakter  haben.  Ein  interessantes  Seitenergebnis  der  statisti- 
schen Tabellen  des  Verfassers  ist  die  Feststellung,  daß  die  t^ncZ- Wörter 
in  der  Poesie  viel  häufiger  im  Plural  als  im  Singular  vorkommen,  während 
die  parallelen  aw- Bildungen  umgekehrt  häufiger  im  Singular  als  im 
Plural  belegt  sind.  Karre  zieht  daraus  den  einleuchtenden  Schluß,  daß 
die  rtji- Bildungen  für  das  Sprachgefühl  der  Angelsachsen  eine  indivi- 
duellere Färbung  hatten  als  die  e».fZ- Wörter :  saiipende  waren  die  See- 
leute' im  allgemeinen,  sTelida  der  einzelne  'Seemann'.  Es  ist  also  ein 
ähnlicher  Unterschied  wie  zwischen' tJie  English  und  the  Englishman. — 
Nach  diesem  Exkurs  folgt  dann  die  Zusammenstellung  der  endlosen 
Zahl  der  ewcZ-Bildungen  und  ihre  Besprechung  im  einzelnen.  Plier  wie 
überall  stützt  Karre  sich  nicht  bloß  auf  das  in  den  Wörterbüchern  auf- 
gespeicherte Material,  sondern  schöpft  in  weitem  Umfang  aus  den  Quellen 
selbst.  —  Dann  folgt  die  Erörterung  allgemeiner,  die  e«fZ -Wörter  be- 
trefi'ender  Fragen.  Hier  kommt  Karre  zu  dem  interessanten  Ergebnis, 
daß  die  altengl.  cwfZ-Wörter  (mit  Ausnahme  von  einigen  Rechtsaus- 
drücken   und    ein    paar   andern)    nie    zum    alltäglichen    Sprachgut    des 

102 


Volks  gehörten,  sondern  ausschließlich  literarische  Ausdrücke  waren.  So 
erklärt  sich  auch  ihr  häufiges  Auftreten  in  den  Glossen.  —  Hinsichtlich 
der  Entstehungszeit  der  en^Z-Bildungen  unterscheidet  Karre  zwei  Gruppen : 
eine  ältere,  aus  urgermanischer  Zeit  ererbte  und  eine  jüngere  Gruppe 
von  Neubildungen  aus  angelsächsischer  Zeit.  Im  Gegensatz  zu  dem 
Z-Suffix  hat  sich  das  endSuiÜK  während  der  ganzen  ags.  Periode  lebens- 
kräftig erbalten,  wie  die  statistischen  Tabellen  des  Verfassers  zeigen. 
Wenn  es  trotzdem  in  der  mittelengl.  Periode  überraschend  bald  verschwand, 
so  hat  dies  darin  seinen  Grund,  daß  die  e«f/-Wörter  zum  weitaus  über- 
wiegenden Teil  substantivierte  Partizipia  Präsentis  waren.  Als  nun  die 
Partizipialformen  auf  -ende  im  Mittelenghschen  ausstarben  und  durch 
Formen,  auf  -ing  verdrängt  wurden,  gingen  auch  die  entsprechenden 
Substantiva  bald  zugrunde.  Eine  Nomen  agentis- Bildung  auf  -ing  konnte 
aber  deswegen  nicht  aufkommen,  weil  es  Substantiva  auf  -ing  schon  vor 
dem  Aussterben  der  Nomina  agentis  auf  -end  gab ;  dieses  altengl.  -ing 
aber  war  eine  volkstümliche,  lebenskräftige  Bildungsweise  für  eine  andre 
semasiologische  Kategorie:  für  Nomina  actionis.  So  wurden  die  altengl. 
Nomina  agentis  auf  -end  in  mittelengl.  Zeit  durch  Bildungen  auf  -er  ersetzt. 

Eine  besondere  Art  von  Nomina  agentis  bildet  den  Gegenstand  von 
W.Uhr  Stroms  kleinem  Buch  Ficl-pocl-ef ,  Turnkeg,  Wraprascal,  and 
Similar  Formaiions  in  Englisli.  A  Semasiological  Study  (Stockholm, 
Magn.  Bergvall,  o.  J.  [1918J).  Es  gibt  nicht,  wie  man  nach  dem  Titel 
erwarten  könnte,  eine  eingehende,  bedeutungsgeschichtliche  Abhandlung 
über  Substantivbildungen  des  Typus  Imperativ  -|-  Objekt,  wie  wir  sie 
in  nhd.  FürchtenicJds,  Zwinguri,  Schauinsland,  Vergißmeimiichi  haben; 
der  Verfasser  kommt  nur  in  einer  ganz  knappen  Einleitung  von  wenig 
über  einer  Seite  auf  die  allgemeinen  Fragen  seines  Themas  zu  sprechen. 
Im  übrigen  besteht  seine  Schrift  aus  einer  Zusammenstellung  von  etwa 
450  einschlägigen  Ausdrücken,  die  er  aus  Wörterbüchern  und  sonstigen 
Nachschlagewerken  gesammelt,  nach  sachlichen  Gruppen  (Personen,  Tiere, 
Pflanzen)  geordnet  und  mit  sprachlichen  und  kulturgeschichtlichen  Be- 
merkungen versehen  hat,  wobei  er  manche  intei'essante  Fragen  berührt. 

Im  Altenglischen  gab  es,  wie  in  den  andern  germanischen 
Sprachen,  eine  große  Anzahl  Verbalkomposita,  in  denen  das  Verb 
mit  einer  vorgestellten  Partikel  in  Gestalt  eines  unbetonten,  untrenn- 
baren Präfixes  verschmolzen  ist,  das  die  Grundbedeutung  des  Verbums 
modifiziert;  z.  B.  forgifan,  forgietan,  onsendan,  hecuman,  onlücan,  äst'igan 
usw.  Aber  daneben  finden  sich  schon  in  der  frühaltengl.  Literatur  Fälle 
einer  loseren  Verb-Adverb-Kombination,  wo  das  Verbum  oder 
auch  ein  Verbalkompositum-  mehr  oder  weniger  eng  mit  einem  betonten, 
aber  trennbaren  Adverb  verbunden  wird,  das  entweder  vor  oder  hinter 
dem  Verbum  stehen  kann,  z.  B.  üt  scüfan,  üp  ästigan,  forp  geivitan  und 
gewitap  forp,  äJiöf  Tip. 

Beide,  sowohl  die  alten  Präfixkomposita  als  auch  die  loseren  Verb- 
Adverb-Kombinationen  wurden  in  der  Norraannenzeit  und  dann  wieder 
in  dem  Humanistenzeitalter  durch  die  scharenweis  eindringenden  romani- 
schen Lehnwörter   und   griechisch  -  lateinischen  Fremdwörter  in  der  Ge- 

103 


bildeten-  und  Literatursprache  völlig  in  den  Hintergrund  gedrängt.  In 
der  Volkssprache  lebten  sie  weiter;  doch  scheint  es,  daß  sich  die  jüngere 
Verb-Adverb-Kombiuation  hier  zunehmender  Beliebtheit  erfreute  und  all- 
mählich den  kSieg  über  die  ältere  Bildung  errang.  J\Ian  kann  den  Keflex 
dieses  Vorgangs  in  der  Literatur  nur  undeutlich  erkennen,  weil  diese 
ganz  unter  dem  Einfluß  der  Lehn-  und  Fremdwörter  steht.  Ohne  das 
Eingreifen  jener  auswärtigen  Einflüsse  in  der  Franzosen-  und  Humanisten- 
zeit wäre  der  Kampf  zwischen  den  beiden  germanischen  Bildungsweisen 
sicher  viel  rascher  entschieden  worden.  So  vollzieht  er  sich  mehr  unter 
der  Oberfläche.  Die  Verb -Adverb-Kombination  setzt  sich  mit  der  Zeit 
immer  kräftiger  durch.  Wohl  haben  sich  von  den  untrennbaren  Prätix- 
kompositis  zahlreiche  bis  in  die  Gegenwart  erhalten  und  gehören  zu 
dem  eisernen  Bestand  der  heutigen  Umgangssprache :  Wörter  wie  forgive, 
forget,  forhear,  foreshadow,  outrun,  overtake,  understand,  ivithdraw  usw. ; 
aber  die  eigentlich  lebenskräftige  Verbalzusammensetzung  ist  die  andre. 
Und  nun  sehen  wir,  wie  in  neuerer  Zeit  aus  den  Tiefen  der  Volks- 
sprache heraus  ein  ungestümer  Vorstoß  gegen  die  unvolkstümhchen  und 
zum  Teil  unverstandenen  Fremdwörter  erfolgt,  wie  in  der  gebildeten 
Umgangssprache  zahlreiche  volkstümliche  Wendungen,  wie  get  at,  hear 
out,  conie  hy,  malce  out,  oivn  up  Eingang  finden,  wie  im  Schul-,  Stu- 
denten-, Berufs-,  Familien-Slang  immer  neue  Bildungen  dieser  Art  ent- 
stehen, und  wie  viele  derselben  trotz  heftiger  Proteste  von  selten  pedan- 
tischer Sprachmeister  sich  auch  in  der  Literatursprache  Bürgerrecht 
erwerben  und  die  entsprechenden  Fremdwörter  verdrängen  oder  doch 
ihnen  den  Platz  streitig  machen.  So  sagt  die  Umgangssprache  hack  up 
für  Support',  hlow  out  für  'extinguish',  hlow  up  für  'explode',  bring 
dboui  für  'effect',  Jjring  up  für  'train,  rear',  come  ahout  für  'happen', 
co^ne  across  für  'experience'  usw.,  und  fast  alle  diese  Neubildungen 
haben  sich  auch  in  der  Schriftsprache  durchgesetzt.  Ihr  siegreiches 
Vordringen  ist  ein  neuer  Beweis  dafür,  daß  das  Sprachgefühl  des  eng- 
lischen Volks  doch  immer  noch  seinen  germanischen  Grundcharakter 
bewahrt  hat,  und  daß  es  die  längst  in  der  Schriftsprache  vorhandenen 
romanischen  und  klassischen  Ausdrücke  im  Grunde  doch  als  Fremd- 
körper empfindet. 

Diese  bemerkenswerten  Sprachvorgänge  haben  verschiedentlich  das 
Interesse  der  Gelehrten  erregt.  Harrison,  The  Separahle  Prcßxes  in 
Anglo-Saxon  (Johns  Hopkins  dissert.  1892),  Eitrem,  Stress  in  English 
verh  -\-  adverh  groii2)s  (Engl.  Stud.  32,  69 — 77;  J903),  und  EUinger, 
Über  die  Betonung  der  aus  Verh  -j-  Adverh  bestehenden  englischen 
Wortgruppen  (Progr.  d.  Franz- Joseph-Realsch.  Wien  1910),  haben  vor- 
nehmlich den  Einfluß  der  Satzbetonung  und  des  Gruppenakzents  auf 
diesen  Sprachgebrauch  festzustellen  gesucht.  C  u  r  m  e  hat  in  seiner  um- 
fassenden Abhandlung  The  Development  of  Verbal  Compounds  in  Gcr- 
manic  (PBBeitr.  39,320—61;  1914)  die  allmähhche  Verschiebung  des 
altenglischen  Sprachgebrauchs  von  den  Verbalkompositis  mit  untrennbarem 
Präfix  zu  der  Kombination  von  Verb  mit  nachgestelltem  Adverb  dar- 
getan, wobei  er  allerdings  die  Häufigkeit  der  letzteren  Konstruktion  in 

104 


der  altenglischen  Periode  zu  überschätzen  scheint.  Die  neuste  und  aus- 
führlichste Monographie  über  die  Frage  ist  die  von  A.  G.  Kennedy, 
The  Modern  English  Verh- Adverb  Combinaüon  (Stanford  Univ.,  California, 
1920\  worin  die  Ursachen,  Anfange  und  Eigenheiten  dieser  Kombinationen 
und  die  Wirkungen  ihrer  zunehmenden  Zahl  in  interessanter  Weise  dar- 
gestellt werden.  Eine  eigentliche  Geschichte  dieser  Spracherscheinung 
gibt  auch  Kennedy  nicht,  und  es  ist  zu  bedauern,  daß  er  seine  ursprüng- 
liche Absicht  nicht  ausgeführt  hat,  uns  ein  vollständiges  Verzeichnis 
der  von  ihm  gesammelten  mehr  als  900  Verb -Adverb-Kombinationen 
zu  bieten. 

IX.  Syntax 
1.  Gesamtdarstellungen 

Eine  vollständige  und  erschöpfende  Darstellung  der  historischen 
Syntax  des  Enghschen  gibt  es  bis  jetzt  nicht,  und  es  ist  wohl  zweifel- 
haft, ob  sie  überhaupt  in  absehbarer  Zeit  geschrieben  wird;  sie  würde 
Bände  füllen.  Den  Versuch  einer  knappen  Zusammenfassung  des  ge- 
waltigen Stoffs  hat  Eugen  Einenkel  in  seiner  Darstellung  der  Histo- 
rischen Syntax  der  englischen  Sprache  in  Pauls  Grundriß  der  german. 
Philologie  gemacht,  die  jetzt  als  selbständiger  Band  in  dritter,  verbesserter 
und  vermehrter  Auflage  (Straßburg,  Trübner,  1916)  vorliegt.  Einenkels 
Werk,  das  aus  der  kurzen  Skizze  der  ersten  Auflage  zu  einem  Buch 
von  200  Seiten  ausgewachsen  ist,  stellt  die  Zusammenfassung  lebens- 
länglicher Arbeit  dar,  und  die  unendhche  Fülle  großenteils  selbst- 
gesammelter Beispiele  zeigt,  daß  der  Verfasser  in  der  Begründung  seiner 
Ansichten  und  Regeln  auf  eignen  Beobachtungen  und  Untersuchungen 
fußt,  die  zum  Teil  in  ausführlicherer  Fassung  bereits  in  der  Anglia 
veröffentlicht  waren.  Aber  außer  den  eignen  Arbeiten  werden  auch 
die  Ergebnisse  der  Forschung  andrer  sorgfältig  berücksichtigt  und  ent- 
weder zustimmend  verwertet  oder  kritisch  abgelehnt.  Leider  macht  die  Form, 
in  der  uns  der  wertvolle  Stoff  geboten  wird,  die  Lektüre  zu  keinem  reinen 
Genuß.  Das  Knappe,  Grundrißartige  der  ersten  Auflage  haftet  auch  dem 
selbständigen  Buch  noch  zu  sehr  an.  Die  Darstellung  läßt  alle  Übersicht- 
lichkeit vermissen,  von  gewissen  Eigenheiten  der  Gruppierung  gar  nicht 
zu  reden,  die  mit  den  Partizipien  und  dem  Infinitiv  beginnt  und  Pro- 
nomina und  Artikel  ans  Ende  der  Reihe,  hinter  die  Präpositionen  und 
Konjunktionen,  stellt.  Der  Verfasser  hätte  gut  getan,  bei  der  Bearbeitung 
der  dritten  Auflage  sein  Buch  ganz  neu  zu  entwerfen,  den  Stoff  zweck- 
mäßig zu  gruppieren,  Haupt-  und  Nebensächliches  voneinander  zu  scheiden 
und  den  stilistischen  Ausdruck  gründlich  zu  revidieren.  In  der  vor- 
liegenden Form  ist  eine  fortlaufende  Lektüre  des  Buches  ausgeschlossen ; 
aber  auch  seiner  Benutzung  als  Nachschlagebuch  schadet  die  Unüber- 
sichtlichkeit der  Darstellung  und  tut  der  Verwertung  des  reichen  Inhalts 
Abbruch. 

Bei  Einenkels  Beurteilung  der  Entwicklungsgeschichte  der  englischen 
Syntax   spielt   seine    starke   Einschätzung   des    französischen 

105 


Einflusses  eine  große  Rolle.  Schon  in  seiner  ersten  Arbeit,  Streif- 
züge durch  die  mittelenglische  Syntax  (Münster  1887),  machte  sie  sich 
kräftig  geltend.  Seitdem  hat  sich  seine  Überzeugung  von  der  tief- 
greifenden Bedeutung  dieses  Faktors  allen  Angriffen  zum  Trotz  immer 
mehr  gefestigt.  „Die  Voraussage  meiner  Gegner",  sagt  er  im  Vorwort 
seiner  JlisforiscJien  Syntax  (Ö.  Xlf.),  „daß  bei  gewissenhaftester  Durch- 
forschung des  gesamten  altenglischen  bzw.  germanischen  Materials  die 
meisten  meiner  Gleichungen  als  unhaltbar  sich  erweisen  würden,  hat  sich 
nicht  nur  nicht  bewährt,  im  Gegenteil,  zu  den  bisher  bekannten  zahlreichen 
Einzelgleichungen  haben  sich  im  Laufe  der  Zeit  ganze  englische  Wort- 
kategorien  so  von  romanischen  Einflüssen  durchtränkt  erwiesen,  daß, 
alles  in  allem  genommen,  meine  ursprüngliche  Auffassung  der  englischen 
Syntax  als  einer  aus  germanischen  und  romanischen  (neben  einigen 
skandinavischen)  Elementen  bestehenden  Mischsyntax  noch  heute  voll 
und  ganz  zu  Rechte  besteht." 

Einenkel  gebührt  zweifellos  das  Verdienst,  französische  Einflüsse 
im  englischen  Satzbau  in  vielen  Fällen  überzeugend  nachgewiesen  zu 
haben.  Ob  er  in  seinem  Gesamturteil  über  den  Mischcharakter  der 
enghschen  Syntax  nicht  doch  zu  weit  geht,  will  ich  dahingestellt  lassen. 
Über  manche  Fälle  ist  das  letzte  Wort  noch  nicht  gesprochen,  und 
grundsätzlich  muß  jedenfalls  daran  festgehalten  werden,  daß  man  die 
Entwicklung  des  englischen  Satzbaus  so  weit  wie  irgend  möglich  aus 
den  ihr  innewohnenden  Kräften  erklären  muß. 

Zu  den  besten  Abschnitten  des  Buchs  gehören  die  Ausführungen 
über  Gerundium  und  Infinitiv.  Hier  trägt  Einenkel  die  Ergebnisse  gründ- 
licher eigner  Forschungen  vor,  und  das  mag  ihn  mit  bewogen  haben, 
grade  diese  Abschnitte  an  den  Anfang  zu  stellen. 

Hinsichtlich  der  Entwicklung  des  englischen  Gerundiums 
macht  er  mit  Nachdruck  französische  Vorbilder  geltend.  Diese  Auffassung 
verwickelte  ihn  vor  einigen  Jahren  in  einen  lebhaften  Streit,  zu  dem  ein 
anregungsvoller  Aufsatz  des  Amerikaners  George  O.  Curme,  History  of 
the  EnglisJi  Gcrund,  im  45.  Band  der  Engl.  Studien  (S. 349 ff.;  1912)  den 
Anstoß  gab.  Die  von  diesem  Forscher  vorgetragenen  Ansichten  wurden 
von  Einenkel  in  einem  Artikel  Zur  GescliicJde  des  engl.  Gerundiums 
(Angl.  .37,  382;  1913)  bekämpft.  In  einer  weiteren  austührlichen  Studie 
über  Die  Entwichlung  des  englischen  Gerundiums  (Angl.  38,  1 — 76 
u.  212;  1914)  trug  er  seine  eignen  Ansichten  über  das  Verhältnis  des 
Participium  Praesentis  zum  Verbalsubstantiv  vor,  speziell  über  die  Frage: 
„wie,  wo  und  wann  kam  das  Verbalsubstantiv  dazu,  die  Funktionen 
des  Partizipiums  mit  zu  übernehmen,  und  zwar  so  völlig  zu  übernehmen, 
daß  die  alte  Form  des  Partizipiums  sich  schließlich  verlor?"  Curme 
verteidigte  seinen  Standpunkt  in  einem  Artikel  The  Gerund  in  Qld 
English  and  Gcrman  (Angl.  38,  491 ;  1914).  Daran  schlössen  sich  weitere 
Antworten  und  Rephken  von  Einenkel  Angl.  38,  499;  Curme  Angl. 
39,  270;  Einenkel  ebd.  273.  Auch  der  Engländer  Onions  (EStud. 
48,  169)  nahm  gegen  Curme  Stellung,  während  Fehr  in  einer  be- 
achtenswerten   Kritik    von    Einen kels    Historischer   Syntax    einen    ver- 

106 


ir.ittelnden  Standpunkt  einnimmt  (Herrigs  Arch.  136,  307).  Von  einem 
Eingehen  auf  den  Streit  über  dieses  weitscliichtige  Problem,  der  zum 
großen  Teil  vor  die  von  uns  behandelte  Forschungsperiode  fällt,  muß 
hier  Abstand  genommen  werden.  Ein  weitgehender  Einfluß  des  Fran- 
zösischen auf  die  Entwicklung  des  englischen  Gerundiums  ist  nach  Ein- 
enkels  Darlegungen  wohl  nicht  zu  bestreiten.  Anderseits  sind  die  von 
Curme  angezogenen  Beispiele  so  früh  und  so  bemerkenswert,  daß  mit 
der  Möglichkeit,  daß  die  ersten  Keime  des  Gerundiums  im  Altenglischen 
hegen,  immerhin  gerechnet  werden  muß.  Erst  eine  nochmalige  sorg- 
fältige Prüfung  des  altenglischen  Sprachmaterials  kann  zu  einem  ab- 
schließenden Urteil  über  die  Frage  führen. 

Von  der  Syntax  des  Neuenglischen  hat  uns  Otto  Jes per sen 
im  zweiten  Teil  seiner  Modern  English  Grammar  on  liistorical  Prin- 
ciples  (s.  oben  S.  60  f.)  eine  ebenso  originelle  und  geistvolle  wie  glänzend 
geschriebene  Darstellung  gegeben  (Heidelberg  1914).  Das  Buch  gibt 
nicht  eine  historisch  geordnete  Entwicklungsgeschichte  der  neuenglischen 
Syntax,  sondern  ist,  wie  der  Titel  sagt,  eine  modernenglische  Grammatik 
auf  historischer  Grundlage.  Wir  erfahren  deshalb  von  der  geschicht- 
lichen Entwicklung  nur  das,  was  uns  zum  Verständnis  des  heutigen 
Sprachgebrauchs  wichtig  ist.  Die  Syntax,  wie  sie  gewöhnlich  getrieben 
wird,  gehört  nicht  grade  zu  den  anziehendsten  Gebieten  der  Sprach- 
wissenschaft. Jespersen  bietet  nicht  nur  dem  Syntaktiker  von  Fach  durch 
die  Originalität  seiner  Auffassung  neue  Gesichtspunkte,  sondern  er  ver- 
steht es,  durch  die  Lebendigkeit  seiner  Darstellungsweise  einen  trocknen 
und  sonst  als  langweilig  angesehenen  Gegenstand  auch  Nichtfachleuten 
interessant  zu  machen. 

In  seiner  Umgrenzung  des  Begriffes 'Syntax'  weicht  Jespersen  von 
der  üblichen  Auffassung  des  Worts  vielfach  ab:  er  begreift  manches 
darunter,  was  man  sonst  zur  Formenlehre  zu  ziehen  pflegt.  Aber  auch 
seine  Terminologie  ist  oftmals  neuartig  und  den  besondern  Bedürfnissen 
der  englischen  Syntax  angepaßt.  Belangreich  und  von  grundlegender 
Bedeutung  für  seine  ganze  Darstellung  ist  namenthch  seine  Lehre  von 
"The  Three  Ranks"  (S.  2).  Im  Hinblick  auf  die  Tatsache,  daß  zum 
Ausdruck  einer  Vorstellung  oder  eines  Begriffs  vielfach  ein  Wort  nicht 
genügt,  sondern  daß  ein  Wort  durch  ein  zweites  definiert  oder  modi- 
fiziert wird,  welches  seinerseits  wieder  durch  ein  drittes  Wort  definiert 
oder  modifiziert  werden  kann,  unterscheidet  Jespersen  Wörter  ersten, 
zweiten  und  dritten  „ Rangs '^  „In  the  combination  extremely  hot 
iveaiher,  weailier  may  be  called  a  primary  word  or  a  principal;  liot, 
which  defines  iveather ,  is  a  secondary  word  or  an  adjunct;  and  ex- 
trcmely,  which  defines  liot,  is  a  tertiary  word  or  a  subjunct."  Diese 
Unterscheidung  von  Primär-,  Sekundär-  und  Tertiärwörtern  oder  Prin- 
zipalen, Adjunkten  und  Subj unkten  zieht  sich  als  wichtiges  Einteilungs- 
prinzip durch  das  ganze  Buch  hindurch,  Sie  hat  den  Vorteil,  daß  sie 
in  Wendungen  wie  ivhat  liappened? ,  what  hrancli,  wliat  one  oder  the 
top  feil  down,  the  top  hranch,  the  top  one  (S.  266)  die  wirklichen  gramma- 
tit^chen  Verhältnisse  klarer  zum  Ausdruck  bringt,    miat  bleibt  in  allen  drei 

107 


m 


Fällen  Pronomen,  top  bleibt  immer  Substantiv,  aber  in  ivhat  happened? 
und  tlie  top  feil  doivn  sind  ivhat  und  to})  Prinzipale,  in  den  andern  Bei- 
spielen sind  sie  Adj unkte  zu  den  Prinzipalen  hranch  und  one. 

Von  Jespersens  Syntax  ist  bis  jetzt  nur  der  erste  Band  erschienen. 
Er  handelt  über  Form,  Bedeutung  und  P^'unktion  der  Numeri  von  Sub- 
stantiven und  Adjunkten,  über  Substantivierung  der  Adjektiva,  über 
das  Stützwort  one,  über  Adjektiva  als  Prinzipale,  die  Beziehungen  zwi- 
schen Adjunkt  und  Prinzipal,  über  substantivische  und  sonstige  Ad- 
junkte,  über  die  Funktionen  der  Pronomina.  Dabei  werden  manche 
interessante  Probleme  erörtert,  die  zum  Teil  bisher  übersehen  oder  wenig 
beachtet  worden  waren.  Die  Aufstellungen  werden  durch  reiche,  selbst- 
gesammelte Belege  erläutert.  Das  Buch  enthält  eine  Fülle  neuen  Materials 
und  wertvoller  Bemerkungen  und  Anregungen. 

Eine  stark  gekürzte  dänische  Bearbeitung  des  Werks  unter  dem  Titel 
Starre  Engelsk  GrammatiJc  paa  historisk  grundlag  (Kopenhagen  1914) 
ist  als  Lehrbuch  gedacht.  Eingeschränkt  sind  darin  namentlich  die 
Beispiele  aus  der  älteren  neuenglischen  Zeit  und  die  historischen  Partien 
überhaupt.  Das  Schwergewicht  fällt  entschiedener  als  in  der  Modern 
English  Grammar  auf  die  modernenglische  Sprache.  Im  übrigen  stimmen 
die  beiden  Ausgaben  in  allem  Wesentlichen  überein. 

Die  Weiterfuhrung  der  Modern  English  Grammar  wurde  leider 
durch  den  Krieg  vorläufig-^  unterbunden.  Aber  das  dafür  bestimmte 
Kapitel  über  Negationen  ist  von  Jespersen  inzwischen  durch  Heran- 
ziehung verwandter  Erscheinungen  aus  andern  Sprachen  zu  einer  all- 
gemeinen Studie  über  die  Negation  erweitert  und  unter  dem  Titel 
Negation  in  English  and  other  Languages  (Danske  Videnskabernes 
Selskab,  Kobenhavn  1917)  als  selbständige  Abhandlung  veröffentlicht 
worden.  Ausgehend  von  der  Beobachtung,  daß  der  negierte  Satz  in  Bau 
und  Ausdrucksmitteln  in  verschiedenen  Sprachen  auffallende  Ähnlichkeiten 
zeigt,  forscht  er  der  gem.einsamen  Quelle  gewisser  Erscheinungen,  wie 
der  weitverbreiteten  Verwendung  der  Partikel  ne  auch  in  sonst  nicht 
verwandten  Sprachen,  nach  und  kommt  dabei  zu  interessanten  phy- 
siologischen und  allgemein  philosophischen  Schlüssen.  Jespersens  Studie 
ist  in  gewissem  Sinne  eine  Fortführung  der  Arbeit  Delbrücks  über 
die  Negation  in  den  indogermanischen  Sprachen  (vgl.  Syntax  2,  519flF.). 
Aber  während  Delbrücks  Ziel  mehr  die  Rekonstruktion  der  ursprach- 
lichen Verhältnisse  war,  ist  Jespersens  Augenmerk  vorzugsweise  auf  die 
modernsprachlichen  Entwicklungsreihen  und  auf  Fragen  der  allgemeinen 
Psychologie  und  Logik  gerichtet.  Sein  Hauptinteresse  gilt  natürlich 
dem  modernen  Englisch.  Mit  Recht  weist  er  darauf  hin,  daß  zahlreiche 
Probleme  am  besten  an  einer  lebenden  Sprache  studiert  werden 
können,  die  uns  durch  die  tägliche  Umgangssprache  und  eine  umfassende 
Literatur  zugänglich  ist.  Durch  diese  Behandlung  einzelsprachlicher  Er- 
scheinungen unter  sprachvergleichenden,  physiologischen  und  sprachphilo- 
sophischen Gesichtspunkten  kommt  der  Verfasser  zu  Auffassungen  und 
Ergebnissen,  die  nicht  nur  für  den  Anglisten  und  Sprachvergleicher, 
sondern  auch  für  den  Psychologen  und  Logiker  von  Belang  sind. 

108 


Ein  wertvolles,  eigenartiges  Buch  ist  Max  Deutsch b eins  System 
der  neuenglisclien  Syntax  (Cöthen  1917).  Wie  Jespersen,  so  bewegt 
sich  auch  Deutschbein  nicht  in  ausgetretenen  Gleisen,  sondern  sucht 
neue  Wege  einzuschlagen ;  aber  die  Richtung,  die  er  wählt,  führt  ihn  von 
Jespersen  weit  ab.  Er  will  keine  deskriptive  Darstellung  des  neu- 
enghschen  Sprachgebrauchs  schreiben,  da  dies  von  Krüger,  Poutsma, 
Wendt  u.  a.  zur  Genüge  geschehen  ist;  er  will  auch  die  schon  vor- 
handenen Materialsammlungen  nicht  um  eine  weitere  vermehren;  aber 
ebensowenig  denkt  er  daran,  eine  historische  Darstellung  der  neu- 
englischen Syntax  zu  liefern.  Es  liegt  ihm  vielmehr  daran,  „die  trei- 
benden Kräfte  und  Prinzipien  des  Sprachlebens  aufzudecken".  Dabei 
kann  er  natürlich  der  übhchen  FormuUerung  der  Spracherscheinungen 
nicht  aus  dem  Wege  gehn,  aber  er  bemerkt  ausdrücklich,  daß  es  sich 
niemals  um  Gesetze  im  strengsten  Sinne  handle,  sondern  „nur  um  Kräfte, 
die  nach  einer  bestimmten  Richtung  hin  wirken"  (S.  VII). 

Es  sind  also  in  erster  Linie  sprachpsychologische  Interessen,  die 
ihn  bei  der  Abfassung  seines  Buches  leiteten.  Daß  er  hierzu  die  nötige 
philosophische  und  psychologische  Schulung  mitbringt,  zeigen  die  ali- 
gemeinen psychologischen  Erörterungen,  die  er  an  den  Kopf  der  ein- 
zelnen Kapitel  stellt,  zeigt  die  ganze  Durchführung  des  Werks,  zeigen 
vor  allem  die  beiden  selbständigen  Abhandlungen:  Sprachpsychologische 
Studien  (Cöthen  1918)  und  Satz  und  Urteil  (ebd.  1919),  in  denen  er 
sich  über  grundlegende  Fragen  der  Syntax  äußert.  Man  kann  aller- 
dings mit  Western  (Angl.  Beibl.  29,  16lflf.  345 ff.;  Juni  u.  Dez.  1918) 
bezweifeln,  ob  die  Unterscheidung  zwischen  objektivem  und  subjektivem' 
oder  zwischen  anschaulichem  und  begrifflichem  Denken  von  Deutschbein 
nicht  übertrieben  ist,  ob  anderseits  die  logische  und  die  formelle  Seite 
der  Sprache  scharf  genug  auseinandergehalten  sind;  man  mag  an  der 
weitgehenden  Neigung  des  Verfassers  zu  philosophischer  Analyse  des 
Satzbaus  Anstoß  nehmen,  man  mag  auch  über  die  Formulierung  mancher 
Regeln  mit  ihm  rechten ;  aber  anregend  sind  seine  Ausführungen  immer, 
und  sein  Buch  enthält  zahlreiche  feine  Bemerkungen,  so  über  Vorstellung 
und  Satzrhythmus,  über  die  Aktionsarten  des  Verbums,  über  den  Ge- 
brauch von  to  he  -\-  Partizipium  Präsentis  als  Intensivum,  über  den 
Modusgebrauch  und  vieles  andere  mehr.  Es  ist  ein  Buch,  das  wohl 
manchmal  zum  Widerspruch  herausfordert,  aber  stets  zum  Denken  an- 
regt, und  aus  dem  jeder  lernen  kann. 

Ganz  andersartig  als  die  genannten  Lehrbücher  ist  die  Syntax  des 
heutigen  Englisch  von  G.  Wendt  (l.  Teil:  Wortlehre,  Heidelberg  1911; 
2.  Teil:  Satzlehre,  1914).  Sie  umfaßt  zunächst  mehr,  als  der  Titel  sagt, 
indem  sie  auch  die  gesamte  Formenlehre  einbezieht.  Sie  will  eine  be- 
schreibende, keine  historische  Syntax  sein;  sie  will  mit  wissenschaft- 
licher Methode  den  gegenwärtigen  englischen  Sprachgebrauch  feststellen. 
Auf  die  historische  Entwicklung  der  heutigen  Spracherscheinungen  geht 
der  Verfasser  nicht  ein:  dadurch  unterscheidet  er  sich  von  Jespersen. 
Er  sieht  seine  Hauptaufgabe  nicht  in  der  sprachpsychologischen  Er- 
fassung, sondern  in  der  wissenschaftlichen  Formulierung  der  Regeln  des 

109 


heutigen  Sprachgebrauchs  auf  Grund  eines  umfassenden  Belegniaterials : 
darin  unterscheidet  er  sich  von  Deutschbein.  Er  will  den  Leser  in  die 
fremde  Sprache  unmittelbar,  von  ihr  selbst  aus  einführen,  will  ihn  mit 
dem  lebenden  Organismus  der  englischen  Sprache  bekannt  machen  und 
zu  diesem  Zweck  die  Gesetze ,  nach  denen  sich  die  Sprache  richtet, 
lediglich  aus  dtm  Englischen  selbst,  aus  der  jetzt  gesprochenen  iind 
geschriebenen  Sprache  ableiten;  dagegen  lehnt  er  jede  vergleichende 
Heranziehung  des  Deutschen  ab,  weil  dies  Hineintragen  außerhalb 
liegender  Gesichtspunkte  zur  Aufstellung  von  Regeln  führe,  die  dem  Geist 
der  englischen  Sprache  Gewalt  antun:  dadurch  unterscheidet  sich  Wendt 
von  Krüger. 

Der  Hauptwert  des  Buchs  liegt  in  den  ungemein  zahlreichen,  selbst- 
gesammelten Beispielen  für  den  heutigen  Sprachgebrauch,  die  zur  Er- 
läuterung und  Begründung  der  daraus  abgeleiteten  Regeln  dienen.  Kaum 
eine  andre  Grammatik  ist  darin  reichhaltiger  als  die  Wendtsche.  Der 
erhabene  Stil  der  Poesie  und  literarischen  Prosa  tritt  dabei  zurück  gegenüber 
der  Sprache  und  Schrift  des  täglichen  Lebens.  Namentlich  die  Zeitungen 
sind  stärker  herangezogen,  als  es  sonst  in  Lehrbüchern  üblich  ist.  Die 
schöne  Literatur  ist  besonders  durch  Romane  vertreten.  Der  Verfasser 
ist  zwar  in  der  Auswahl  seiner  Beispiele  kritisch,  aber  manchmal  hat 
er  doch  wohl  Belege  aufgenommen,  die  nicht  als  zuverlässige  Zeugnisse 
für  gebildeten  Sprachgebrauch  dienen  können  und  als  nachlässige  Aus- 
drucksweisen hätten  gekennzeichnet  werden  sollen.  Doch  sind  die  Grenzen 
zwischen  Norm  und  Nachlässigkeit  allerdings  flüssige.  Zu  bedauern  ist 
die  mangelhafte  Verzeichnung  der  Belegstellen.  Wenigstens  Belege  für 
seltne  Spracherscheinungen  hätten  genauer  zitiert  werden  sollen.  Meist 
sind  nur  die  Namen  der  Verfasser  genannt  ohne  jede  nähere  Angabe 
des  Werks;  oder  es  finden  sich  allgemeine  Bezeichnungen  wie  Per.  = 
Periodical,  Zeit.  =  Zeitung,  Speech  =  Rede.  Dadurch  wird  der  wissen- 
schaftliche Wert  dieser  reichen  Materialsammlung  —  im  Gegensatz  zu  der 
von  Poutsma  —  leider  beeinträchtigt,  da  jede  Nachprüfung  ausgeschlossen 
ist.  Die  Rücksicht  auf  den  Raum  kann  nicht  geltend  gemacht  werden,  da 
der  Verfasser  sonst  nicht  gerade  auf  Raumersparnis  bedacht  ist.  Aber  das 
Werk,  in  dem  der  Altmeister  der  neusprachlichen  Unterrichtsreform  die 
Ergebnisse  lang^jähriger  wissenschaftlicher  Beschäftigung  mit  dem  heutigen 
Englisch  niedergelegt  hat,  ist  jedenfalls  ein  wertvolles  Hilfsmittel  und 
eine  Fundgrube  für  jeden,  der  sich  lernend  oder  forschend  mit  eng- 
lischer Syntax  befaßt. 

2.  Einzelabhandlungen 

Von  Monographien  über  syntaktische  Fragen  seien  nur  einige  wich- 
tigere hier  genannt. 

a)  Prädikationsklassen  und  Satzarten 

In  einem  umfang-  und  inhaltreichen  Band  von  562  Seiten  Groß- 
oktav bietet  uns  K.  F.  Sunden,  der  Vertreter  der  englischen  Philologie 
an  der  Universität  Gotenburg,  zwei  einander  berührende,  aber  äußerlich 

110 


durch  keinen  Obertitel  zusammengefaßte,  schwer  gelehrte  Abhandlungen 
dar:  Essay  I.  The  Predicational  Categories  in  English;  Essay  II. 
.4  Category  of  Predlcational  Change  m  English  (Uppsala  Universitets 
Arsskritt  1916).  Der  erste  der  beiden  Essays  (S.  1 — 100)  ist  syntax- 
philosophischer Natur.  Ausgehend  von  einer  Kritik  von  Wundts  Klassi- 
fikation der  Urteile,  unternimmt  der  Verfasser  hier  eine  Neueinteilung 
der  Satzarten  unter  dem  Gesichtspunkt  der  verschiedenen  Arten 
der  Prädikation.  Mit  systematischer  Gründlichkeit  stellt  er  eine 
Reihe  abstrakt  formulierter  prädikationaler  Kategorien  auf  und  sucht 
sein  neues  Einteilungsprinzip  philosophisch  zu  begründen. 

Auf  diesem  theoretischen  ersten  Teil  baut  der  zweite,  sprach- 
geschichtliche auf.  Der  Verfasser  greift  hier  eine  der  vorher  behandelten 
prädikationalen  Kategorien  („predication  of  direct  object")  heraus  und 
beschäftigt  sich  mit  dem  interessanten  Problem,  auf  welchem  Wege 
transitive  Verba  wie  read  und  seil  ohne  Veränderung  ihrer  äußeren, 
aktiven  Form  in  Wendungen  wie  the  hook  reads  well,  sells  well  passive 
Bedeutung  angenommen  haben.  Er  zeigt,  daß  die  Zahl  dieser  passi- 
vierten Verba  weit  größer  und  ihre  Verwendung  viel  mannigfaltiger  ist, 
als  man  im  ersten  Augenblick  vielleicht  annehmen  möchte.  Unter  An- 
knüpfung an  die  im  ersten  Teil  aufgestellten  Kategorien  werden  sie  in 
sechs  Gruppen  alphabetisch  zusammengeordnet  und  nach  ihrer  Ety- 
mologie und  Verwendungsart,  unter  Anführung  von  Belegen,  kurz 
charakterisiert.  Es  zeigt  sich  dabei,  daß  viele  von  ihnen  in  ihrer  Be- 
deutung zwischen  intransitiv,  reflexiv  und  passiv  schwanken. 

Nachdem  so  der  Verfasser  das  gesamte  in  Betracht  kommende  Wort- 
und  Belegmaterial  hat  Revue  passieren  lassen,  untersucht  er  für  jede 
der  sechs  Gruppen,  wie  die  Passivierung  der  dazu  gehörigen  Verba 
zustande  gekommen  ist.  In  diesem  umfangreichsten  und  wichtigsten 
Kapitel  des  Buchs  bringt  der  Verfasser,  gestützt  vor  allem  auf  die  Schätze 
des  JSew  English  Dictionary ,  aber  auch  auf  umfängliche  eigne  Samm- 
lungen, eine  Fülle  interessanten  Stoffs  für  die  historische  englische  Syntax. 

Leider  wird  die  Lesbarkeit  und  das  Studium  des  Werks  durch  eine 
starke  Neigung  zur  Abstraktion,  durch  übertriebenes  Streben  nach  syste- 
matischer Vollständigkeit  und  durch  umständliche  Breite  der  Darstellung 
sehr  erschwert,  und  das  gänzliche  Fehlen  eines  Registers,  das  durch  die 
Worthsten  im  Inhaltsverzeichnis  nur  teilweise  ersetzt  wird,  macht  die 
Verwertung  des  reichen  Stoffes  noch  schwieriger.  Das  ist  sowohl  im 
Interesse  des  Verfassers  als  auch  der  Sache  zu  bedauern;  denn  das  Buch 
Sundens  ist  vielleicht  die  belangreichste  syntaktische  Monographie,  die 
in  den  letzten  Jahren  erschienen  ist. 

b)  Inkongruenz  zwischen  Subjekt  und  Prädikat 

In  den  Quartes  und  in  der  ersten  Folio  der  Werke  Shakespeares 
finden  sich  öfters  Sätze  wie  „My  old  hones  aches",  „Hi&  tears  runs 
down  his  beard",  „Strong  reasons  niaJces  strong  actions",  „The  traitors 
hateth  thee",  d.  h.  Sätze,   in  denen   das  Subjekt   im  Plural   mit   einem 

111 


Prädikat  im  Singular  verbunden  erscheint.  Diese  Unstimmigkeit  im 
Numerus  zwischen  Subjekt  und  Prädikat  hat  Herausgebern  und  Gramma- 
tikern viel  Schwierigkeiten  bereitet  und  zu  mancherlei  Erklärungs- 
versuchen Anlaß  gegeben.  Die  meisten  Herausgeber  des  18.  und  19.  Jahr- 
hunderts sahen  darin  Druckfehler  und  stellten  durch  Streichung  des  -s 
beim  Verbum  oder  gelegentlich  auch  beim  Subjekt  die  Kongruenz  wieder 
her.  Beim  Auftreten  im  Reim,  wo  eine  Verbesserung  nicht  möglich  war, 
nahm  man  Keimnot  als  Grund  für  die  -s-Form  des  Prädikats  an.  Die 
Grammatiker  erblickten  in  den  -.s-  und  -th-Formen  des  Verbs  entweder 
Konstruktionen  ad  sensum  oder  Entlehnungen  der  nördlichen  bzw.  süd- 
lichen Plural  formen.  Aber  die  erstere  Erklärung  paßte  doch  nur  für 
eine  beschränkte  Anzahl  Fälle,  und  der  zweiten  widerstrebte  das  häufige 
Auftreten  von  is  und  was  mit  pluralischem  Subjekt. 

So  drängte  das  Gewicht  der  Tatsachen  darauf  hin,  wenigstens  in 
vielen  dieser  Unstimmigkeiten  tatsächlich  eine  Inkongruenz  zwischen 
pluralisch era  Subjekt  und  singularischem  Prädikat  anzu- 
erkennen. W.  Franz  weist  in  seiner  Shakespeare-GramniatiJc  (2.  Aufl. 
1909,  §  671  f.)  auf  die  Häufigkeit  dieser  Inkongruenzen  bei  Shakespeare 
und  in  der  älteren  Sprache  überhaupt  hin  und  erblickt  darin  mit  Recht 
ein  Zeichen,  in  wie  hohem  Grade  die  Syntax  Shakespeares  die  der  ge- 
sprochenen Rede  ist.  Franz  führt  auch  bereits  die  wichtigsten  Gründe 
an,  die  das  Eintreten  von  Störungen  in  der  Kongruenz  begünstigen. 
Aber  er  betont  ferner  (§  679),  selbst  wenn  man  in  vielen  Fällen  das 
Vorhandensein  einer  Inkongruenz  zugestehe,  so  bleibe  doch  noch  eine 
ansehnliche  Menge  von  Beispielen  übrig,  wo  „ein  pluralisches  Subjekt 
mit  einer  Verbalform  auf  -s  als  Prädikat  auftritt,  ohne  daß  man  bei 
besonnener  und  nüchterner  Kritik  imstande  wäre,  in  letzterer  einen 
Singular  zu  sehen'';  die  betreffenden  Fälle  seien  vielmehr  derart,  daß 
man  nicht  umhin  könne,  die  s-Form  als  Plural  anzuerkennen.  Einen 
Zusammenhang  mit  dem  Nordenglischen  brauche  man  dabei  nicht  an- 
zunehmen; vielmehr  sei  unabhängig  vom  Norden  auch  auf  dem  übrigen 
Sprachgebiet  die  s-Form  der  2.  und  3.  Person  Singularis  auf  den  Plural 
ausgedehnt  worden,  wobei  gerade  die  Häufigkeit  der  Verbindung  von 
singularischem  Verb  mit  pluraUschem  Subjekt  eine  wesentliche  Rolle 
spielte.  Nachdem  aber  he  (thou)  torments  und  tliey  tonnents  einmal 
existierten,  sei  bei  der  nahen  Beziehung  von  thou  und  you  der  Schritt 
zu  you  torments  und  tve  (I)  torments  nicht  mehr  groß  gewesen.  „Die 
Volkssprache  auch  des  Südens  hat  ihn  getan,  so  daß  die  s-Endung  jetzt 
ein  charakteristisches  Kennzeichen  der  Vulgärsprache  Englands  über- 
haupt ist." 

AuchW.  vonStaden,  Entwicidung  der  Präsens-Indikativ-Endungen 
im  Englischen  unter  hesonderer  JBerücksicJdigung  der  S.  Pers.  Sing,  von  un- 
gefähr J'jOO  bis  auf  Shakes2)eare  (Rostocker  Diss,  1903)  und  Jacob  Knecht 
in  seiner  tüchtigen  Arbeit  Die  Kongruenz  zivisclicn  Subjekt  und  Prädikat 
und  die  S.  Person  Pluralis  Präsentis  auf  -s  im  Elisabetlianischen  Englisch 
(Anglist.  Forsch.  33;  Heidelberg  1911),  sind  der  Ansicht,  daß  die  verbalen 
s-  oder  th-  Plurale  „auf  einer  Anlehnung  an  die  3.  Pers.  Sing,  beruhen", 

112 


bzw.  „als  eine  analogische  Übertragung  aus  der  3.  Pers.  Sing,  zu  ver- 
stehen" seien. 

Diese  beiden  Arbeiten  beschränken  sich  auf  das  16.  Jahrhundert. 
Auf  einer  wesentlich  verbreiterten  Unterlage  hat  Hans  Stoelke  Die 
Inhongruenz  zwischen  SuhjeJct  und  Prädikat  im  Englischen  und  in  den 
verwandten  Spruchen  (Anglist.  Forsch.  49;  Heidelberg  1916)  noch  einmal 
behandelt.  Die  Untersuchung  wurde  bereits  1899  begonnen,  aber  konnte 
damals  infolge  widriger  Umstände  nicht  vollendet  werden.  Die  Arbeit 
leidet  etwas  darunter,  daß  in  der  Zwischenzeit  mehrere  andre  Forscher 
das  Problem  erörtert  und  der  Lösung  nähergeführt  hatten,  und  dali 
der  Verfasser  in  seiner  Darstellung  und  in  der  Auswahl  des  Stoffs  der 
veränderten  Sachlage  nicht  genügend  Rechnung  getragen  hat.  Auch 
sonst  lassen  sich  an  der  Anlage  der  Arbeit  und  der  Ausführung  im  ein- 
zelnen manche  Ausstellungen  machen.  Aber  durch  die  weitausschauende 
Art  ihrer  Beweisführung  ist  sie  trotzdem  ein  wertvoller  und  dankens- 
werter Beitrag  zur  endgültigen  Lösung  des  verwickelten  Problems. 

Stoelke  greift  zur  Aufhellung  des  Ursprungs  der  Erscheinung  mit 
Recht  auf  die  älteren  englischen  Spraohperioden  zurück.  Er  zeigt,  daß 
schon  in  altenglischer  Zeit  vom  Beowulf  an  sic'i  Fälle  von  Inkongruenz 
zwischen  Subjekt  und  Prädikat  und  deutliche  Ansätze  zur  V^ereinfachung 
der  Verbalflexion  und  zur  Erhebung  der  dritten  Person  Singularis  zur 
Verbalform  par  excellence  nachweisen  lassen.  Die  Bewegung  läuft  durch 
die  mittelenglische  Periode  weiter,  nimmt  von  Chaucer  bis  Shakespeare 
an  Breite  und  Stärke  zu  und  erstreckt  sich  im  15.  und  16.  Jahrhundert 
über  das  ganze  Land.  Aber  vom  17.  Jahrhundert  an  macht  sich  unter 
dem  Einfluß  der  Grammatiker  ein  Kampf  gegen  die  Inkongruenz  geltend. 
Franz  (Shakesp.-Gr.  §  671)  weist  darauf  hin,  daß  schon  die  2.  Shake- 
speare-Folio vom  Jahre  1632  die  Freiheiten  der  Kongruenz,  die  die  erste 
charakterisieren,  nicht  mehr  duldet.  Und  Stoelke  schreibt  (S.  98): 
,,  Dem  namentlich  an  der  lateinischen  Grammatik  geschulten  Sprach- 
erapfinden  der  Gebildeten  erscheint  die  Inkongruenz  vulgär;  sie  wird 
gemieden  und  lebt  fast  nur  noch  in  der  Sprache  des  ungebildeten  Volkes 
fort.  In  diesen  Kreisen  hat  sie  sich  erhalten  im  ganzen  englischen 
Sprachgebiet  bis  auf  den  heutigen  Tag."  Ich  möchte  hierzu  bemerken, 
daß,  wenn  die  3.  Pers.  Sing,  im  Vulgärenglischen  wirklich  zur  Verbal- 
form par  excellence  geworden  ist,  man  nicht  gut  mehr  von  Inkongruenz 
zwischen  Subjekt  und  Prädikat  sprechen  kann. 

Die  Ursachen  für  die  Verallgemeinerung  der  3.  Pers.  Sing,  sind 
mannigfacher  Art.  Gewiß  haben  bei  der  Ausbreitung  dieser  Bewegung 
auch  phonetische  Momente  mitgespielt ;  aber  ihr  Ausgangspunkt  liegt 
auf  psychologischem,  nicht  auf  phonetischem  Gebiet;  das  zeigen  die  ver- 
wandten Sprachen :  das  Deutsche,  Dänische,  Norwegische,  Schwedische, 
auch  das  Französische,  wo,  wie  Stoelke  überzeugend  nachweist,  unter 
wesentlich  verschiedenen  phonetischen  Bedingungen  die  gleiche  Tendenz 
vorhanden  ist.  „Begonnen  hat  sie  wahrscheinlich  in  den  Sätzen,  wo  das 
Verbum  dem  Subjekt  voraufgeht;  denn  in  dieser  Fügung  läßt  sie  sich 
in    fast   allen    idg.   Sprachen   nachweisen"   (Stoelke    97).     Daß   sich   in 

Wissenschaftliche  Forachiiniisherichte  IX  8 

113 


diesem  Fall  Inkongruenzen  besonders  gern  einstellen,  rührt  daher,  daß 
der  Sprechende  oder  Schreibende  bei  Voranstellung  des  Verbs  sich  olt 
über  die  Gestaltung  des  Subjekts  noch  im  unklaren  ist.  Besonders  häufig 
sind  sodann  die  Fälle,  wo  ein  singularisches  Prädikat  zu  zwei  singularisclien 
Subjekten  gehört,  die  entweder  als  begriffliche  Einheit  gefaßt  werden, 
oder  wo  das  Prädikat  sich  an  eins  von  ihnen  enger  anlehnt.  Die  In- 
kongruenz tritt  um  so  leichter  ein,  je  weniger  eng  die  Verknüpfung 
zwischen  Subjekt  und  Prädikat  ist,  je  weiter  sie  durch  adverbiale  Aus 
drücke  oder  Nebensätze  voneinander  entfernt  stehn,  so  daß  der  Numerus 
des  Subjekts  im  Gedächtnis  verblaßt.  Auch  in  llelativsätzen  tritt  im 
Englischen  gern  Inkongruenz  ein,  weil  das  Kelativpronomen  {tlmt,  ivhuli) 
im  Singular  und  Plural  die  gleiche  Form  hat.  Dazu  kommt  noch  eine 
Anzahl  weiterer  Faktoren,  die  das  Vordringen  der  3.  Pers.  Sing,  in  den 
Plural  begünstigen. 

Stoelkes  tüchtige  Arbeit  hat  zur  Aufhellung  dieses  Problems  er- 
heblich beigetragen.  Aber  eine  vertiefte  Behandlung  der  alt-  und  mittel- 
englischen Verhältnisse,  eine  genauere  Untersuchung  der  schulmäßigen 
Reaktio;i  gegen  die  Inkongruenz,  die  wohl  schon  im  16.  Jahrhundert 
einsetzte,  und  eine  ausführlichere  Darstellung  der  Geschichte  der  In- 
kongruenz seit  Shakespeares  Zeit  mit  Einbeziehung  der  heutigen  Dia- 
lekte würde  wohl  noch  manche  Ergebnisse  von  allgemeinerem  sprach- 
geschichtlichen Interesse  zutage  fördern. 

c)  Präpositionen 

Über  die  engHschen  Präpositionen  liegen  zv/ei  Monographien  däni- 
scher Gelehrter  vor.  Alf.  Brahde  liefert  in  seinen  Studier  over  de 
Engelsice  Prepositioner  (Köbenhavn  1919)  eine  Untersuchung  vornehmlich 
prinzipieller  Art.  Er  gruppiert  und  behandelt  die  Präpositionen  nach 
den  Kategorien  Ort,  Zeit,  Wiederholung,  Grund  und  Ursache,  Mittel, 
Maß  oder  Grad,  wobei  er  bei  der  Besprechung  der  einzelnen  Fälle 
manche  beachtenswerte  Gedanken  bietet. 

Die  Schrift  von  N.  Bögholm,  Professor  der  englischen  Philologie 
an  der  Universität  Kopenhagen,  über  EmjJish  Preposltions  (Kjobenhavn 
1920)  war  ursprünglich  als  erster,  allgemeiner  Teil  einer  englischen 
Präpositionslehre  gedacht,  deren  zweiter  Teil  die  Einzelheiten  behandeln 
sollte.  Der  Wunsch  des  Verfassers,  sich  mit  andern  Seiten  der  englischen 
Philologie  zu  beschäftigen,  ließ  ihm  die  Vollendung  seines  Planes  zweifel- 
haft erscheinen  und  veranlaßte  ihn  zur  Herausgabe  des  ersten  Teils, 
soweit  er  fertig  vorlag,  in  Gestalt  einer  selbständigen  Schrift.  So  er- 
klärt sich  wohl  der  etwas  formlose  Charakter  dieser  Arbeit,  die  mehr 
eine  zwanglose  Aneinanderreihung  verschiedenartiger  Bemerkungen  und 
Regeln  als  eine  systematische  Behandlung  des  Gegenstands  ist.  Aber 
das  Büchlein  enthält  manche  gute  Beobachtungen.  Es  handelt  über  den 
Einfluß  der  Betonung  auf  die  Form  der  Präpositionen,  über  Stellung, 
Ursprung  und  Aussterben,  Bedeutungswandel,  Auslassung  von  Präpt)si- 
tionen  und  vieles  andre.  Zur  Begründung  seiner  Aufstellungen  greift  der 
V^erfasser  in  alle  Sprachperioden  hinein. 

114 


Eine  gründliche  Spezialuntersuchung  über  die  nachgestellten  Prä- 
positioneyi  im  Angelsächsischen  (Palaestra  70;  Berlin  1915)  liefert  Fritz 
Wende  in  einer  Berliner  Dissertation.  Ihre  Aufgabe  ist,  festzustellen, 
„in  welchem  Umfange  und  unter  welchen  Bedingungen  die  Präpositionen 
im  Ags,  ihrem  Beziehungswort  nachgestellt  werden".  Zu  diesem  Zweck 
behandelt  der  Verfasser  getrennt  erst  die  Verhältnisse  in  der  angelsächsi- 
schen Prosa,  dann  die  in  der  Poesie,  darauf  in  einem  dritten  Hauptteil  die 
Verhältnisse  im  Heliand.  Letzterer  Teil  ist  besonders  dankenswert,  da  der 
Ursprung  der  behandelten  Erscheinung  jedenfalls  in  eine  ältere  Sprach- 
periode zurückreicht  und  das  Altsächsische  diesen  älteren  Sprachzustand  in 
mancher  Hinsicht  treuer  bewahrt  hat  als  das  Altenghsche.  Wende  hat  seine 
Untersuchung  mit  großer  Sorgfalt  durchgeführt.  Er  kommt  zu  dem 
Ergebnis,  daß  die  Präposition  im  Angelsächsischen  bei  den  Pronominal- 
adverbien her,  pmr,  hwcer  u.  a.  gesetzmäßig  und  notwendig,  beim  Personai- 
pronomen in  weitem  Umfang  nachgestellt  wird,  während  sie  beim 
Nomen,  Demonstrativ-,  Interrogativ-  und  Relativpronomen  fast  regelmäßig 
voransteht.  Den  Grund  für  die  Voran-  oder  Nachstellung  der  Prä- 
position erblickt  der  Verfasser  in  der  Verschiedenheit  der  Tonverhältnisse. 

d)  Satzverknüpfung 

Die  älteren  Sprachstufen  sind  noch  arm  an  besondern  Wort- 
bildungen zum  Ausdruck  des  Abhängigkeitsverhältnisses  aufeinander 
folgender  Sätze.  Die  Gedanken  reihen  sich  lose  aneinander;  die  Sätze 
werden  in  der  Form  der  reinen  asyndetischen  Parataxe  gänzlich 
unvermittelt  nebeneinander  gestellt.  Diese  Redeform  ist  nicht  nur  auf 
den  primitiven  Sprachstufen  und  in  der  Kindersprache  die  herrschende, 
sie  spielt  auch  heute  noch  in  der  Umgangssprache  und  in  der  Poesie 
eine  hervorragende  Rolle,  weil  sie  unmittelbarer  und  dadurch  lebendiger 
die  Gedanken  und  Gefühle  zum  Ausdruck  bringt.  Je  mehr  sich  aber 
eine  Sprache,  zumal  literarisch,  entwickelt,  desto  mehr  macht  sich  das 
Streben  geltend,  den  Innern  Zusammenhang  der  Gedanken  auch  in  der 
äußern  Form  der  Sätze,  die  ihnen  als  Träger  dienen,  durch  besondere, 
satzverknüpfende  Wortgebilde  (Konjunktionen)  wiederzugeben.  Zunächst 
sind  es  vorzugsweise  Partikeln,  die  die  Selbständigkeit  der  Sätze  noch 
unberührt  lassen ,  eine  Satzverbindung ,  die  man  mit  Wundt  als  k  o  n  - 
junktive  Parataxe  bezeichnen  kann.  Erst  auf  einer  dritten  Ent- 
wicklungsstufe werden  Haupt-  und  Nebenvorstellungen  durch  sprachliche 
Unterordnung  oder  Hypotaxe  voneinander  geschieden.  Die  Einzel- 
sätze werden  nicht  mehr  unvermittelt  oder  durch  konjunktive  Partikeln 
in  der  Form  der  Beiordnung  selbständig  aneinandergereiht,  sondern  sie 
werden  in  Satzgefüge  eingegliedert,  und  ihr  gegenseitiges  Abhängigkeits- 
verhältnis wird  durch  entsprechende  Partikeln  gekennzeichnet.  Das  ist 
eine  Neuerung,  die  sowohl  für  die  Entwicklung  des  Denkens  als  auch 
für  die  Ausbildung  der  sprachlichen  Logik  von  höchster  Bedeutung  ist. 

Die  altenglische  Poesie  steht  noch  vorwiegend  auf  dem  Standpunkt 
der  asyndetischen  Parataxe.  Es  ist  aber  von  Wichtigkeit,  festzustellen, 
wie  sich  die  altenghsche  Prosa  in  dieser  Beziehung  verhält,   und  wann 

8* 

115 


si  h  zuerst  in  größerem  Umfang  der  Übergang  zur  Hypotaxe  vollzieht. 
Ein  Schüler  Morsbachs,  Georg  Rubens,  hat  die  Parataxe  und  Hypo- 
taxe in  dem  ältesten  Teil  der  Saclisenchronik  (Parker  IIs.  his  Z2im  Jahre 
801)  genauer  untersucht  (Studien  z.  engl.  Phil.  5G ;  Halle  1915).  Er 
kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  die  asyndetische  Anknüpfung  in  dem 
ältesten  Teil  der  öachseachronik  nur  vereinzelt  auftritt.  Das  am  häutig- 
sten angewandte  Satzverbindungsmittel  ist  die  konjunktive  Parataxe, 
und  zwar  in  der  Form  der  kopuiativ^en  Beiordnung  mittels  der 
anreihenden  Konjunktion  ond  (S.  10  u.  52).  „Die  Hypotaxe  wird  bereits 
durch  manche  Übergangserscheinungen  vorbereitet,  ist  aber  selbst  noch 
wenig  ausgebildet"  (S.  52).  Dabei  ist  allerdings  zu  beachten,  daß  ein 
Denkmal  wie  die  Sachsen chronik  wegen  der  chronistischen  Aneinander- 
reihung der  Tatsachen  von  selbst  zur  parataktischen  Satzverknüpfung 
herausforderte. 

Spuren  des  Übergangs  von  der  Parataxe  zur  Hypotaxe  lassen  sich 
in  der  Sachsenchronik  deutlich  nachweisen.  Rubens  zeigt  an  einer 
größeren  Zahl  gutgewählter  Beispiele  (S.  33  ff.)  recht  anschaulich,  wie  der 
einfache  Satz  sich  nach  und  nach  erweitert,  wie  er  andre  Sätze  in 
sich  aufnimmt,  so  daß  größere  Satzgebilde  entstehen.  Dabei  kommt 
zweierlei  in  Betracht,  „Es  ist  einmal  die  allmähliche  Überführung  des 
Demonstrativ-  in  das  Relativpronomen,  andererseits  die  Entwicklung  hypo- 
taktischer Konjunktionen  aus  solchen,  die  ursprünglich  der  parataktischen 
Satzverbindung  dienten.  Beide  Vorgänge  sind  eng  verwandt  miteinander, 
indem  die  meisten  Konjunktionen  auf  alte  Pronomina  zurückgehen  und 
erstarrte  Formen  derselben  sind"  (S.  33).  Von  den  beiden  Kategorien 
tritt  der  konjunktionale  Nebensatz  verhältnismäßig  früher  auf;  der 
Relativsatz  hat  sich  erst  spät  entwickelt.  Beide  Arten  der  Unterordnung 
kommen  aber  im  ältesten  Teil  der  Sachsenchronik  nicht  häufig  vor. 

„Eine  entwickeltere  Prosa  mit  weitgehender  Hypotaxe  bildet  sich 
zuerst  an  den  Übersetzungen  aus  dem  Lateinischen  heran;  hier  wo  der 
Periodenbau  reich  entwickelt  war,  hatten  die  Angelsachsen  Gelegenheit, 
ihn  kennen  zu  lernen  und  in  ihrer  Sprache  nachzubilden.  Und  von 
diesen  Übersetzungen  her  dringt  die  Hypotaxe  dann  auch  in  die  Ori- 
ginalschöpfungen der  Angelsachsen  ein.  Es  ist  König  Alfred  der  Große, 
der  durch  seine  zahlreichen  Übersetzungen  lateinischer  Schriftsteller  der 
angelsächsischen  Prosa  den  Weg  zu  weiterer  Ausbildung  gewiesen  hat" 
(Rubens  S.  53). 

Im  Lauf  der  Jahrhunderte  wurden  manche  der  in  altenglischer  Zeit 
entstandenen  Konjunktionen  als  zu  umständlich  wieder  beseitigt  und 
durch  einfachere  ersetzt,  während  anderseits  auch  ganz  neue  Ausdrücke 
geschaffen  wurden.  So  bildete  sich  allmählich  die  mehr  logisch  begründete 
moderne  englische  Literatursprache  heraus.  Über  den  Bestand  der  Satz- 
bindemittel in  der  Höhezeit  der  mittelenglischen  Literatur  im  14.  Jahr- 
hundert, die  für  die  modernenglischen  Verhältnisse  grundlegend  war, 
werden  wir  durch  die  sehr  fleißige  Arbeit  von  Hermann  Eitle,  Die 
Satsverknüpfung  hei  Chaiicer  (Anglist.  Forsch.  44;  Heidelberg  1914), 
gründlich  und  zuverlässig  unterrichtet.    In  übersichtlicher  Ordnung  wird 

IIG 


uns  hier  ein  reiches  Belegmaterial  vorgeführt.  Der  Verfasser  hat  mit 
seiner  erschöpfenden  Darstellung  des  Gegenstands  nicht  nur  einen  wert- 
vollen Beitrag  zur  Chaucer  Syntax  geliefert,  sondern  uns  auch  Einbhcke 
in  den  Entwicklungsgang  des  Sprachgebrauchs  eröffnet  und  dadurch 
der  historischen  Syntax  der  englischen  Sprache  gedient. 

e)  Syntax  einzelner  Literaturwerke 

Von  syntaktischen  Untersuchungen  einzelner  Literaturwerke  sind 
die  Säidies  in  the  Sijntax  of  the  Lindisfarne  Gospels  von  Morgan 
Callaway,  Professor  des  Englischen  an  der  University  of  Texas, 
rühmend  hervorzuheben  (Hesperia,  SupplSeries  5;  Baltimore  1918). 
Das  Buch  ist  eine  Fortsetzung  der  früheren  Arbeiten  des  Verfassers: 
The  Absolute  Fartici]_)le  in  Anglo-Saxon  (Baltimore  1889),  The  Ap- 
positive  Farticiple  in  Anglo-Saxon  (ebd.  1901)  und  The  Infinitive  in 
Anglo-Saxon  (Washington  1913).  Im  engen  Anschluß  an  sie  handelt 
es  in  drei  Kapiteln  über  das  absolute  Partizip,  das  appositive  Partizip 
und  den  Infinitiv.  Callaways  Hauptabsicht  war,  zu  untersuchen,  ob  die 
Syntax  dieser  Verbalformen  im  nordhumbrischen  Dialekt  sich  wesentlich 
von  der  in  seinen  früheren  Arbeiten  festgestellten  westsächsischen  unter- 
scheidet. Er  kommt  zu  dem  Schluß,  daß  das  nicht  der  Fall  ist,  daß 
im  wesentlichen  die  gleichen  Regeln  gelten.  Wo  Unterschiede  vor- 
kommen, sind  sie  gev/öhnlich  durch  den  engeren  Anschluß  des  nord- 
humbrischen Glossators  an  seine  lateinische  Vorlage  zu  erklären.  Die 
gründliche  Beherrschung,  sorgfältige  Verarbeitung  und  übersichtliche  An- 
ordnung eines  reichen,  selbstgesammelten  und  gesichteten  Belegmaterials, 
die  schon  die  früheren  Arbeiten  des  Verfassers  auszeichneten,  machen 
sich  auch  in  der  vorliegenden  Studie  vorteilhaft  geltend.  Einige  inter- 
essante Ergebnisse  seien  hier  herausgehoben. 

Das  absolute  Partizip  ist  eine  Nachbildung  des  lateinischen 
Ablativus  absolutus;  schon  der  Umstand,  daß  der  Glossator  den  letz- 
teren in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  durch  ein  Verbum  fini- 
tum  wiedergab,  spricht  dafür,  daß  ihm  die  Konstruktion  eines  absoluten 
Partizips  im  Englischen  ungeläufig  war.  Auch  die  Dativform,  die  für 
diese  Konstruktion  sowohl  im  Nordhumbrischen  wie  im  Westsächsischen 
die  herrschende  ist,  weist  auf  den  Ablativus  absolutus  hin.  Wenn  in 
den  Lindisfarne-Evangelien  daneben  gelegentlich  absolute  Partizipien  im 
Akkusativ  und  selten  auch  im  Nominativ  vorkommen,  die  das  West- 
sächsische  nicht  kennt,  so  ist  das  auf  spezielle  nordhumbrische  Einflüsse 
zurückzuführen. 

Das  appositive  Partizipium  Präsentis  hatte  in  den  ger- 
manischen Sprachen  nach  Callaway  ursprünglich  nicht  die  Fähig- 
keit, ein  Akkusativobjekt  zu  regieren.  Wenn  diese  Kon- 
struktion in  der  nordhumbrischen  Interlinearglosse  gleichwohl  öfters  vor- 
kommt, viel  häufiger  als  in  der  westsächsischen  Übertragung  der 
Evangelien,  so  ist  das  nach  Callaway  gleichfalls  auf  den  Einfluß  des 
lateinischen  Originals  zurückzuführen  (S.  46  u.  5 1)  •,  z.  B.  &  genimmende  calic 
doncunco  dyde  =  'Et  accipiens  calicem  gratias  egit' ;   oder:  geurnon  bim 

117 


tuoege    hcrhhende   uel   hsefdon    diohles   =   'occurrerunt   ei    duo   hahentes 
daemonia\ 

Über  den  Ursprung  des  cnglisclien  Gerundiums  ist  Callaway 
mit  Einenkel  der  Meinung,  daß  die  in  altenglischen  Interlinear  Versionen 
und  Übersetzungen  auftretenden  Gerundien  keine  einheimischen  Gewächse, 
sondern  mechanische  Nachbildungen  lateinischer  Gerundien 
sind,  während  Curme  meint,  daß  das  englische  Gerundium  keinerlei 
Spuren  fremden  Einflusses  aufweise,  sondern  schon  in  altenglischer  Zeit 
fest  eingewurzelt  war  und  sich  seitdem  aus  eigner  Kraft  entfaltet  habe. 
Callaway  weist  (S.  66 f)  zur  Stütze  der  von  Einenkel  und  ihm  ver- 
tretenen Auffassung  auf  drei  Tatsachen  hin:  1.  bis  jetzt  sind  nur  sehr 
wenige  Gerundien  mit  wirklich  verbaler  Kraft  (d.  h.  mit  zugehörigem 
Akkusativobjekt)  in  der  altenglischen  Literatur  nachgewiesen;  2.  in 
jedem  der  bisher  angeführten  Fälle  kommt  die  Wendung  nur  in  Über- 
setzungen aus  dem  Lateinischen  vor,  und  fast  in  allen  ist  der  Einfluß  des 
Lateinischen  ohne  weiteres  klar;  3.  da  das  appositive  Partizipium  Prä- 
sentis  im  Altenglischen  ursprünglich  nicht  die  Krait  hatte,  ein  Akkusativ- 
objekt zu  regieren,  sondern  sie  erst  alhuählich  dem  Lateinischen  ent- 
lehnte, so  ist  es  nur  natürlich  anzunehmen,  daß  auch  das  Nomen  auf 
-big  {-ung),  das  noch  weniger  verbale  Kraft  als  das  Partizipium  Prä- 
sentis  hatte  und  heute  noch  hat,  ursprünglich  kein  Akkusativobjekt 
regieren  konnte,  und  daß  es  diese  Fähigkeit  im  Altenglischen  gleichfalls 
aus  dem  Lateinischen  entlehnte.  Doch  ist  das  Gerundium  mit  Akkusativ- 
objekt im  Altenglischen  niemals  eigentlich  naturalisiert  gewesen,  jeden- 
falls nicht  in  dem  Maß  wie  das  appositive  Partizipium  mit  Akkusativobjekt. 

X.  Rhythmik 

Sprachlicher  Rhythmus,  d.  h.  regelmäßiger  Wechsel  zwischen  be- 
tonten und  unbetonten  Silben,  ist  nicht  bloß  für  die  Poesie,  sondern 
auch  für  die  Prosa  und  sogar  für  die  Umgangssprache  von  Bedeutung. 
Nur  unterscheidet  sich  die  Prosa  dadurch  von  der  Poesie,  daß  sie  in 
ihrem  ungebundenen  Redefluß  die  einförmige  Wiederkehr  der  gleichen 
Rhythmen  durch  längere  Sprechperioden  nicht  liebt,  sondern  größere 
Freiheit  und  Abwechslung  verlangt. 

Das  Problem  des  Prosarhythmus  ist  im  letzten  Jahrzehnt  stark  in 
den  Vordergrund  des  Interesses  der  englischen  Sprachforschung  getreten. 
Mit  dem  Wesen  des  Prosarhythmus  im  allgemeinen  beschäftigt  sich 
W.  M.  Patter son  in  seinem  Buch  The  Rhytlim  of  Prose.  An  Ex- 
perimental  Investigation  of  Individual  Di/ference  in  the  Sense  of  Jihythm 
(New  York,  Columbia  Univ.  Press,  1916;  2''  ed.  1917).  Er  sucht  dem 
Problem  mit  experimentellen  Methoden  zu  Leibe  zu  gehn.  Sein  Buch 
stellt  die  Ergebnisse  einer  Reihe  von  Experimenten  an  zwölf  geschulten 
Beobachtern  dar,  deren  verschiedenartige  Reaktion  auf  rhythmische  Ein- 
drücke festgestellt  werden  sollte.  Nach  Auseinandersetzung  mit  früheren 
Forschern    handelt  Patterson    über   „The  Sense  of  Swing",    „Rhythmic 

118 


Tunes",  „Vers  Libre"  u.  a.  und  gibt  im  Anhang  einen  genauen  Bericht 
über  die  angestellten  Versuche.  Auf  den  Inhalt  des  Buchs  kann  hier 
nicht  näher  eingegangen  werden;  wir  haben  es  nur  mit  der  Bedeutung 
des  Rhythmus  für  die  englische  Prosa  zu  tun. 

Schon  Jespersen  in  Growtli  and  Structure  of  tJie  Engl.  Lang.  235 
(1905)  und  in  dem  Abschnitt  über  „Rhythmic  stress''  in  seiner  Mod. 
Engl.  Grammari,  §5.4(1909),  sowie  auch  Franz  an  einigen  Stellen 
seiner  Shakespeare-Grammatik  (2.  Aufl.,  §  551,  650;  1909)  haben  auf 
die  Rolle  des  Rhythmus  in  der  englischen  Prosa  hingewiesen.  Der 
holländische  Gelehrte  P.  Fiju  van  Draat  hat  dann  in  einer  höchst 
anregenden  Studie  über  PJiytlmi  in  English  Prose  (Anglist.  Forsch.  29; 
Heidelberg  1910)  zuerst  den  herzhaften  Versuch  gemacht,  das  schwierige, 
molluskenhafte  Problem  fest  anzupacken.  Er  geht  von  dem  Titel  von 
Shaws  Komödie  Yoti  nevcr  can  feil  aus.  Er  bemerkt,  daß  nach  den 
Regeln  der  Grammatik  die  Wortfolge  eigentlich  You  can  never  teil  sein 
sollte  mit  dem  Adverb  zwischen  Hilfszeitwort  und  Verb.  Erst  durch 
die  Abweichung  von  der  Regel  erhält  der  Satz  den  ohrgefäUigen  rhyth- 
mischen Schwung.  Fijn  van  Draat  geht  dieser  Erscheinung  nach  und 
findet,  daß  eine  ganze  Reihe  von  grammatischen  Doppelformen  ver- 
schiedener Art  sich  durch  bewußte  oder  unbewußte  Rücksicht  auf  den 
Rhythmus  erklären. 

Rhythmus  gehört  zum  innersten  Wesen  aller  Poesie.  Gewiß  kann 
man  poetische  Gefühle  auch  in  Prosa  äußern,  und  prosaisch  geschriebene 
Stimmungsbilder  können  unter  Umständen  poetischer  sein  als  manche 
Dichtungen,  die  nur  der  metrischen  Form  nach  zur  Poesie  gehören. 
Aber  die  Wiedergabe  poetischer  Gefühle  wird  immer  zum  Rhythmus 
drängen,  selbst  wenn  sie  sich  der  Sprache  der  Prosa  bedient.  Auch 
sonst  macht  sich  in  der  prosaischen  Rede,  zumal  in  gehobener  Sprache, 
vielfach  das  Streben  nach  rhythmischen  Kadenzen  geltend.  Der  Haupt- 
unterschied zwischen  poetischem  und  prosaischem  Rhythmus  ist,  wie 
eingangs  bereits  angedeutet,  der,  daß  der  poetische  Rhythmus  strengen 
und  festen  Regeln  folgt,  die  nur  wenige  Ausnahmen  gestatten,  während 
der  Prosarhythmus  unregelmäßiger  auftritt  und  meist  mit  Perioden  un- 
rhythmischer Prosa  durchmischt  ist.  Streng  durchgeführter  Rhythmus 
ist  für  die  Pi'osa  ebenso  unnatürlich  wie  für  die  Poesie  unerläßlich  ; 
aber  das  Streben  nach  rhythmischen  Kadenzen  ist  in  jeder  künstlerischen 
Prosa  bemerkbar,  wenn  auch  der  Sinn  für  Rhythmus  bei  verschiedenen 
Schriftstellern  verschieden  stark  und  in  verschiedener  Art  entwickelt  ist. 

Da  der  Rhythmus  auf  einem  regelmäßigen  Wechsel  betonter  und 
unbetonter  Silben  beruht,  ist  der  Hauptfeind  des  Rhythmus  der  Be- 
tonungshiatus, d.  h.  der  Zusammenstoß  zweier  gleich  stark  betonter 
Silben,  und  besonders  der  Hoch  ton  hiatus,  der  Zusammenprall  zweier 
hochtoniger  Silben.  Zu  seiner  Vermeidung  und  zur  Erzielung  rhyth- 
misch gegliederter  Satzperioden  hat  der  Redner  oder  Schriftsteller  ver- 
schiedene Mittel  zur  Verfügung:  Verwendung  von  Wortdoppelformen, 
"Wechsel  der  Wortfolge  im  Satz,  Synkope  von  Vokalen  u.  a.  Im  Deut- 
schen regelt  sich  auch  die  Verwendung  des  Genitiv-  und  Dativ-e  in  der 

110 


gesprochnen  Rede  mehr,  als  gewöhnlich  erkannt  wird,  nach  rhythmischen 
Rücksicliten.  Fijn  van  Draat  bespricht  eine  Anzahl  hierher  gehöriger 
Erscheinungen,  so  die  Setzung  oder  Auslassung  des  to  beim  Infinitiv 
nach  Verben  wie  hid,  dnre,  make,  die  Form  und  Stellung  des  Adverbs, 
die  Synkope  von  Vokalen.  Er  erklärt  den  Unterschied  zwischen  „He 
has  not  dared  to  do  it"  und  „He  dare  not  do  it"  oder  „How  dare  von 
da  it"  völlig  überzeugend  aus  rhythmischen  Gesichtspunkten  (was  übrigens 
auch  schon  Franz  Shakesp.-Gr. "-  §  650  angedeutet  hatte),  ebenso  die 
Verwendung  des  ungewöhnlichen  aroiind  statt  round  in  dem  Satz  „lle 
threw  hh  arms  around  my  neck".  Er  zeigt,  daß  bei  der  Einbürgerung 
des  sog.  Split- Infinitive  in  Wendungen  wie  to  truJy  perform,  to  strmigly 
sustain,  to  always  have,  to  fidJy  convince,  to  exadly  resemhle  der  Rhyth- 
mus eine  wichtige  Rolle  gespielt  hat. 

In  vier  weiteren  Aufsätzen:  EhytJim  in  English  Prose  (Angl.  30,  l 
u.  492;  1912),  The  Cursiis  in  Old  Engl  Poetry  {An^l  38,  377;  19l4j, 
Voluptas  Aurium  (Engl.  Stud.  48,  394;  1915)  und  The  Place  of  the 
Adverb.  A  Study  in  Rhythm  (Neophil.  6,  56;  1920)  hat  Fijn  van 
Draat  diese  rhythmischen  Studien  fortgesetzt,  und  wenn  seine  Aus- 
führungen auch  nicht  durchweg  überzeugend  sind,  so  hat  er  doch  zum 
erstenmal  eindringlicher  als  jemand  vor  ihm  ein  wichtiges  Kapitel  an- 
geschnitten. 

Sein  Vorgang  fand  Nachfolger.  Fr.  Stroheker  betrat  in  einer 
Heidelberger  Dissertation  Doppelformen  und  Rhythmus  hei  Marlowe  und 
Kyd  (li^l3)  neuen,  fruchtbaren  Boden,  indem  er,  einer  Anregung  von 
Franz  folgend,  die  zahlreichen  Doppelformen  des  englischen  Wortschatzes 
zum  erstenmal  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Rhythmus  betrachtete,  wobei 
er  zu  bemerkenswerten  Ergebnissen  kam.  Er  weist  die  sprachgeschiciit- 
liche  Bedeutung  des  rhythmischen  Prinzips  der  Vermeidung  des  Hoch- 
tonhiatus an  zahlreichen  Einzelfällen  überzeugend  nach. 

O.  Ziesenis  ergänzte  Strohekers  Arbeit  duich  eine  gleichlaufende 
Untersuchung  über  Den  Einfluß  des  Rhythmus  auf  Silhcnmessung,  Wort- 
bildung,  Formenlehre  und  Syntax  bei  Lyly,  Greene  und  Pcele  (Kieler 
Diss.  1915),  wobei  sich  neue  rhythmische  Doppelformen  ergaben  und 
die  Zahl  der  syntaktischen  Erscheinungen,  in  denen  der  Rhythmus  eine 
Rolle  spielen  kann,  weiter  vermehrt  wurde. 

In  einer  umiangreichen  und  wertvollen  Arbeit  untersuchte  s.odann 
Josef  Bihl,  ein  Schüler  von  Franz,  Die  WirJiungen  des  Rhy/hmus  in 
der  Sprache  von  Chaucer  und  Gower  (Angl.  Forsch.  50;  Heidelberg 
1916)  Er  will  in  möglichst  erschöpfender  Weise  zeigen,  wie  der  Rhyth- 
mus sich  in  der  Silbenmessung,  Betonung,  Wortbildung,  Formenlehre 
und  im  Satzbau  der  beiden  Dichter  geltend  macht.  Er  sucht  „mög- 
lichst alle  rhythmisch  beeinflußten  Erscheinungen  aus  dem  Gesamtgebiet 
der  Grammatik  herauszuheben  und  teils  zu  ihrer  Erklärung  beizutragen, 
teils  bereits  Erklärtes  vollständiger  zu  belegen"  (S.  V).  Auf  diese  Weise 
hofit  er  ein  einigermaßen  volktändiges  Bild  von  der  Eigenart  und  dem 
Umfang  der  rhythmischen  Einwirkungen  überhaupt  zu  entwerfen.  Mit 
großem  Feingel ühl  iür  rhythmische  Einflüsse  und  peinUcher  Sorgfalt  hat 

120 


er  seine  Untersuchung  durchgeführt,  und  er  belegt  seine  Aufstellungen 
durch  eine  fast  erdrückende  Fülle  von  Beispielen.  Er  legt  dar,  daß  für 
die  Anwendung  oder  Weglassung  des  Artikels  oder  Fürworts,  für  den 
Wechsel  präpositionelier Doppelformen  (ow  —  upon,  til  —  until  u.a.),  für  die 
Behandlung  des  End-e  beim  Adjektiv  {of  göde  tvömmen,  aber  of  good 
condwmins)  u.  a.  oftmals  rhythmische  Rücksichten  maßgebend  sind.  So 
hat  er  viel  zur  Kenntnis  der  Sprache  der  beiden  Dichter  und  ihrer 
Unterschiede  voneinander  beigetragen.  Aber  er,  wie  auch  seine  Vor- 
gänger, unterscheidet  oft  nicht  scharf  genug  zwischen  Versrhythmus  und 
Prosarhythmus,  zwischen  metrischem  Zwang  und  rhythmischem  Gefühl. 
Es  ist  klar,  daß  die  Rücksicht  auf  die  metrische  Gebundenheit  der 
poetischen  Sprache  einen  Dichter  in  seiner  Silbenmessung,  Betonung, 
Wortwahl,  Formenbildung  und  Wortstellung  weitgehend  beeinflussen 
wird,  aber  es  ist  keineswegs  ausgemacht,  daß  derselbe  Dichter  in  seiner 
Prosa  ebensolche  Rücksichten  nehmen  wird,  und  es  wäre  deshalb  ver- 
dienstlich gewesen,  wenn  Bihl  mehr,  als  er  es  tut,  den  Vergleich  der 
prosaischen  und  poetischen  Werke  Chaucers  herausgearbeitet  hätte. 

Ergänzende  Untersuchungen  über  die  poetische  und  prosaische 
Sprache  andrer  formgewandter  Dichter,  wie  Dryden,  Pope,  Swinburne 
u.  a.,  wären  vielleicht  ergebnisvoli. 

Die  Hauptwirkung  des  Rhythmus  auf  die  Sprache  ist  jedenfalls 
eine  konservative:  während  die  Umgangssprache  im  allgemeinen  mehr 
nivellierend  wirkt,  Doppelformen  und  Ausnahmen  zu  beseitigen  strebt, 
hat  die  rhythmische  Sprache  ein  entschiedenes  Interesse  an  der  Er- 
haltung von  Doppelformen  der  Betonung,  der  Flexion  und  des 
Wortschatzes,  an  möglichster  Freiheit  in  der  Gestaltung  der  Wort- 
folge, überhaupt  an  einer  denkbar  ungebundenen  und  mannigfaltigen 
Ausdrucksmöglichkeit.  Während  die  mittelenglische  Umgangssprache 
das  Bestreben  hat,  romanische  Fremdwörter  den  germanischen  Betonungs- 
gesetzen  anzupassen,  hat  der  Dichter  ein  Interesse  daran,  Wörter  wie 
pite,  resoun,  jKirfit,  conseil,  lionour  beliebig  auf  der  ersten  oder  zweiten 
Silbe  betonen  zu  können.  Das  Bedürfnis  des  Rhythmus  begünstigt  die 
Erhaltung  von  Doppelformen  wie  mend  —  amend,  round  —  around, 
State  —  estate,  squire  —  esquire,  special  —  e&pecial,  von  Bedeutungs- 
doubletten  wie  toivn  —  city,  ivish  —  desire,  mean  —  intend,  teil  —  record, 
storm  —  tempest,  face  —  visage,  fame  —  renoivn  usw. 

In  manchen  Fällen  hat  freilich  die  häufige  Wiederkehr  bestimmter 
rhythmischer  Gruppen  zum  Sieg  der  eine»  oder  andern  von  zwei  Doppel- 
formen oder  Doppelkonstruktionen  geführt.  Franz  hat  in  einem  kleinen 
Aufsatz  Zum  ProsarJtythmus  im  Englischen  (Zeitscbr.  f.  frz.  u.  engl. 
Unterr.  10,  210;  1911)  recht  ansprechend  darauf  hingewiesen,  daß  die 
Erhaltung  des  Präfixes  ge-,  me.  i-  in  enoiigh  aus  ae.  genög  in  regel- 
mäßig wiederkehrenden  rhythmischen  Verbindungen  wie  long  enoiigh, 
strong  enough,  soon  enough  usw.  ihre  Ursaclie  hat.  Der  Rhythmus  hat 
hier  also  konservierend  gewirkt,  während  die  Vorsilbe  ge-  sonst  im 
Enghschen  wie  im  Nordischen  bekanntlich  allgemein  geschwunden  ist. 

121 


Eine  Abhandlung  von  Otto  Joe r den  über  Das  Verhältnis  von 
Wort-,  Satz-  und  Versahzent  in  Cliaucers  '  Canterhury  Tales*  (Morsbachs 
Studien  z.  engl.  Pliil.  55 ;  1915),  die  hier  anhangsweise  erwähnt  sein 
mag,  behandelt  nur  das  metrische  Problem,  wie  Chaucer  sich  mit 
den  Schwierigkeiten  abgefunden  hat,  die  sich  aus  der  Umsetzung  der 
silbenzählenden  Metren  des  Französischen  in  taktierende  englische  Metren 
ergaben.  Joerden  beschränkt  sich  in  seiner  Untersuchung  auf  das  5  taktige 
heroische  Reimpaar,  in  dem  sich  Chaucers  Meisterschaft  ganz  besonders 
offenbart.  In  übersichtlicher  Weise  untersucht  er  zuerst  die  Fälle,  wo 
Wort-  und  Satzakzent  mit  dem  Versakzent  zusammenfallen,  sodann  die, 
wo  sie  nicht  zusammenfallen,  sondern  Taktverschleierung  durch  den 
Satz-  oder  Wortakzent  vorliegt.  Für  das  Problem  des  sprachlichen 
Rhythmus  kommt  die  Arbeit  weniger  in  Betracht. 

XI.  Stilistik 

Die  Grenzen  zwischen  Syntax  und  Stilistik  sind  flüssig,  und  so 
wird  z.  B.  ein  grofJer  Teil  dessen,  was  Clemens  Klöpper  im  2.  Teil 
seiner  Englischen  Synonymik  und  Stilistik  (Breslau  1907;  s.  oben  S.  43) 
behandelt,  von  Krüger  und  andern  in  ihren  syntaktischen  Werken  be- 
sprochen. 

Aber  ins  eigentliche  Gebiet  der  Stilistik  gehört  eine  ebenso  umfang- 
wie  inhaltreiche  schwedische  Dissertation  von  T.  Hilding  Sv  arten  gren 
über  Intensifying  Siniiles  in  English  (Lund  1918;  XXVI  u.  512  S.). 
Eugen  Borst  hatte  in  seiner  Abhandlung  über  Die  Gradadverhien  im 
Englischen  (Angl.  Forsch.  10,  S.  15)  bereits  auf  die  volkstümliche  Form 
der  Emphatisierung  durch  Verwendung  von  drastischen  Vergleichen,  wie 
as  cold  US  stone,  light  as  a  feather,  hungry  as  a  wolf,  as  poor  as  a 
church  mouse,  hingewiesen.  Svartengren  trägt  in  seinem  Buch  eine 
ungeheure  Zahl  solcher  Vergleiche  zusammen,  und  man  staunt  über  die 
unbegrenzte  sprachschöpferische  Phantasie  des  Volks,  die  uns  aus  dieser 
Sammlung  entgegentritt.  Der  Verfasser  weist  in  seiner  Einleitung  darauf 
hin,  daß  nicht  jeder  Vergleich  hierher  gehöre,  daß  er  es  in  seiner  Samm- 
lung nur  mit  übertreibenden  bildUchen  Vergleichen  zu  tun  habe.  Wenn 
ein  Knabe  sich  rühmt,  er  könne  seinen  Ball  so  hoch  wie  der  Kirchturm 
werfen,  so  mag  er  übertreiben,  aber  er  will  doch  einen  wirklichen  Ver- 
gleich anstellen;  wenn  er  aber  sagt,  er  habe  einen  Menschen  gesehen, 
so  groß  wie  ein  Kirchturm,  so  ist  da  von  keinem  ernst  geraeinten  Ver- 
gleich mehr  die  Rede,  sondern  es  handelt  sich  nur  um  eine  hyper- 
bolische Metapher. 

Svartengren  ordnet  seine  Vergleiche  nach  der  Bedeutung  des  ersteh 
Elements,  also  in  den  oben  angeführten  Beispielen  nach  den  Begriffen 
'kalt',  'leicht',  'hungrig',  'arm'.  Dies  ist  sicher  die  richtige  Anordnung; 
denn  die  betreffenden  Begriffe  bilden  ja  den  Ausgangspunkt  für  die 
Vergleiche,  und  es  ist  interessant  zu  sehen,  zu  welcher  Art  von  Ver- 
gleichen sie  in  vielen  Fällen  den  Anstoß   geben.     Er   stellt    dann    diese 

122 


Vergleichsunterlagen,  die  natürlich  durchweg  Eigenschaftswörter  sind, 
in  verschiedenen  Kapiteln  zu  sachlichen  Gruppen  zusammen:  Similes 
referring  to  Mind  and  Character;  Similes  chiefly  referring  to  the  Human 
Body,  Similes  otherwise  referring  to  Form,  to  Colour,  Size,  the  Surface 
and  Substance  of  Things;  Otlier  definite  Similes;  Indefinite  or  General 
Similes.  Und  innerhalb  der  Kapitel  führt  er  die  systematische  Anord- 
nung weiter  durch,  indem  er  verwandte  Begriffe  zusammengruppiert, 
wie  Innocence  and  Good  Character;  Bad  or  Mean  Character;  Honest, 
Faithful,  Trustworthy;  Open,  Straightforward ;  Chaste  usw.  Ich  weiß 
nicht,  ob  es  im  Interesse  der  praktischen  Benutzbarkeit  des  Buchs  nicht 
richtiger  gewesen  wäre,  diese  Sektionen  einfach  alphabetisch  zu  ordnen, 
was  übrigens  Svartengren  selbst  zugibt.  Doch  macht  ein  ausführliches 
Register  die  bequeme  Erschließung  des  Inhalts  möglich.  Manche  der 
Vergleichsgruppen  geben  dem  Verfasser  Anlaß  zu  kulturgeschichtlichen 
Exkursen,  z.  B.  drunJc  (S.  191),  wo  er  sich  über  die  Geschichte  der 
Trunkenheit  in  England  ausläßt. 

Im  Schlußkapitel  führt  er  uns  dann  die  Anschauungsgebiete  vor, 
aus  denen  die  Vergleiche  entnommen  sind.  Wir  hören  Näheres  über 
literarische  Quellen,  über  Häufigkeit  und  Form  der  Vergleiche,  Allite- 
ration, Reim  und  Rhythmus.  —  Es  ist  ein  Buch,  aus  dem  man  viel 
Anregung  entnehmen  wird,  das  aber  zugleich  den  Wunsch  nach  einer 
genetischen,  sprach-  und  kulturgeschichtlichen  Behandlung  dieser  inter- 
essanten hyperbolischen  Vergleiche  weckt. 


323 


Register 

Zusammengestellt  von  Else  Hoops 


Älbrecht,  Th.  65 
Allen,  F.  St  43  f. 
Annakin  84 

Bannister  49 
Baumann,  Fr.  Herb.  101 
Behagel  97 
BiM,  Jos.  120  f. 
Björtman  44 f.  47 
B0gholm  114 
Borst,  Eng.  122 
Bosworth-ToUer  39 
Bradley,  H.  1.  39 
Brahde  114 
Brandl  7  ff.  33 

Braune,  W.  15  ff. 

Bremer  70 

BrigM  59 

ten  Brink  60 

Brinkmann  96  f. 

Brotanek  68 

Brugmanu  42 

Bugge,  S.  25.  52 

Bülbring  59.  69.  71  f. 

Callaway,  M.  117  f. 
Chadwick  5 
Clark,  James  M.  37 
Classen  4 
Cook,  A.  S.  59 
Crabb  42 
Craigie  'öd.  84 
Cnrme  87.  104.  106 

Delbrück  108 
Deutscbbein  96.  109 


14.   26  ff.  50.   61.   68.  74. 


Diehn  92 

Dolle  11.  29  f.  34 

V.  Draat  s.  Fijn  van  Draat 

Dunstan  84 

Eckhardt  60.  74  ff. 
Ehrentreich  84 
Einenkel  96.  105  ff. 
Eitle  116 
Eitrem  104 
Ekwall   Uff 
79.  89.  95 
Ellinger  104 
EUis,  Alex.  J.  68 
Emerson,  0.  F.  1.  32Anm. 
Erdmann  97 

Febr,  B.  106 

Fijn  van  Draat  119  f. 

Forßner  45 

Franz,  W.  61.  95f.  112.  119 ff. 

V.  Friesen,  0.  52  f. 
Funke  21  ff. 

V.  d.  Gaaf  54  ff. 

Gabrielson  69 

Gevenich,  0.  78  f. 

V.  Glahn  85 ff. 

Grau  15 

Grein  40 

Grieb-Söhröer  39.  84 

Grimm,  J.  96  f. 

Grüter  15 

Günther,  J.  H.  A.  42f.  65 

Gutmacber  15 


125 


Hall,  John  R.  Clark  39 
Harrison  104 
Harz,  Hildegard  94 f. 
Heuser  29  ff.  60 
Hilmer,  Herrn.  98  ff. 
Holthausen  40 
Hoops  5.  19  ff. 
Hörn,  W.  60.  83 
Hüttenbrenner  24 


73.  751  83  f.  94.  96. 


Jackson  C.  E.  49 
Jellinek  23 
Jespersen   2.   60  f. 

1071  119 
Joerdeu,  0.  122 
Jones,  Daniel  85. 
Jordan,  R.  5 

Kahle  24  fl 

Kaluza  571  591  84 

Karre  101  fl 

Kaiser,  Alb.  24 

Kennedy,  A.  G.  92  f.  105 

Kern,  K.  69 

Klein,  W.  65 

Klemm,  G.  85 

Klinghardt  85 

Klöpper  43.  122 

Kluge  1.  40.  83 

Knapp,  0.  87 

Knecht,  Jak.  112 

Knott  59 

Koch,  C.  Friedr.  57 

Koch,  John  61 

Kögel  15 

Krapp  2 

Krüger,  Gustav  421  61  ff. 

Kraisinga  65 

Kügler,  Herrn.  73 

Langenfeit,  G.  47  fl  50 

Ley,  Herrn.  78 

Leydecker  15 

Lindelöf  2 

Lloyd  351 

Luick  2.  h.  7.  21.  23.  31.  33.  51.  58.  60. 

69 fl  761 
Lutz  (Kluge- Lutz)  40 


MacGillivray  241 

Marcus,  Hans  541 

Mätzner  39.  96 

Mawer,  Allen  49  f. 

Mencken  37 

Meyer,  Ernst  A.  76 

Michaelis  85 

Micbiels  15 

Moore,  S.  59 

Morsbach  11.  28  f.  32  f.  34.  59.  85 

Müller,  Christian  69 

Müller,  Engelbert  69 

Murray  38  f. 

Onious  39.  106 

Panconcelli-Calzia  83  f. 
Patterson  118 
Petersson,  Herbert  42 
Phoenix,  W.  101 
Pogatscher  81  20 
Pouud,  Louise  100 
Poutsma  64 

V.  Raumer  241 
Redin,  Mats  45  f. 
Ritter,  0.  8 
Roberts,  R.  G.  49 
Roedler  88  ff. 
Rubens,  G.  116 

Salin  52 

SchlemUch,  W.  11.  531  66  fl 
Schmidt,  Lnmanuel  61 
Schöffier  50f. 

Schopf  eof. 

Schröder,  Edward  51 

Schröder,  H.  821 

Schi-öer,  Arnold  36.  391  84 

Schücking,  Levin  L.  40  f. 

Schulze,  Bruno  65 

Schwabe  41  f.  51 

Schweutuer  51.  811 

Sedgefield  49 

Sievers  2i.  24.  59.  69.  71.  73 

Sixtus  65 

Skeat  40.  49 

Smith,  C.  A.  59 


12G 


Sokoll  59.  70 
Spira  69 
von  Staden  112 
Steadman  9Gff. 
Steinmeyer  15 
Stengel  G8 
Stichel  69 
Stidston  93  f. 
Stuelke  113  f. 
Stratmann  39 
Strauß,  0.  31 
Stroheker  120 
Sunden  110  f. 
Svartengren  122  f. 
Sweet  35.  39.  59  f. 


66.  70.  84  961 


Thomas,  P.  G.  4 
Toller,  Northcote  39  f. 
True  84 


Uhrström  103  f. 

Vietor  61.  83 

Walker  49  . 

Weekley  44 

Wende,  Fr.  115 

Wendt,  G.  109  f. 

Western  109 

Wild,  Friedr.  34  f. 

Wimmer  52 

Wittman,  EHsabeth  100  f. 

Wood,  Francis  A.  51.  73.  100 

Wright,  Elisabeth  Mary  59 

Wright,  .Joseph  59 

Wyatt  59 

Wyld  2  f.  9  f.  31.  33.  36.  58.  60.  70 

Zachrisson  3.  351  44.  681  731  98 

Ziesenis  120 


Druck  von  Friedlich  Audieas  Perthes  A.-G.  Gotha 


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